IPPNW forum 147/2016 – Die Zeitschrift der IPPNW

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Foto: © Anne Paq / activestills.org

ippnw forum

das magazin der ippnw nr147 sept2016 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

- Großbritannien: Atomenergie vor dem Aus? - Das neue Weißbuch der Bundeswehr - Büchel: 20 Wochen gegen 20 Bomben

Medizin und Gewissen – Wie ÄrztInnen Krieg und Gewalt vorbeugen


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EDITORIAL Eva-Maria Schwienhorst-Stich ist Vorstandsmitglied und stellvertretende International Councillor der deutschen IPPNW.

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edizinische Helferinnen und Helfer sind in gesellschaftlichen wie in kriegerischen Konflikten schwierigen Situationen ausgesetzt. Gleichzeitig können sie in der Vorbeugung struktureller Gewalt eine wichtige Rolle spielen. Dies wird auch Thema auf dem Kongress Medizin und Gewissen am 14. und 15. Oktober 2016 sein. Im eskalierenden Konflikt in Südthailand kommt medizinischem Personal eine besondere Rolle zu, die Gefahren mit sich bringt. Dr. Luisa Chan Boegli und Dr. Gabriella Arcadu stellen ein Medical-Peace-Work-Projekt vor, das sich direkt in die Konfliktzone begibt, um Gesundheitskräfte mit dem Handwerkszeug der Friedensarbeit vertraut zu machen. Wie können Hilfsorganisationen neutral bleiben und sich in militärischen Konflikten einer Vereinnahmung entziehen? Der Historiker Prof. Dr. Dieter Riesenberger schreibt über die wechselhafte Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes, das immer wieder mit Staat und Militär kooperierte. In einer aktuellen Kampagne ruft derzeit die DFG-VK das DRK dazu auf, die zivil-militärische Zusammenarbeit zu beenden. Mechthild Buchholz und Jeannette Böhme von Medica mondiale berichten von der Arbeit mit den Überlebenden psychosozialer Kriegsgewalt in Bosnien und Herzegowina. Präventionsmaßnahmen fördern hier den konstruktiven Umgang mit dem erlebten Unrecht auf gesellschaftlicher Ebene und wirken friedensfördernd. Gegen Angriffe ökonomischer Art setzen sich griechische ÄrztInnen zur Wehr: Dr. Giorgos Vichas, der Gründer der solidarischen Klinik in Athen, berichtet über sein Projekt und den ärztlichen Alltag in der humanitären Krise. Die Fotos zu diesem Schwerpunkt stammen aus dem Projekt „Health Care in Danger“ der Internationalen Rotes-Kreuz- und Roter-Halbmond-Bewegung, die eine weltweite Kampagne zu den kriegerischen Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen und PatientInnen ins Leben gerufen hat. Es wäre schön, Sie auf unserem Kongress in Nürnberg zu sehen! Ihre Dr. Eva-Maria Schwienhorst-Stich 3


INHALT Großbritannien: Atomenergie vor dem Aus?

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THEMEN Atomenergie in Großbritannien vor dem Aus?.....................................8 Das neue Weißbuch der Bundeswehr.....................................................10 Gemeinsame Sicherheit statt NATO-Kriege!..................................... 12 Staatsanwaltschaften bedrohen Pressefreiheit:

Foto: Global 2000 / CC BY-ND 2.0

Grimme-Preisträger im Fokus der Ermittlungsbehörden............14 Drohnenkrieg ist Mord. Wir kommen wieder. 5.000 Menschen protestieren in Ramstein........................................17 IPPNW-Protestwoche in Büchel............................................................... 18

SERIE Pressefreiheit bedroht: Ermittlungen gegen Jürgen Grässlin

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Die Nukleare Kette: Die Atomfabrik Hanford....................................16

SCHWERPUNKT HelferInnen in Gefahr..................................................................................... 20 Medizinische Friedensarbeit im Süden Thailands......................... 22 Ich will keine Medikamente nehmen, ich will lachen: Hilfe für Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt..........................24 Arbeiten in der solidarischen Klinik Ellinikó..................................... 26 Eng verwoben: Das DRK, die Macht und das Militär................... 28

WELT Die europäischen Sektionen der IPPNW setzen

20 Wochen gegen 20 Bomben: IPPNW-Protestwoche in Büchel

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sich gemeinsam für ein Atomwaffenverbot ein............................... 30

RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33


MEINUNG

Gisela Penteker ist Türkeibeauftragte der deutschen IPPNW und organisiert seit vielen Jahren Delegationsreisen in die Südost-Türkei.

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n Deutschland leben mindestens drei Millionen Menschen mit Wurzeln in der Türkei, etwa die Hälfte davon ist inzwischen eingebürgert. Gut 500.000 von ihnen sind KurdInnen. Wenn Präsident Recep Tayyip Erdogan in Köln oder Berlin auftritt, fühlt er sich wie in einer seiner Provinzen.

Das Meer der roten Fahnen in Köln und Berlin bei der türkischen Solidaritätsdemonstration für Erdogan nach dem Putschversuch hat uns erschreckt und die Frage nach der Integration der türkischen MitbürgerInnen hier aufgeworfen.

Trotz aller Konfliktlinien mit der türkischen Regierung setzt die Bundesregierung die türkische Repressionspolitik gegenüber den KurdInnen hier fort. Grund ist die Einstufung der PKK als Terrororganisation und der Generalverdacht gegen alle KurdInnen, die zu ihrer Identität stehen. Das macht es KurdInnen auch in Deutschland schwer, sich politisch für ihre Sache stark zu machen. Vereine bekommen keine Fördergelder, kurdische PolitikerInnen werden gerichtlich unter dem Paragraphen 129b verfolgt, der Verfassungsschutz hat auf alle kurdischen Aktivitäten ein kritisches Auge. Gerade wurde das jährliche Kulturfestival für Frieden, Toleranz und Demokratie in Köln verboten.

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ewaltfreie Konfliktbearbeitung ist nur da möglich, wo es zivile Betätigungsmöglichkeiten gibt. Die Aufhebung des PKK-Verbots und die gleichberechtigte Förderung kurdischer Vereine und Veranstaltungen wäre ein wichtiger Schritt für den inneren Frieden hier bei uns und ein Signal an die Türkei, die Friedensgespräche wieder aufzunehmen. In der derzeitigen Eskalation ist stattdessen zu befürchten, dass sich viele der geschätzten 300.000 bis 600.000 aus ihren Städten vertriebenen KurdInnen auf den Weg zu ihren Verwandten nach Deutschland machen werden. Neben allen politischen Forderungen nach Abzug der Atomwaffen aus der NATO-Airbase Incirlik in der Türkei, nach einem Ende der Waffenlieferungen und der Wiederaufnahme von Friedensgesprächen können wir alle zum Schutz von kurdischen PolitikerInnen, JournalistInnen und MenschenrechtlerInnen beitragen und hier den Dialog mit TürkInnen und KurdInnen und vor allem zwischen TürkInnen und KurdInnen befördern. 5


N ACHRICHTEN

IPPNW-Gutachten: Brennelementexporte aus Lingen rechtswidrig

UN-Mehrheit will 2017 Atomwaffen-Verbot verhandeln

Bundeswehr nutzt Olympia für Anwerbung von SoldatInnen

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Die Brennelemente aus Lingen ermöglichten und ermöglichen unter anderem den Betrieb der genannten Atomkraftwerke. Die Bundesregierung und die Bundesländer haben aufgrund von Sicherheitsbedenken gegenüber Belgien und Frankreich bereits die Stilllegung der Anlagen gefordert. „Die weitere Belieferung der AKWs in Doel, Fessenheim und Cattenom mit in Deutschland hergestellten Brennelementen ist in hohem Maße widersprüchlich und nicht mit geltendem Recht vereinbar“, erklärte Dr. Angelika Claußen (IPPNW) bei einer Pressekonferenz in Hannover. Derweil hat Bundesumweltministerin Barbara Hendricks trotz ihrer eigenen öffentlichen Kritik am Betrieb der belgischen Pannenreaktoren Anfang Juni über das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle und das Bundesamt für Strahlenschutz stillschweigend bis zu 50 neue Brennelementtransporte von der Brennelementefabrik Lingen für die Atomkraftwerke in Doel genehmigen lassen.

Deutschland stimmte gegen die Aufnahme von Verhandlungen für ein Atomwaffenverbot. Sascha Hach von ICAN Deutschland und IPPNW-Abrüstungsexpertin Xanthe Hall drückten große Enttäuschung über diese ablehnende Haltung aus: 93 Prozent der deutschen Bevölkerung befürworten nach einer Forsa-Umfrage ein Atomwaffenverbot. Hach kritisiert die Kluft zwischen Regierungshandeln und öffentlicher Meinung: „Die Bundesregierung ignoriert in ihrer Abrüstungspolitik die Mehrheitsmeinung der eigenen Bevölkerung ebenso wie die der internationalen Gemeinschaft.“ Das Genfer Votum habe gezeigt, dass der globale Süden die Dominanz einer militärisch überlegenen Minderheit nicht länger tatenlos hinnimmt.

rotz grundlegender Sicherheitsbedenken gegen die grenznahen, maroden Atomkraftwerke Cattenom, Fessenheim und Doel untersagt die Bundesregierung die Belieferung dieser Standorte mit Brennelementen aus Lingen bislang nicht. Laut einem Gutachten der Rechtsanwältin Dr. Cornelia Ziehm, das die IPPNW in Auftrag gegeben hat, dürfen Ausfuhrgenehmigungen für Brennelemente in diese AKWs gemäß § 3 Atomgesetz nicht mehr erteilt werden. Bereits erteilte Genehmigungen können oder müssen sogar widerrufen werden.

m Oktober wird die UN auf ihrer Vollversammlung über eine Aufnahme von Vertragsverhandlungen zu einem Atomwaffen-Verbot abstimmen. Die offene Arbeitsgruppe (Open-Ended Working Group) der UN zu nuklearer Abrüstung endete am 19. August 2016 mit einem unerwarteten Votum für die Aufnahme von Verhandlungen. Die Mehrheit der Staaten, darunter hauptsächlich Nationen von der Südhalbkugel der Erde, überstimmte eine Minderheit, der vor allem entwickelte Staaten aus dem Norden angehörten, in einer Kampfabstimmung. Sie setzten eine förmliche Aufforderung an die UN-Generalversammlung durch, für 2017 Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen einzuberufen.

Weitere Informationen unter: www.icanw.de oder www.ippnw.de/atomwaffen 6

(29,81 Prozent) der insgesamt 426 deutschen Olympia-Teilnehmer in Rio de Janeiro waren Sportsoldatinnen und -soldaten. Sie brachten 22 (13,83 Prozent) der deutschen Medaillen der gerade zu Ende gegangenen Sommerspiele mit nach Hause. Die Friedensgesellschaft DFG-VK kritisierte, die Bundeswehr nutze SportlerInnen „als Lockmittel für die militärische Laufbahn“. Mit Großplakaten auf der Straße, Werbespots im Fernsehen und Anzeigen in Tageszeitungen sowie dem Internet warb die deutsche Armee mit Sprüchen wie „Wir kämpfen für die Freiheit. Und für Medaillen“ und „Wir machen Karrieren. Und Olympia-Sieger“ für sich als Arbeitgeber. Man sei „Ausbilder von Vorbildern“, hieß es in der auch mit dem Logo des „Deutschen Olympischen Sportbunds“ versehenen Werbung. „Die Bundeswehr gibt jährlich etwa 35 Millionen Euro Steuergelder für ihre Sportförderung aus“, erklärt Ralf Buchterkirchen, Bundessprecher der DFG-VK. Er kritisiert das Förderprogramm der Armee als kurzsichtig. Die meisten BundeswehrSportlerinnen und -Sportler würden keiner geregelten Ausbildung nachgehen und stünden nach der Sportkarriere beruflich schlecht da. Zivile Alternativen zur militärischen Sportförderung wie etwa die Stiftung Deutsche Sporthilfe müssten finanziell besser ausgestattet werden. Mehr dazu unter: www.dfg-vk.de


