IPPNW forum 151/2017 – Die Zeitschrift der IPPNW

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Foto: © Giulio Magnifico

ippnw forum

das magazin der ippnw nr151 sept 2017 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

- Digitalisierung der Krankenversorgung - Proteste gegen den G20-Gipfel - Kettenreaktion Tihange

Historisches UN-Abkommen: Atomwaffen werden endlich verboten


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Don’t nuke the climate Bonn | 6.–17. Nov 2017

Kein Klimageld für die Atomindustrie ! Das Girokonto, das grüne Energie antreibt

Wir protestieren beim COP23 in Bonn.

Warum nicht auch beim Banking nachhaltig unterwegs sein? Willkommen bei der ersten sozial-ökologischen Bank. glsbank.de

www.dont-nuke-the-climate.org


EDITORIAL Dr. Inga Blum ist Mitglied im Vorstand der deutschen Sektion der IPPNW.

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tomwaffen werden verboten. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich diesen Tag noch erleben werde“, sagt die 85-jährige Hiroshima-Überlebende Setsuko Thurlow bei ihrem Abschlussstatement in den Vereinten Nationen in New York.

Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN). Infos unter: www.nuclearban.de

Thurlow ruft noch einmal die Erinnerung an die Opfer wach: „Jeder Einzelne von ihnen hatte einen Namen. Jeder Einzelne wurde von jemandem geliebt.“ Der Fotograf Ralf Schlesener hat in New York versucht, die Emotionen all derer einzufangen, die unermüdlich für die Abschaffung von Atomwaffen arbeiten. Einige seiner Bilder finden Sie in dieser Ausgabe. Sie machen Mut und helfen, das Thema weniger abstrakt werden zu lassen. Alex Rosen beschreibt, wie ein Verbot, obwohl es zunächst noch keinen einzigen Atomsprengkopf verschwinden lässt, zu einem Paradigmenwechsel in der globalen Sicherheitspolitik führen kann. Eine Handvoll Unternehmen profitiert von den US-Atomwaffenlaboren. Deren radioaktive Hinterlassenschaften sind verheerend, berichtet Ray Acheson. Der neue Vertrag verbietet explizit die Zulieferung und Unterstützung für Atomwaffenprogramme. Damit wäre z.B. die von der Bundesregierung gebilligte Lieferung von Uran für die US-Atomwaffenproduktion nicht mehr möglich, die Thema der Recherchen von Hubertus Zdebel und Dirk Seifert ist. Hector Guerra, Koordinator von ICAN Lateinamerika, fragt, ob die Abschaffung der Atomwaffen den Weg für eine Revolutionierung der Weltpolitik freimachen könnte. Denn „die Abschaffung von Massenvernichtungswaffen führt uns zu einem demokratischen Verständnis von Sicherheit, das an den Menschen und den Menschenrechten ausgerichtet ist“. Er fordert uns auf, Synergien und neue Bündnisse dafür zu entwickeln. Ein Beispiel dafür war unser diesjähriges internationales Symposium in Büchel, auf dem deutlich wurde, wie weit wir als internationale Gemeinschaft schon gekommen sind und wie besonders wichtig unser Druck in Büchel ist. Dass sich Martin Schulz kürzlich für einen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland ausgesprochen hat, macht Hoffnung. Wir müssen den öffentlichen Druck weiter aufrecht erhalten. Zu nächsten IPPNW-Woche in Büchel vom 16.–23. Juni 2018 lade ich Sie schon einmal herzlich ein. Aber zunächst wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre! Ihre Inga Blum 3


INHALT Türkei: Zerstörung des antiken Hasankeyf

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THEMEN Totaldigitalisierung des Systems der Krankenversorgung .............8 Arzneimittelpreise: Wie Patente und eine falsche Politik bezahlbare Medikamente behindern......................................................10 Die Zerstörung der antiken Stadt Hasankeyf hat begonnen..... 11 50 Jahre israelische Besatzung: Tagung in Frankfurt ................ 12 Proteste gegen G20: Betrachtungen aus IPPNW-Sicht...............14 Krisen verhindern: Die neuen Leitlinien der Bundesregierung..16 Kettenreaktion: Tausende gegen marode Meiler.............................17

SERIE Proteste gegen G20: Betrachtungen aus IPPNW-Sicht

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Die Nukleare Kette: Uranbergbau in Ezeiza / Argentinien....... 19

SCHWERPUNKT Historisches Ereignis....................................................................................... 20 Der Atomwaffen-Verbotsvertrag und seine Konsequenzen....... 22 Für ein atomwaffenfreies Europa: Symposium in Büchel..........24 Atomare Abrüstung und die Demokratisierung der UN.............. 26 Der nuklearen Gewalt die Stirn bieten: Die Hinterlassenschaften der Atomwaffenlabore........................... 28 Der Deal mit dem Uran: URENCO liefert für Atomwaffen....... 29

WELT Für den Ausstieg: Kettenreaktion Tihange

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Gesundheit durch Frieden: Der Weltkongress in York................. 30

RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33


MEINUNG

Dr. Angelika Claußen ist Ko-Präsidentin der Europäischen IPPNW.

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Die Nordkoreakrise zeigt: Der Atomwaffenverbotsvertrag ist wichtiger denn je! Im Juli 2017 testete Nordkorea erstmalig erfolgreich seine Langstreckenrakete Hwasong-14, die eine Reichweite von über 5.500 km hat und amerikanisches Kernland erreichen kann.

as politische Ziel der USA seit dem Waffenstillstand 1953, der völlige Verzicht Nordkoreas auf Atomwaffen und eine Wiedervereinigung unter der Federführung Südkoreas, hat sich als unrealistisch herausgestellt. In dieser hoch angespannten Situation drohen beide Seiten mit Eskalationsschritten. Trotz Drohungen aus Pjönjang führen die USA und Südkorea ihre gemeinsamen Militärmanöver fort. Bei einem militärischen Eingreifen der USA müsste mit mindestens hunderttausenden Todesopfern gerechnet werden. Etwa die Hälfte von Südkoreas Bevölkerung und viele US-Soldaten mit ihren Familien leben in der Metropolregion von Seoul, das in Reichweite nordkoreanischer Artillerie liegt. Und eine Detonation nordkoreanischer Atombomben könnte einen Atomkrieg entfesseln.

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elche realen friedenspolitischen Handlungsoptionen gibt es in dieser schrecklichen Lage? Der erste Schritt wäre wohl, dass die USA die Realität anerkennen, dass Nordkorea eine Atommacht ist. Der nächste Schritt wäre, dass die USA ihr nachhaltiges Interesse an gemeinsamen diplomatischen Verhandlungen mit China, Russland, Südkorea und Japan erklären mit dem Ziel, langfristig auf die offizielle Beendigung des Kriegszustandes und auf einen Friedensvertrag hinzuarbeiten. Kurzfristig und realpolitisch könnten Ziele der diplomatischen Gespräche sein, sich auf Rüstungskontrolle zu orientieren und den Versuch zu unternehmen, den Atomwaffenbestand auf dem aktuellen Niveau einzufrieren. Die Bereitschaft der südkoreanischen Regierung zum Dialog mit Nordkorea muss dabei aufgenommen werden. Auch China hat seine Bereitschaft zu Verhandlungen erklärt. Die Krise um Nordkoreas Atomwaffen macht eines deutlich: Der Atomwaffensperrvertrag kann weitere atomare Aufrüstung und neue Atomwaffenstaaten nicht verhindern! Die Menschheit und die Staatenwelt brauchen den Verbotsvertrag! Nur ein Atomwaffenverbot führt aus der Sackgasse atomarer Geiselhaft heraus. Die Bundesregierung kann und muss zur Lösung dieser Krise beitragen, indem sie endlich eigene Schritte der atomaren Abrüstung vollzieht, das heißt, das US-Atomwaffenlager in Büchel aufgibt und den Atomwaffenverbotsvertrag unterschreibt. Als Mittelmacht und als NATO-Staat würde dieser Schritt Deutschlands maßgeblich zum Aufbau einer atomwaffenfreien Welt beitragen. 5


Foto: DLR, CC-BY 3.0

NACHRICHTEN

Aktivisten besetzen Waffenbunker in Büchel

Friedensabkommen für die Zentralafrikanische Republik

Entscheidung über Kampfdrohnen aufgeschoben

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ünf Friedensaktivisten aus den USA sind in der Nacht des 17. Juli 2017 weit in den Fliegerhorst Büchel eingedrungen. Zum ersten Mal in der 21-jährigen Geschichte der Proteste gegen die dort stationierten US-amerikanischen B61Bomben sind die AktivistInnen auf einen der großen Bunker für Atomwaffen gestiegen. Nachdem sie zwei Außenzäune sowie anschließend zwei weitere Zäune aufgeschnitten hatten, saßen sie über eine Stunde unentdeckt auf dem Bunker. Die Gruppe blieb vollkommen unbemerkt, bis zwei von ihnen herunterkletterten, um „Disarm“ auf die Metalltür des Bunkers zu schreiben. Dies löste einen Alarm aus. Umgeben von Fahrzeugen und Wachmännern, die sich mit Taschenlampen zu Fuß auf die Suche gemacht hatten, machten die Aktivisten die Wachmänner schließlich auf sich aufmerksam, indem sie zu singen begannen. Die internationale Gruppe wurde zwei Stunden nachdem sie den Stützpunkt betreten hatte, in Gewahrsam genommen. Die fünf sagten in einer Stellungnahme: „Wir sind gewaltfrei in den Fliegerhorst Büchel eingedrungen, um die Atomwaffen, die hier gelagert werden anzuprangern. Wir bitten Deutschland, entweder die Waffen unschädlich zu machen oder sie zurück in die USA zu schicken, damit sie dort abgerüstet werden.“ Die Aktion war zum Ende der „Internationalen Woche“ Teil der Aktionsreihe „20 Wochen gegen 20 Bomben“. Infos unter: orepa.org/activists-occupynuclear-weapons-bunkers-in-germany

itte Juni 2017 haben die Regierung der Zentralafrikanischen Republik und die Rebellengruppen des Landes in Rom ein Friedensabkommen geschlossen und sich auf einen sofortigen Waffenstillstand geeinigt. Vermittelt wurden die Verhandlungen durch die Gemeinschaft Sant’Egidio, eine katholische Laienbewegung, die sich für Frieden und Menschenrechte einsetzt. Seit Frühjahr 2013 bekämpfen sich in der Zentralafrikanischen Republik mehrheitlich muslimische Rebellengruppen und die überwiegend christlichen Regierungsanhänger in einem Bürgerkrieg, der mehrere tausend Menschen das Leben gekostet hat. Durch internationale Unterstützung konnten die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Land weitgehend eingeschränkt werden. Im März 2016 wurde eine neue Regierung gewählt, dies bedeutete aber nicht das Ende der Spannungen im Land. Die Regierung kontrolliert kaum mehr als die Hauptstadt Bangui. Weite Teile des Landes sind noch immer von Rebellen besetzt und den UN-Soldaten gelingt es nur mit viel Mühe, größere Städte zu sichern. Das beschlossene Abkommen sieht auch die Entwaffnung der Rebellen und deren Eingliederung in die Armee oder ins zivile Leben vor. Eine Kommission zur Behandlung von Verbrechen soll etabliert sowie die Regierung zur Aufhebung von Sanktionen gegen einflussreiche Akteure des Konfliktes verpflichtet werden. Ein genaues Datum für die Entwaffnung fehlt jedoch bisher. 6

ach mehreren Vertagungen sollte der Haushaltsausschuss des Bundestages kurz vor der Sommerpause über die Finanzierung bewaffnungsfähiger Drohnen abstimmen. Die Entscheidung wurde allerdings in Folge eines Antrages der CDU von der Tagesordnung genommen. Ausschlaggebend dafür war die Uneinigkeit zwischen den Koalitionspartnern und der sich anbahnende Zusammenschluss von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und LINKE zur vollständigen Aufhebung des Antrages. Die SPD kritisierte das zentrale Rüstungsprojekt von Ursula von der Leyen, der sie vorwirft, den Vertrag ohne ausreichende Zustimmung verändert zu haben. Die SPD sehe die Notwendigkeit einer Grundsatzdebatte über Kampfdrohnen, bevor eine Entscheidung getroffen werden könne. Das Verteidigungsministerium wies diese Vorwürfe zurück: Die SPD verschweige, dass sie der Entwicklung einer bewaffnungsfähigen Euro-Drohne schon im Sommer 2016 zugestimmt habe. Ein Prototyp der Airbus-Drohne „Sagitta“, an deren Entwicklung Deutschland federführend beteiligt ist, startete im Juli 2017 bereits zu einem ersten Probeflug. Friedensaktivisten bewerten die Vertagung positiv, betonen aber, dass die Gefahr damit längst nicht gebannt sei. Die Drohnenkampagne will verstärkte Aufklärungsarbeit leisten, um eine noch breitere Ablehnung der Kampfdrohnen in der Gesellschaft zu erreichen. Weitere Informationen zur Kampagne finden Sie hier: drohnen-kampagne.de


Foto: Panii, CC BY-SA 3.0

Foto: TPRT Meymaneh 0109 / CC BY 2.0

NACHRICHTEN

Kurswechsel bei Waffenhersteller Heckler & Koch

Don‘t Nuke the Climate: Kein Klimageld für die Atomkraft

Tansania: Uranabbau im Weltnaturerbe

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er deutsche Waffenhersteller Heckler & Koch hat im Rahmen seiner Aktionärsversammlung Mitte August 2017 bestätigt, nicht mehr in Krisengebiete liefern zu wollen. Während bestehende Verträge noch erfüllt werden sollen, will das Unternehmen künftig nur noch NATO-Mitglieder und Partner beliefern, die „demokratisch“ und „korruptionsfrei“ seien. Aus Gründen des „Aktionärsschutzes“ waren zu der Versammlung selbst keine Medienvertreter zugelassen. Gegenüber der Presse erklärte der Vorstandsvorsitzende Norbert Scheuch, der Grund für den Wandel bei Heckler & Koch sei eine „kritische Bewertung des Geschäfts“. Der Beschluss, einzelne Staaten auszuschließen, gehe über die Vorgaben der Bundesregierung hinaus und werde nach unternehmenseigenen Kriterien gefasst. Im Vorfeld der Veranstaltung war es einigen Friedensaktivisten gelungen, Aktien zu erstehen, um an der Versammlung teilzunehmen. Der Vorstand stellte sich den kritischen Fragen der Aktionäre überraschend offen. Auch der Vorschlag des Rüstungskritikers Jürgen Grässlin, der forderte, einen weltweiten Opferfond zu errichten, soll vom Vorstand geprüft werden. Heckler & Koch war in den vergangen Jahren immer wieder für seine Geschäfte in Krisengebieten kritisiert worden. Derzeit läuft gegen das Unternehmen ein Verfahren wegen des Vorwurfs, illegal Waffen nach Mexiko geliefert zu haben. Mehr dazu auf der Website des Rüstungsinformationsbüros: www.rib-ev.de

rganisationen aus neun Ländern haben Anfang August eine neue Kampagne gestartet. Das Bündnis will sicherstellen, dass Atomenergie und andere falsche Lösungen für das Klimaproblem die weltweiten Anstrengungen zur Eindämmung der globalen Klimaerwärmung nicht torpedieren. Das Bündnis mobilisiert zur globalen Klimakonferenz COP 23 im November 2017 in Bonn, wo die Staaten der Welt zusammenkommen, um zu entscheiden, wie das Problem des Klimawandels gelöst werden soll. Das Bündnis ist seit der Klimakonferenz in Paris auf eine Gesamtgröße von weltweit 500 Organisationen angewachsen, die den Aufruf unterstützen. Insbesondere das Schicksal des Green Climate Fund (GCF) steht auf dem Spiel. Dieser Fonds wurde während der globalen Klimaverhandlungen 2009 gegründet – um Investitionen zu leisten, damit die Länder im globalen Süden den Auswirkungen des Klimawandels besser widerstehen können. Eine Summe von 100 Milliarden Dollar jährlich soll für den GCF bereitgestellt werden. Atomfirmen versuchen verstärkt, Zugang zu dem Fonds zu bekommen, um unwirtschaftliche Energieprojekte zu finanzieren, die ihre eigenen Regierungen oder der private Sektor nicht bezahlen können oder wollen. Das Bündnis fordert die Staaten auf, Ausgaben aus dem Green Climate Fund für Technologien zu unterbinden, die die gesellschaftlichen und ökologischen Folgen des Klimawandels verschlimmern. Weitere Informationen unter: www.dontnuke-the-climate.org/de

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nmitten des Wildreservats Selous in Tansania, seit 1982 UNESCO-Weltnaturerbe, soll ein Staudamm gebaut und Uran abgebaut werden. Darüber informierten Günter Wippel (Uranium Network) und Pasience Mlowe (Legal and Human Rights Center Dar es Salaam) beim vierten NGO Forum des World Heritage Watch vom 30. Juni bis 1. Juli 2017 in Kraków, Polen. Der Präsident von Tansania, John Magufuli, hatte bereits im Vorfeld erklärt, das Staudammprojekt in der Schlucht Stiegler solle in jedem Falle durchgeführt werden. Die Regierungsdelegation argumentierte, das Projekt sei bereits 1960 diskutiert worden – und bei der Eintragung des Selous Game Reserve als UNESCO-Weltnaturerbe 1982 nicht als Gefahr gesehen worden. Das Uranbergbauprojekt am Mkuju-Fluss wird Millionen Tonnen an radioaktivem Abraum produzieren, der die Umwelt über Jahrtausende belasten wird. Immerhin gab es im Anschluss an das Treffen positive Neuigkeiten: Rosatom, die staatliche russische Atomgesellschaft, die Eigentümerin des Bergbauprojektes ist, verkündete, sie wolle das Vorhaben mindestens für die nächsten drei Jahre stilllegen, da der Uranpreis zu niedrig sei, um wirtschaftlich abbauen zu können. Das gibt KritikerInnen und GegnerInnen Zeit, dieses Projekt und seine Risiken weiter an die Öffentlichkeit zu bringen. Mehr Infos unter: http://www.uranium-network.org


SOZIALE VERANTWORTUNG

Die Totaldigitalisierung des Systems der Krankenversorgung TI läutet eine neue gefahrvolle Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung ein. Von Prof. Dr. Rudolph Bauer

Trotz Pleiten, Pech und Pannen hat am 1. Juli 2017 eine milliardenteure Umstellung in den Krankenhäusern und Praxen der Ärzte und Psychotherapeuten begonnen. Die Folgen werden schöngeredet, aber es drohen Entmündigung und Überwachung.

punkt die Patientendaten nicht online übermitteln, werden sanktioniert. Ihnen wird das Honorar in regelmäßigen Abständen um ein Prozent gekürzt – die „Peitsche“.

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Im ersten Quartal des Anschlusses an die TI und ihre Nutzung werden zusätzlich die anfallenden Betriebskosten ab dem Monat der Inbetriebnahme anteilig erstattet. Sie betreffen die Kosten für Wartung und Updates und betragen je Quartal 298 Euro. Für den Praxisausweis und den Arztausweis fallen im Quartal Kosten in Höhe von 23,25 Euro und 11,63 Euro an. Zusätzlich zu den Konnektoren müssen Kartenterminals zum Einlesen der eGK bzw. des elektronischen Heilberufsausweises sowie der Praxis- bzw. Institutionskarte beschafft werden. Die Besorgung dieser Geräte wird zusätzlich mit 425 Euro (für ein stationäres Terminal) bzw. 350 Euro (für ein mobiles Terminal) vergütet. Die Praxen erhalten obendrein eine „Startpauschale“ in Höhe von 900 Euro als Entschädigung für die Installationskosten und zur Abdeckung des zu erwartenden Verdienstausfalls in der Übergangsphase.

eit dem 1. Juli 2017 müssen niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten damit beginnen, ihre Praxen mit neuer Hardware – Konnektoren und Kartenlesegeräten – für die so genannte Telematik-Infrastruktur (TI) auszustatten. Auch Krankenhäuser und Rehabilitationszentren sind von der Umstellung betroffen. Am 1. Juli 2018 soll der Veränderungsprozess abgeschlossen sein. TI ist der Oberbegriff für das Vorhaben, in einem einheitlichen Datennetz alle Akteure des Systems der Krankenversorgung zu erfassen. Die Umstellung auf TI kostet Milliarden. In einer 2009 ausgestrahlten TV-Sendung von „Monitor“ wurde der Gesamtaufwand mit 14,1 Milliarden Euro beziffert – eine riesige Kostenlawine, die auf die Krankenversicherungen zukommt. Die Ausgaben werden mit Sicherheit noch weiter ansteigen und in der Folgezeit den Beitragzahlenden aufgebürdet. Den Hardware-Betreibern und Software-Firmen aber verspricht die Umstellung Extra-Profite. Die Politik hat ein Projekt angestoßen, aus dem es scheinbar kein Entkommen gibt. Unter Umgehung einer breiten Diskussion in der Bevölkerung und in Missachtung aller kritischen Einwände wurden Entscheidungen getroffen, die zum einen im wirtschaftlichen Interesse der informationstechnischen Industrie und der Krankenkassen nicht mehr rückgängig zu machen sind. Zum anderen verspricht

die Digitalisierung die Ermöglichung eines Überwachungs- und Kontroll-Instruments, wie es der Staat umfassender und zugleich unauffälliger nicht installieren kann. Erfasst werden alle Bürgerinnen und Bürger, künftig auch schon im vorgeburtlichen Stadium der Schwangerschaft.

„Zuckerbrot“ und „Peitsche“ Zu den neuen Geräten, die seit 1. Juli 2017 in Arzt- und Therapeutenpraxen ebenso wie in Krankenhäusern installiert werden, gehören Kartenterminals und Konnektoren. Bei letzteren handelt es sich um eine Art Rooter-Geräte, die Datenpakete zwischen den angeschlossenen Rechnern weiterleiten. Für die Anschaffung dieser Hardware erhalten Ärzte und Therapeuten „Zuckerbrot“ in Gestalt einer Vergütung. Diese beträgt je nach Anzahl der in der Praxis tätigen Ärzte zwischen 3.055 (für einen Arzt) und 3.925 Euro (für sieben und mehr Ärzte).

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llerdings kann die Vergütung in dieser Höhe nur dann beansprucht werden, wenn die erstmalige Nutzung des neuen Konnektors im dritten Quartal 2017 erfolgt, das heißt im Zeitraum vom 1. Juli bis 30. September 2017. Der materielle Anreiz für eine baldige Geräteanschaffung sieht wie folgt aus: Nach dem 30. September 2017 sinkt die Vergütungshöhe, und ab dem zweiten Quartal 2018 liegt sie nur noch zwischen 1.155 und 2.025 Euro. Ärzte und Psychotherapeuten, die bis zu diesem Zeit8

Wer alles ein Interesse am Zugriff auf die Patientendaten hat Grundsätzliche datenschutzrechtliche Bedenken beziehen sich auf die Sicherheit der Übermittlung und Speicherung von personenbezogenen Daten durch die Server der TI. Auf dem jüngsten Deutschen Ärztetag im Mai 2017 wurde erneut vor den vielfachen Risiken gewarnt, die in einem System der total vernetzten Krankenversorgung vorauszusehen sind. Es sei viel zu riskant, Patientendaten in der Cloud zu speichern. Cyberangriffe auf Kliniken und Praxen ge-


DIE KONZERNZENTRALE VON ARVATO SYSTEMS IN GÜTERSLOH. Die Bertelsmann-Tochter gewann 2013 die Ausschreibung für die Erprobungstests der eGK. Arvato sollte die Rechenzentrumsleistungen für den Online-Test der eGK liefern und den kompletten Aufbau und Betrieb der TI übernehmen. Auch einen Teil der Softwareentwicklung und -verteilung an den Testpraxen und Testkliniken sollte der Konzern übernehmen. Foto: © Bertelsmann / CC-BY-SA 3.0 (DE)

fährdeten die Sicherheit der Patienten. Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auf den Kryptotrojaner WannaCry, durch den im Mai 2017 zahlreiche Krankenhäuser in England lahmgelegt wurden.

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edrohlich ist nicht zuletzt die Vorstellung, dass kriminelle Einzeltäter oder Banden über das Hacken der Daten Informationen erlangen können, die sie in betrügerischer oder erpresserischer Absicht zu Lasten der Patienten ‚versilbern’. Neben der Gefahr des Zugriffs von externen – ausländischen oder inländischen – Hackern auf die Patienten-Daten besteht Grund zur Sorge, dass die an der IT beteiligten Institutionen Datenmissbrauch betreiben. Bei den gesetzlichen und privaten Kassen wird bereits ernsthaft erwogen, mit den ihnen zugänglichen Daten relevante Erkenntnisse über die Versicherten, die Ärzteschaft und das sonstige Gesundheitspersonal zu sammeln und auszuwerten. Die Serverarchitektur gestattet es den Kassen, mit einem minimalen Aufwand herauszufinden, wo z. B. bei den Behandlungskosten von Patienten eines bestimmten Krankheitsbildes Abweichungen nach oben festzustellen sind, um diese abzustellen. Mittels entsprechender Algorithmen lassen sich standardisierte Behandlungsund Arzneiempfehlungen zur Kostensenkung einerseits und zur Gewinnsteigerung der im Gesundheitssektor angesiedelten Industrien (Pharma, Geräte, Transportfahrzeuge usw.) andererseits generieren. Die Kassen der Versicherten kommen mit Hilfe der Digitalisierung ferner ihrem Ziel näher, die Versorgung im Gesundheitssystem zu steuern. Die gelenkte Medizin, wie

sie in den USA als Managed Care bereits praktiziert wird, hebelt die ärztliche und psychotherapeutische Selbständigkeit aus. Nach Auskunft von Silke Lüder im Hamburger Ärzteblatt sprachen Vertreter des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherungen auf einer Pressekonferenz davon, dass man mit der Überwachung der Patientendaten auch direkt in die ärztliche Therapie eingreifen könne. So könnte etwa der Medizinische Dienst der Krankenkassen auf Grundlage der Patientendaten festlegen, welcher Patient eine teure Therapie bekommt und welcher nicht.

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in Interesse am Zugang zu den Daten haben neben den Krankenkassen auch Großfirmen aus den Bereichen Labor, Pharma, Banken, Versicherungen, IT-Unternehmen, Lebensmittelindustrie und Tourismus. Die Verfügbarkeit von Daten über z. B. eine Schwangerschaft, eine Krebserkrankung, einen Unfall, Flugangst, Depression oder Altersbeschwerden erlauben den Firmen eine entweder zielgruppengemäße oder individuell passgenaue Werbung für ihre Produkte bzw. die Entwicklung solcher Produkte. Der Patient wird zum Marketing-Adressaten.

Gesellschaftliche Folgen Der „gläserne Patient“ und der „gläserne Arzt bzw. Psychotherapeut“ können im Verlauf der Digitalisierung zum ohnmächtigen Objekt einer ebenso gigantischen wie unauffälligen Überwachungsmaschinerie werden. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie warnte deshalb zu Recht, aber vergeblich, vor der „Verwertung der Daten zum Zweck der Kontrolle des Verhaltens von Ärzten und Patienten“ kurzlink.de/eGK 9

Neben Krankenkassen und Großfirmen werden es sich auch die Geheimdienste nicht nehmen lassen, die zentralisierten Daten anzuzapfen. Das erklärt offensichtlich, warum die unterschiedlichen Bundesregierungen – die rot-grüne ebenso wie die christlich-liberale und die Große Koalition – seit Einführung der eGK das Projekt der Digitalisierung so hartnäckig weiterverfolgen, trotz der Proteste dagegen und der erwähnten „Pleiten, Pech und Pannen“. Wir sehen uns daher einer neuen, gefahrvollen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber: Die Digitalisierung des Systems der Krankenversorgung ist das gemeinsame Interesse von Staat und Wirtschaft. Letztere zieht daraus enorme Profite, und der Staat verspricht sich entmündigte, willig lenkbare Bürgerinnen und Bürger. Es ist daher nicht nur eine Sache des Gesundheitswesens und seiner weiteren Entwicklung, die ab 1. Juli 2017 am Beispiel der technischen Umstellung auf die Telematik-Infrastruktur ansteht. Die Totaldigitalisierung betrifft nicht nur die ärztliche Ethik und das Vertrauensverhältnis von Arzt/Psychotherapeut und Patient/in, sondern sie tangiert das gesellschaftliche Leben insgesamt ebenso wie auch die Zukunft bzw. das Ende der Demokratie. Dies ist ein Auszug aus dem gleichnamigen Artikel, der in Heft 5-2017 der Marxistischen Blätter erschien.

Prof. Dr. Rudolph Bauer ist Sozialwissenschaftler, Publizist und Bildender Künstler. Bis 2002 war er Professor für Sozialwissenschaft in Bremen.


SOZIALE VERANTWORTUNG

Arzneimittelpreise Wie Patente und eine falsche Arzneimittelpolitik bezahlbare Medikamente behindern

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ie zum Teil exorbitante Preisgestaltung bei vielen neuen Medikamenten – oft zwischen 50.000 und 100.000 Euro und mehr pro (Jahres-)Behandlung – führt zu einer beträchtlichen Steigerung der Arzneimittelausgaben, bedroht die solidarisch finanzierten Gesundheitssysteme und schränkt den Zugang zu lebensnotwendigen Arzneimitteln selbst in reichen Ländern ein. So stiegen die Ausgaben für patentgeschützte Medikamente seit 1996 um über 700 Prozent. Diese hohen Preise für neue Medikamente sind Ausdruck einer Systemkrise. Das gegenwärtige System orientiert sich primär am Profit statt an gesundheitlichen Erfordernissen.

Die Gewinnmargen der großen Pharmakonzerne liegen meist zwischen 15 und 20 Prozent und darüber. Ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) sind oft nur halb so hoch wie die für Werbung. Inzwischen stehen die Preisgestaltung und der Zugang zu bezahlbaren Medikamenten, die derzeitigen Anreizsysteme und alternativen Modelle für F&E zum Patentsystem auf der Agenda internationaler Organisationen wie EU, Europarat, OECD und UN. Die niederländische Gesundheitsministerin Edith Schippers spricht von einem „kaputten (broken) System, das dringend repariert werden müsse“. Es bedarf daher dringend einer Reform des derzeitigen Systems der F&E und der Bereitstellung von Medikamenten, um auch zukünftig die Versorgung mit notwendigen und bezahlbaren Arzneimitteln sicherzustellen und Eigentumsrechte, Gewinninteressen, Menschenrechte und die Interessen öffentlicher Gesundheit wieder ins Gleichgewicht zu bringen wie das UN High Level Panel on Access to Medicines anmahnt.

Die hohen Preise für neue Arzneimittel stehen oft in keinem Verhältnis zu ihrem Nutzen. Unverhältnismäßig hohe und steigende Arzneimittelpreise gehen aber zu Lasten anderer wichtiger Leistungen im Gesundheitswesen und machen sich als Knappheit in vielen Bereichen bemerkbar.

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edikamentenpreise werden nicht primär durch Kosten für F&E und Produktion bestimmt. Die tatsächlichen Kosten für F&E spielen kaum eine Rolle bei der Preisgestaltung wie selbst Konzernchefs großer Unternehmen einräumen. Die Preise orientieren sich stattdessen daran, was der Markt und die Monopolstellung hergeben, die ihnen die Patentierung ermöglicht, d.h. am maximal erreichbaren Gewinn und an der Bereitschaft der Gesundheitssysteme und der Gesellschaft, diesen Preis auch zu zahlen. Die Arzneimittelpreisgestaltung ist zudem intransparent und irrational. Die Industrie begründet ihre hohen Medikamentenpreise aber nach außen mit den hohen Kosten für F&E. Diese werden um ein Vielfaches höher angegeben als von unabhängigen Experten veranschlagt. Arzneimittelpreise werden in der Regel verdeckt verhandelt und schwächen die Position der Kostenträger. Preistransparenz führt aber zu mehr Wettbewerb, auch in Systemen, in denen Monopole dominieren. Diese Asymmetrie in der Verhandlungsmacht begünstigt hohe Arzneimittelpreise.

he, das in vielen Bereichen zu einer Übertherapie und Überdiagnostik führt. Dieses Modell, das Hauptanreize für F&E über Marktexklusivität und Patente herstellt, begünstigt nicht nur hohe Arzneimittelpreise. Es führt auch volkswirtschaftlich in die Sackgasse, weil es die Gesundheitssysteme finanziell überfordert, Fehlanreize setzt und Erfordernissen öffentlicher Gesundheit wie Orientierung am medizinischen Bedarf und Zugänglichkeit für alle nicht hinreichend gewährleistet. Es bedarf daher dringend einer Neuausrichtung. Lösungen werden in Übereinstimmung mit vielen Expertisen auf vier Ebenen angesprochen, nämlich: » mehr Wettbewerb, » transparente Preisgestaltung und Bündelung der Verhandlungsmacht, » Transparenz der Kosten für F&E und der Ergebnisse klinischer Studien » neue Ansätze und Rahmenbedingungen für F&E.

Die MEZIS-Hintergrundbroschüre „Arzneimittelpreise“ ist Ergebnis einer umfangreichen Recherche, in die die Inputs und Ergebnisse der MEZIS-Fachtagung „Leben – eine Kostenfrage?“ eingegangen sind. An dieser Tagung haben mehrere IPPNWMitglieder aktiv mitgewirkt. Die Broschüre finden Sie unter: mezis. de/hintergrundbroschuere-arzneimittelpreise

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ir alle zahlen in Deutschland für Arzneimittel derzeit mehrfach: über die hohen Preise für Arzneimittel mit keinem, geringem, nicht nachgewiesenem oder fraglichem (Zusatz-)Nutzen, die staatliche Förderung der (Grundlagen-)Forschung, die Steuervergünstigungen für die Industrie und für ein Marketing in Milliardenhö10

Dieter Lehmkuhl ist MEZIS- und IPPNW-Mitglied.


FRIEDEN

Foto: TobiasGr / CC BY-SA 3.0

ZEYNEL-BEY-MAUSOLEUM

Kulturerbe gesprengt Türkei: Die Zerstörung des antiken Hasankeyf hat begonnen

Hasankeyf, die zwölftausend Jahre alte Höhlenstadt am Tigrisufer, soll in einem riesigen Stausee versenkt werden.

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ahrelang haben sich IPPNW-Delegationsreisende am lokalen und internationalen Widerstand gegen den Ilisu-Staudamm beteiligt, der in jeder Hinsicht eine Katastrophe bedeutet. Er wird zur Vertreibung von bis zu 70.000 Bewohnern des Tigristales führen, die einzigartige Natur zerstören, die Umwelt nachhaltig schädigen durch Veränderung des Mikroklimas und Versalzung des Grundwassers. Er wird negative Auswirkungen auf die Wasserversorgung im Irak haben und zur erneuten Austrocknung der Marschen um Basra führen und damit weiteren zehntausenden von Menschendie Lebensgrundlage entziehen.