N ACHRICHTEN

Ukraine: Kriegsdienstverweigerer Ruslan Kotsaba ist frei

WHO: Gesundheitseinrichtungen als Angriffsziel

Friedenspolitisches Symposium in Erinnerung an Andreas Buro

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as Verfahren gegen den ukrainischen Kriegsdienstverweigerer Ruslan Kotsaba ist eingestellt worden. Im Mai 2016 war er in erster Instanz zu insgesamt dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Das Gericht in Iwano-Frantiwsk hatte Kotsaba der „Behinderung der rechtmäßigen Aktivitäten der Streitkräfte der Ukraine“ beschuldigt. Es berief sich dabei auf eine Videobotschaft, die Kotsaba an den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko gerichtet hatte. Darin verweigerte Kotsaba seine Einberufung in den Kriegsdienst und rief seine Landsleute dazu auf, ihrer Einberufung keine Folge zu leisten. Kotsaba begründete seine Verweigerung damit, dass er nicht Teil eines „Bruderkrieges“ im Osten der Ukraine sein wolle und dass vor einer solchen Mobilisierung zunächst die Ausrufung des Kriegsrechts stattfinden müsse. Kotsaba war über 17 Monate inhaftiert. Das erste Verfahren zog sich so lange hin, weil viele der vorgeladenen Zeugen der Staatsanwaltschaft nicht zur Aussage erschienen. Aufgrund des ergangenen Urteils hat die Verteidigung Berufung eingelegt. In dem Berufungsverfahren wurde die Anklage wegen Mangels an Beweisen fallengelassen. Der Einsatz seiner Ehefrau Uliana Kotsaba und das Engagement verschiedener Nichtregierungsorganisationen dürften maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung gehabt haben. Mehr Infos unter: www.connection-ev.org

m Juni 2016 hat die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht veröffentlicht, der das Ausmaß von militärischen Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen aufzeigt. Insgesamt listet der Bericht 594 Angriffe in einem zweijährigen Erhebungszeitraum von 2014 bis 2015 auf. Diese Angriffe wurden in 19 Ländern verübt. Mehr als die Hälfte (63 Prozent) der erfassten Militärangriffe zielten auf Krankenhäuser. Ein weiteres Viertel galt dem medizinischem Personal. Zudem wurden PatientInnen, Personen oder Einrichtungen angegriffen, die im erweiterten Sinne für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems zuständig sind. Diese hohe Zahl an Militärangriffen ist besonders tragisch vor dem Hintergrund, dass die Zahl hilfsbedürftiger Menschen im Jahr 2015 mit 125 Millionen ihren bisherigen Höchststand erreicht hat. Die meisten Angriffe im Jahr 2014 wurden in Syrien verübt (93), das entspricht 28 Prozent. Militärangriffe auf Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen stehen mit zehn Prozent an zweiter Stelle. Laut dem WHO-Bericht lag bei 62 Prozent aller Angriffe die Absicht zugrunde, eine medizinische Einrichtung zu treffen. Das stellt einen klaren Bruch des humanitären Völkerrechts dar und verschärft die prekäre Situation von Hilfsbedürftigen in Krisengebieten. Mehr dazu unter: http://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/ files/resources/attacksreport.pdf

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ber aktuelle Aufgaben der Friedensbewegung diskutierten die etwa 60 TeilnehmerInnen des „Friedenspolitischen Symposiums zur Erinnerung an Andreas Buro“ Mitte Juni in Frankfurt. Zu Beginn zeigten die Veranstalter ein Video mit dem am 19. Januar 2016 verstorbenen Pazifisten und Professors für Internationale Politik, in dem er sich „gegen die geschichtsvergessene neue militärische Interventionspolitik der Bundesrepublik“ aussprach. Nach Ansicht der teilnehmenden FriedensforscherInnen, unter anderem vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, von der IPPNW, dem Netzwerk Friedenskooperative und der Friedens- und Zukunftswerkstatt, muss die Bewegung in Deutschland versuchen zu verhindern, dass der Krieg in Syrien weiter angeheizt wird. Dort gehe es nicht um einen religiösen Konflikt, sondern um Machtinteressen, ausgetragen zwischen den USA, Russland, Saudi-Arabien und Katar, konstatierte Werner Ruf, emeritierter Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik. Die Rolle der Bundesregierung bei der Unterstützung von teils offen diktatorischen Kriegsparteien beschrieb Ruf am Beispiel der Lieferung von „Leopard-2“Panzern und Panzerhaubitzen nach Katar. Die Vielfalt der friedenspolitischen Ansätze, die bei dem Symposium zur Sprache kamen, bildete etwas von der Breite der Themen ab, die Andreas Buro in über 50 Jahren unermüdlichen politischen Wirkens bearbeitet hat. Mehr Infos: www.grundrechtekomitee.de/ sites/default/files/Jochheim.pdf


ATOMENERGIE

Atomenergie in Großbritannien vor dem Aus? Der Brexit und seine Konsequenzen für die europäische Atomindustrie

Das südenglische Hinkley Point C ist der dritte Versuch, in Europa ein großes neues Atomkraftwerk zu errichten. Die Investitionen dafür übersteigen allerdings die Kapazitäten des angeschlagenen Atomkonzerns EDF und drohen, Gelder aus sicherheitsrelevanten Bereichen der französischen Energiewirtschaft abzuziehen – ein Thema, das nicht nur den Menschen in Großbritannien Sorgen bereiten dürfte.

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iel wurde in den letzten Wochen über die schädlichen Folgen der britischen Entscheidung geschrieben, die EU zu verlassen. Ein bislang wenig beachteter Aspekt des Brexit-Votums ist jedoch die Position der neuen britischen Regierung unter Theresa May zum Thema Atomenergie.

len. Die mittlerweile 70 Jahre alte Atomtechnologie wird der Bevölkerung weiterhin als moderner Heilsbringer für die Probleme der Energieversorgung und des Klimaschutzes verkauft. Massiven Fehlinformationen, gekauften Wissenschaftlern und korrupten Politikern ist es zu verdanken, dass weiterhin unverblümt von der „grünen Atomenergie“ gesprochen und sogar der Bau neuer Atomkraftwerke geplant werden kann. Sieben der acht aktiven britischen AKWs stammen aus den Jahren 1976 bis 1988. Der letzte Atommeiler ging 1995 ans Netz – vor mehr als 20 Jahren. Eine Erfolgsgeschichte sieht anders aus. Atomenergie ist ein Auslaufmodell. Das wollte die letzte britische Regierung unter David Cameron jedoch ändern.

Während sich in Deutschland nach Tschernobyl und Fukushima und durch die aufklärerische Arbeit der Anti-Atom-Bewegung ein breiter gesellschaftlicher Konsens herausbildete, dass Atomkraft keine Zukunftsoption für die Energiegewinnung in unserem Land darstellt, hat es die Atomlobby in Großbritannien geschafft, sie als vermeintlich „saubere“, ja sogar „grüne“ Alternative zu den fossilen Energieträgern zu verkaufen. Selbsternannte „Environmentalists“ wie George Monbiot, die sich intensiv gegen den Klimawandel und für den Umweltschutz engagierten, verteidigen plötzlich die Atomenergie als zukunftsträchtige Alternative zur Verfeuerung von Kohle und Gas. Selbst die britische IPPNW-Sektion MedAct ist in dieser Frage gespalten. Auf einem MedAct-Kongress im Dezember 2016 sollen die verschiedenen Argumente für und gegen Atomenergie als „Klimaretter“ diskutiert und abgewogen werden.

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m Süden Englands, in Hinkley Point, sollte ein Europäischer Druckwasserreaktor (EPR) errichtet werden – ein Reaktortyp, der noch nicht erprobt ist und dessen Bau im finnischen Olkiluoto sich bereits seit zehn Jahren verzögert und dessen Kosten mittlerweile auf das Dreifache des ursprünglich veranschlagten Betrags angestiegen sind. Auch der geplante EPR im französischen Flamanville ist bereits sechs Jahre im Verzug und kostet mittlerweile dreimal so viel wie anfangs berechnet. Die französische Firma Areva ist durch diese beiden Projekte in die Pleite getrieben worden, andere beteiligte Firmen wie Siemens sind mittlerweile aus der Atomenergie ausgestiegen. Durch das erhöhte Risikobewusstsein in der Bevölkerung und die dadurch notwendigen Sicherheitsbestimmungen ist mit Atomkraftwerken heutzutage ohne substantielle staatliche Förderung kein Geld mehr zu verdienen.

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er britische Diskurs mutet für uns in Deutschland recht antiquiert an und erinnert ein wenig an unsere eigenen gesellschaftlichen Diskussionen in den 1990er Jahren, die zum Atomausstiegsbeschluss von 2001 führten. Wir erinnern uns auch an den Versuch der hiesigen Atomlobby, in den Folgejahren durch groß angelegte Werbekampagnen und massiven politischen Druck die Entscheidung des Bundestags rückgängig zu machen. Doch der breite Konsens in der Gesellschaft war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr umkehrbar – spätestens der Super-GAU in Japan 2011 beendete die Phantastereien von einer Atomrenaissance in Deutschland.

Hinkley Point C ist also der dritte Versuch, in Europa ein großes neues Atomkraftwerk zu errichten: Unter der Regierung Cameron war das Projekt in Zusammenarbeit mit der staatlichen chinesischen Firma CGN und der staatlichen französischen Firma EDF politisch forciert worden. Im Juli 2016 sollten die Finanzierungsverträge unterzeichnet werden, in 2019 sollte der erste Spatenstich stattfinden, 2023 sollte es ans Netz gehen – ein ehrgeiziger Plan, wenn man die Bauverzögerungen in Finnland und Frankreich bedenkt. Ob der EPR jemals fertig gestellt wird, ist weiterhin unklar.

Eine ähnliche gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Zukunft der Energieproduktion findet nun also auch in Großbritannien statt. Der offenbare Widerspruch zwischen den optimistischen Erwartungen an die Atomenergie und der bedrückenden Realität scheint in der Debatte dabei fast eine Nebenrolle zu spie8


ATOMKRAFTGEGNER/INNEN 2012 BEI EINER BLOCKADE IM SÜDENGLISCHEN HINKLEY POINT. Foto: Global 2000 / CC BY-ND 2.0

auszuschließen. Und selbst ohne dieses abenteuerliche Szenario stellen Fragen der Sicherheit in Großbritannien eine relevante Sorge dar. Nach Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima sind die Sicherheitsversprechungen der Atomwirtschaft nicht mehr glaubwürdig.

Seit Jahren warnen PolitikerInnen, ExpertInnen und sogar der britische Rechnungshof zudem vor immensen Kostensteigerungen des ursprünglich auf 21 Milliarden Pfund bezifferten Projekts. Schon vor Baubeginn rechnet man in London mit Kosten von mehr als 35 Milliarden. Innerhalb des Aufsichtsrats von EDF kam es wegen der Entscheidung, Hinkley Point C zu bauen, zu Rücktritten. Am Ende fiel die Entscheidung in einer Kampfabstimmung. Kritiker warnen davor, dass EDF mit dem Projekt sein finanzielles Grab schaufele. Denn EDF hat Schulden in Höhe von 37 Milliarden Euro und musste bereits mit Steuergeldern vor dem Bankrott bewahrt werden. Die Investitionssumme für Hinkley Point C übersteigt ExpertInnen zufolge die Kapazitäten des angeschlagenen Konzerns und droht, Gelder aus anderen, sicherheitsrelevanten Bereichen der französischen Energiewirtschaft abzuziehen – ein Thema, das auch den Rest der europäischen Bevölkerung sorgen dürfte.

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ll diese Bedenken sind offenbar nicht an den PolitikerInnenn in London vorbeigegangen. Nach der knappen Entscheidung des EDF-Aufsichtsrats für den Bau von Hinkley Point C im vergangenen Monat erklärte Theresa May nun, das gesamte Projekt noch einmal auf den Prüfstand stellen zu wollen. Einen endgültigen Entschluss der britischen Regierung sollte es erst im Herbst 2016 geben. Die Vertragsunterzeichnung mit den chinesischen und französischen Partnern wurde kurzerhand abgesagt, das Image des Projekts nahm weiter Schaden. Nun bleibt abzuwarten, zu welchem Entschluss die neue Regierung am Ende kommt. Objektiv betrachtet bleibt ihr nichts anderes übrig, als das Projekt zu stoppen. Selbst Unterstützer der Atomenergie gehen mittlerweile auf Distanz zu Hinkley Point C. Sie sprechen von einem „weißen Elefanten“ – einem offensichtlichen Problem, das jeder sieht, aber das keiner sich anzusprechen traut. Der Entschluss der britischen Regierung zum Stopp von Hinkley Point C wäre der letzte Sargnagel der britischen Atomindustrie. 2035 geht das letzte britische Atomkraftwerk vom Netz, danach wäre Großbritannien atomkraftfrei – auch ohne jemals wie Deutschland den Atomausstieg formell zu beschließen.

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m EDF das ungeliebte Projekt dennoch schmackhaft zu machen, war die britische Regierung zu weitreichenden finanziellen Zugeständnissen bereit. Die ungewöhnlich hohe garantierte Einspeisevergütung von 9,25 Pence pro Kilowattstunde (derzeit etwa 10,7 Euro-Cent) über insgesamt 35 Jahre bedeutet dabei nichts anderes als eine massive Subventionierung des Atomkraftwerks durch den Steuerzahler. Bereits heute ist Strom aus Solarenergie deutlich günstiger: Einspeisevergütungen für große Solaranlagen in Deutschland liegen derzeit zwischen sieben und acht Cent pro Kilowattstunde. Wie hoch die Subventionen für den Atomstrom aus Hinkley Point C endgültig ausfallen, ist dabei heute noch gar nicht abzusehen: Seit Vereinbarung des Garantiepreises 2012 ist der Strompreis bereits so stark gesunken, dass die Subventionsversprechungen sich mehr als verdoppelt haben. Derzeit geht man von etwa einer Milliarde Britischer Pfund aus, die aus Steuergeldern jedes Jahr fließen würde.