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eit ein türkischer Ministerpräsident es vor mehr als 50 Jahren nach einem Besuch in Hasankeyf für rückständig hielt, dass Menschen in der modernen Türkei in Höhlen leben und sie zwang, in Stein- und Betonhäuser zu ziehen - seitdem gab es ein ständiges Auf und Ab im Kampf um den Erhalt und die Erforschung der alten Stadt. Seit 1954 gibt es Pläne, den Tigris zur Stromerzeugung und Bewässerung aufzustauen. Der Grundstein für den Staudamm wurde 2006 gelegt. Mehrere ausländische Geldgeber zogen aufgrund der internationalen Proteste ihre Zusagen zurück. 2013 stoppte das höchste türkische Gericht die Bauarbeiten wegen unzureichender Umweltverträglichkeitsprüfung. Im Jahr darauf wurde das entsprechende Gesetz im „Turkish Stile“ kurzerhand geändert. Auch ein Angriff der PKK und Streiks der Bauarbeiter führten nur zu kurzen Bauunterbrechungen und zu einer militärischen Abschirmung der Baustelle. Inzwischen haben engagierte Archäologen mit wenig Unterstützung und knappen

Mitteln versucht, die Geschichte der Stadt zu erforschen und die historischen Gebäude zu rekonstruieren. Die Bewohner von Hasankeyf, Kurden und Araber, sind in ihrer Haltung zum Staudamm gespalten. Alle leiden unter der Ungewissheit und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen und mit den Touristen etwas Geld zu verdienen. Als 2010 ein abstürzender Steinbrocken einen Mann erschlug, nahm die Regierung das zum Anlass, den Zugang zur antiken Stadt zu verbieten. Der internationale Tourismus ging daraufhin deutlich zurück, es kamen aber weiterhin Besucher aus Batman und der näheren Umgebung. Jetzt, in Zeiten der militärischen Besetzung und des Ausnahmezustands in den kurdischen Gebieten ist Widerstand schwierig geworden. Der Fotograf von National Geographic, Mathias Depardon, wurde im Mai 2017 in Hasankeyf verhaftet und nach der Intervention von Präsident Macron aus der Türkei ausgewiesen. Einer der leitenden Archäologen aus Batman wurde unter dem Vorwurf festgenommen, der Gülen-Bewegung anzugehören. Als wir im März 2017 in Hasankeyf waren, blieben wir unbehelligt. Die Pfeiler der alten Brücke waren schon mit Beton „restauriert“, geglättet und haltbar gemacht, um sich im Wasser des Stausees nicht aufzulösen. Nach Vorstellungen der Planer sollen sie das Herzstück eines „archäologischen Tauchreviers“ werden. Die Versetzung in einen archäologischen Park außerhalb des Stausees hatte sich als undurchführbar erwiesen. Andere historische Monumente sind inzwischen an einen neuen Standort versetzt worden – 11

so wurde das Zeynel-Bey-Mausoleum von 1475 in einer beeindruckenden technischen Meisterleistung umgezogen. Weitere sieben Monumente, u.a. ein Bad und eine Moschee sollen folgen, wenn denn genug Zeit bleibt, bevor das Wasser kommt.

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er obere Teil der Stadt soll über dem Wasserspiegel bleiben und wieder für Touristen zugänglich werden. Dafür ist es aber notwendig, die Höhlen unterhalb des Wasserspiegels zu verfüllen, damit sich das Tuffgestein nicht auflöst und alles zusammenbricht. Damit ist jetzt offenbar begonnen worden. Nachrichten von Sprengungen und Abbrüchen kursierten. Der HDP-Abgeordnete Mehmet Ali Aslan aus Batman hat sich Mitte August 2017 an den Felsen gekettet, um weitere Zerstörungen zu verhindern. Die Planer und die türkische Regierung argumentieren, ihre Maßnahmen seien notwendig, um das historische Erbe zu sichern. Sie würden den Bewohnern von Hasankeyf eine zeitgemäße Stadt mit einem neuen Krankenhaus und einer guten Schule bauen. Wassersportanlagen im Zusammenspiel mit den archäologischen Kostbarkeiten würden den Tourismus wieder ankurbeln und der Region Einkommen und Wohlstand sichern.

Gisela Penteker ist Allgemeinärztin und leitet seit vielen Jahren die IPPNWDelegationsreisen.


SOLIDARITÄTSBEKUNDUNGEN FÜR DIE TAGUNG Fotos: www.arbeiterfotografie.com

50 Jahre israelische Besatzung Die KOPI-Tagung am 9. und 10. Juni 2017 in Frankfurt/Main

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or 50 Jahren – exakt vom 5. bis 10. Juni 1967 – tobte im Nahen Osten der Sechstagekrieg zwischen Israel einerseits, Ägypten, Jordanien und Syrien andererseits, der zu einem vollständigen Sieg der israelischen Armee und dann zu der seit damals fortbestehenden militärischen Besatzung der Westbank, Ost-Jerusalems, der Golanhöhen und indirekt auch des Gaza-Streifens führte. Alle Initiativen zu einer friedlichen Beendigung des de facto fortbestehenden Kriegszustandes konnten auch nach 50 Jahren zu keiner Lösung führen, und sind gegenwärtig in einer Sackgasse gelandet. Das Ziel unserer am 9 und 10. Juni 2017 in Frankfurt/M von KoPI, dem „Deutschen Koordinationskreis Palästina-Israel – Für ein Ende der Besatzung und einen gerechten Frieden“ (www.kopi-online.de) organisierten Tagung war es, eine Zwischenbilanz und mögliche Perspektiven vor allem aus Sicht zivilgesellschaftlicher Akteure zu präsentieren. IPPNW Deutschland, aktives Mitglied von KoPI, unterstützte die Konferenz organisatorisch und finanziell.

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ie Tagung war schon im Vorfeld über Frankfurt hinaus heftig umstritten: Es wurden antisemitische Motive unterstellt; nicht zuletzt von Seiten des Kirchendezer-

nenten Bürgermeister Becker (CDU) wurde Druck auf das Tagungszentrum ausgeübt, was zusammen mit einer Flut von Schmäh-Mails aus dem In- und Ausland, teilweise mit Gewaltandrohungen, dazu führte, dass die zwischenzeitliche Kündigung der Veranstaltungsräume erst durch eine einstweilige Verfügung des Frankfurter Amtsgerichts rückgängig gemacht werden konnte. Bei der Organisation einer Gegenkundgebung direkt vor dem Tagungsort tat sich „Honestly Concerned“ hervor, deren Spezialität es ist, Kritik an der israelischen Regierungspolitik mit Antisemitismus-Vorwürfen zu überziehen. Die Frankfurter Stadtverordnete Jutta Ditfurth reihte sich dann auch in diesen Chor ein. Unter anderem war folgende vielsagende TransparentParole zu lesen: „Palästina – Halts Maul!“ Treffender lässt sich die politische Intention dieser Versammlungsgegner/innen eigentlich gar nicht zusammenfassen. Aber auch Unterstützer der Gruppe „Free Palestine Frankfurt“ fanden sich am ersten Veranstaltungstag (ebenfalls mit rund 150 Demonstranten) vor dem Ökohaus ein. Und schließlich war auf dem Vorplatz auch ein starkes Polizeiaufgebot präsent. Am zweiten Tag verlief unsere Tagung dann ohne massive Präsenz von Sicherheitskräften und ohne Zwischenfälle. 12

„Palästina – Halts Maul!“ hat sich also nicht durchsetzen lassen. Bei der Tagungseröffnung referierte George Rashmawi (Palästinensische Gemeinde Deutschland) über die massiven und andauernden Verletzungen der Menschenrechte und über die zur Unterstützung der Palästinenser verabschiedeten UN-Resolutionen, darunter die Resolution 194 von 1948, in der das Rückkehrrecht der 1948 vertriebenen Bevölkerung festgeschrieben wurde (übrigens mit Zustimmung des UN-Mitglieds Israel). Er schilderte den permanenten widerrechtlichen Landraub durch die israelischen Siedler. Inzwischen 720.000 Personen in den Gebieten Westbank, Ost-Jerusalem und Golan. 2016 gelang es hierzu (bei Stimmenthaltung der USA) eine einstimmige Resolution des UN-Sicherheitsrates zum Verbot weiteren Siedlungsbaus herbeizuführen (Resolution 2334), aktuell völlig ignoriert von der israelischen wie auch der neuen Trump-Regierung. Die vom internationalen Gerichtshof in Den Haag juristisch delegitimierte „Apartheidsmauer“ wird weiter komplettiert, und zerstückelt das Territorium der Westbank in drei große Enklaven, für die Palästinenser immer schwieriger zugänglich. Die soziale Lage der Menschen wird immer prekärer, 40 % in der Westbank und 80 % der Bevölkerung von Gaza lebt unterhalb der Ar-


FRIEDEN

mutsgrenze. Die gewaltsame, oft tödliche Unterdrückung in den besetzten Gebieten ist alltägliche Realität. Moshe Zuckermann, Universität Tel Aviv, Historiker und Philosoph, ging anfangs auf den Versuch des Frankfurter CDUDezernenten Becker ein, die Tagung zu verhindern. Mit welchem Recht habe Becker ihm als Sohn von Holocaust-Überlebenden einen Vortrag verbieten wollen, in Frankfurt, der Stadt, wo er vor der Rückkehr nach Israel zehn Jahre seiner Jugend mit seinen Eltern verbracht hatte? Dann ging Zuckermann auf die politische Lage

Foto: www.arbeiterfotografie.com

MOSHE ZUCKERMANN

in Israel ein, kennzeichnete das Vorgehen Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten als »Barbarei«. Die Gewalt, die dort tagtäglich verübt werde, habe auch Einzug in die israelische Gesellschaft gehalten. Ein großer Teil der Israelis habe sich damit arrangiert und blende dies aus dem eigenen Leben aus. Israel wolle keinen Frieden, weil es sich »der Nachhaltigkeit des eigenen politischen Projekts nicht sicher« sei, so seine These. Der Zionismus habe das Land und die Region an den Abgrund geführt und sei gescheitert.

Das zionistische Israel brauche den Antisemitismus, um die eigene Existenz zu behaupten. Hinsichtlich der BDS-Kampagne äußerte sich Zuckermann zurückhaltend – wirkungsvoller sei es, wenn die USA ihre finanzielle und militärische Unterstützung für Israel einstellten. Mit BDS ruft die palästinensische Zivilgesellschaft zu Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel auf, bis dieses internationalem Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachkommt.

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m Samstag eröffnete Dr. Khouloud Daibes, die palästinensische Botschafterin in Deutschland, die Tagung mit ihrem Grußwort und dem Appell an die internationale Gemeinschaft, nicht mehr mit der Besatzung zu kooperieren. Sie kritisierte die beiden Oberbürgermeister von Frankfurt und von München, die jeweils die Schirmherrschaft für Veranstaltungen für ein wiedervereinigtes Jerusalem übernommen hatten. (Ostjerusalem wurde von Israel völkerrechtswidrig annektiert.) Ihre Briefe an die beiden Stadtoberhäupter seien bis heute unbeantwortet geblieben. Majida Al Masri aus Nablus, ehemalige palästinensische Ministerin für soziale Angelegenheiten wies auf die Vorstellungen von Trump und Netanjahu hin, zunächst eine volle Normalisierung mit den arabischen Staaten herzustellen, und dann den Israel-Palästina Konflikt zu lösen. Die USA würden auf eine Konferenz in den nächsten Monaten drängen, um den Palästinensern eine „Lösung“ schmackhaft zu machen: Großisrael mit Jerusalem als Hauptstadt, und die PalästinenserInnen in Enklaven, wo sie ihre privaten Dinge selbst regeln dürfen. Als positive Entwickung wertete Al Masri die Erklärung der Hamas, mit zwei Staaten leben zu können. Sie sieht damit eine Chance für mehr Einheit unter den PalästinenserInnen. 13

Weitere wichtige Vorträge der Tagung wurden von Jamal Juma’a (Ramallah), Norman Paech (Hamburg), Iris Hefets (Berlin), und Ilan Pappe (Universität Exeter) eingebracht. Zusammenfassungen finden Sie in der Langfassung dieses Berichts unter: www.ippnw.de/bit/kopi-konferenz Ein schöner Abschlussakzent wurde uns telekommunikativ aus Hamburg übermittelt, beginnend mit einem ZuckermannZitat: Wer meint, den Antisemitismus bekämpfen zu sollen, vermeide es vor allem, Israel, Judentum und Zionismus, mithin Antisemitismus, Antizionismus und IsraelKritik wahllos in seinen deutschen Eintopf zu werfen, um es, je nach Lage, opportunistisch zu verkochen und demagogisch einzusetzen… „Dir, den mit dir Referierenden und den Euch zustimmenden Versammelten solidarische Grüße, herzlich Esther Bejarano Musikerin und ehemaliges Mitglied des Mädchenorchesters von Auschwitz und Rolf Becker, Schauspieler“.

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nsere Tagung war ein Versuch, gemeinsam mit engagierten Palästinenserinnen und Palästinensern ebenso wie mit Israelis, die für ein gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben eintreten, den intensiven Dialog zu führen. Es gibt in Deutschland erhebliche Widerstände gegen solche Beschäftigung mit dem nahöstlichen Konflikt. Wir sehen unsere Aufgabe weiterhin darin, uns mit solchen Widerständen und ihren gesellschaftlichen Hintergründen offen auseinanderzusetzen.

Matthias Jochheim ist ehemaliger IPPNW-Vorsitzender und Organisator der Konferenz


FRIEDEN

Proteste gegen den G20-Gipfel Einige Betrachtungen aus IPPNW-Sicht

Während des G20-Gipfels schwiegen die Waffen in Afghanistan, Syrien, im Jemen und an anderen Orten nicht. Unsere Welt wird durch strukturelle Gewalt und Kriege bestimmt. Freihandelsverträge sind Ursache von Verelendung in weiten Teilen der Welt.

Das zentrale Thema der IPPNW wurde auf dem Podium „Kooperation statt Konfrontation – Wie kann gemeinsame Sicherheit als Paradigma künftiger Politik durchgesetzt werden?“ behandelt. Der Völkerrechtler Prof. Norman Paech und internationale Persönlichkeiten der Friedensbewegung sprachen darüber, wie Völkerrechte, Frieden und Kooperation gestärkt werden könnten. Dabei hob Paech hervor, dass Verhandlungen über Weltprobleme, z. B. über Atomwaffen, nicht nach Hamburg gehören, sondern nach New York vor die UN.

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ier liegen auch die wesentlichen Fluchtursachen für Abermillionen Menschen aus Afrika und Asien. Unsere Aufgabe als Friedensbewegung ist die Aufklärung darüber, welche Länder illegale Kriege führen und durch Freihandelsverträge die Souveränität anderer Länder untergraben und deren Reichtümer ausbeuten.

Den Neo-Extraktivismus auch durch die BRICS-Staaten kritisierte der Ökonom Patrick Bond aus Südafrika. „Neo-Extraktivismus“ bezeichnet die neokoloniale Ausbeutung von Rohstoffen aus der Erde für den Export, laut Naomi Klein „eine herrschaftsbasierte Beziehung zur Erde, bei der es nur ums Nehmen geht“. Unsere „imperiale Lebensweise“ beschrieb Barbara Unmüßig von der Heinrich Böll-Stiftung.

Am 5. und 6. Juli 2017 fand in Hamburg der Gipfel für globale Solidarität mit weit über 2000 TeilnehmerInnen statt. Es war eine eindrucksvolle Präsentation für eine solidarische Weltordnung. Auf zehn Podien kritisierten WissenschaftlerInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen aus über 20 Ländern die Politik der G20, sie benannten Alternativen und tauschten sich über Strategien zu ihrer Umsetzung aus. Die TeilnehmerInnen waren überwiegend jünger als 30 Jahre. Zudem wurden mehr als 75 Workshops mit bis zu 200 TeilnehmerInnen angeboten. Getragen wurde der „Gipfel für globale Solidarität“ von einem breiten Bündnis aus 77 Organisationen – darunter auch die IPPNW.

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uf dem fünften Podium „Weltweit gegen Neoliberalismus und für Demokratie“ sprach der Präsidentschaftskandidat für die indigene Partei in Ecuador Alberto Acosta Espinosa über die Idee des „Buen Vivir“, des guten Lebens, die in seinem Land und in Bolivien Verfassungsrang erhalten hat. Es sei eine Philosophie der Praxis mit drei Grundelementen: 1. Gemeinschaftssinn,

Bewegend war der Eröffnungsvortrag der Bürgerrechtlerin und Ökologin Vandana Shiva. Sie kritisierte die fortschreitende Bereicherung einer kleinen Elite auf Kosten der anderen – dieses „System der Selbstsucht“ werde durch die G20 verstärkt. Schon beim ersten G20-Gipfel 2001 seien alle Regeln außer Kraft gesetzt worden, die dem Streben nach Profit entgegenstanden. Länder wie Indien seien nach der Krise 2008 durch die G20 in die digitale Finanzökonomie hineingezogen worden und verlören seitdem immer mehr an ökonomischer Autonomie und Diversität. Die „digitale Wirtschaft“ sei kein natürlicher Prozess, sondern eine Zwangsmaßnahme. Dadurch würde unter anderem Handel zwischen lokalen Gemeinschaften verboten. Die „G-20-Sherpas“ kriminalisieren Antikapitalisten als potentielle Terroristen, aber sie selbst seien Staatsterroristen.