Alex Rosen ist stellvertretender Vorsitzender der deutschen IPPNW und im AK Atomenergie aktiv.

Neben den finanziellen Sorgen warnen SicherheitsexpertInnen zudem vor der Beteiligung chinesischer Staatsfirmen in einem solch sensiblen Bereich wie der britischen Atomenergie. Eine Manipulation der britischen Energieversorgung sei technisch nicht 9


FRIEDEN

Das neue Weißbuch der Bundeswehr Das Sicherheitsverständnis der Bundesregierung verwischt die Grenze zwischen Krieg und Frieden

Nach zehn Jahren hat sich das Bundesverteidigungsministerium im Juli 2016 ein neues Weißbuch gegeben. Es soll das Regierungshandeln im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik transparent machen.

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ls Hauptdokument zur Sicherheitspolitik wird es von den Verteidigungspolitischen Richtlinien ergänzt, die zuletzt 2011 formuliert wurden. Das neue Weißbuch sei nötig, weil sich das sicherheitspolitische Umfeld durch eine „nie gekannte Dichte und Parallelität der Krisen“ verändert habe, so die Ministerin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung. Beispiele dafür seien der sogenannte Islamische Staat, neue Gefährdungen im Cyber-Raum, die Flüchtlingskrise sowie Pandemien wie Ebola. Und Deutschland habe eine neue Rolle zu erfüllen: „Deutschland ist bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen und auch zu führen.“

Ein Dokument militärischer Aufrüstung Das Weißbuch deutet dieses Mehr an deutscher Verantwortung als aktive Mitgestaltung der globalen Ordnung. Für den sicherheitspolitischen Aspekt sollen die Verteidigungsausgaben bald von 1,2 Prozent des BIP auf die durch die NATO vorgegebenen zwei Prozent gesteigert werden. Deutschland strebt einen gestärkten europäischen Pfeiler in der NATO an. Langfristig solle das eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion sein. Die deutsche Beteiligung an der nu-

klearen Abschreckung der NATO bleibt erhalten, wobei sich die Bundesregierung zugleich zum Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt bekennt. International müsse sich Deutschland stärker in Friedensmissionen der Vereinten Nationen engagieren und dort Führungsverantwortung übernehmen. Für die weitere Zukunft wird ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angestrebt.

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war ist eine Grundgesetzänderung für die Einsätze der Bundeswehr im Inneren nicht mehr vorgesehen, hier gab es entschiedenen Widerspruch des Koalitionspartners SPD, doch die Armee müsse bei Terrorangriffen etwa zu Evakuierungs- oder Rettungseinsätzen im Inland berechtigt sein. Die Debatte um ihren Inlandseinsatz wird nach den jüngsten Anschlägen wiederbelebt. Rüstungsexporte in Staaten außerhalb von EU und NATO sollen als probates Mittel genutzt werden, wenn deutsche außen- oder sicherheitspolitische Interessen es notwendig machen.

Kritik aus der Friedensbewegung Auf das im Juli veröffentlichte Weißbuch reagierte die Breite der deutschen Friedensbewegung besonders mit einer Kritik an der voranschreitenden Veränderung der Rolle der Bundeswehr. Ihr Charakter werde von 10

einer defensiven Armee zu einer weltweit einsetzbaren Truppe verändert. Belege dafür seien die Fortschreibung der Auslandseinsätze der Bundeswehr sowie ihr möglicher Einsatz gegen illegale Grenzübertritte.

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uch die Kooperation für den Frieden, ein Dachverband von Initiativen und Organisationen der deutschen Friedensbewegung, in dem die IPPNW seit seiner Gründung engagiert ist, lehnt das Weißbuch als ein Dokument der Aufrüstung ab. Die Sicherheits- und Rüstungspolitik der Bundesregierung, wie sie im Weißbuch dargestellt wird, ist ihrer Analyse nach friedensgefährdend und konfrontativ. Das Weißbuch schildere eine Politik der schleichenden Militarisierung im Innern und einer weiteren Militarisierung Europas. Ebenso kritisiert wird die fast schon hemmungslos zu nennende Fortsetzung des deutschen Rüstungsexports sogar in Spannungsgebiete kritisiert. Die deutliche Aufstockung des Wehretats auf 60 Milliarden Euro führe zu einer „Aufrüstungsspirale“, zu der auch die Anschaffung völkerrechtswidriger Waffen, wie etwa bewaffnungsfähiger Drohnen, gehöre. Das Bündnis kritisiert die zunehmend konfrontative Position der NATO und der Bundeswehr gegenüber Russland. Im letzten Weißbuch 2006 wurde Russland noch als


KINDER HANTIEREN MIT WAFFEN: „TAG DER BUNDESWEHR“ IN STETTEN IM JUNI 2016. FOTO: DFG-VK

„Partner“ tituliert. 2016 heißt es: „Russland wendet sich dabei von einer engen Partnerschaft mit dem Westen ab und betont strategische Rivalität.“ Russland wird mit Hinweis auf die Krim und im Osten der Ukraine vorgeworfen, die europäische Friedensordnung einseitig in Frage zu stellen. Eine solche Politik der Konfrontation schadet beiden Seiten. Vom ehemaligen Konsens der Charta von Paris 1990 ist heute kaum noch etwas zu spüren.

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as im Weißbuch 2016 formulierte neue „Sicherheitsverständnis“ fasst die Rolle der Bundeswehr sehr viel weiter als früher. Das ist besonders bei der ausführlicher dargestellten Aufgabe der Bundeswehr nachzulesen, die „Verteidigung gegen terroristische und hybride Bedrohungen“ zu übernehmen. Eine „hybride Bedrohung“ wird als eine subversive Unterminierung eines anderen Staates erklärt. Solche Bedrohungen unterhalb der Kriegsschwelle, wie zum Beispiel „Cyberangriffe“, verlangen nach „hybrider Analysefähigkeit sowie entsprechender Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit. Dies hat maßgebliche Auswirkungen auf den Charakter und unser Verständnis von Landes- und Bündnisverteidigung im 21. Jahrhundert.“ Die Kooperation für den Frieden kritisiert: „Hybrides Vorgehen verwischt die Grenze zwischen Krieg und Frieden und kann gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstoßen.“ Wie diese Fähigkeiten der Bundeswehr entwickelt werden, muss von der Friedensbewegung sehr kritisch begleitet werden.

Friedenspolitik geht vor Sicherheitspolitik Der im Weißbuch 2016 dargestellten Sicherheits- und Verteidigungspolitik stellte die Friedensbewegung auf einer Pressekonferenz ihre Alternative entgegen. Die Kooperation für den Frieden tituliert ihre Vorstellungen mit der Forderung nach einem Paradigmenwechsel: Die Sicherheitspolitik muss sich der Friedenspolitik unterordnen. Friedenspolitik orientiert sich am absoluten Primat des Friedens und einer Absage an Krieg. Dafür ist eine umfassende Abrüstung notwendig, die im eigenen Land beginnt. Dazu gehört der Abzug der letzten USAtomwaffen von deutschem Boden und der entschiedene Einsatz Deutschlands für ein weltweites Verbot der Atomwaffen. Da ein Zusammenleben der Menschen und Nationen nicht ohne Konflikte ausgehen wird, müssen Auseinandersetzungen mit den Grundsätzen der zivilen Konfliktbearbeitung geführt werden. Generell muss die zivile Konflikttransformation das Leitmotiv deutscher und europäischer Außenpolitik werden. Eine Richtschnur dafür ist die Ausrichtung der Politik am Völkerrecht und dem Ziel internationaler Gerechtigkeit.

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n einer Kommentierung des Weißbuchs 2016 durch die Kooperation heißt es weiter: „Friedenspolitische Alternativen können nur in einem Ringen um soziale Demokratie, Menschenrechte und ökologische Nachhaltigkeit realisiert werden. Sie verlangen die Wiederbelebung einer Ent11

spannungspolitik, weltweite inklusive Friedensstrukturen und die Überwindung der Militärblöcke, besonders der NATO.

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riedenspolitik, die auf positiven friedlichen Alternativen zur herrschenden Politik basiert, ist möglich, realistisch und sinnvoll. In einer Zeit von Kriegen, Krisen und grundlegenden Veränderungen können diese Ideen und erprobte Alternativen Menschen begeistern und in Aktion versetzen. Angeknüpft werden kann dabei an die militärkritische Grundstimmung in der Bevölkerung, die Kriegseinsätzen aufgrund der Erfahrungen aus zwei Weltkriegen skeptisch gegenübersteht.“ Letzteres ist ein positiver Ansatzpunkt für die Durchsetzung einer grundsätzlich anderen politischen Orientierung. Regelmäßig werden in Umfragen hohe Ablehnungsquoten der deutschen Bevölkerung von bis zu 80 Prozent gegen Waffenexporte und Auslandseinsätze dokumentiert. Dass die Bundeswehr ihren Etat für Rekrutenwerbung von 85 Millionen auf über 100 Millionen Euro erhöhen will, wirkt dabei wie eine Bestätigung ihres grundsätzlichen Akzeptanzproblems in der Bevölkerung.

Dr. Jens Peter Steffen ist IPPNW-Friedensreferent und leitet gemeinsam mit Xanthe Hall die IPPNW-Geschäftsstelle.


FRIEDEN

„Krieg ist nichts als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens.“ Thomas Mann

Gemeinsame Sicherheit statt NATO-Kriege! Aufrüstung gegen Russland: Doppelte Standards sind zum Muster deutscher Regierungsvertreter geworden

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s begann mit einer Lüge – so war der Titel einer sehr verdienstvollen ARD-Dokumentation, die die regierungsamtliche Propaganda des damaligen deutschen Verteidigungsministers Scharping bloßstellte, mit der der Krieg gegen Jugoslawien 1999 legitimiert werden sollte. (Leider wurde die Dokumentation erst 2001, lange Zeit nach diesem Krieg, ausgestrahlt.)

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oppelte Standards, das heißt das Anlegen unterschiedlicher Maßstäbe an das eigene Verhalten einerseits, die Bewertung der Handlungen von Kontrahenten andererseits sind zu einem alltäglichen Muster unserer RegierungsvertreterInnen geworden. Der Anschluss der Krim an die russische Föderation, immerhin nach einer Volksabstimmung und im Wesentlichen ohne Kriegsopfer in der dortigen Bevölkerung, wird von der Bundesregierung scharf gegeißelt, und zum Anlass für Wirtschaftssanktionen, weitere Aufrüstung und Truppenaufmärsche nahe der russischen Grenzen genommen. Nicht thematisiert wird der putschartige Sturz des legal gewählten Präsidenten Wiktor Janukowytsch und die Konfrontation der westlich unterstützten Umsturzregierung mit der russischen Bevölkerungsgruppe im Land, sowie die Kündigung des russischen Marinestützpunkts Sewastopol auf der Krim. In Vergessenheit geraten scheinbar auch der völkerrechtswidrige Kosovo-Krieg und die Abspaltung dieser Provinz von Jugoslawien durch die NATO-Intervention.

Die NATO nimmt in Osteuropa immer neue Mitgliedsländer auf, und beschließt weitere massive Aufrüstungsmaßnahmen, die den deutschen Fiskus nach jetzigem Stand jährlich etwa neun Milliarden Euro zusätzlich kosten werden. Von einer Politik der Verständigung gerade auch mit Russland, das im zweiten Weltkrieg die schwersten Opfer durch die faschistischen deutschen Angreifer erleben musste, ist wenig übrig geblieben, stattdessen beteiligt sich Deutschland erneut an der Dämonisierung und dem Versuch der Isolierung dieses Landes.