2. der Mensch ist Teil der Natur und darf sie nicht erschöpfen 3. Solidarität mit den Prinzipien des Gebens und Nehmens und nie auf Kosten anderer oder der Natur. Dies sei die Alternative zu westlichen Vorstellungen von Wachstum und Entwicklung. Sogar „entwickelte Länder“ seien soziologisch und ökologisch unterentwickelt. Schließlich zitierte Espinosa noch Walter Benjamin: „Revolution ist wie eine Handbremse, die die Fahrt des Zuges auf den Abgrund zu hemmt.“ Der Alternativgipfel verdeutlichte einmal wieder, wie NATO-Staaten Rüstungen und Kriege vorantreiben. Beim „Tag des zivilen Ungehorsams“ am 7. Juli 2017 beeindruckten 23.000 PolizistInnen als „schwarze Blöcke“ in ihren „Vermummungen“ – besonders im Kontrast zu den sommerlich ge-

Vortrag unter: https://kurzlink.de/Shiva 14


kleideten friedlichen Demonstranten in diversen Teilen der Stadt, vor allem, wenn sich eine Hundertschaft im Laufschritt bewegte.

richtliche Entscheidungen schlicht hinweggesetzt hat“. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat auf der Grundlage der Demonstrationsbeobachtungen von 43 BeobachterIinnen einen ersten ausführlichen Bericht über die Proteste gegen G20 in Hamburg vorgelegt. In ihrer Schlussfolgerung schreiben sie: „Linke Kritik wird desavouiert und linke Projekte sollen abgeschafft werden. Der rechte Ruf nach Ordnung und Rechtlosigkeit gewinnt eine erschreckende Dynamik“.

Die Großdemo „Grenzenlose Solidarität statt G20“ am 8. Juli 2017, dem letzten Tag der Staatsbesuche, verlief wie geplant friedlich und übertraf mit nahezu 80.000 TeilnehmerInnen alle Erwartungen. Auch hier beeindruckte der große Anteil junger Menschen. Sogar Eltern mit Kindern und RollstuhlfahrerInnen ließen sich von den schlimmen Ereignissen des Vortags nicht abschrecken. IPPNW-Mitglieder beteiligten sich zum Teil in weißen Kitteln und mit drei großen Transparenten. Der kilometerlange Zug war in 19 Blöcke aufgeteilt, mehrere von einem Lautsprecherwagen angeführt. Vorweg gingen die Internationalen, auch Kurden hatten ihren Block, ebenso die schwarz gekleideten und teils vermummten Autonomen und die Friedensbewegung. Für die IPPNW thematisierte ich bei meiner Rede unter anderem die Notwendigkeit ziviler Lösungen statt der Rüstungsexporte über den Hamburger Hafen und das in der UN verhandelte Atomwaffenverbot. Ich forderte dazu auf, sich nicht nur für Frieden und soziale Gerechtigkeit einzusetzen, sondern auch die Systemfrage zu stellen.

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as Grundrechtekomitee fordert eine unabhängige Untersuchungskommission und stellt folgende Fragen: „Wie war es möglich, dass diese Polizei dermaßen außerhalb der Rechtsordnung agieren konnte? Wo ist die politische Kontrolle des Polizeiapparats geblieben? Wie kann es geschehen, dass von der Polizei ein solches Ausmaß an Gewalt gegen Personen ausgeübt wird? In welchem Maße waren der Verfassungsschutz und die Polizei in den Protesten involviert? Gab es V-Leute, Verdeckte Ermittler und Polizei in szenetypischer Kleidung und wieviele?“ Für die Medien gab es genug Material, um die Verantwortung „den Linken“ zu geben und endlich das Ende der „Roten Flora“ zu fordern. Bürgermeister Scholz sprach von „nahezu militärisch organisierten Gewalttätern“. Könnte das nicht ein unfreiwilliger Hinweis sein, dass die relativ kleine Gruppe der Täter nicht zu Autonomen des „schwarzen Blocks“ oder zu „Linksextremisten“ passt? Es stellt sich die Frage „Cui bono?“

Schon Wochen vor dem Gipfel war die Hamburger Bevölkerung täglich durch Kolonnen von Polizeiwagen mit Sirenengeheul drangsaliert worden, durch Sperrungen vieler Straßen zu Übungszwecken für eine menschenfreie Zufahrt der G20-Gäste vom Flughafen zu Hotels, Messehallen und Elbphilharmonie. Stundenlange Staus und der Lärm von Hubschraubern bestimmten das eingeschränkte Stadtleben – eine Großstadt im Ausnahmezustand. Die Medien schürten Angst vor gewalttätigen Demonstranten und stimmten überwiegend mit der Strategie der Polizei überein, sich auf Konfrontationen und Verbote vorzubereiten.

Den Bericht des Komitees für Grundrechte und Demokratie finden Sie unter: www.grundrechtekomitee.de/node/876

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itglieder des Republikanischen Anwaltsvereins, der Vereinigung demokratischer Juristen und der Hamburger Anwaltschaft haben der Polizei eklatante Verstöße gegen rechtsstaatliche Regeln vorgeworfen. RAV- und VDJ- Mitglieder, die das Versammlungsrecht und das Recht auf freie Anwaltswahl verteidigten, wurden von der Polizei als „Linksradikale“ diskreditiert. Peer Stolle, der Vorsitzende des RAV, konstatierte im Hamburger Abendblatt: „Die Argumentation der Hamburger Polizeiführung schließt sich nahtlos an die Missachtung des Gewaltenteilungsprinzips in den vergangenen Tagen an, als sich die Hamburger Polizei über ge-

Manfred Lotze ist Mitglied des IPPNW-AK Süd-Nord und nahm für die IPPNW an den Planungstreffen für den Gipfel für Globale Solidarität teil. 15


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„Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ Die neuen Leitlinien der Bundesregierung

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urz vor Ende der Legislaturperiode hat die Bundesregierung sich mit dem Papier „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ politische Leitlinien gegeben, die den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedensförderung“ von 2004 und die ressortübergreifenden Leitlinien von 2012 ablösen sollen. Das Papier wurde unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen und WissenschaftlerInnen erarbeitet. Es fanden, beobachtet vom Global Public Policy Institute, 27 Veranstaltungen statt. Auf der Website „Peace Lab“ wurden rund 140 Stellungnahmen und Artikel zum Thema veröffentlicht, verfasst von sehr unterschiedlichen Positionen, von VerteidigungspolitikerInnen bis zur VertreterInnen der Friedensbewegung, von JournalistInnen über MitarbeiterInnen von Think Tanks bis zu SprecherInnen von Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen.

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as Leitbild will „die Grundprinzipien dar[legen], nach denen die Bundesregierung ihre Handlungsansätze und Instrumente sowie angemessene Strukturen und Partnerschaften für die Friedensförderung gestaltet“. Am 26. Juni 2017 veranstaltete der Unterausschuss „Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln“ eine öffentliche Anhörung zu den Leitlinien; Ende Juni wurden sie im Plenum des Parlaments besprochen. Die Leitlinien enthalten eine Einleitung, vier Kapitel und zwei Anhänge. Die Einleitung umfasst mehrere vielversprechende Abschnitte, die aus der Feder von VertreterInnen der Zivilen Konfliktbearbeitung stammen könnten: „Die Förderung des Friedens in der Welt gehört vor dem Hintergrund

unserer historischen Erfahrung zu den zentralen Staatszielen, die das Grundgesetz deutscher Politik vorgegeben hat. Wir sind auch aus ethischer Verpflichtung und aus eigenem Interesse gefordert, uns weltweit dafür einzusetzen, Krisen zu verhindern, Konflikte zu bewältigen und den Frieden zu fördern. Unser Engagement wird angeleitet von der langfristigen Vision eines positiven Friedens, die über die Abwesenheit von Krieg weit hinaus reicht. Vielmehr nimmt sie die strukturellen Ursachen gewaltsamer Konflikte wie Armut, Ungleichheit, Verletzung der Menschenrechte und Einschränkung politischer Teilhabe in den Blick (...). Weiter wird dann ausgeführt, dass langfristige Krisenprävention und Friedensförderung auch im deutschen Interesse seien, denn „wir sehen eine Welt, die ‚aus den Fugen geraten‘ zu sein scheint. Es gibt kaum eine Krise, die wir nicht irgendwann auch in Europa und Deutschland spüren“. Das erste Kapitel „Weltordnung im Umbruch: Verantwortung übernehmen in schwierigen Zeiten“ beginnt mit der Feststellung, dass die derzeitigen Krisen mit einem „tiefgreifenden Wandel der internationalen Ordnung“ und der Entstehung einer multipolaren Weltordnung einhergehen. Als Herausforderungen werden insbesondere benannt: » fragile Staatlichkeit als Nährboden gewaltsamer Konflikte » Nationalismus, religiöser Fanatismus und gewaltbereiter Extremismus » internationalisierte Konflikte (hier fällt auch der Begriff „Stellvertreterkrieg“) » Bevölkerungsdynamik, Klimawandel und Naturkatastrophen » Flucht und Migration 16

Der zweite Abschnitt „Möglichkeiten und Grenzen des Engagements“ beginnt mit der Aufzählung deutschen Engagements. Hier gibt es Anlass für eine erste ernstliche Kritik: Eine eigene Verantwortung im Sinne von Verursachung der Krisen und Kriege der jüngeren Zeit wird nicht gesehen. So reibt man sich die Augen, wenn man liest: „In Afghanistan trägt Deutschland seit 2001 zusammen mit seinen internationalen Partnern mit großem finanziellen, personellen und institutionellen Einsatz – im Norden in langjähriger militärischer Führungsverantwortung – dazu bei, das in zwei Kriegsjahrzehnten zerstörte Land zu stabilisieren und wieder aufzubauen“. Kein Wort davon, dass Afghanistan von der NATO unter Mitwirkung Deutschlands 2011 angegriffen und damit zu seiner Zerstörung beigetragen wurde! Das zweite Kapitel „Leitbild der Bundesregierung“ konstatiert eine „Wertegebundenheit“ deutscher Politik. U.a. werden hier die Werte des Grundgesetzes, die Vision eines positiven Friedens, die universellen Menschenrechte, ein vereintes Europa und die besondere Verantwortung aus der deutschen Geschichte zitiert. Deutschland habe Interesse an nachhaltigen und stabilen Friedensordnungen. Hier entsteht beim Lesen der Eindruck eines Bruches. Denn unvermittelt werden dann Punkte aus dem Weißbuch übernommen, einschließlich jener, die als Beitrag zu einer von deutschen Partikularinteressen gelenkten Politik gesehen werden sollten, die einer weltweiten Konfliktbearbeitung und Friedensförderung u.U. im Wege stehen. Sie können also das Gegenteil dessen bedeuten, was die in diesen Leitlinien festgehaltene Politik beansprucht, etwa wenn man daran denkt, was „freie Weltwirtschaft“ heute bedeutet.


In einem Kasten zur Schutzverantwortung finden sich folgende bemerkenswerte Sätze: „Die Bundesregierung unterstützt die Weiterentwicklung ziviler Ansätze im Rahmen des R2P-Konzeptes und der Reform der VN-Architektur zur Friedensförderung, wie sie vom High-Level Independent Panel on United Nations Peace Operations gefordert werden. Dabei fördert sie insbesondere Ziviles Peacekeeping als erprobte Methodik, um Menschen vor Gewalt und schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Das Papier spricht vom Primat der Politik bei der Konfliktbearbeitung. Dies wird dann allerdings eingeschränkt: Manche Konflikte erfordern jedoch weitergehende Schritte der internationalen Gemeinschaft, um Gefahren für Frieden und Sicherheit abzuwenden oder um Massenverbrechen und Völkermord zu verhindern. Der Einsatz völkerrechtlich zulässiger militärischer Gewalt bleibt für deutsche Politik dabei ultima ratio und muss stets eingebunden sein in eine umfassende politische Gesamtstrategie“.

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m dritten Abschnitt geht es um Partnerschaften: Vereinte Nationen, EU, OSZE und NATO. Des Weiteren wird gemeinsames Handeln der verschiedenen Ressorts angemahnt und versichert, dass die Bundesregierung mit einem „breiten und vielfältigen Netzwerk nicht-staatlichen Organisationen für Frieden“ und mit der Wirtschaft abstimme. Zudem sollen Friedensprozesse „inklusiver gestaltet“ werden, was sich besonders auf die Rolle von Frauen bezieht. Das dritte Kapitel wendet sich den Zielen, Ansätzen und Instrumenten der Friedensförderung zu. Hier werden viele Instrumente konkret benannt. Konflikte werden idealtypisch in drei Phasen gegliedert – la-

tenter Konflikt, Gewaltkonflikt und Nachkriegssituation – wobei aber anerkannt wird, dass jeder Konflikt seiner eigenen Dynamik folgt. In einem Unterkapitel zu „Sicherheit“ geht es um menschliche Sicherheit, staatliche Gewaltmonopole und Sicherheitssektorreform. Auch Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Atom- und chemischen Waffen werden hier nochmals aufgegriffen und ausgeführt, ebenso wie Bundeswehreinsätze und internationale Polizeimissionen. Rüstungsproduktion hingegen wird nicht angesprochen. Wer zu Rüstungsexporten Aussagen sucht, die über die bekannten Erklärungen hinausgehen, wird weitgehend enttäuscht: Hier wird vorrangig auf die bestehende, in den Augen der Bundesregierung restriktive, Gesetzgebung verwiesen. Im vierten und letzten Kapitel „Früher – Entschiedener – Substanzieller: Strukturen und Partnerschaften zur Friedensförderung“ geht es um eine ‚noch engere Abstimmung‘ zwischen den Ressorts. Ein eigener Abschnitt widmet sich der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und weiteren nicht-staatlichen Partnern in Deutschland. Des Weiteren verpflichtet sich die Bundesregierung, Monitoring und Evaluierung ihrer Arbeit in diesem Bereich verstärkt vorzunehmen. Dafür ist jedes Ressort selbst verantwortlich. Einsätze der Bundeswehr sollen aber (lediglich) durch „Einsatzauswertungen“ evaluiert werden – externe Gutachten kommen hier (anders als bei AA und BMZ) nicht vor. Zur Weiterarbeit heißt es abschließend: „Die Bundesregierung wird die Anwendung und Weiterentwicklung der Leitlinien systematisch nachhalten. Sie wird nach vier Jahren einen Bericht zur Umsetzung der Leitlinien 17

vorlegen. Sie wird die Leitlinien als strategische Grundlage ihrer Friedensförderung nach acht Jahren überprüfen und nach Bedarf anpassen. Sie wird einen engen Austausch mit dem Deutschen Bundestag und Akteuren aus dem Bereich der Friedensförderung pflegen. Sie wird die Kommunikation mit der Öffentlichkeit ausbauen und dafür eine ressortgemeinsame Arbeitsgruppe einrichten“.

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ei der der Anhörung im Unterausschuss wurde die Frage nach der Häufigkeit von Berichten kritisch angesprochen. Beim Aktionsplan gab es jährliche Berichte, und einige wünschten sich, dass auch in Zukunft jährlich und schriftlich berichtet werde. Letztlich müssen darüber die neue Regierung und das neue Parlament entscheiden. Der Dialog mit der Zivilgesellschaft soll „in geeigneter Form und unter Beteiligung des Beirats“ fortgesetzt werden. Wie das genau aussehen soll, ist noch nicht klar. Bei der Anhörung im Untersuchungsausschuss wurde mehrfach gefordert, den Leitlinien einen Aktionsplan zur Seite zu stellen, der Umsetzungsschritte definiert.

Christine Schweitzer unter Mitarbeit von Stephan Brües. Dies ist eine gekürzte Fassung des Textes. Die vollständige Version finden Sie hier: https://kurzlink.de/BSV

Christine Schweitzer ist Ethnologin und Geschäftsführerin des Bundes für Soziale Verteidigung.

Foto: Franziska Brantner

DIE AUSSTELLUNG „FRIEDEN MACHEN“ DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG TOURT IN DEN KOMMENDEN MONATEN DURCH DIE SCHULEN.


Foto: Odette Klepper

Tausende gegen marode Meiler Grenzüberschreitender Protest gegen Tihange und Doel am 25. Juni 2017

50.000 Menschen aus den Nie- Streckenabschnitt Engis, Belgien Streckenabschnitt Maas in Oupeye, Belgien Dr. Angelika Claußen derlanden, Luxemburg, Belgien Dr. Odette Klepper und Deutschland reichten sich n den Wochen und Monaten vor dem us den Regionen Ostwestfalen-Lippe am 25. Juni 2017 die Hand und Großereignis hatten wir Aachener bei und Münsterland hatten sich knapp bildeten eine 90 Kilometer lange unseren Informationsveranstaltungen kräf- 200 Menschen in vier Bussen aufgeKette, um auf die sehr konkrete tig die Werbetrommel gerührt. Die meisten macht, um an fünf Streckenpunkten an Bedrohung durch die belgischen IPPNWlerInnen sind mit einem Bus und der Maas in Oupeye, Belgien zu demonAtomkraftwerke Tihange und Doel mehreren Autos nach Engis gefahren. Wir strieren. Überwiegend Deutsche, aber standen elf Kilometer vor Tihange auf einer auch belgische Familien nahmen teil. Es aufmerksam zu machen. Streckenabschnitt Gulpen, Niederlande Dr. Wilfried Duisberg

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onate sehr intensiver Vorbereitungsarbeiten ganz vieler Menschen des Aktionsbündnisses Anti-AKW Aachen, AAA, und „Ausgestrahlt“ haben diesen friedlichen, beeindruckenden Kraftakt erst möglich werden lassen. Tausende Euro Organisationskosten wurden zusammengelegt. Die lokalen Medien haben die Aktion tatkräftig mit Büroräumen und ganzseitigen Zeitungsanzeigen über viele Wochen unterstützt. Viele Bürgergruppen, Kirchengemeinden, Freundeskreise und Einzelpersonen haben sich per Charterbus, mit Fahrrädern, zu Fuß und per Pkw auf den weiten Weg gemacht und sich in den zugewiesenen Streckenabschnitten mit den tri-nationalen Nachbarn Hand in Hand aufgestellt, um von 14.45 bis 15 Uhr eine geschlossene Menschenkette zu bilden. Die politisch Verantwortlichen zeigten wenig Interesse. Wir müssen noch lauter, eindringlicher, fordernder, ja auch frecher werden! Während die deutschen Medien uns weitgehend ignorierten, wurde allerdings in Belgien ausführlich und differenziert über die Menschenkette berichtet.

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Industriestraße. Die Stimmung war heiter und gelöst. Während in Aachen und Vaals, der ersten Gemeinde auf holländischem Boden, die Menschen Schulter an Schulter standen, ja manchmal sogar in Doppelreihen, mussten wir schon Bänder, Schirme und Jacken zu Hilfe nehmen, um die Kette zu schließen.

gab Musik und Spiele für die Kinder.

Etwa die Hälfte der TeilnehmerInnen unserer Gruppe waren deutschsprachige BelgierInnen. Die Bevölkerung der 77.000 Menschen zählenden Deutschsprachigen Gemeinde (DG) ist mehrheitlich für ein Abschalten von Tihange und Doel. Die politischen Parteien haben eine Resolution verfasst, in der sie die sofortige Abschaltung von Tihange 2 und Doel 3 fordern. Auch einige französischsprachige BelgierInnen waren da: Die WallonInnen stehen unserem Protest eher skeptisch gegenüber. Viele BelgierInnen haben Angst vor einem durch Engpässe bedingten Blackout. Diese Gefahr wird ihnen von Politik und Betreiber seit langem suggeriert. Kritisiert wird außerdem das deutsche Festhalten an der Braunkohle. Trotzdem haben aktive WallonInnen die Menschenkette intensiv beworben.

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Die Anti-Atom-Initiativen aus NRW und Niedersachsen sind im Bündnis um die Atomanlagen in Lingen und mit den Aachenern eng verbunden. Sie fordern die neue CDU-FDP-Landesregierung weiter heraus, für den Atomausstieg in Gronau und Lingen zu handeln und die Stilllegung von Tihange und Doel gegenüber der belgischen Regierung durchzusetzen. Unsere Proteste gehen auch an der französischdeutschen Grenze weiter, wo Initiativen grenzüberschreitend für die Stilllegung von Fessenheim und Cattenom kämpfen.

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eitere Proteste und Aktionen sind geplant. Das nächste bedeutende Ereignis ist der Klimagipfel in Bonn vom 6. bis 17. November 2017, wo wir mit dem Bündnis „Don’t Nuke the Climate“ für den kompletten Ausstieg aus fossilen Energien, aus Kohle und Atom, demonstrieren werden. Es braucht den Druck aus der Zivilgesellschaft. Die Aachener IPPNWlerInnen haben uns gezeigt, wie es geht.


SERIE: DIE NUKLEARE KETTE

Uranbergbau in Ezeiza Vor 20 Jahren schloss die letzte Uranmine in Argentinien

Hintergrund

Der hochgiftige Strahlenmüll wird in zwei, teilweise offenen, Abklingbecken gelagert. Es wird vermutet, dass aus diesen Becken radioaktive Stoffe ins Grundwasser übertreten. Es wäre nicht der erste Fall von radioaktiver Kontamination in Ezeiza. Bereits 1983 führte ein schwerer Unfall im Forschungsreaktor zum Entweichen von radioaktivem Material. Ein Arbeiter wurde einer Strahlendosis von 37 Sievert (Sv) ausgesetzt und starb zwei Tage später; weitere 17 Arbeiter erhielten Strahlendosen von bis zu 0,35 Sv.

Das argentinische Atomprogramm umfasste zu seinem Höhepunkt neun Uranminen und zwei Reaktoren in Buenos Aires und Cordoba. Seit 1997 sind alle argentinischen Uranminen geschlossen, wobei es jedoch Pläne gibt, zwei Minen in Mendoza und Salta wiederzueröffnen. Die Nationale Atomenergiekommission, die Atomforschung an drei Standorten betreibt, koordiniert das argentinische Atomprogramm. Zwischen 1987 und 1994 belieferte Argentinien den Iran mit Uran und anderen, für ein Atomprogramm benötigten Materialien. Nachdem der Iran beschuldigt wurde, seine zivilen Atomeinrichtungen für militärische Zwecke zu nutzen, wurde die Kooperation der beiden Länder nicht fortgesetzt.

Folgen für Umwelt und Gesundheit Im Jahr 2000 führte eine gestiegene Zahl von Krebsfällen in der Nähe des Atomkomplexes zu Untersuchungen durch die Gesundheitsbehörden. Nachdem in ersten Grundwasserproben erhöhte Urankonzentrationen gefunden wurden, führten in den nächsten fünf Jahren die US-amerikanische Umweltschutzbehörde, die Universität von Buenos Aires und Greenpeace mehrere Studien durch. Vermutet wurde, dass die unbedeckten Atommüllbecken auf dem Gelände des Atomkomplexes Leck geschlagen hatten. In den betroffenen Bezirken wohnen über 1,6 Millionen Menschen. Verseuchtes Wasser wurde in 74 % der 46 untersuchten Brunnenproben nachgewiesen. Die Konzentration des strahlenden Giftstoffs Uran betrug dabei bis zu 34,5 mg/l – mehr als das Doppelte des WHO-Grenzwerts von 15 mg/l. Die darauf folgenden juristischen Auseinandersetzungen führten zu einer ausführlichen Untersuchung und schließlich 2005 zu einer gerichtlichen Verfügung, den Atommüll aus den unbedeckten Abklingbecken zu entfernen. Die zuständige Nationale Atomenergiekommission lehnte die Verantwortung für das Leck ab. Außerdem wurde betont, dass in Argentinien der Wasserschutzgrenzwert für Uran bei 100 mg/l läge, dem Sechsfachen des WHO-Richtwerts. Dabei wurde nicht erwähnt, dass die Nationale Atomenergiekommission für die Festlegung der nationalen Richtwerte hauptverantwortlich gewesen war.

Das Atomzentrum Ezeiza bei Buenos Aires wurde 1951 als Atomforschungseinrichtung eröffnet. Heute erstreckt sich das Zentrum über ein Gebiet von acht Hektar und verfügt über Forschungsreaktoren, Produktionsanlagen für Radioisotope und Atombrennstoff sowie über eine Anlage für die Verarbeitung und Lagerung von abgebrannten Brennelementen und anderem radioaktiven Abfall.

Ausblick Informationen über die radioaktive Verseuchung rund um den Atomkomplex sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Regierung und Behörden lehnen jede Verantwortung ab. Argentinien braucht eine transparente Debatte über die Folgen der Atomenergie und vor allem neue Richtwerte für die zulässigen Höchstgehalte radioaktiver Substanzen in Nahrung und Trinkwasser. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aspekte der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de

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ATOMWAFFEN

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or dem UN-Gebäude in New York demonstrieren FriedensaktivistInnen mit Masken der Regierungschefs der Atomwaffenstaaten – eine Aktion von ICAN.


Weitere Fotos von Ralf Schlesener finden Sie auf den Websites: www.photochron.de | www.startnext.com/ autorenfotografie-atomwaffenverbot

Historisches Ereignis 122 UN-Staaten votierten am 7. Juli 2017 für den Atomwaffen-Verbotsvertrag

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ünf CampaignerInnen von ICAN und IPPNW Deutschland reisten im Juni und Juli nach New York, um an den Atomwaffenverbotsverhandlungen in der UN teilzunehmen. VertreterInnen der Zivilgesellschaft waren als BeobachterInnen zugelassen – und mussten sich erst einmal an die diplomatischen Formen der UN gewöhnen. Der Fotograf Ralf Schlesener berichtet: „Uns war vorher klar, dieses Abkommen wird die Welt verändern. Wer zu den VertreterInnen der Zivilgesellschaft gehörte, musste sich in den letzten Sitzreihen drängen, während im Raum der DiplomatInnen viele Stühle leer blieben. Es gab öffentliche, informelle und geschlossene Sitzungen. Das bedeutete für mich als Fotograf, dass ich wissen musste, wie ich mich bewegen darf, ohne zu viele Grenzen zu überschreiten und für die „politische“ Arbeit am Vertragstext, dass viel im Hintergrund lief, was die ICAN-VertreterInnen in direkten Gespräche nund Anfragen gemacht haben. Wir stellten uns viele Fragen: Wie entwickelt sich der Vertragstext? Wie begegnet man politischen Ereignissen? Nordkorea? Man kann nicht alles klären. Der letzte Tag, Abstimmung: Atomwaffen werden geächtet. Dank an die Zivilgesellschaft. Die hat es möglich gemacht.“

DIE HIBAKUSHA SETSUKO THURLOW

Fotos: © Ralf Schlesener

DIE CAMPAIGNER VON IPPNW UND ICAN IN NEW YORK

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ATOMWAFFEN

„Nagasaki muss der letzte Ort sein, der einen Atombombenabwurf erlitten hat.“ Tomohisa Taue, Bürgermeister von Nagasaki

Zynisches Feuerspiel Der Atomwaffen-Verbotsvertrag und seine Konsequenzen auch für Deutschland

Im August 1945 verschwanden die beiden Städte Hiroshima und Nagasaki im Inferno der Atombomben. Mehr als 200.000 Menschen wurden durch die Angriffe getötet, Zehntausende starben an den Spätfolgen ihrer Verbrennungen, Verletzungen und der Radioaktivität.

Das Atomwaffenverbot schließt somit eine völkerrechtliche Lücke, die jahrzehntelang nicht überwunden werden konnte. Während biologische und chemische Waffen, Landminen und Streubomben international geächtet werden, waren Atomwaffen bis heute vom Völkerrecht geduldet. Die Atommächte gehen sogar so weit, in der gegenseitigen nuklearen Abschreckung eine Art Sicherheitsstrategie zu sehen.

ie Überlebenden dieser Angriffe eint seit 72 Jahren ein gemeinsames Ziel: Sie wollen noch in ihrer Lebenszeit eine Welt ohne Atomwaffen und atomare Bedrohung erreichen. Sie wollen, dass nachfolgende Generationen niemals wieder die Hölle auf Erden erleben müssen, die sie durchgemacht haben.

Doch Atomwaffen sind kein Garant von Stabilität und Frieden. Sie sind ein zynisches Spiel mit dem Feuer. Die Menschheit ist während der letzten 70 Jahre zu oft allein durch Glück und Zufall einem Atomkrieg entgangen. Und es sind heute gerade die Regionen, in denen sich Atomwaffenstaaten gegenüberstehen, die die größte Instabilität für den Weltfrieden bedeuten: die Konfrontation zwischen Russland und den Vereinigten Staaten in Osteuropa, das atomare Säbelrasseln zwischen Indien und Pakistan, der Stellvertreterkrieg in Syrien und der atomar eskalierte Dauerkonflikt zwischen Nordkorea und Amerika. Weltpolitische Stabilität lässt sich eben nicht durch die Drohung mit Massenvernichtungswaffen erzielen.

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Der 72. Jahrestag von Hiroshima und Nagasaki ist für die Überlebenden ein besonderer, denn dieses Jahr sind sie ihrem Ziel einen großen Schritt nähergekommen: Am 7. Juli 2017 verabschiedeten 122 Staaten bei den Vereinten Nationen einen Vertrag zur völkerrechtlichen Ächtung von Atomwaffen. Sobald der Vertrag von mindestens 50 Staaten ratifiziert ist, werden Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Weitergabe, Erwerb, Besitz, Testung und der Einsatz von Atomwaffen gegen das Völker-

recht verstoßen. Der Vertrag bezieht sich in seiner Argumentation vor allem auf die nationalen und globalen Sicherheitsinteressen aller UN-Mitgliedsstaaten und ihrer Bevölkerungen.

Mit den universellen Menschenrechten nicht vereinbar So wird auch die Androhung eines Atomwaffenangriffs verboten und damit das Konzept der atomaren Abschreckung als klarer Völkerrechtsbruch definiert. Das Deutsche wie auch das Internationale Rote Kreuz begrüßten den Vertrag und bezeichneten ihn mit Blick auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts als wegweisend. Die Drohung, Zivilisten mit Massenvernichtungswaffen zu töten, ist mit den Genfer Konventionen, der Haager Landkriegsordnung und den universellen Menschenrechten nicht vereinbar. 22

Amerika, Großbritannien und Frankreich haben bereits erklärt, dass sie dem Vertrag nicht beitreten würden, da sie an der


atomaren Abschreckung festhalten wollen. Alle neun Atomwaffenstaaten boykottierten die Verhandlungen zum Ächtungsvertrag. Vor allem die Vereinigten Staaten haben ihre Bündnispartner gedrängt, sich dem Boykott anzuschließen.

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uch Deutschland stellte sich auf Seiten der Atomwaffenbefürworter. Die Bundesrepublik erlaubt die Stationierung von 20 amerikanischen Atomwaffen in Büchel und lässt Luftwaffenpiloten den Abwurf von Atomwaffen über feindlichen Städten trainieren. Damit verstößt Deutschland schon heute gegen die Verpflichtungen des Atomwaffensperrvertrags. Die Zivilgesellschaft, die den Atomwaffen in Büchel ohnehin sehr kritisch gegenübersteht, wird sich durch den Vertrag ermutigt sehen, die Forderung nach einem Abzug der Massenvernichtungswaffen künftig vehementer zu vertreten.

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ie Atomwaffenstaaten argumentieren gerne, dass der Vertrag politisch und militärisch folgenlos bleiben würde. Klar ist: Auch wenn es durch den Vertrag gelungen ist, den Stillstand in Sachen atomarer Abrüstung zu durchbrechen, wird durch die Ächtung allein kein einziger Atomsprengkopf verschwinden. Der Vertrag wird seine Wirkung erst langfristig entfalten – vor allem durch einen Paradig-

menwechsel in der globalen Sicherheitspolitik. Er verschiebt den Diskurs: weg von der kindischen Logik der gegenseitigen Auslöschung und Abschreckung hin zu einer reifen Auseinandersetzung mit den inakzeptablen und katastrophalen Folgen, die Atomwaffen für unseren Planeten und die Menschheit haben. Es wird künftig nicht mehr darüber geredet, wann ein Angriff mit atomaren Massenvernichtungswaffen gegen die Zivilbevölkerung gerechtfertigt wäre, sondern darüber, wie die Atomwaffen möglichst zügig abgeschafft werden können. Zudem erhöht der Vertrag den rechtlichen, politischen, moralischen, aber auch finanziellen Druck auf die Atomwaffenstaaten sowie Rüstungsfirmen und Banken, die an Atomwaffen verdienen.

Ächtung als effektiver Schritt zur Abschaffung Dass eine Ächtung ein effektiver Schritt zur Abschaffung einer Waffengattung ist, auch wenn die Waffenbesitzer zunächst nicht mit dabei sind, zeigt die völkerrechtliche Ächtung von Streubomben. Ein Land nach dem anderen hat diese Waffen aus ihrem Arsenal genommen – und sogar die Vereinigten Staaten, die das Abkommen nicht unterzeichnet haben, werden künftig auf Streubomben verzichten müssen, nachdem mit Textron Systems nun auch 23

der letzte Hersteller deren Produktion aufgrund von öffentlichem und finanziellem Druck einstellen musste. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch bei der Ächtung von Chemiewaffen, Biowaffen oder Landminen beobachten.

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as die Abschaffung von Atomwaffen angeht, gibt es bereits seit Jahren reziproke Abrüstungsschritte zwischen Russland und den Vereinigten Staaten, etablierte Vertragshüter wie die IAEO und die CTBTO und praktikable, erprobte Verifikationsmechanismen. Der Weg von den derzeit 15.000 Atomwaffen hin zu dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt wird nicht einfach sein, aber durch den Ächtungsvertrag ist nun endlich ein klarer Kurs vorgegeben – 72 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki ein wahres Geschenk für die Überlebenden.

Der Artikel wurde zuerst am 6.8.2017 auf faz.net veröffentlicht.

Dr. Alex Rosen ist Vorsitzender der IPPNW Deutschland.

Foto: © Ralf Schlesener

NEW YORK: PROTEST GEGEN ATOMWAFFEN, JULI 2017


ATOMWAFFEN

Für ein atomwaffenfreies Europa Internationales Symposium in Büchel

Warum blieben Deutschland, Schweden und Norwegen den Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot fern, während die Niederlande als einziger NATO-Staat mitverhandelten und unser Nachbarland Österreich den Prozess der Atomwaffenverbotsverhandlungen aktiv vorantrieb? Das debattierten IPPNW-Gäste und ICAN- AktivistInnen auf dem Internationalen Symposium „Verbot von Atomwaffen: Eine europäische Sicht“ am US-Atomwaffenstützpunkt Büchel mit etwa 70 TeilnehmerInnen.