„Deutschlands gewachsene Verantwortung“ In ihrem vor einigen Wochen erschienenen verteidigungspolitischen Weißbuch beschreibt die Bundesregierung die Zunahme kriegerischer Gewalt in der aktuellen Weltlage und begründet damit die angebliche Notwendigkeit, mehr an Ressourcen in die Bundeswehr zu stecken, und sich auf vermehrte Militäreinsätze deutscher Truppen einzustellen. Es ist schade, dass das Verantwortungsbewusstsein deutscher Politiker bisher nicht dazu geführt hat, die international zugesagten 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für entwicklungspolitische Ziele in verarmten Ländern der „Dritten Welt“ anzulegen, und stattdessen nun in einem Land, das von keinem Staat militärisch bedroht wird, der Etat für Rüstung und Krieg nach NATOVereinbarung von 1,2 auf 2 Prozent des BIP angehoben werden soll. 12

Dabei ist das NATO-Bündnis in Bezug auf finanzielle Ausgaben und militärische Ausrüstung in vielen Belangen schon seit langem konkurrenzlos. Allein der Militärapparat der US-Streitkräfte ist weltweit unvergleichlich: Sie betreiben über 700 Auslands-Stützpunkte auf drei Kontinenten und kontrollieren weltweit die Ozeane (und auch die Telekommunikation, wie man jetzt weiß). Die Gesamtausgaben für die USStreitkräfte lagen 2014 bei rund 600 Milliarden US-Dollar, die NATO-Militärausgaben insgesamt werden mit 863 Milliarden US-Dollar angegeben – etwa 50 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben insgesamt. Dabei haben die NATO-Mitgliedsnationen mit einer Zahl von 906 Millionen Menschen einen Anteil von rund zwölf Prozent an der Weltbevölkerung. Russland werden für 2015 Militärausgaben in Höhe von 66,4 Milliarden Dollar zugeordnet (Quelle: kurzlink.de/statista). Unbestreitbar ist bisher, zumindest im Militärischen, die Charakterisierung der USA durch den früheren US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski als „die einzige Weltmacht“.

„World at War“ So hat das Flüchtlingshilfswerk der UNO UNHCR seinen Bericht für das Jahr 2014 betitelt: Die bewaffneten Konflikte von Osteuropa bis zum Hindukusch und nach Afrika treiben weiter Millionen in die Flucht. Für 2015 ist die vom UNHCR genannte Zahl weiter auf 65 Millionen gestiegen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Herkunftsländer der in Deutschland Schutzsuchenden für 2015


PROTEST GEGEN AUFRÜSTUNG UND KRIEGE ANLÄSSLICH DER NATO-“SICHERHEITS“KONFERENZ IN MÜNCHEN 2015.

aufgeschlüsselt: Die weitaus meisten, über 35 Prozent, kommen aus Syrien, und insgesamt rund 60 Prozent aus Regionen, in denen unter aktiver Beteiligung von NATO-Mächten Krieg geführt wurde und wird. Hat die NATO also militärisch versagt, werden die neuen Waffen und die Aufstockung des Bundeswehr-Personals in Osteuropa, Asien und Afrika das Los der Menschen in den Einsatzgebieten zum Besseren wenden?

Bilanz der NATO-Kriege Im Dokument des im Juli durchgeführten Warschauer NATO-Treffens ist viel von den Gefahren für Freiheit und Wohlergehen der Menschen in den von zunehmenden Kriegen und gewaltsamen Konfrontationen betroffenen Weltregionen die Rede, leider aber nur wenig von den Ergebnissen der bisherigen NATO-Interventionen. Einige Beispiele für die in aller Regel gegen die Prinzipien des Völkerrechts, teilweise auch explizit ohne Votum des Weltsicherheitsrats geführten Waffengänge von NATO-Mächten: »» Kosovo/Jugoslawien 1999: Zahl der zivilen Opfer offiziell nicht erfasst; Stabilisierung des Kosovo-Gebiets auch 17 Jahre nach der Invasion nicht gelungen, fortgesetzte NATO-Truppenstationierung, massive Auswanderung von Bürgern auf Grund der desolaten ökonomischen Situation. Erfolgsbilanz: Einrichtung einer US-Militärbasis im „Camp Bondsteel“ »» Afghanistan 2001: Nach 15 Jahren NATO-Okkupation keine Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse – das Land

hat in dieser Zeit eine enorme Zunahme der Opium-Produktion und der damit verbundenen kriminellen Strukturen erlebt. »» Irak 2003: Alle Zeichen eines zerfallenden Staates, Hort von internationalem Terrorismus; Zerstörung eines zuvor entwickelten Gesundheitswesens; nach Abzug der US-Truppen nun erneute Bombardierungen durch die US Air Force. »» Libyen 2011: Zerstörung der libyschen staatlichen Strukturen, Hort rivalisierender Milizen und Ausgangspunkt von Waffenlieferungen in andere Bürgerkriegsregionen; aktuell erneute Bombardierungen durch die US-Luftwaffe. »» Die Unterstützung der dschihadistischen Krieger in Syrien gegen jedes Völkerrecht unter anderem durch führende NATO-Mächte hat eine weitgehende Zerstörung des Landes, hunderttausende von Todesopfern und eine riesige Welle von Flüchtlingen herbeigeführt. Demokratie und Menschenrechte können also offensichtlich so nicht vorangebracht werden. Die Opfer dieses sogenannten „Krieges gegen den Terror“ werden nach plausiblen Schätzungen, wie die IPPNW sie im „Body Count“ zusammengestellt hat, auf bisher schon weit über eine Million Menschenleben geschätzt (s. kurzlink.de/body-count).

It’s the economy, stupid! (Bill Clinton) Es scheint rätselhaft, warum in der Regel gut informierte Führungsgruppen unter 13

Aufbietung beträchtlicher demagogischer Anstrengungen auf die kriegerische Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele zurückgreifen. Die ökonomische Bedeutung der Kriegsindustrie gerade in einem Land wie den USA, bedroht von keinem anderen Staat, kann dafür Erklärungen beisteuern. Schon Präsident Eisenhower, bekanntlich ein früherer Army-Befehlshaber, hat darauf mit dem Begriff „militärisch-industrieller Komplex“ warnend hingewiesen. Gerade die ökonomische Krise, die wir zurzeit erleben, birgt da besondere Gefahren.

T

homas Mann, während des ersten Weltkrieges in keiner Weise pazifistisch, hat 1955 erkannt: „Krieg ist nichts als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens.“ Es ist unsere Aufgabe, als informierte, zur Aktivität bereite Bürgerinnen und Bürger, die Pathogenese der „Krankheit Friedlosigkeit“ (Horst-Eberhard Richter) zu untersuchen und aufzudecken. Einen Hintergrund-Artikel von Matthias Jochheim über Alternativen zur NATO finden Sie auf der IPPNW-Homepage: http://kurzlink.de/NATO-Jochheim

Matthias Jochheim ist IPPNW-Mitglied und ehemaliger Vorsitzender der IPPNW Deutschland.


FRIEDEN

Staatsanwaltschaften bedrohen Meinungs- und Pressefreiheit Grimme-Preisträger Jürgen Grässlin im Fokus der Ermittlungsbehörden

Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft unterlässt Ermittlungen gegen Beamte von Rüstungsexportkontrollbehörden beim illegalen G36-Gewehrdeal von Heckler & Koch mit Mexiko – stattdessen leitete die Münchener Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Buchautoren vom „Netzwerk des Todes“ ein.

A

(die womöglich widerrechtliche Nutzung einer G36-Lizenz zum Nachbau zehntausender mexikanischer Sturmgewehre des Typs FX05), die Ulmer und Eckenfördener Kleinwaffenproduzenten Carl Walther und Sig Sauer (wegen des begründeten Verdachts des illegalen Pistolentransfers über die USA ins Bürgerkriegsland Kolumbien).

m 8. April 2016 war die Welt zumindest für Außenstehende vermeintlich noch in Ordnung. An eben diesem Freitag nahm der Filmemacher und Buchautor Daniel Harrich für sich und sein Team in Marl den GrimmePreis 2016 „für die journalistische Leistung bei der Recherche“ entgegen. Zu eben diesem Team zähle ich als Strafanzeigeerstatter und Fachberater des Spielfilms „Meister des Todes“ sowie mein Rechtsanwalt Holger Rothbauer.

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ünfeinhalb Jahre nach der ersten Anzeigeerstattung erhob die Staatsanwaltschaft Stuttgart endlich Klage gegen sechs Verantwortliche von H & K. Sie wirft den beiden früheren Geschäftsführern Joachim Meurer und Peter Beyerle und vier ehemaligen Mitarbeitern vor, Kriegswaffen „vorsätzlich“ ausgeführt zu haben – wohlgemerkt ohne Vorliegen der dafür erforderlichen Genehmigung, so die Formulierung in der Klageschrift. In fünf Fällen – alle außer Herr Meurer – sollen die H & K-Vertreter als „Mitglied einer Bande“ agiert haben, „die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Straftaten verbunden hat“, so Klageschrift vom Oktober 2015.

Nur Eingeweihte wussten: Zu diesem Zeitpunkt war die Situation bereits dramatisch eskaliert. Längst hatte die Staatsanwaltschaft Stuttgart Vorermittlungen gegen uns BuchautorInnen und Grimme-Preisträger – Daniel Harrich, Danuta Harrich-Zandberg und mich – eingeleitet. Mit den Mitteln des Rechtsstaates verfolgt werden seither nicht die Helfershelfer in den RüstungsexportKontrollbehörden, sondern die in bestem demokratischen Sinne aufklärenden Autoren des Buches. Wie konnte es dazu kommen?

Ein beachtlicher Erfolg: Die Anklageerhebung gegen ehemalige H & K-Geschäftsführer

Letztendlich zeigte ich 15 Personen von H & K namentlich an, weitere dürften in verschiedenen Tätigkeiten am widerrechtlichen G36-Waffendeal mit Zehntausenden von Sturmgewehren u.v.a.m. beteiligt gewesen sein. Anklage erhoben wurde gegen sechs von ihnen, die Strafverfahren gegen die anderen wurden seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt. Begründet wurde dieses Vorgehen mit der Behauptung, die Stuttgarter Ermittler könnten keinen hinreichenden Tatverdacht ermitteln. Gegen diesen Beschluss hat Rechtsanwalt Rothbauer in meinem Namen Beschwerde eingelegt, über die von der Generalstaatsanwaltschaft noch entschieden werden muss.

Am 19. April 2010 erstattete ich nach eingehender Prüfung von Dokumenten, fotografischem und filmischem Material eines Insiders der Oberndorfer Waffenschmiede H & K über meinen Tübinger Rechtsanwalt Holger Rothbauer Strafanzeige gegen mehrere namentlich genannte Mitarbeiter von H & K. Der Vorwurf lautete auf Export von insgesamt ca. 10.000 Sturmgewehren und Maschinenpistolen von H & K nach Mexiko. Mit Wissen der H & K-Führungsebene soll knapp die Hälfte der Kriegswaffen in die Unruheprovinzen Chihuahua, Chiapas, Guerrero und Jalisco verbracht worden sein, die ausdrücklich von der Belieferungserlaubnis der deutschen Rüstungsexportkontrollbehörden Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) und Bundesausfuhramt (BAFA) ausgenommen waren.

Immerhin: Erstmals in der Historie des – angesichts der Opferzahlen – tödlichsten Unternehmens in Europa, sollen zwei vormalige Geschäftsführer von H & K wegen Bruch deutscher Ausfuhrgesetze vor Gericht stehen. Der Prozessauftakt wird für Anfang 2017 erwartet. Das ist bereits heute der größte Erfolg der Friedens- und Menschenrechtsbewegung in der mehr als sechzigjährigen Firmengeschichte der Oberndorfer Waffenexporteure!

Diese Strafanzeige wurde unsererseits mehrfach erweitert (weitere involvierte Akteure, Export von noch mehr Gewehren als offiziell angegeben etc.). Weitere Strafanzeigen folgten gegen H & K 14


Foto: Jürgen Grässlin

DIE AUTOREN BEI DER VERLEIHUNG DES GRIMME-PREISES.

Warum von den Tätern der „Triade des Todes“ am Ende lediglich H & K-Verantwortliche vor Gericht stehen sollen

Vom geehrten Stuttgarter-Friedenspreis-Träger zum kaltgestellten Knastbruder? Der Justizskandal um die Staatsanwaltschaften Stuttgart und München führt zu dem Punkt, dass nunmehr gegen uns drei AutorInnen des Enthüllungsbuches zuerst Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart eingeleitet wurden. Diese sind mittlerweile zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München wegen des Verdachts verbotener Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen gemäß § 353d Strafgesetzbuch ausgeweitet worden. Vorgeworfen wird uns AutorInnen die verbotene Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke aus dem laufenden Ermittlungsverfahren gegen H & K. An Absurdität kaum zu überbieten ist die Tatsache, dass zahlreiche dieser Schriftstücke unsererseits zuvor an die Staatsanwaltschaft übergeben wurden, um zur Aufklärung des Falles beizutragen.

A

ls angesichts der vorliegenden Unterlagen von H & K-Whistleblowern die Involvierung von leitenden Beamten in Rüstungsexport-Kontrollbehörden in den Mexiko-Deal offensichtlich wurde, erweiterte Rechtsanwalt Rothbauer am 26. November 2012 meine Strafanzeige von 2010 gegen H & K auf Beschuldigte der zuständigen Abteilungen im Bundeswirtschaftsministerium in Berlin sowie des Bundesausfuhramtes in Eschborn. Geprüft werden sollte seitens der Stuttgarter Staatsanwaltschaft die Frage der vorsätzlichen, rechtswidrigen und schuldhaften Beihilfe durch Unterlassen bezüglich von Exportgenehmigungsauflagen sowie der Endverbleib der Kriegswaffen im Fall der G36-Gewehrlieferungen nach Mexiko.