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Zur Eröffnung des Symposiums kritisierte IPPNW-Vorstandsmitglied Inga Blum die Weigerung der Bundesregierung, sich an den Atomwaffenverbotsverhandlungen zu beteiligen. Sie wies darauf hin, dass die Bundesregierung die US-Atomwaffen in Büchel abziehen müsste, wenn sie dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten will. „Angesichts der gefährlichen neuen Spannungen zwischen Russland und der NATO fordern wir von unseren europäischen PolitikerInnen eine verstärkte Zusammenarbeit für Entspannung und atomare Abrüstung“, so Blum.

iese drei bedeutenden Konferenzen mit starker Beteiligung und dem Druck der Zivilgesellschaft führten zu der humanitären Initiative der österreichischen Regierung mit Zustimmung von 127 Staaten, gefolgt von der Open Ended Working Group im letzten Jahr mit der Zustimmung zur Resolution L41 durch 123 Staaten und in diesem Jahr, den Verhandlungen für ein Verbot von Atomwaffen. Die norwegische sozialdemokratische Regierung unterstützte zudem die „International Campaign to Abolish Nuclear Weapons“ (ICAN) mit bedeutenden finanziellen Mitteln. „Unsere Regierung hat uns damals tatsächlich aufgefordert, eine wichtige neue Bewegung gegen Atomwaffen auf die Beine zu stellen und wir haben die Kampagne ICAN als ein gutes Instrument dafür gesehen“, erzählt Björn Hilt. Die jetzige norwegische Regierung – seit 2013 eine Koalition zwischen den traditionellen Konservativen und einer ultrarechten liberalen und einwanderungsfeindlichen Partei – habe die Unterstützung für ICAN beendet. Auch die humanitäre Initiative unterstützte sie nicht, stimmte in der UNO-Hauptversammlung im Dezember letzten Jahres gegen die Resolution L41 und nahm ebenso wie Deutschland nicht einmal an den Verhandlungen in New York über ein Atomwaffenverbot teil.

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benso wie Deutschland setzt sich auch Norwegen offiziell für eine Welt ohne Atomwaffen ein, jedoch nur auf längere Sicht und nur im Bündnis mit den Atomwaffenstaaten, erklärte Björn Hilt von der IPPNW Norwegen auf dem Symposium. Bereits 1958 habe die norwegische Regierung bestimmt, zu Friedenszeiten keine Atomwaffen auf norwegischem Territorium zu erlauben und auch keine NATO-alliierten U-Boote in die Häfen zu lassen.

Heute seien sich alle großen Parteien in Norwegen einig, wenn es um das Verhältnis zur NATO und zur USA gehe. Während die PolitikerInnen sich zwar offiziell gegen Atomwaffen aussprächen, unterstützten sie dennoch fast alle das nukleare Konzept der NATO, das Atomwaffen einschließt. Björn Hilt findet, dass das einfach nicht zusammenpasst. Eins hätten die Sozialdemokraten in Norwegen allerdings bewirkt: Nach dem Scheitern der Atomwaffensperrvertrags-Konferenz im Jahr 2005 und den inhaltslosen Versprechungen von 2010, habe die sozialdemokratische Regierung 2012 eine sehr wichtige Initiative ergriffen. Der damalige Außenminister Jonas Gahr Støre lud die internationale Staatengemeinschaft zur ersten Staatenkonferenz über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen ein. Die erste derartige Konferenz fand 2013 in Oslo statt, gefolgt von den Konferenzen in Nayarit und in Wien 2014.

Das skandinavische Nachbarland Schweden dagegen hat an den Verhandlungen teilgenommen und auch für das Atomwaffenverbot gestimmt. Gunnar Westberg von der schwedischen IPPNWSektion erklärte, dass Schweden zwar kein NATO-Mitglied sei, aber in enger Kooperation mit dieser Organisation stehe. Im letzten Jahr habe die schwedische Regierung ein sogenanntes Gast-Abkommen zwischen Schweden und der NATO unterschrieben. Dieses berechtigt Schweden, die NATO-Truppen bei sich zu stationieren und ihnen die Errichtung permanenter Stützpunkte 24


EUROPÄISCHES IPPNW-SYMPOSIUM IN BÜCHEL AM 11. JUNI 2017

Foto: IPPNW

niederländischen Außenminister Albert Koenders. Aufgrund des öffentlichen Drucks beschloss das niederländische Parlament am 28. April 2016 mit breiter Mehrheit, die laufenden Bemühungen um einen Verbotsvertrag aktiv zu fördern. Der Außenminister versicherte, sich an dieses Votum zu halten und entsprechend in der Open Ended Working Group der UN aufzutreten. An dieses Versprechen hat sich die Regierung auch gehalten, allerdings dann als einziges Land bei der Abstimmung am 7. Juli 2017 in New York gegen den Vertrag gestimmt. Dennoch ist die Teilnahme des NATO-Landes Niederlande an den Verhandlungen ein ermutigendes Signal, dass die Zivilgesellschaft durch öffentlichen Druck Politik gestalten kann.

zu erlauben. Darüber hinaus kann ein NATO-Angriff gegen einen Drittstaat von schwedischem Gebiet aus vorbereitet und ausgeführt werden. Westberg bezeichnete es als überraschend, dass dieses Abkommen von einer Regierung mit sozialdemokratischer Führung unterschrieben wurde, da sich die Mehrheit dieser Partei und gleichzeitig die Mehrheit aller Schweden klar gegen eine vollständige NATO-Mitgliedschaft positioniert habe. Laut Gunnar Westberg könnte diese enge Kooperation der Grund dafür sein, dass die schwedische Regierung zögerte, das Atomwaffenverbot vollständig zu unterstützen.

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Im letzten Jahr hätten Vertreter von IPPNW und ICAN in Schweden mehrere Treffen mit der Außenministerin gehabt und versucht, diese von einer schwedischen Unterschrift unter den Atomwaffenverbotsvertrag zu überzeugen. Schließlich habe sie Ende November 2016 beschlossen, dass Schweden für den Verbotsvertrag stimmen werde. Doch daraufhin kam im schwedischen Parlament die Frage auf, ob eine Unterstützung des Verbotsvertrages Schwedens Chancen auf eine NATO-Mitgliedschaft reduzieren würde. Seitdem hätten die Vertreter des Auswärtigen Amtes in Schweden mit anderen atomwaffenfreien Staaten zusammengearbeitet, um einen Vertrag zu entwerfen. Dennoch habe Schweden in diesen Verhandlungen keine führende Position eingenommen und sei nicht so aktiv gewesen, wie die Zivilgesellschaft es sich erhofft habe.

estärkt in dem Gefühl, in der internationalen IPPNW-Community an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten, versammelten sich die TeilnehmerInnen im Anschluss an das Symposium vor dem Haupttor und simulierten einen Atombombenangriff. Dabei gingen sie durch den Bauzaun und drangen bis zum Haupttor des Fliegerhorstes Büchel vor, an dem sie das Banner „Time to go – Ban Nuclear Weapons“ entrollten. Die völlig verdutzten Bundeswehrsoldaten, griffen erst einmal zum Telefon, um die Polizei zu rufen. Die traf allerdings erst mit großer Verspätung ein, als die FriedensaktivistInnen bereits wieder zum Kreisel zurückgekehrt waren, wo eine Demonstration angemeldet war. Am nächsten Tag blockierten knapp 20 FriedensaktivistInnen das Haupttor, das Lutzerather Tor und das Tor 1. Die Polizei löste die Blockade nach kurzer Zeit mit einem massiven Polizeiaufgebot auf. Das Internationale Symposium und die Aktion zivilen Ungehorsams waren Teil der IPPNW-Protestwoche in Büchel vom 10.-17. Juni 2017.

Peter Buijs von der niederländischen IPPNW-Sektion berichtete, wie die Zivilgesellschaft in den Niederlanden Druck auf Abgeordnete und Regierung ausübten, so dass sich die Regierung schließlich als einziger NATO-Staat an den Verhandlungen über den Atomwaffenverbotsvertrag beteiligte. Zunächst hatten Mitglieder der niederländischen IPPNW-Sektion einen medizinischen Appell verfasst, der von 100 Persönlichkeiten aus dem Gesundheitswesen und WissenschaftlerInnen unterzeichnet wurde. Ein breites gesellschaftliches Bündnis vom Niederländischen Roten Kreuz über die Kirchen bis zu den Bürgermeistern für den Frieden wandte sich anschließend in einem offenen Brief an den

Angelika Wilmen ist Pressesprecherin und Koordinatorin der Öffentlichkeitsarbeit der deutschen IPPNW. 25


ATOMWAFFEN

Sicherheit für alle Atomare Abrüstung und die nötige Demokratisierung der UN

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ausende atomarer Sprengköpfe befinden sich in den Händen von 14 Staaten, nämlich Indien, China, Russland, Großbritannien, Israel, Nordkorea, Frankreich, Pakistan, Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien und der Türkei – entweder auf Militärbasen oder frei beweglich in der Luft bzw. auf See.

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inen bewaffneten Konflikt würden wir nicht überleben, nicht einmal einen regionalen mit einem eingeschränkten Atomwaffeneinsatz. So leben wir unter hohem Risiko. Wie kann es aber sein, dass die Atomwaffen angesichts dieses Wissens fortbestehen? Wie ist es möglich, dass diese Instrumente des Kalten Krieges nicht in die Geschichte eingehen und dass sie sogar kollektiven Maßnahmen widerstehen, ihre Zahl, Weiterverbreitung und ihren Einsatz in ganzen Regionen einzuschränken – und das seit der ersten UN-Resolution 1946 bis zum kürzlich angenommenen UN-Verbotsvertrag? Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir einen Blick auf die Verhandlungen eines Atomwaffenverbotsvertrages im Juni 2017 werfen, als dieses völkerrechtliche Instrument verhandelt und angenommen wurde. Alle Länder, die Atomwaffen produzieren, modernisieren, getestet, stationiert haben – oder unter dem atomaren Schirm der Atommächte stehen – stellen sich mit Ausnahme von Südafrika diesem Prozess entgegen und versuchen sogar, ihn zu behindern und zu sabotieren. Diese Minderheit, inklusive der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, gehört zu den reichsten und politisch mächtigsten Staaten

der Geschichte und hat sich für diesen negativen Kurs entschieden – auf Kosten der Sicherheit und Zukunft nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern der ganzen Welt. Sie behaupten, im Namen der nationalen und regionalen Sicherheit zu handeln. Wäre diese Sicherheit wirklich ihr Ziel, müssten sie sich an internationales Recht und Gesetz halten, das diese Staaten selbst seit 1919 zuerst mit der Internationalen Liga, dann mit der UN geschaffen und weiterentwickelt haben. Das mag naiv klingen, wenn wir uns daran erinnern, dass diese Länder nach 30 Jahren Weltkrieg unter einem realpolitischen Mangel an Vertrauen leiden und die skrupellos ausbeuterische Weltordnung beibehalten wollten, angeführt durch staatlich unterstützte Konzerne, den militärisch-industriellen Komplex und die Banken. Die Lektionen aus den Katastrophen von 1914 und 1939 sind vergessen.

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uf dem Papier leben wir seit 70 Jahren in einer „internationalen Demokratie“. Das Prinzip „Ein Land, eine Stimme“ ist dabei auf deutliche Grenzen gestoßen. Lassen Sie uns nicht vergessen, dass die fünf Hauptsieger des zweiten Weltkrieges – die als ultimative Garanten des Friedens im Sicherheitsrat sitzen – immer das letzte Wort haben, wenn es darum geht, was das Beste für den Rest der Welt ist. Diese Staaten haben die größten Atomwaffenarsenale. Viele ihrer Verbündeten, die ehemalige Kolonialmächte sind, haben über das politische, soziale und ökonomische Leben all der Staaten entschieden, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. 26

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önnte es sein, dass Atomwaffen als politische Instrumente dazu beitragen, die internationalen Beziehungen in der bekannten Form zu zementieren? Ein Ja als Antwort würde bedeuten, dass ihre Abschaffung den Weg für eine Revolutionierung der Weltpolitik freimacht, während umgekehrt die Demokratisierung der Welt positive Auswirkungen auf die Elimination von Atomwaffen haben kann. Das Atomwaffenverbot führt zu einer Stigmatisierung dieser Waffengattung und stellt die Legitimität ihrer Besitzer und Verbündeten in Frage, ihre Rolle als verantwortliche, vertrauenswürdige Akteure auf dem internationalen Parkett. Während es für das Funktionieren der diplomatischen Abläufe nötig ist, die multilaterale Agenda der UN stark zu untergliedern, ist es nicht zu rechtfertigen, die Hoheitsrolle des Staates – und auf Weltebene der UN – zu relativieren. Sonst wären die UN-Charta, die universelle Erklärung der Menschenrechte, der Atomwaffensperrvertrag, die Agenda 2030 und das Klimaabkommen von Paris nicht in gutem Glauben verhandelt worden. Sonst könnte jeder sich seine Regeln herauspicken oder willkürlich verwerfen, und gleichzeitig Rivalen oder Feinde für dasselbe Verhalten verurteilen. Andererseits würden wirklich demokratische internationale Institutionen und die Anwendung des Gesetzes zur Eliminierung von Atomwaffen führen. Die Staaten würden entsprechend ihrer Verpflichtungen handeln: also zum Beispiel die nuk-


leare Abschreckung beenden, die gegen Artikel 1 der UN-Charta verstößt. Diese fordert die Staaten auf, auf Gewaltandrohung und -Anwendung zu verzichten. Länder, die Atomwaffen besitzen oder bei sich stationieren, müssten ihre Blockadehaltung aufgeben und nach Artikel sechs des Atomwaffensperrvertrags, ihre nuklearen Arsenale abbauen, statt sich nur zur Nichtverbreitung zu verpflichten. Wir dehnen uns immer weiter aus und bevölkern fast jede Ecke des Planeten, verbrauchen die Ressourcen intensiv und extensiv. Wir besitzen die Technologien, um die meisten unserer natürlichen Herausforderungen zu meistern. Unsere Aktvitäten der letzen zwei Jahrhunderte haben so starke Auswirkungen, dass ein neues geologisches Zeitalter ausgerufen wurde, das Anthropozän. Es zeichnet sich vor allem durch die Atomenergie aus, deren unverantwortliche militärische Nutzung die Auslöschung unserer Spezies drastisch beschleunigen könnte. Ihre Nutzung könnte nicht nur jede Verheißung nachhaltiger Entwicklung beenden, sondern auch den Kollaps aller sozioökonomischen, wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften bedeuten.

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ie könnten das Leben, wie wir es kennen, für immer ändern, den Menschen als vorherrschende Spezies oder sogar ganz auslöschen. Wir sind eine relativ neue Art, die es erst seit ein paar hunderttausend Jahren gibt – wir können aber, wenn wir jetzt handeln, unsere Existenz auf zehntausende Jahre sichern. Schaffen wir das, nachhaltig, würdevoll

„Unser Engagement gegen Atomwaffen muss auf Generationensolidarität und -gerechtigkeit fußen, auf weiter gefasster weltweiter humanistischer Aktion, die sich über nationale Grenzen hinwegsetzt.“ und gleichberechtigt? Können wir unseren Nachkommen und der Umwelt einen Neuanfang ermöglichen? Alle Nationen wären daran beteiligt, ungeachtet ihrer Leistungen und ihres Sozialsystems, ihrer Macht über Mensch und Natur. Im Angesicht großer Katastrophen, scheinen einige Gruppierungen besonders stark betroffen, doch im Endeffekt drohen Hungersnöte, Krankheiten und Gewalt uns allen. Die Zivilgesellschaft hat bei der Bekämpfung von HIV/AIDS eine wichtige Rolle gespielt, bei den Fortschritten der Geschlechtergerechtigkeit, dem Verbot von Landminen, der Reduktion von Treibhausgasen. Wenn wir gemeinsam handeln, können tausende von Nichtregierungsorganisationen rund um den Globus durch ihr solidarisches Handeln eine Kraft der Veränderung sein. Diese Solidarität sollte für jeden einsichtig sein, selbst wenn sie durch den egoistischen Gedanken motiviert ist, dass niemand allein überleben kann und dass sich früher oder später die Katastrophen ausbreiten und alle Nationen betreffen werden. NGOs unterschiedlicher Herkunft, die an verschiedenen Themen arbeiten, treffen sich, um die weltweiten Herausforderungen anzugehen und sich in ihrer Arbeit zu unterstützen. Einzelpersonen und Organisationen, die an der sofortigen und vollständigen Abschaffung von Atom27

waffen arbeiten, sollten keine Ausnahme sein und können eine erdumspannenden Zivilgesellschaft begründen. Nukleare Abrüstung ist kein Selbstzweck, und schon gar nicht das Resultat eines einzelnen Vertrags. Können wir Abrüstung im Rahmen einer umfassenden Veränderungsstrategie sehen – hin zu demokratischeren und gerechteren internationalen Beziehungen, als Antwort auf die legitimen Bedürfnisse und Erwartungen aller Nationen?

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tomare Abrüstung geschieht im Zusammenhang sozialer Aktion für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Internationalen Beziehungen. Wenn uns das klar ist, ermöglicht uns dieses Wissen, Hindernisse, Bedürfnisse und Gelegenheiten für die Zusammenarbeit verschiedener Interessengruppen zu ermitteln, durch Synergien und neue Bündnisse. Die Abschaffung von Massenvernichtungswaffen führt uns zu einem demokratischen Verständnis von Sicherheit, das an den Menschen und den Menschenrechten ausgerichtet ist und ausnahmslos für alle gilt. Hector Guerra ist Spezialist für Abrüstung und Internationale Beziehungen. Er hat das lateinamerikanische Sicherheitsnetzwerk SEHLAC mit begründet.

Foto: © Ralf Schlesener

DER UN-KONFERENZRAUM WAR BEI DER VERABSCHIEDUNG DES VERBOTSVERTRAGES SO VOLL, DASS VIELE IN EINEM „OVERFLOW ROOM“ ZUSCHAUEN MUSSTEN


Der atomaren Gewalt die Stirn bieten Die katastrophalen Hinterlassenschaften der Atomwaffenlabore

LOS ALAMOS: BAU EINER AUFBEREITUNGSANLAGE FÜR TRANSURAN-MÜLL

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ährend die Mehrheit der Staaten sich in der UN zusammenfand, um über einen Atomwaffenverbotsvertrag zu verhandeln, veröffentlichte das Center for Public Integrity, eine NGO gegen Korruption, Teile der Studie „Nuclear Negligence“ über Arbeitsplatzgefahren in US-amerikanischen Atomwaffenlaboren (ippnw.de/bit/negligence). Diese deckt eine Serie von Pannen an den acht Standorten auf. Demnach atmeten Arbeiter radioaktive Partikel ein, erlitten elektrische Schocks und Verbrennungen durch Säure oder Feuer, kamen mit giftigen Chemikalien in Berührung oder schnitten sich an dem Schrott von explodierten Metallbehältern. Das nationale Atomlabor in Los Alamos, wo Plutoniumkerne für Atomsprengköpfe hergestellt werden, hat 2016 „dreimal so oft gegen die Regeln der Atomindustrie zum Schutz vor unkontrollierten Kettenreaktionen verstoßen“ wie alle anderen 23 Atomanlagen des Landes zusammen. Privatunternehmen betreiben Los Alamos und die anderen Atomwaffenlabore. Sie machen jährlich zwischen 15 und 60 Millionen US-Dollar reinen Profit. Die Herstellung von Atomwaffen bedeute finanziell ein „extrem geringes Risiko“. Vertragsnehmer tätigen „praktisch keine finanzielle Investition“, beteiligen sich lediglich mit einigen Führungskräften, sind durch das Gesetz gegen Schadensersatzforderungen abgesichert und haben kaum Kosten“, die ihnen nicht komplett erstattet werden – erklärt der Bericht. Dass diese Firmen Sicherheitsstandards verletzen und Beschäftigte wie auch Anwohner hohen Risiken aussetzen, schmälert ihre Profite anscheinend in keiner Weise. Die Sicherheitsdefizite im Hinblick auf die Gefahr einer unkontrollierten Kettenreaktion wa-

ren dauerhaft so gravierend, dass die Nationale Atomsicherheitsbehörde (NNSA) vor zwei Jahren den Betreiberfirmen des Labors mit einer Geldstrafe von mehr als einer halben Million US-Dollar drohte. Allerdings „beschloss der Behördenleiter, die Strafe am Ende doch nicht zu verhängen, beispielhaft für das Klima der Straflosigkeit, von dem Kritiker sprechen“.

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evor Los Alamos die Produktion der Plutoniumkomponente für die USAtombomben übernahm, war Rocky Flats bei Denver (Colorado) die einzige Anlage, die die Plutoniumkerne herstellen konnte. In dieser Anlage, die ebenfalls von mehreren Subunternehmen betrieben wurde, gab es zahlreiche Brände, darunter in den Jahren 1957 und 1969 zwei schwerwiegende Unfälle, bei denen Plutonium mit im Spiel war; weiterhin die Lagerung und Vergrabung von Transuran-Abfällen in lecken Fässern und unausgekleideten Gräben vor Ort, die Land und Grundwasser verschmutzten; die radioaktive Belastung nahe gelegener Bäche und Stauseen; Plutonium in Belüftungskanälen von Gebäuden; „verschwundenes“ Plutonium; plutoniumbelastete und nicht mehr betretbare Räume sowie die Verbrennung von plutoniumverseuchtem Abfall – was schließlich die Aufmerksamkeit des FBI auf sich zog und eine Durchsuchung zur Folge hatte. 1989 stellte Rocky Flats den Betrieb ein, die Gebäude wurden abgerissen und viel radioaktives Material von dem Gelände entfernt – aber eine Menge ist bis heute geblieben. Die ersten zwei Meter unter der Erdoberfläche wurden partiell von der Verstrahlung „gesäubert“, aber das tiefer liegende Plutonium und andere radioaktive und toxische Materialien verblieben. Die Oberfläche des Geländes ist aufgrund von Bioturbationsprozessen – also der Aktivitäten kleiner Tiere im Boden – in ständiger Bewegung. Ökologen haben in Rocky Flats 22 solcher Arten festgestellt. Die Tiere spielen eine wichtige Rolle bei der Verlagerung und Weiterverbreitung der radioaktiven 28

Schadstoffe, die im Boden bleiben. Dennoch ist 2017 die Eröffnung des frischgetauften Naturschutzgebietes „Rocky Flats“ geplant, zu dem ein Besucherzentrum, Picknickbereiche und über 30 Kilometer Wander-, Rad- und Reitwege gehören. Diese Fälle zeigen, dass eine Handvoll Unternehmen Profite mit der Herstellung „der Bombe“ macht, während Belegschaft und Umwelt unter den akuten Folgen leiden, mit unmittelbaren gesundheitlichen Konsequenzen. Derweil lebt der Rest der Welt mit dem Risiko einer ökologischen und humanitären Katastrophe. Hier kommt der Verbotsvertrag ins Spiel: Ein Atomwaffenverbot ist eine Gefahr für den Atomwaffenkomplex. Mehrere der gesetzlichen Verbote aus dem Vertragsentwurf werden sich direkt auf die wirtschaftliche, politische und soziale Zukunftsfähigkeit solcher Unternehmungen auswirken – so etwa das Verbot, Kernwaffen zu entwickeln, zu erproben, zu erzeugen, herzustellen und zu besitzen – oder andere bei Tätigkeiten dieser Art zu unterstützen (Artikel 1.a und 1.e).

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in explizites Verbot der Finanzierung von Atomwaffen, die ja eine unterstützende Handlung ist, wäre ein wichtiges Mittel, um die derzeitigen Betreiberfirmen von Atomwaffenlaboren in den USA und anderen Ländern unter Druck zu setzen. Wir müssen die Produktion von Massenvernichtungswaffen unrentabel machen, um Modernisierungsprogramme zu verhindern. Es geht darum, menschliche und ökonomische Ressourcen von den Waffen abzuziehen und der Erfüllung sozialer Bedürfnisse zuzuführen. Ray Acheson ist Direktorin von Reaching Critical Will. Artikel zuerst veröffentlicht in Nuclear Ban Daily Vol. 2, No. 8: bit.ly/2wtTz0r


ATOMWAFFEN

Der Deal mit dem Uran Lieferungen URENCOS in die USA verstoßen gegen Atomwaffensperrvertrag

Das US-Atomwaffenprogramm wird künftig durch Uranlieferungen der zu einem Drittel deutschen Urananreicherungsfirma URENCO unterstützt – mit Zustimmung auch der Bundesregierung.

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as US-Atomwaffenprogramm wird künftig durch Uranlieferungen der zu einem Drittel deutschen Urananreicherungsfirma URENCO unterstützt – mit Zustimmung auch der Bundesregierung. Darüber berichtete Mitte Juni 2017 die Tagesschau. Gegenüber Medien und Parlament versucht die Bundesregierung derzeit alles, um konkrete Aussagen zu diesem überaus brisanten Atomdeal zu vermeiden. Bereits im April 2017 teilte der US-amerikanische AKW-Betreiber Tennessee Valley Authority (TVA) mit, dass die Tritium-Erzeugung für die US-Atomwaffen künftig nicht mehr allein im Block 1 des AKWs Watts Bar 1 erfolgen würde, sondern auch auf Block 2 und die beiden Reaktoren in Sequoyah ausgeweitet werde. Brisant wird diese Meldung auch, weil für die Uran-Versorgung dieser Reaktoren laut TVA künftig das deutsch-niederländisch-britische Unternehmen URENCO zuständig sein wird. Entsprechende Lieferverträge im Wert von 500 Millionen US-Dollar wurden in den letzten Monaten unterzeichnet. Das Tritium wird in die Atomsprengköpfe eingebaut, um deren Wirksamkeit um ein Vielfaches zu erhöhen und muss Aufgrund seines radioaktiven Zerfalls etwa alle zwölf Jahre ausgewechselt werden. Nachdem die USA ihre letzten Militärreaktoren dichtmachen musste, wurde die Tritium-Erzeugung ab Anfang der 2000er Jahre auf den Block 1 des kommerziellen, zur Stromerzeugung eingesetzten AKW Watts Bar verlagert. Der Betrieb von Atomanlagen für sowohl militärische als auch zivile Zwecke (Dual Use) ist aus friedenspolitischer Sicht umstritten. Doch mit der Nutzung des kommerziellen Reaktors Watts Bar 1 war das „Tritium-

Thema“ nicht vom Tisch. Bereits Mitte der 2000er Jahre war absehbar, dass die letzte verbleibende nationale Urananreicherungsanlage ihren Betrieb würde einstellen müssen.

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ereits 2005 habe sich die URENCO daher laut einem Bericht des USEnergieministeriums mit der Frage befasst, ob sie als ein auf zivile Zwecke festgelegtes Unternehmen Uran für die Reaktoren liefern dürfte, in denen das militärisch erforderliche Tritium erzeugt würde. Dieses Gutachten war laut dem DOE-Bericht im Juli 2005 Thema bei einem Treffen der Regierungsmitglieder des URENCO-Kontrollgremiums, des Joint Committee, an dem auch die Bundesregierung beteiligt ist. Das Kontrollgremium habe der Rechtsauffassung des Unternehmens zugestimmt, da es sich bei dem Tritium lediglich um ein „Nebenprodukt“ handele. Angemerkt sei: Im Juli 2005 war eine rot-grüne Bundesregierung im Amt. Der federführend für URENCO zuständige Wirtschaftsminister war Wolfgang Clement (SPD) und Außenminister seinerzeit Joschka Fischer (Grüne). Im Bericht der Tagesschau vom 14. Juni 2017 heißt es: „Der frühere URENCO-Chef Helmut Engelbrecht hatte 2015 in einem Interview mit der Wirtschaftswoche erklärt: ‚Alles, was mit angereichertem Uran und mit der Anreicherungstechnologie zu tun hat, ist Gegenstand der Überwachung und Kontrolle durch die Regierungen.‘“ Lange Zeit hatten die USA versucht, die Einbeziehung nicht US-amerikanischer Lieferanten für das Atomwaffenprogramm zu vermeiden. Doch die Schließung der letzten nationalen Urananreicherungsanlage im Jahr 2013 verschärfte das „Tri29

REAKTOR WATTS BAR, TENNESSEE (USA)

tium-Thema“. Die Ankündigung von TVA, die Tritium-Erzeugung ab dem Jahr 2020 auf insgesamt vier Reaktoren auszuweiten und das Uran dafür von URENCO zu beziehen, macht klar, dass die Regierung Trump die bisherigen Bedenken beiseitegelegt hat.

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kandalös aber ist, dass diese Unterstützung des US-Atomwaffenprogramms durch URENCO nur mit der Zustimmung der Bundesregierung möglich wird. Im Joint Committee hätte die Bundesregierung laut dem Vertrag von Almelo mit ihrem Veto-Recht (auch gegen die Stimmen der britischen und niederländischen Regierungen) die Möglichkeit gehabt, derartige Lieferungen zu verhindern. Mit allerlei Tricksereien verschanzt sich die Bundesregierung: Streng vertraulich seien diese Vorgänge, teilte sie bislang auf Nachfragen mit. Wir fordern: Die Bundesregierung muss sich an den Atomwaffensperrvertrag halten und Uranzulieferungen an militärische genutzte Anlagen unterbinden. Weitere Hintergründe und Quellen finden Sie unter: „Zivil-militärisch: USBetreiber TVA weitet Tritium-Produktion für Atomwaffen aus“: ippnw.de/bit/ hubertus-zdebel

Hubertus Zdebel ist MdB und Mitglied im Aufsichtsrat der Bundesgesellschaft für Endlagerung. Dirk Seifert ist Anti-Atom-Experte und wissenschaftlicher Mitarbeiter Hubertus Zdebels: http://umweltfairaendern.de


WELT

Gesundheit durch Frieden Der IPPNW-Weltkongress vom 2.-7. September 2017 in York (Großbritannien)

Alle zwei Jahre treffen sich die VertreterInnen aller nationaler Sektionen der IPPNW auf einem Weltkongress, um über die großen Themen unserer Zeit zu diskutieren, sich über ihre Arbeit auszutauschen, gemeinsame Kampagnen zu planen, den internationalen Vorstand zu wählen und den Kurs der internationalen Organisation neu zu justieren.

ground“ wird sich mit den Folgen des Uranbergbaus befassen und Perspektiven für einen Ausstieg aus der Uranförderung aufzeigen. Der Workshop „A real energy revolution“ wird den weltweiten Atomausstieg zum Thema haben und diesen anhand des Beispiels des britischen Energiesektors diskutieren. Der dritte Workshop, „Our nuclear legacy: The toxic inheritance of future generations“ befasst sich mit dem atomaren Erbe, also dem radioaktiven Müll, der über viele Generationen sicher verwahrt werden muss und noch in tausenden von Jahren eine substantielle Gefahr für Umwelt und Gesundheit darstellen wird.

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er letzte Weltkongress in Astana liegt bereits drei Jahre zurück, da ein Treffen im Jahr 2016 organisatorisch nicht möglich war. Es wird also viel zu besprechen geben, wenn sich die VertreterInnen der mehr als 60 Sektionen vom 2.-7. September auf dem 22. IPPNW-Weltkongress im nordenglischen Universitätsstädtchen York treffen. Das Motto des diesjährigen Treffens lautet „Health Through Peace – Tackling public health crises in a changing, unstable world“ („Gesundheit durch Frieden – Gesundheitlichen Krisen in einer sich wandelnden, instabilen Welt begegnen“) und die großen Themenstränge, die den Kongress durchziehen sollen, sind Krieg, Atomwaffen, Fluchtbewegungen und der Klimawandel. Hunderte Ärztinnen und Ärzte, Medizinstudierende und UnterstützerInnen werden aus aller Welt erwartet, um gemeinsam zu diesen Themen zu diskutieren. Als GastrednerInnen sind u.a. der zukünftige Präsident der World Medical Association, Dr. Yoshitake Yokokura,

und die Generalsekretärin der Campaign for Nuclear Disarmament, Kate Hudson, eingeladen.

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itglieder der deutschen IPPNW beteiligen sich aktiv an den Vorbereitungen des Weltkongresses, so zum Beispiel unsere internationale Studierendensprecherin Aino Weyers, unsere europäische IPPNW-Vizepräsidentin Angelika Claussen und unser International Councillor Helmut Lohrer, die alle drei auch Mitglieder des derzeitigen internationalen Vorstands sind. Zusätzlich werden wir als deutsche IPPNW in York insgesamt sieben Workshops anbieten: drei zu Themen aus dem Bereich Atomenergie, eines aus dem Bereich Frieden und drei aus dem Bereich Medizin in sozialer Verantwortung. In den Atomenergieworkshops werden wir uns gemeinsam mit KollegInnen aus Kanada, der Schweiz, Großbritannien, Südafrika und Kenia, drei wesentliche Aspekte der nuklearen Kette anschauen: der Workshop „Keep uranium in the 30

m Workshop „Body Count“ wird die gleichnamige Publikation der IPPNW vorgestellt und medizinische Friedensarbeit anhand der Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“ erläutert. Im Workshop „Solving the ‚Migrant Crisis‘ “ soll Friedenslogik die engstirnige Sicherheitsperspektive auf das Thema Migration und Flucht ersetzen. Der Workshop „Refugee Health: Health Care for Vulnerable Groups“ wird sich indes mit den praktischen Aspekten des Zugangs besonders hilfsbedürftiger, vulnerabler Gruppen zum Gesundheitswesen auseinandersetzen. Beide Workshops werden sich in großen Teilen auf die Erfahrungen mit Geflüchteten hier in Deutschland beziehen und über die erfolgreiche Arbeit der zahllosen ehrenamtlich engagierten Menschen und Organisationen informieren. Abschließend werden wir im Workshop „Medical Peace Work“ darüber berichten, wie das Prinzip „Gesundheit durch Frieden“ gelehrt und gelebt werden kann.

Dr. Alex Rosen ist Vorsitzender der IPPNW Deutschland.


AKTION

HERFORD

MÖNCHENGLADBACH

Aktionstag Infostände und Kundgebungen zum Atomwaffenverbot

Z

u Beginn der letzten Runde der Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot und zeitgleich zum „Women‘s March against the Bomb“ in Washington fand am 17. Juni 2017 ein deutschlandweiter Aktionstag statt. IPPNW-Regionalgruppen veranstalteten Infostände und Mahnwachen, um Druck auf die Bundesregierung auszuüben, sich doch noch an den Atomwaffenverbotsverhandlungen zu beteiligen und die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. Ein großflächiges Banner „Frau Merkel, unterstützen Sie ein Verbot von Atomwaffen“ zog die Blicke der PassantInnen auf sich. Auf den Infoständen wurden zudem die Postkarten zu unserer Kampagne „Deutschland wählt atomwaffenfrei“ verteilt. Es gab Aktionen in Berlin, Büchel, Gießen, Hamburg, Kiel, Tübingen, Mönchengladbach und Solingen. Herzlichen Dank an alle, die sich an dem Aktionstag beteiligt haben.