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Auf Nachfrage verkündete die Staatsanwaltschaft: Die Frage eines Anfangsverdachts gegen Mitarbeiter des BMWi und der BAFA sei „umfassend geprüft“ worden. Aber es hätten „sich keine konkreten Anhaltspunkte für ein strafbewehrtes Verhalten“ ergeben. Rothbauers Analyse fällt eindeutig aus: „Die Staatsanwaltschaft spielt mit allen juristischen und taktischen Kniffen, um eine Erweiterung des Verfahrens zu verhindern“, so der Tübinger Rechtsanwalt.

och der Versuch, uns drei BuchautorInnen mundtot zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Die Recherchen sind erfolgreich getätigt, die Mexiko-Filme sind in der ARD und ihren Spartensendern ausgestrahlt und von mehr als sechs Millionen ZuschauerInnen gesehen worde. Das Buch ist mit all seinen knallharten Fakten publiziert, kurzum: Die Beweise liegen auf dem Tisch: Die Triade des Todes von H & K, BMWi und BAFA funktionierte beim widerrechtlichen G36-Mexiko-Deal durch das intensive und wohlwollende Zusammenspiel von Waffenfirma und Kontrollbehörden. Diese Wahrheit lässt sich auch durch juristische Repressionen gegen die Rechercheure nicht aus der Welt schaffen.

Nie zuvor ist bei einem Rüstungsexportdeal eines deutschen Unternehmens die Verflechtung eines industriellen Waffenexporteurs mit den sogenannten Kontrollbehörden aus der Rüstungsindustrie derart differenziert mit Whistleblower-Informationen aufgedeckt worden. Die Einstellung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen erfolgte trotz der umfassenden Dokumentation der Triade des Todes von H & K, Bundesausfuhramt und Bundeswirtschaftsministerium in unserem Buch. Die fünfjährige Verjährungsfrist schützt die BeamtInnen in BMWi und BAFA nunmehr vor Strafverfolgung.

Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der DFG-VK und Kampagnensprecher von „Aktion Aufschrei“.

Buchhinweis: „Netzwerk des Todes. Die kriminellen Verflechtungen von Waffenindustrie und Behörden“, Heyne Verlag, München 2015 15


SERIE: DIE NUKLEARE KETTE

Die Atomfabrik Hanford Vor 30 Jahren gaben US-Behörden 19.000 Geheimdokumente frei

Worte

sind das mächtigste Hilfsmittel, das ein Arzt besitzt. Bernard Lown

30 Jahre

Friedensnobelpreis

Bernard Lown

Heilkunst Mut zur Menschlichkeit Der „begnadete Erzähler“ (FAZ) Bernard Lown öffnet mit einer Fülle von Impressionen und Reflexionen aus seiner bewegten Laufbahn den Blick auf eine Heilkunst, die diesen Namen verdient und nicht zu einer technischen Reparaturwerkstatt verkommen soll: Er beleuchtet die unermessliche Bedeutung der Arzt-Patienten-Beziehung – die „Droge Arzt“ als bestes Heilmittel der Welt – und zeigt, wie man die Zeit mit dem Patienten nutzbringender verwendet, als gleich mit Apparate-Tests zu beginnen. Im Dialog mit seiner Enkelin Melanie stellt er sich auch den Fragen der jüngeren Patienten- und Ärztegeneration. Für menschliche Werte in der Medizin – um der schleichenden Erosion der Humanität entgegenzuwirken.

Irrtum und Preisänderungen vorbehalten.

Reihe Wissen & Leben Herausgegeben von Wulf Bertram 2015. 320 Seiten, kart. € 24,99 (D) / € 25,70 (D) ISBN 978-3-7945-3125-7

www.schattauer.de

Mehr Infos:

Der Atomkomplex in Hanford wurde 1940 mit dem Ziel errichtet, Plutonium für das zukünftige Atomwaffenprogramm der USA zu produzieren. Obwohl er 1988 stillgelegt wurde, handelt es sich weiterhin um den am stärksten radioaktiv verseuchten Ort der westlichen Hemisphäre. In der Nähe der Stadt Richland (Bundesstaat Washington) gelegen, erstreckt sich der Komplex über mehr als 1.500 km² und besteht aus über 500 Gebäuden, darunter neun Atomreaktoren. Hanford erzeugte das Material für den Trinity-Test im Juli 1945, die weltweit erste Explosion einer Atombombe. Der Komplex lieferte auch das Plutonium für die Bombe, die im August 1945 die Stadt Nagasaki zerstörte. In den folgenden 40 Jahren produzierte Hanford über 67 Tonnen Plutonium für das US-Atomwaffenarsenal. 1986 gab das US-Energieministerium als Reaktion auf öffentlichen Druck 19.000 vormals geheime Dokumentenseiten frei. Diese belegten unter anderem, dass radioaktive Lecks Luft, Böden, Grundwasser und den Columbia River verseucht hatten. Bei Unfällen waren über 200 radioaktive Isotope in Form von atomarem Niederschlag über Oregon, Idaho, Kalifornien, Montana und Kanada niedergegangen. Im Dezember 1949 hatten die Forscher in Hanford sogar absichtlich radioaktives Jod freigesetzt, um Messgeräte für radioaktive Luftbelastung zu testen. Die Menge an Jod-131, die bei diesen „Experimenten“ freigesetzt wurde, war 350- bis 600-mal höher als diejenige, die bei der Kernschmelze von Three Mile Island in die Umwelt gelangte (0,74 TBq).

Folgen für Umwelt und Gesundheit Über die Jahre waren Arbeiter in Hanford durch Lecks und Unfälle mehr als 200 radioaktiven Isotopen ausgesetzt. Plutonium, Ruthenium und andere Radionuklide wurden auch weit entfernt vom Atomkomplex noch in der Umgebung nachgewiesen, etwa in Spokane oder auf Mount Rainier im Staat Washington. Die Hauptgefahr 16

für die Normalbevölkerung ging jedoch von den mehr als 25.000 TBq radioaktivem Jod-131 aus, die zwischen 1944 und 1972 freigesetzt wurden und Luft, Böden und Lebensmittel verseuchten. Besonders betroffen waren indigene Völker, die im Windschatten oder flussabwärts von Hanford leben: die Colville, Coeur d’Alene, Kalispel, Kooten-ai, Nez Perce, Spokane, Umatilla, Warm Springs und Yakama. Die atomaren Abfälle, die bis heute in Hanford lagern, machen etwa 60 Prozent der Gesamtmenge an hoch radioaktivem Müll der USA aus. Dem US-Energieministerium zufolge befinden sich in Hanford über 200 Millionen Liter radioaktiver und chemischer Müll in undichten Erdtanks. Aufgrund unsachgemäßer Lagerung sind bereits etwa 3,5 Millionen Liter ins Grundwasser gelangt und haben Reservoirs und Grundwasserleiter in einem Gebiet von über 500 km radioaktiv kontaminiert. Es ist unklar, ob dieses verseuchte Wasser schon den Columbia River erreicht hat.

Ausblick Seit die Plutoniumproduktion in Hanford 1988 beendet wurde, kostet die Sanierung jährlich mehr als zwei Milliarden US-Dollar und soll noch bis 2052 andauern. Eine zusätzliche Sicherheitsbedrohung geht von den veralteten Atomreaktoren aus. Bislang wurde wenig epidemiologische Forschung in der von Radioaktivität betroffenen Bevölkerung betrieben. Das vollständige Ausmaß der gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung wird möglicherweise nie bekannt werden. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNWPosterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aspekte der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de


FRIEDEN

Drohnenkrieg ist Mord. Wir kommen wieder.

Foto: Bilbo Calvez / www.ramstein-kampagne.eu

5.000 Menschen protestierten in Ramstein

E

s war die größte Protestaktion gegen Drohneneinsätze, die größte Aktion der Aufklärung und Information in der Geschichte des Protestes gegen die Militärbasis der USA in Ramstein. Wir haben die Stimmung in der Region zugunsten des Friedens verändert. Das ist das Resümee der vielfältigen Aktivitäten vom 9. bis 12. Juni 2016 in Ramstein. Bei den Aktionen tauchten viele neue, junge Gesichter auf. Gleichzeitig war es toll, auch viele langjährige AktivistInnen wieder zu treffen. 5.000 Menschen bildeten bei strömenden Regen eine kilometerlange Kette durch die Ortschaften um die Airbase Ramstein. Hand in Hand standen die TeilnehmerInnen in der Menschenkette, die sich bis auf kleine Lücken rund um das Militärgelände schloss.

M

ehr als 600 Menschen – weit mehr als erwartet – beteiligten sich an der öffentlichen Abendveranstaltung mit Willy Wimmer und Albrecht Müller am Freitag in der Versöhnungskirche. Mehr als 500 TeilnehmerInnen fanden sich im Friedenscamp zu vielfältigen Diskussionen zusammen. Die Wiese dafür stellte ein örtlicher Landwirt kostenfrei zur Verfügung; ebenso wurde Infrastruktur durch AnwohnerInnen bereitgestellt. Dies wäre vor Jahren noch undenkbar gewesen und verdeutlicht die

Veränderung des Klimas vor Ort. Auch die inhaltlichen Veranstaltungen am Informationstag am Freitag waren gut besucht. 10.000 Flugblätter und weiteres Infomaterial wurden an die Menschen vor Ort verteilt. In den letzten Monaten hat sich das öffentliche Bewusstsein zugunsten des Friedens verändert. Erstmals nahmen internationale Gäste aus vielen Ländern an der Menschenkette teil. Mehr als zehn regionale Stopp-Ramstein-Initiativen haben sich in der Folge bundesweit gegründet.

Alle RednerInnen unterstrichen das zentrale Anliegen: Schluss mit dem völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg! Wir fordern: Die Airbase mit ihren zentralen Kommandostrukturen, die unter anderem auf die Koordination eines Atomkriegs und die Steuerung des NATO-Raketenschilds ausgelegt sind, muss in einem längeren Prozess geschlossen werden. Durch ein umfassendes Konversionsprogramm müssen die militärischen Arbeitsplätze in zivile umgewandelt werden. Die Beteiligung Deutschlands an Interventionskriegen muss beendet, alle Aufrüstungsprogramme müssen gestoppt werden. Die 17

Demonstrierenden bekundeten ihre Solidarität mit den Menschen, die wegen der Kriege der USA und der NATO gezwungen sind, nach Europa zu fliehen.

V

öllig neu und in dieser positiven Dimension unerwartet war die Medienresonanz. Undenkbar wären die Veranstaltungen und ihre intensive Vorbereitung ohne die Unterstützung alternativer Medien gewesen. Diese enge Zusammenarbeit ist ein Unterpfand weiterer erfolgreicher Aktionen der Friedensbewegung: Sie sollte ausgebaut und erweitert werden. Die Aktionen wurden während der Vorbereitung kontrovers diskutiert. Das Wochenende hat jedoch eindrucksvoll bewiesen: Es war die Friedensbewegung, in ihrer Breite und Vielfalt. Das kann nur ein Appell sein, aber es soll auch an dieser Stelle deutlich gesagt werden: Lasst uns wieder zurückkommen zu mehr Gemeinsamkeit und Solidarität! Der Juni 2016 in Ramstein war dafür ein starkes, eindeutiges Zeichen.

Dr. Reiner Braun engagiert sich seit 1982 in der Friedensbewegung. Er ist Geschäftsführer von IALANA.


20 Wochen gegen 20 Bomben IPPNW-Protestwoche in Büchel

Atomwaffen, so scheint es, sind ein Relikt aus grauer Vorzeit. Damals, während des Kalten Krieges, waren sie relevant. Jetzt sorgt man sich bloß noch darum, dass keine „falschen“ Staaten Atomwaffen besitzen. Iran zum Beispiel. Dass neun Staaten über 15.000 Atomwaffen besitzen, zum Teil binnen weniger Minuten einsetzbar – wer will das schon wissen.