BÜCHEL

GIESSEN

KIEL 31


G ELESEN

G ESEHEN

Andere Perspektiven

Das Schweigen brechen

Als ich hörte, dass unser IPPNW-Urgestein Ernst-Ludwig Iskenius ein Buch geschrieben hat, war ich sehr gespannt. Es ist ein Buch, das zu ihm passt, pragmatisch, aus dem Leben, aus seinem an Erfahrung reichen Leben.

Aya Domenigs Großvater hat 1945 als junger Militärarzt im Rotkreuzspital von Hiroshima gearbeitet. Was er in den Monaten nach dem Atombombenabwurf erlebte, davon hat er seiner Familie nie erzählt.

ools, heißt das heute. Ein Handbuch mit vielen praktischen Erläuterungen und Hinweisen und Hilfen. ErnstLudwig Iskenius und seine MitautorInnen haben in einer großen Fleißarbeit zusammengetragen, was es bei der Psychotherapie für Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung zu beachten und zu bedenken gilt. Es gibt kurze, prägnante Einführungstexte zu den logisch aufgebauten Kapiteln in einer auch für Laien gut verständlichen Sprache und dann viele Schaubilder, Musterbriefe, Anträge. Alles nüchtern, ohne Geschwätzigkeit, ohne erhobenen Zeigefinger. Und so auch für Fachleute eine lohnende Sammlung, für TherapeutInnen, die sich bisher gescheut haben, sich auf das schwierige Terrain der Arbeit mit Menschen aus einem anderen Kulturkreis und mit Dolmetschern einzulassen, kann es den Weg öffnen und für die vielen Laienhelfer, die Flüchtlinge und Migranten begleiten, wird es Verständnis wecken für die Regeln der Psychotherapie und für die vielen, meist bürokratischen Fallstricke.

ie Filmemacherin, die in der Schweiz lebt, möchte mehr über das Vermächtnis ihres Großvaters wissen. Sie hat sich auf die Reise nach Japan gemacht, um mit ihrer Großmutter und ehemaligen Krankenschwestern aus dem Hospital zu sprechen. Die Frauen, die sie trifft, berichten über das Erlebte, über die mutigen Versuche, trotz eigenen Unwissens Hilfe zu leisten und über die gesundheitlichen Auswirkungen, die sie am eigenen Körper erleben.

Ernst-Ludwig Iskenius hat das psychosoziale Zentrum Refugio in Villingen-Schwenningen aufgebaut und geleitet und sich auch bei Behörden und Gerichten Respekt erarbeitet. Seit seinem Ausscheiden dort gibt er viele Fortbildungen für ehrenamtliche und hauptamtliche Flüchtlingsbegleiter und für Therapeuten. Die Fragen, die ihm dort begegnen, sind in das Buch eingeflossen.

Während der Filmarbeiten Domenigs in Japan ereignet sich 2011 ein neues Desaster: der Reaktorunfall von Fukushima. Er ist für die Hibakusha, die Überlebenden des Atombombenabwurfs, Anlass, neue Bündnisse gegen die atomare Gefahr einzugehen. Gemeinsam mit Mitgliedern der Bürgerinitiative „Junod“ aus Fuchu unterstützen sie Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten. Aya Domenig hat die Hibakusha auf den Fahrten durch die Präfektur Fukushima begleitet, wo sie praktische Hilfe und emotionalen Beistand geben.

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„Als die Sonne vom Himmel fiel“ porträtiert auch den letzten Arzt aus Hiroshima, der von den Schrecken und den medizinischen Folgen des Bombardements zeugen konnte. Dr. Shuntaro Hida, der im März 2017 im Alter von 100 Jahren starb, war unermüdlich unterwegs, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Im Film erinnert er sich an den 6. August 1945: „Weil ich über Nacht auf einem Patientenbesuch außerhalb der Stadt war und morgens verschlief, verpasste ich die Explosion. Sonst hätte ich nicht überlebt“.

Ich bitte die Co-Autorin Melanie Gräßler und den Co-Autor Eike Hovermann um Nachsicht, dass ich ihren Anteil an dem vorliegenden Handbuch nicht entsprechend würdige. Ich hatte nicht das Vergnügen, sie kennenzulernen und das Buch verrät nichts über sie. Ich wünsche dem Buch viele Leser und Leserinnen, viele, die es in ihrer täglichen Arbeit nutzen und viele, die darüber den Weg zur Therapie dieser unterversorgten Patientengruppe finden.

Aja Domenig verknüpft das Jetzt und Damals. Ihr Film transportiert auch das gesellschaftliche Klima in Japan, wo die Betroffenen großen Mut aufbringen müssen, um sich zu äußern. Ein eindringlicher, berührender wie auch informativer Film, der zeigt, was Mitmenschlichkeit und Solidarität bewirken können.

Melanie Gräßer, Ernst-Ludwig Iskenius, Eike Hovermann jun.: Therapie-Tools. Psychotherapie für Menschen mit Migrationsund Fluchterfahrung. Mit E-Book und Arbeitsmaterialien. Beltz Verlag, 2017, 256 S., 39,95 €, ISBN 978-3-621-28426-4.

„Als die Sonne vom Himmel fiel“, R: Aya Domenig, Schweiz 2015, 78 Minuten, Dokumentarfilm auf Deutsch und Japanisch mit Untertiteln. Der Film wird am 10. Oktober 2017 bei der Eröffnung des Internationalen Uranium-Filmfestivals in Berlin gezeigt. Festivalprogramm unter: uraniumfilmfestival.org Regine Ratke

Dr. Gisela Penteker 32


GEDRUCKT

TERMINE

Die Türkei am Scheideweg

SEPTEMBER 14.–17.9. „Menschenrechte, zukünftige Generationen und Verbrechen im Nuklearen Zeitalter“, Kongress von PSR/IPPNW Schweiz in Basel

Reiseeindrücke aus einem bedrohten Land

Auch in diesem Jahr reiste eine Gruppe von IPPNW-Mitgliedern in die Südost-Türkei – trotz großer Sicherheitsbedenken. Obwohl in den deutschen Medien viel über die Türkei berichtet wird, erfahren wir über das, was in den kurdischen Gebieten passiert, wenig, obwohl die Informationen bei gezielter Suche durchaus zu finden sind. Die politische und Menschenrechtslage hat sich stark verschlechtert, viele unserer ehemaligen Gesprächspartner sitzen jetzt im Gefängnis. Viele Gruppen und Initiativen existieren nicht mehr. Wir dürfen unsere Freunde in der Türkei nicht verloren geben. Sie brauchen unsere Solidarität und unsere Fantasie, um Wege der Begegnung zu öffnen und gewachsene Kontakte aufrechtzuerhalten. 48 Seiten A4, Stückpreis 10,- Euro. Zu bestellen in der Geschäftsstelle. Online lesen: ippnw.de/bit/tuerkei17

15.9.-21.12. Ausstellung „Hibakusha Weltweit“ in Mönchengladbach, Eröffnung am 15.9. 21.9. Vortrag von Ernst-Ludwig Iskenius in Mönchengladbach 21.9. Vorträge und Film zum UNWeltfriedenstag, Berlin 21.9., „Afrika wohin? Politik, Wirtschaft, Migration“. Eggenfelden 22.9. „Bericht aus dem Zentrum der Atombombenexplosion“, Lesung mit Musik in Mönchengladbach 30.9.-11.10. Ausstellung „Hibakusha Weltweit“ im SGI München

OKTOBER 1.10. „Gelenkte Demokratie, Medien und Kriegspropaganda“. Vortrag vonProf. Rainer Mausfeld in Eggenfelden

GEPLANT Das nächste Heft erscheint im Dezember 2017. Das Schwerpunktthema ist:

Klimawandel, Gewalt und globale Gesundheit Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 152/Dezember 2017 ist der 31. Oktober 2017. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Redaktionsschluss

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

31. Oktober 2017

Wilmen, Regine Ratke

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

Freie Mitarbeit: Valentine Burkhart, Estelle Zirn

Regine Ratke; Druck: Clever24 GmbH Berlin;

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-

Papier: Recystar Polar, Recycling & FSC.

straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80

Bildnachweise: S. 6 li.: Orepa.org; S. 6 Mitte

74 0, Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@ipp-

(Tansania) Adrien Blanc, CC by 2.0; S. 30 Matze

nw.de, www.ippnw.de, Bankverbindung: Bank

Trier / CC BY-SA 3.0; S. 10 li.: „Medikamenten-

für Sozialwirtschaft, Kto-Nr. 2222210, BLZ

verbrauch“, Techniker Krankenkasse / CC BY-NC-

10020500, IBAN DE39100205000002222210,

ND 2.0; S. 28 oben: United States Department of

BIC BFSWDE33BER

Energy; S. 28 unten: Frode Ersfjord; S. 29 oben:

Das Forum erscheint vier Mal im Jahr. Der Be-

Foto: Tennessee Valley Au-

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag

thority / CC BY 2.0; nicht

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-

gekennzeichnete Fotos: pri-

kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der

vat oder IPPNW.; 33

das

13.-15.10. „Neue Entspannungspolitik jetzt!“, Seminar in Königswinter 27.10. IPPNW-Benefizkonzert in Biedenkopf Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

für

10.-15.10. Ausstellung Hibakusha Weltweit im Rahmen des Uranium Film Festivals in Berlin. 10.10. Eröffnung mit Kurzfilm-Screening

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Heft:

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MAI 21.5–2.6.2018 Frieden geht! Staffellauf von Oberndorf nach Berlin www.frieden-geht.de


GEFRAGT

6 Fragen an … Peter Donatus

Freier Journalist, Projektmanager und Menschenrechtsaktivist. Zu Gast bei der Global Health Summer School 2017

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Herr Donatus, warum mussten Sie vor 28 Jahren aus Nigeria fliehen? Ich hatte mich in der Studierenden- und in der Gewerkschaftsbewegung engagiert. Wir kämpften friedlich gegen die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen durch Shell und die wechselnden blutrünstigen Militärdiktaturen im Lande. 1988 fand der größte Generalstreik in der Geschichte Nigerias statt. Ich wurde monatelang ohne Anklage eingesperrt, hatte aber Glück im Unglück: Mein Vater konnte mich nach achtmonatiger Isolationshaft 1989 freikaufen. Ich musste Nigeria umgehend verlassen und floh, zunächst nach Belgien und dann weiter nach Deutschland.

sphäre. Nach einer Studie von schwedischen und US-amerikanischen WissenschaftlerInnen werden ab 2025 mindestens 25% der NigerianerInnen an Lungenkrebs erkrankt sein. Vor einigen Tagen wurde auch bekannt, dass 51.6 % der verheirateten Menschen im Nigerdelta HIV-positiv sind.

4

Wie unterstützen Sie die Menschen in Nigeria aus dem Exil? In den 1990ern war es sehr schwierig, Unterstützung zu organisieren. Dennoch haben wir viel erreicht: Untergrundradio, Fluchthilfen für MitstreiterInnen, Demonstrationen, Geld- und Sachspenden für Hilfsbedürftige dort, Rechtshilfen etc. Da ich auf den Fahndungslisten der Junta stand und nicht legal nach Nigeria reisen durfte, blieb nichts anderes übrig, als konspirative Reisen zu unternehmen. Solche Reisen waren wichtig, weil die Telekommunikation überwacht war, Mobilfunk und Internet verboten waren. Seit 1999 gibt es Demokratie im Lande – im üblichen afrikanischen Stil. Wir bauen Netzwerke wie die Initiative „Stopp Ökozid“ auf und machen Sammelaktionen: für Medikamente, medizinische Geräte, aber auch Geldspenden.

2

Shell und die Militärdiktatur haben die Proteste damals brutal unterdrückt. Was haben Sie erlebt? Bei den Massendemonstrationen wurden Hunderte getötet, Hunderte monatelang willkürlich eingesperrt. Im Gefängnis wurden wir massiv gefoltert. Die Versorgung war katastrophal: Rund 80 Insassen wurden bei tropischen 40 Grad auf 100 Quadratmetern eingesperrt. Es gab keine Toilette und nur eine Mahlzeit am Tag. Wir schliefen in Schichten, da es nur vier Etagenbetten gab. Es gab nur eine Mahlzeit pro Tag. Viele starben in der Haft, darunter viele Freunde. Zur Abschreckung und um uns zu demoralisieren, wurden die Leichen tagelang in der Halle gelassen. Die Toten stanken, ebenso unsere Wunden. Diese Halle, die Foltergeräusche, die Hitze, die Krankheiten, das Leid – all das spüre ich heute noch. Am Körper trage ich immer noch die alten Narben.

5

Wie kann man den Ökozid, also die Vernichtung von Lebensgrundlagen und schwere Umweltzerstörung, bekämpfen? Erstens: Westliche Multis müssen in den rohstoffreichen Regionen der Welt den gleichen Standards und Praktiken unterliegen wie in ihren Herkunftsländern. Zweitens fordere ich die Internationale Staatengemeinschaft auf, den Ökozid als fünftes „Verbrechen gegen den Frieden“ anzuerkennen. Hier muss Druck auf die Politik erzeugt werden. Die multinationalen Konzerne müssen die verseuchten Gebiete umgehend sanieren. Die Entschädigung der Opfer, die Bekämpfung der Korruption, Bildung und Ausbildung in den betroffen Regionen sind weitere essentielle Themen.

3

Shell und andere Ölkonzerne fördern seit 1958 Öl im Süden des Landes. Welche Konsequenzen hatte das für die Menschen und die Umwelt? Die Folgen für das Niger-Delta sind: Verwüstung, Enteignung, soziale Marginalisierung. Zwei Drittel der Bevölkerung leben in absoluter Armut, während die Eliten die Staatskassen plündern. Nach Angaben der nigerianischen Umweltbehörden gab es in den letzten 50 Jahren im Zusammenhang mit der Ölförderung fast 7.000 Unfälle. Milliarden Liter auslaufendes Rohöl haben das einstige Naturparadies in eine Hölle auf Erden verwandelt. Vielerorts ist der Boden bis zu fünf Meter tief verseucht. Eine Sanierung bräuchte laut UN mindestens 30 Jahre. Dabei ist das Gebiet mit rund 20 Millionen EinwohnerInnen das drittgrößte Wasserreservoir Afrikas. Doch jährlich verseuchen weiterhin rund 13 Mio. Barrel Öl das Delta. Durch das Abfackeln von Gas gelangen jährlich über 400 Mio. Tonnen CO2 in die Atmo-

6

Eine zentrale Forderung ist für Sie die Reform der Genfer Flüchtlingskonvention. Bis zum Jahr 2050 wird es zwischen 200 und 500 Millionen „Umweltflüchtlinge“ geben. Sie fliehen, weil ihre Heimat im Namen der Profitmaximierung zerstört wurde. Der westliche Wohlstand wird durch die Ausbeutung von Mensch und Natur in den rohstoffreichen Ländern finanziert. Daher fordere ich alle Staaten dazu auf, die Genfer Flüchtlingskonvention zu reformieren und den Ökozid, Umweltzerstörung, aber auch klimabedingte Flucht als Fluchtgründe anzuerkennen.

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issuu.com/ippnw

Bestellen Sie die Broschüre Im humanitären Bereich hat das Werben um Erbschaften und Nachlässe eine lange Tradition. Der Vorstand der IPPNW hat sich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, diese Möglichkeit den eigenen Mitgliedern, Fördererinnen und Förderern anzutragen. Den Einsatz für Ziele, die Ihnen am Herzen liegen, können Sie durch ein Vermächtnis oder ein Erbe nachhaltig unterstützen. Diese zwölfseitige Broschüre informiert Sie, welche Fragen dabei zu bedenken sind.

Per PerFAX FAXan an030/693 030/69381 8166 66

Ihr Nachlass gestaltet: Über den Tag hinaus

Ich bestelle ...... Exemplare der kostenlosen Broschüre „Über den Tag hinaus die Zukunft mitbestimmen: Vererben oder vermachen an einen gemeinnützigen Verein“

Name

Straße

IPPNW Deutsche Sektion Körtestraße 10 10967 Berlin

Plz, Ort

E-Mail

Unterschrift

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21. MAI – 2. JUNI 2018

FRIEDEN

GEHT!

OBERNDORF – KASSEL – BERLIN

Staffellauf für eine friedliche Welt

Die Bundesrepublik Deutschland ist weltweit der drittgrößte Exporteur von Kleinwaffen und fünftgrößte Exporteur von Großwaffensystemen. Deutsche Waffen werden in menschenrechtsverletzende und kriegsführende Staaten exportiert. Viele Menschen aller gesellschaftlichen Gruppierungen treten mit dieser Aktion gemeinsam für Frieden und gegen den Rüstungswahnsinn ein. Sie zeigen damit ihre Solidarität mit Millionen vom Krieg betroffener Männer, Frauen und Kinder.

WER FRIEDEN WILL, BRAUCHT KEINE WAFFEN. SEID DABEI ! ANMELDUNG AB HERBST 2017

www.frieden-geht.de

Von Oberndorf aus geht es nach einer Route, die an den Rüstungsstandorten vorbeiführt, nach Berlin. Jede und jeder kann mitmachen: Entweder beim Lauf, bei einer der Kundgebungen oder bei einer der zahlreichen Aktionen entlang der Strecke. Es wäre wünschenswert, dass aus anderen Regionen Läufe zur zentralen Route hin organisiert würden.

Die IPPNW ist Mitveranstalterin.


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