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enauso verhält es sich mit den etwa 20 US-amerikanischen Atomwaffen, die auf deutschem Boden in Büchel lagern. Idyllisch in der Eifel gelegen. Sie werden lieber nicht thematisiert. Kein Wunder, dass vielen Deutschen gar nicht bewusst ist, dass sie existieren – beziehungsweise, dass sie immer noch existieren. Denn eigentlich hat der Deutsche Bundestag am 26. März 2010 ihren Abzug beschlossen: „Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen.“ Der Jahrestag des Beschlusses war Auftakt der Aktion: 20 Wochen gegen 20

Atombomben. Vom 26. März bis zum 9. August 2016 setzten verschiedene Friedensorganisationen durch Dauerpräsenz, Mahnwachen und gewaltfreie Aktionen ein Zeichen gegen Atomwaffen allgemein und die in Büchel lagernden Atomwaffen speziell. Ziel war, die Bundesregierung an den parlamentarischen Beschluss zu erinnern, die Atomwaffen abzuziehen. Denn danach sieht es auch sechs Jahre später nicht aus: Modernisierung statt Abrüstung. Bis 2020 sollen die rund 180 in Europa lagernden NATO-Atomwaffen durch neue, flexiblere und damit einsetzbarere ersetzt werden. US-amerikanische Atomwaffen lagern im Rahmen der nuklearen Teilhabe vermutlich seit 1957 im Fliegerhorst Büchel, der von der Bundeswehr betrieben wird. Nukleare Teilhabe bedeutet, dass auch Bundeswehr- PilotInnen in deutschen Tornados die US-amerikanischen Atomwaffen im Ernstfall abwerfen. Das heißt, sie trainieren exakt dieses Szenario in Büchel. Die ersten Atomwaffen wurden 1953 in Westdeutschland stationiert. Derzeit ist Büchel der einzige Standort in Deutschland, auf dem sich nukleare Waffen befinden. 18

Eine im März 2016 im Auftrag der IPPNW durchgeführte Forsa-Umfrage ergab, dass 85 Prozent der BundesbürgerInnen den Abzug der Atomwaffen von deutschem Grund befürworten. Die Aufrüstung lehnt eine große Mehrheit ab. 93 Prozent sprechen sich für ein völkerrechtliches Verbot von Atomwaffen aus. Biologische und chemische Waffen sind schon seit 1972 bzw. 1997 völkerrechtlich verboten.

A

ktuell haben sich unter Führung Österreichs 127 Staaten im Rahmen einer Humanitären Selbstverpflichtung zusammengeschlossen und treiben einen Atomwaffen-Verbotsvertrag voran. Eine von Mexiko angestoßene Open-Ended Working Group wurde gebildet, die über Maßnahmen zur nuklearen Abrüstung berät – auch gegen den Widerstand der Staaten, die Atomwaffen besitzen (USA, Großbritannien, Russland, Frankreich, Indien, China, Pakistan, Israel, Nordkorea) und Bündnispartner wie Deutschland, die nach wie vor gegen ein klares Verbot von Atomwaffen argumentieren. Solange Atomwaffen nicht geächtet und nicht abgeschafft sind, ist Protest weiterhin unerlässlich! Es ist wichtig, dass das


ATOMWAFFEN

Meilenstein für ein Atomwaffenverbot In Genf hat sich am 19. August 2016 eine Sensation ereignet: Eine Mehrheit von UN-Staaten stimmte für eine Resolution, die Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot bereits im nächsten Jahr fordert. Deutschland votierte mit Nein. Hinter verschlossenen Türen hatte der deutsche Botschafter Michael Biontino mit anderen gleichgesinnten Ländern noch versucht, die Forderung nach einem Verhandlungsbeginn für ein solches Verbot zu blockieren. Aber vergeblich. Eine deutliche Mehrheit von Staaten vertrat die Auffassung, dass die humanitären Folgen eines Einsatzes von Atomwaffen so katastrophal sind, dass diese Waffen geächtet werden müssten, und zwar umgehend. Im Oktober wird der Resolutionsentwurf mit der Forderung für eine Aufnahme von Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot der UN-Generalversammlung in New York vorgelegt. Eine Mehrheit für diesen Vorstoß scheint gesichert. Damit die Zahl der Unterstützerstaaten aber noch steigt, müssen wir weiterhin Druck auf unsere Regierungen ausüben. Sammeln Sie Unterschriften für den Appell aus dem Gesundheitswesen: „Eine Welt ohne Atomwaffen ist eine Frage der Humanität“.

Thema nicht in Vergessenheit gerät. Hierfür sind Aufklärung, Mahnwachen, Lobbyarbeit etc. nötig. Überall in Deutschland und direkt vor Ort in Büchel, wie durch die aktuelle Aktionspräsenz.

D

ie IPPNW-Woche 2016 begann am 28. Juni 2016 mit einem Camp der IPPNW-Studierenden aus Berlin und Düsseldorf. Die Düsseldorfer Studierendengruppe hatte geplant, im nächstgelegenen Touristenort Cochem an der Mosel eine öffentliche Aktion zu veranstalten, um die BürgerInnen über die Kampagne zu informieren: Ein Apfelbaum sollte friedenssymbolisch geschmückt werden. Leider spielte das Wetter nicht mit, so dass der Baum von den Studierenden selbst verziert und mit einem Kinderspaten, viel Motivation und Kraft auf die Friedenswiese gepflanzt wurde. Abends und nachts war es glücklicherweise trocken, so dass gemütlich gegrillt und bei Bier und Lagerfeuer die Atomstaatenversion von „Werwolf“ gespielt werden konnte. Der nächste Tag begann mit einem Training zu zivilem Ungehorsam als Vorbereitung für die Sitzblockade am Montagmorgen. Die Anwesenden lernten Blockadesitze, Agieren in Bezugsgruppen, Konsensentscheidungen zu treffen und die eigenen Grenzen zu definieren. Anschließend fand eine große Mahnwache auf dem Kreisel

am Haupttor statt. Etwa 50 ÄrztInnen und Medizinstudierende aus verschiedenen Städten demonstrierten bei schwungvoller Musik und Friedensliedern sowie kulinarischen Leckereien gegen die Atomwaffen. Besonders erfreulich war, dass einige vorbeifahrende AnwohnerInnen ihre Zustimmung durch Winken und Hupen ausdrückten. Im Zuge der Mahnwache wurde auch ein stählernes IPPNW-Logo auf der Friedenswiese aufgestellt.

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einen Abschluss fand dieses Auftaktwochenende am Montag früh mit der Blockade der Zufahrtswege zum Fliegerhorst durch zwanzig AktivistInnen. Der Betriebsablauf wurde erheblich gestört und die Autos stauten sich kilometerweise zurück. Der Fliegerhorst Büchel ist ein wichtiger Arbeitgeber in der sonst wirtschaftsschwachen Region: Etwa 2.000 Arbeitsplätze bietet die Bundeswehr hier, darunter auch einige hundert zivile. Kein Wunder, dass der Protest gegen die Atomwaffen in Büchel nicht von jedem unterstützt wird: Neben einer unterschwelligen und deutlichen spürbaren Ablehnung einiger Ortsansässiger gab es während der IPPNW-Woche leider zudem zwei Angriffe auf die Friedenswiese, bei denen Friedensymbole zerstört und Fahnen heruntergerissen wurden. Der Apfelbaum steht noch. Anzeige gegen Unbekannt wurde erstattet. 19

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uch unter der Woche konnte die IPPNW Dauerpräsenz zeigen. Täglich fanden Mahnwachen statt. Am 2. Juli 2016 fand die Woche mit einer vierstündigen Blockade des Haupttors ihren Abschluss. Insgesamt beteiligten sich etwa 70 ÄrztInnen und Studierende an den vielfältigen Protestaktionen gegen die in Büchel stationierten Atomwaffen. Betreut und eingewiesen wurden sie vor Ort von Ernst-Ludwig Iskenius. Im Rahmen der Kampagne wurde auch dazu aufgerufen, eine Selbstverpflichtung zu unterzeichnen, einmal im Jahr nach Büchel zu kommen und sich mit den Zielen einer atomwaffenfreien Welt solidarisch zu erklären. Unter den teilnehmenden Friedensorganisationen waren neben der IPPNW auch andere Friedensorganisationen, feministische, kirchliche und regionale Gruppen, wie z.B. die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner/innen, die evangelische Kirche oder die gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen. 45 Gruppen waren in diesem Jahr insgesamt in Büchel. Die Aktion „20 Wochen gegen 20 Atombomben“ endete am 9. August 2016, dem Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Nagasaki. Quellen: www.atomwaffenfrei.de/buechel www.atomwaffena-z.info http://kurzlink.de/forsa-umfrage Weitere Artikel zum Thema: siehe S. 30 sowie S. 11 im internen Teil

Sonja Siegel ist IPPNW-Mitglied und studiert Medizin in Düsseldorf.


MEDIZIN IN GEFAHR

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ie Stadt Obo in Haut-Mbomou, Zentralafrika: Mitglieder des örtlichen Verteidigungskomitees werden von Rot-Kreuz-Helfern in humanitärem Völkerrecht unterrichtet.

Foto © Marko Kokic/ICRC


Das Projekt des ICRC finden SIe unter folgender Website: http://healthcareindanger.org/hcid-project

HelferInnen in Gefahr Das ICRC entwickelt Strategien, um weltweit verschiedene Akteure an einen Tisch zu bringen Foto: © André Liohn ICRC

H

ealth Care in Danger ist eine globale Initiative der Internationalen Rotkreuz- und Roter-HalbmondBewegung (ICRC) – als Antwort auf Gewalt, die in bewaffneten Konflikten gegen PatientInnen, medizinisches Personal, Einrichtungen sowie Rettungstransporte eingesetzt wird. Der sprunghafte Anstieg der Zahl von Übergriffen bewegte das ICRC 2008, Vorfälle in insgesamt 16 Ländern genauer unter die Lupe zu nehmen. Internationale ICRC-Repräsentanten verabschiedeten 2011 eine Resolution, die die Rotkreuzund Roter-Halbmond-Bewegung aufrief, neue Strategien zum Schutz der HelferInnen zu finden. Daraus gingen u.a. die Ziele hervor: Weltweit ein stärkeres Bewusstsein für die Dimensionen des Problems und die gravierenden Konsequenzen zu schaffen – neue Maßnahmen zum Schutz medizinischen Personals zu entwickeln – interdisziplinär mit einer großen Spannbreite von Akteuren daran zu arbeiten, um das gesellschaftliche Ansehen und den Respekt vor medizinischer Arbeit zu verbessern. Das Titelfoto dieser Ausgabe zeigt Nasser at-Tathar, den Direktor des Al-Shifa-Krankenhauses, in den Trümmern seiner zerstörten Klinik in Gaza-Stadt (14. Juli 2014).

Foto: © Boris Heger / ICRC

DAS IBN-SINA-KRANKENHAUS IN SIRTE, LIBYEN, WURDE 2011 DURCH BESCHUSS FAST VOLLSTÄNDIG ZERSTÖRT.

JUBA, SUDAN: VOM ICRC UNTERSTÜTZTES LEHRKRANKENHAUS 21


MEDIZIN IN GEFAHR

Healing under Fire Medizinische Friedensarbeit im Süden Thailands

Ü

ber den gewalttätigen Konflikt in Südthailand weiß die Weltöffentlichkeit wenig. Seit 2004 hat es 6.000 Tote und mehr als 11.000 Verletzte gegeben. Trotzdem findet man in den internationalen Medien kaum etwas darüber. Es handelt sich um einen Identitätskonflikt zwischen der Minderheit malayischstämmiger Muslime und der buddhistischen Mehrheit, die das Land regiert. Der Konflikt beschränkt sich auf die vier südlichsten Provinzen, wo malayische Muslime die Bevölkerungsmehrheit ausmachen. Bewaffnete Aufständische kämpfen gegen die Regierungstruppen – für Selbstbestimmung und -verwaltung.

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ine Friedensinitiative der Regierung im Februar 2013 machte kurzzeitig Hoffnung, schlief aber aufgrund der halbherzigen Bemühungen beider Seiten nach sechs Monaten wieder ein. Danach wurden die Ereignisse durch den politischen Konflikt in Bangkok überschattet. Der Nationale Rat für Frieden und Ordnung, der im Mai 2014 an die Macht kam, erklärte, er wolle die Friedensverhandlungen zu einem Ergebnis bringen. Das Projekt „Healing Under Fire“ basiert auf der Zusammenarbeit der südthailändischen Initiative „Deep South Relief and Reconciliation“ (DSRR) und der italienisch-

Friedensarbeit ist im Süden Thailands ein heikles, weil politisches Thema. Da die Angehörigen von Gesundheitsberufen privilegierten Zugang zu den Gemeinden und Dörfern haben, sind sie prädestiniert für eine Rolle als Friedensstifter. In einem Pilotprojekt eigneten sich Fachkräfte aus Konfliktzonen das Handwerkszeug der Friedensarbeit an. schweizerischen Rugiagli-Initiative (RI). Beide haben die Vision, dass Gesundheitskräfte ein vernetzender Faktor in Konfliktregionen sein können. Das thailändische Gesundheitssystem besitzt eines der weltweit bestentwickelten Programme für Gesundheitsarbeit in ländlichen Regionen. Gesundheitsfachleute haben selbst in den südlichen Konfliktregionen ein hohes Ansehen. Das hat damit zu tun, dass sie eine neutrale Rolle wahren und dass sie in Hinblick auf Geschlecht, Religion, Kultur und technische Spezialisierungen in integrierenden Teams arbeiten. Auch ihr sehr zurückhaltendes Verhalten schützt die Gesundheitskräfte davor, zum Angriffsziel in bewaffneten Konflikten zu werden. Da die Angehörigen von Gesundheitsberufen privilegierten Zugang zu den Gemeinden und Dörfern haben, sind sie prädestiniert für

eine Rolle als Friedensstifter. Anfang 2013 suchte DSRR Partner für ein Projekt im Rahmen von „Health as a Bridge to Peace“. Es ging darum, ÄrztInnen aus den Konfliktregionen auszubilden, um über ihre traditionelle Rolle hinaus in der Friedensarbeit tätig zu werden. Ziel war, die Kompetenzen in der Friedensarbeit und in der zivilen Konfliktlösung zu verbessern. Das Besondere dabei war, dass diese Aktivitäten nahe der Konfliktzone stattfanden und sich an Angehörige von Gesundheitsberufen richteten, die vor Ort lebten und arbeiteten. Dabei wurde besonders darauf geachtet, die Sicherheit der Beteiligten nicht zu gefährden.

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m Juli 2013 wurden erstmals Angehörige des Gesundheitswesens zu einem runden Tisch zur Rolle der Gesundheits-

Der ausführliche Projektbericht zu „Healing under Fire“ von DSRR und der Rugiagli-Initiative ist mehrsprachig online verfügbar. Mehr Informationen dazu finden Sie unter: www.4change.eu/ healing-under-fire.html


fachkräfte in der Friedensarbeit eingeladen. Aus der Diskussion entstand die Empfehlung, Menschen fortzubilden, die Interesse haben, eine Rolle im Friedensprozess zu spielen. Man entschied sich für einen Workshop, der die nötigen Fähigkeiten vermitteln sollte, schwierige Arbeitssituationen im Konflikt zu bewältigen, ohne dadurch den Konflikt zu verschärfen, und andererseits in den Kommunen Fundamente für ein gemeinsames Verständnis und für die Vermeidung von gewalttätigen Auseinandersetzung zu legen. Sowohl thailändische als auch internationale ExpertInnen beteiligten sich an diesem Workshop: Etwa 30 Gesundheitsfachkräfte, SozialarbeiterInnen und andere AkademikerInnen aus allen Konfliktregionen waren dabei, darunter neun Muslime. Die Hälfte der TeilnehmerInnen waren Frauen. Die TeilnehmerInnen erarbeiteten vier Aktionskonzepte, um Initiativen in die eigene Umgebung einzubringen. In jeder Gruppe beteiligten sich sowohl buddhistische als auch muslimimische Gesundheitsfachleute. Der Leitung jeder Initiative gab ein internationaler „Pate“ Rückhalt.

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Psychische Gesundheit, Wut- und Gewaltminderung: Ziel war die Minderung der Weitergabe von Gewalt von einer Generation an die nächste. Da sich posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern oft in Form von Ausagieren und aggressivem Verhalten äußern, sollten Kinder und Jugendliche aus gewaltbelasteten Familien angesprochen werden.

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Medizinisches Curriculum: Diese Initiative sollte Health-and-Peace- Inhalte in die medizinischen und Pflege-Lehrpläne der Universität Yala in Südthailand verankern. Die Gruppe entwickelte einen Schrittfür-Schritt-Plan, nach dem zuerst das akademische Personal eingebunden und sensibilisiert werden sollte, um einen neuen Lehrplan zu testen. Dieser sollte dann anderen Instituten vorgeschlagen werden.

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Gegenseitiges Verstehen und Unterstützung des Friedensprozesses: Nach diesem Plan sollten sich Gesundheitsfachkräfte an den laufenden Friedensprozessen beteiligen. Hierbei geht es hauptsächlich um den Aufbau eines beruflichen Friedensnetzwerks für Gesundheitsfachkräfte, das Beteiligten einen Handlungsrahmen gibt, um sich mit Friedensarbeit einbringen zu können. Das Netzwerk sollte auch einen Rahmen bieten, um eine Gesundheitsversorgung einzurichten, die besser an die Erfordernisse der Region angepasst ist.

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„Gesunde Moscheen“: Dieser Plan befasst sich mit dem Zugang von der Opposition kontrollierter Gemeinden zur Gesundheitsversorgung. Das staatliche Personal hat hier keinen Zugang. Die Strategie bindet lokale Imame und Behörden ein, um Moscheen in den abgeschnittenen Gegenden als Gesundheitszentren zu nutzen. Diese werden in den lokalen Gemeinschaften als sichere Orte wahrgenommen. Gesundheitsfürsorge und vertrauensfördernde Maßnahmen würden durch den Einsatz einer mobilen Grundversorgungsklinik unterstützt. Sieben Monate nach dem Workshop fand eine gemeinsame Evaluation statt, mit dem Ergebnis, dass nicht alle WorkshopteilnehmerInnen bereit waren, mit der Friedensarbeit zu beginnen. Die thailändische Kultur ist eine der Nicht-Einmischung, besonders, was politische Angelegenheiten angeht. Andere Themen waren Angst vor Repressalien, der Verlust der Glaubwürdigkeit und der fehlende Zugang zu den bedürftigen Gemeinden. Doch zumindest hatten ihnen die erworbenen Kenntnisse geholfen, sich den Herausforderungen der Arbeitsumgebung zu stellen und die medizinische Arbeit zu verbessern. Die „Peace-andHealth“-Botschaften erreichten viele TeilnehmerInnen. Die interessierten TeilnehmerInnen hatten darüber hinaus 23

ein Grundgerüst an die Hand bekommen, um konkrete Friedensarbeit zu realisieren. Enge Beziehungen zwischen den TeilnehmerInnen bestehen fort. Einige Ärzte engagieren sich weiterhin in der humanitären und in der Friedensarbeit. Die Initiative „Gesunde Moscheen“ hat sich in verschiedenen Konfliktzonen angesiedelt und den Zugang zur medizinischen Erstversorgung verbessert. Teams der medizinischen Fakultät planen, für die Studierenden vor Ort das gesamte Medical-Peace-Work-Curriculum ins Thailändische zu übersetzen. Die thailändische Islamische Medizinische Gesellschaft führt mit Unterstützung thailändisch-buddhistischer Organisationen weiterhin Health-and-Peace-Aktivitäten durch.

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enn also in Südthailand Friedensarbeit auch ein heikles Thema ist, zeigten Gesundheitsfachkräfte doch ein großes Interesse an diesem Konzept. Im Laufe der Aktivitäten stellte sich heraus, dass immer zuerst eine Antwort auf akute Sicherheitsrisiken, Probleme und moralische Zwangslagen gefunden werden muss. Einigen TeilnehmerInnen eröffnete die offene Diskussion über Medical Peace Work, Konfliktanalyse und den Friedensprozess einen tieferen Einstieg in die Friedensarbeit. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Aktivitäten von Gesundheitsfachleuten zu dokumentieren, die daran arbeiten, gewalttätige Konflikte zu verhindern bzw. zu lindern und zerstörten Gemeinden mit Wiederaufbaumaßnahmen zu helfen, die dauerhaften Frieden bringen.

Dr. Gabriella Arcadu und Dr. Luisa Chan Boegli referieren im Oktober 2016 auf dem Kongress „Medizin und Gewissen“ in Nürnberg.


Foto: © Cornelia Suhan/medica mondiale

MEDIZIN IN GEFAHR

„Ich will keine Medikamente nehmen, ich will lachen“ Psychosoziale Hilfe für Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt

und Leben und geht mit einer Verkettung traumatischer Erfahrungen einher: Vertreibung, Hunger, dem Verlust von Angehörigen, bei sexualisierter Gewalt mit Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung. Eine solche Sequenz traumatischer Erfahrungen führt häufig zu besonders starken traumatischen Stressreaktionen.

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ährend des Krieges in Bosnien und Herzegowina (BuH) von 1992 bis 1995 wurden zwischen 20.000 und 50.000 Frauen und Mädchen vergewaltigt. Viele von ihnen waren über Monate hinweg sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Die Aufarbeitung dieser Verbrechen und die Interessen der Überlebenden wurden im Friedensabkommen von Dayton nicht berücksichtigt. Eine Studie der Frauenrechtsorganisationen Medica Zenica und medica mondiale (Anmerkung der. Redaktion: siehe Forum Nr. 145, März 2016) liefert wichtige Erkenntnisse über die Langzeitfolgen der Kriegsvergewaltigungen und zeigt auf, wie Betroffene unterstützt werden können. Vergewaltigungen gehören zu den schwerwiegendsten traumatischen Erfahrungen. Intime Grenzen werden einschneidend verletzt und die Selbstbestimmtheit in zwischenmenschlichen Beziehungen untergraben. Krieg ist außerdem gekennzeichnet durch eine andauernde Gefahr für Leib

ehr als 70 Prozent der Frauen, die sich an der Studie aus dem Jahr 2014 beteiligten, gaben an, dass die Vergewaltigungen ihr Leben noch immer in hohem Maße beeinflussen. 93,5 Prozent der Frauen berichten von gynäkologischen Problemen, 65 Prozent von ihnen nehmen regelmäßig Psychopharmaka und 57 Prozent leiden an posttraumatischer Belastungsstörung. Die Forschungsergebnisse weisen auf eine Chronifizierung der Folgen von Kriegsvergewaltigungen hin. Die Folgen traumatischer Erlebnisse hängen nicht nur von ihrer Schwere ab, sondern auch von den Erfahrungen, die Betroffene danach machen. Entscheidend für Überlende sexualisierter Gewalt ist die Anerkennung des Erlebten.

Wichtige Faktoren für die Stabilisierung der Betroffenen sind Sicherheit, das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstwert, Solidarität und soziale Verbindung. So können Betroffene ihre eigenen Ressourcen aktivieren und die Kontrolle über ihr Leben sowie Vertrauen in sich und andere wiedererlangen. Diese Grundprinzipien der Stress- und Traumasensibilität finden Anwendung in allen Unterstützungsangeboten von Medica Zenica und medica mondiale. 24

Bis heute bieten fast nur Frauenrechtsorganisationen in BuH diese qualifizierte Beratung und Versorgung an. Staatliche Institutionen hingegen sind weder fachlich noch von ihrer Haltung her darauf vorbereitet, Hilfe anzubieten. Beispielsweise ist es üblich, dass ÄrztInnen bei Anzeichen traumatischer Belastung Psychopharmaka verschreiben. In Nachkriegskontexten ist es daher notwendig, die Gesundheits-, Justiz-, Sicherheits- und Bildungssysteme im Hinblick auf Stress- und Traumasensibilität sowie Geschlechtergerechtigkeit zu reformieren. Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt empfinden häufig Selbstzweifel und Scham. Neben dem sozialen Umfeld ist die Haltung von Staat und Gesellschaft gegenüber Überlebenden zentral für die Aufarbeitung und Bewältigung des erlebten Unrechts. Die befragten Frauen in BuH beschreiben in der Studie alltägliche Diskriminierung und erneute Gewalt. Für sie gilt noch immer das Gebot des Schweigens. Brechen sie es, werden sie stigmatisiert und ausgegrenzt.

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ngleiche Geschlechterverhältnisse drücken sich in Gewalt gegen Frauen und Mädchen aus. Ihre Rechte, vor allem das auf sexuelle Selbstbestimmung, ihre Bedürfnisse und Interessen werden in patriarchalen Gesellschaften denen von Männern und Jungen untergeordnet. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt verstetigt sich in Friedenszeiten, verschärft sich in bewaffneten Konflikten und setzt sich in Nachkriegsgesellschaften fort. Der Einsatz von Vergewaltigung als strategisches Mittel der Kriegsführung ist letzten Endes die


„Es ist meine Geschichte, ich werde alt damit und ich habe keine Tränen mehr.“ „Ich habe mich noch einmal umgedreht, nur um sicherzugehen, dass er es war, und alle schauten mich an.“ „Mein Kind ist in einer psychiatrischen Anstalt wegen all dem, was ich durchgemacht habe.“ „Mir Kraft zu geben, mir zu sagen, dass es nicht meine Schuld war. Das war für mich so wertvoll.“ „Du bist nicht anders oder schlechter als die anderen. Wertschätze dich selbst!“ „Zeig mit dem Finger auf den Täter, nicht auf mich!“ Die Zitate stammen von Klientinnen von Medica Zenica und wurden im Rahmen der Studie „We are still alive“ aufgezeichnet. Sie finden die Studie unter: kurzlink.de/il8iYmpie

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ie Studie belegt: Eine langfristige und ganzheitliche Beratung und Versorgung stabilisiert Überlebende. Ebenso wichtig sind ein nicht-stigmatisierendes Umfeld, soziale Anerkennung sowie der Schutz vor erneuter Gewalt. Gelingt das, benötigen viele Betroffenen keine intensive psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung. Sie können ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Dazu braucht es Angebote kontinuierlicher Beratung und Therapie für Überlebende von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt im Krieg. Da es keine standardisierten Langzeittherapiekonzepte für die oft chronifizierten und komplexen Formen von Traumatisierung gibt, sind hier Kreativität und Anpassung an die lokalen kulturellen Kontexte gefragt. Wichtig sind beispielsweise niedrigschwellige Beratungsangebote für Familien von Überlebenden und für deren Kinder, um insbesondere den transgenerationalen Mechanismen der Übertragung von Traumata entgegenzuwirken und Entlastung anzubieten. Mehr als die Hälfte der Be-

fragten berichtete, dass die Vergewaltigungserfahrungen die Beziehungen zu ihren Kindern entweder vollständig oder teilweise beeinträchtigen – und zwar nicht nur zu jenen, die durch Vergewaltigung gezeugt wurden. Präventionsmaßnahmen fördern den konstruktiven Umgang mit dem erlebten Unrecht auf gesellschaftlicher Ebene und wirken friedensbildend. Wichtig ist daher auch die Sensibilisierung von LehrerInnen, SozialarbeiterInnen und von Bildungseinrichtungen in Bezug auf die transgenerationalen Effekte von Traumatisierung. Hilfreich wären zudem Angebote spezialisierter Sexual- und Eheberatung, um Frauen und ihren Partnern Hilfestellung zu geben im Hinblick auf deutlich ausgeprägte und chronifizierte Probleme im Umgang mit Nähe, Intimität und Sexualität. Die alarmierenden Ergebnisse der Studie zeigen, dass die gesundheitliche und psychische Situation der Überlebenden immer noch als sehr fragil einzuschätzen ist und sich möglicherweise noch verschlechtern wird, weil sich der Alterungsprozess und die noch immer andauernden Nachkriegsbelastungen negativ auswirken werden. Deshalb ist eine Trauma-Sensibilität überall dort, wo Überlebende potenziell Zugang zu Unterstützung suchen, enorm wichtig. Dies betrifft besonders, aber nicht ausschließlich den Gesundheitssektor, denn Gesundheitseinrichtungen sind häufig erste Anlaufstelle für Frauen. Hier können auch Frauen, die sonst niemals über ihre Kriegsvergewaltigung sprechen würden, erreicht und gestärkt werden. Alle im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen sollten deshalb regelmäßige Fortbildungen 25

über die Wirkung von Traumata (durch Kriegsvergewaltigung) auf die Gesundheit erhalten und darüber informiert werden, wie sie in ihrer Arbeit einen stress- und traumasensiblen Ansatz umsetzen können.

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ngesichts der hohen Prävalenz von Krebs und der Häufigkeit und Massivität gynäkologischer und reproduktiver Probleme ist eine Sensibilisierung des medizinischen Personals besonders wichtig. Gleiches gilt für den Umgang mit Psychopharmaka, die viele Frauen häufig schon seit zwei Jahrzehnten nehmen. Berufsgruppen, die mit von Gewalt betroffenen Frauen arbeiten, müssen mehr als bisher über die Risiken von Medikamentenabhängigkeit aufgeklärt werden. Das Wissen über andere Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten bei Traumafolgestörungen kann dabei helfen, den Einsatz von Psychopharmaka zu reduzieren. Dies wiederum führt zu mehr Empowerment von Frauen und ermutigt sie dazu, positive Formen der Selbstregulierung und der Stabilisierung zu nutzen. Wie eine Frau es treffend in ihrem Interview zur Studie ausdrückte: Ich will keine Medikamente nehmen, ich will lachen.“

Jeannette Böhme ist Mechthild Buchholz Referentin für Politik ist Pressesprecherin und Menschenrechte von Medica Mondiale. bei Medica mondiale.

Fotos: © Ulla Burghardt /medica mondiale

Konsequenz aus dieser Ungerechtigkeit. Sexualisierte Kriegsgewalt ist eine Verletzung internationalen Rechts und Regierungen haben die Pflicht, diese Verbrechen zu ahnden. Für die meisten Betroffenen ist es unerträglich, dass Täter nie zur Rechenschaft gezogen werden. Teilnehmerinnen der Studie berichteten, wie sie ihren Vergewaltigern im Alltag wieder begegnen – was häufig zu Re-Traumatisierungen führt. Begründet ist die anhaltende Straflosigkeit vor allem in dem mangelnden politischen Willen, das Unrecht anzuerkennen und aufzuarbeiten.


MEDIZIN IN GEFAHR

„Das System ist kollabiert“ Arbeiten in der solidarischen Klinik Ellinikó: Ein Interview mit Dr. Giorgos Vichas

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err Doktor Vichas, was hat Sie bewegt, die Klinik Ellinikó zu gründen? Im Frühjahr 2011 kam ein Patient kam zu mir ins Krankenhaus. Er war über lange Zeit wegen zweier Herzinfarkte bei mir in Behandlung gewesen, aber dann hatte ich ihn mehrere Monate nicht mehr gesehen. Er war inzwischen arbeitslos und konnte die Herzmedikamente nicht mehr bezahlen. Er litt unter schweren Lungenödemen, weil sein Herz zu schwach war. Ich war schockiert. Dann, im August 2011, hörte ich bei einem Konzert eine ergreifende Ansprache des Komponisten Mikis Theodorakis: Die ÄrztInnen sollten etwas unternehmen, um den Menschen ohne Versicherungsschutz in ihrer Not beizustehen. Das hat mich sehr berührt. Das Theodorakis-Konzert fand auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens statt. Ich sah die leerstehenden Gebäude und dachte: Vielleicht können wir hier eine freie Praxis einrichten. Der Bezirksbürgermeister hat uns dann unterstützt, indem er uns Gebäude, Wasser und Strom zur Verfügung stellte. Können Sie die Kürzungen im Gesundheitswesen charakterisieren, deren Auswirkungen ÄrztInnen und PatienInnen so drastisch zu spüren bekommen? Seit Inkrafttreten des ersten Memorandums 2010 hat es in unserem Gesundheitssystem zwei Veränderungen gegeben, die tragische Konsequenzen haben: Die erste dieser Änderungen war die Unterfinanzierung des Systems, die zweite, dass bis vor kurzem immer weniger oder gar kein Personal eingestellt wurde, weder im ärztlichen Bereich noch in der Pflege. Die Ausgaben für Gesundheit sind von 7% des Bruttoinlandsprodukts auf heute 3,5 % bis 4 % gesunken. Die Krankenhausausgaben, die 2012 noch bei zwei Milliarden Euro lagen, sind in diesem Jahr auf 1,15 Milliarden Euro gesunken. Ab 2013 konnten wir sehen, wie diese Kürzungspolitik zu ungeheuren Härten führte. Die Säuglingssterblichkeit ist von 2,7 % (2010) auf 4% in 2014 gestiegen. Auch die Geburten- und Sterblichkeitsrate haben sich seit 2011 negativ entwickelt. Laut Eurostat wird dies langfristig dazu führen, dass die griechische Bevölkerung bis 2050 erheblich abnimmt. Die Studie Hellas Health IV des Instituts für Sozial und Präventivmedizin hat 2015 festgestellt, dass ein Viertel der BürgerInnen, die auf regelmäßige Medikamenteneinnahme angewiesen sind, sich im Alltag einschränken muss, um die Medikamente bezahlen zu können. JedeR fünfte PatientIn kann die Medikamente nicht bezahlen und erhält sie daher nicht.

Wie wirken sich diese Kürzungen in der Finanzierung der öffentlichen Krankenhäuser aus? Die Einschnitte haben zu erheblichen Engpässen bei Medikamenten, medizinischen Geräten und Material geführt. Unsere Klinik beliefert wöchentlich im Durchschnitt vier bis fünf öffentliche Einrichtungen. Die Verringerung des Personals hat auch tragische Konsequenzen. Beispielsweise arbeiten die Intensivstationen nur mit einem Teil ihrer möglichen

Foto: © Luiza Puiu, luizapuiu.com

Mehr als drei Millionen GriechInnen sind wegen ihrer Arbeitslosigkeit nicht mehr krankenversichert. Für viele unversicherte AthenerInnen ist die solidarische Klinik die letzte Anlaufstelle. Der Kardiologe Giorgos Vichas arbeitet unentgeltlich in der von ihm gegründeten, spendenfinanzierten Klinik.


Fotos: © Giulio Magnifico

öffentlichen Einrichtungen. Auch dieses Gesetz ist bisher nicht umgesetzt worden. Denn dazu bedürfte das öffentliche Gesundheitssystem großzügiger finanzieller Mittel – das betrifft sowohl die Krankenhäuser als auch die Erstversorgungszentren (PEDY).

Kapazitäten, während immer 20 bis 30 PatientInnen auf der Warteliste stehen. Das Ergebnis ist, dass Menschen sterben. Die durchschnittliche Wartezeiten für Krebsbehandlungen liegen bei vier bis fünf Monaten. Dies hat für die Patienten dramatische Konsequenzen. Oft können in den staatlichen Krankenhäusern keine Chemotherapien gemacht werden, weil die nötigen Medikamente fehlen. Wir sehen, wie unsere PatientInnen leiden oder sterben, nur weil das Gesundheitssystem sie nicht versorgen kann.

Wie manifestiert sich die Ungleichbehandlung von versicherten und nichtversicherten PatientInnen? Auch mit dem neuen Gesetz haben wir weiterhin zwei Klassen von PatientInnen: Die Versicherten haben Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem und zu privaten Praxen, die vertraglich mit dem öffentlichen Gesundheitssystem (EOPYY) verbunden sind. Die nichtversicherten PatientInnen dagegen haben nur zum öffentlichen System Zugang. Die Wartezeit für eine Computertomographie beträgt z. B. für versicherte Patienten vier bis fünf Tage, hingegen 20 bis 25 Tage für Nichtversicherte – und dies auch nur in Gegenden, wo es die entsprechenden Geräte gibt und wo diese auch funktionieren.

Mit welchen typischen Krankheiten haben Sie in der Krise zu tun? Hart trifft es zum Beispiel DiabetikerInnen, die ihre Diät nicht halten können oder nicht genügend Insulin bekommen. Blindheit oder Amputationen sind die drohenden Folgen. Arme Menschen, die sich keine Behandlung leisten können, leiden an Tuberkulose, Aids, und Hepatitis. Diese Infektionen breiten sich aufgrund von Ansteckungen aus. Im Gegensatz zu früher haben wir jetzt mit unterernährten Müttern und Kindern zu tun. Diese katastrophale Situation macht mich sehr wütend und traurig.

Welche Forderungen ergeben sich für Sie aus dieser Situation? Wir kämpfen dafür, dass das Gesundheitssystem von allen Sparmaßnahmen befreit wird. Unsere Regierung fordern wir auf, das Gesundheitssystem aus der Sparpolitik auszunehmen und verlangen von ihr, eine gesamteuropäische Informationskampagne zu den tragischen Konsequenzen der Sparpolitik anzuregen, die wir all diese Jahre besonders im Gesundheitssystem erlitten haben. Wir müssen die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf die tragischen Konsequenzen lenken, die zu einer humanitären Krise geführt haben. Auf der Basis europäischen und internationalen Rechts fordern wir einen Stopp der Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem. Nur so können nichtversicherte PatientInnen gleichberechtigten Zugang zu ärztlicher Versorgung erhalten – nur so kann eine echte Reform der medizinischen Grundversorgung erreicht werden.

Wie schaffen Sie es, Ihre PatientInnen mit den nötigen Medikamenten zu versorgen? Wir haben unsere eigene Apotheke. Es besteht immenser Bedarf an Medikamenten für chronische Krankheiten, wie etwa für Herzkrankheiten oder Diabetes, die in Griechenland aber Mangelware sind. Deshalb fragen unsere SpenderInnen meistens an, was für Medikamente wir genau brauchen. Sie sammeln Geldspenden und kaufen sie gezielt für uns. Wie reagiert die griechische Regierung auf die Problematik von PatientInnen, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben? Bis 2014 hatten nichtversicherte Patienten überhaupt keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem. Im Sommer 2014 öffnete die damalige Regierung ihnen den Zugang zur bezuschussten Medikamentenverschreibung. Auch der Zugang zur ärztlichen Versorgung über dreiköpfige Gutachter-Komitees wurde ihnen gewährt. Leider funktionierten diese Initiativen in der Praxis nicht. Im Frühjahr 2016 erließ die jetzige Regierung ein neues Gesetz, in dem Einkommensgrenzen festgelegt wurden: PatientInnen erhalten Medikamente ohne Zuzahlung und haben auf Basis der nationalen Versicherungsnummer (AMKA) kostenlosen Zugang zu ärztlicher Behandlung – allerdings nur in

Giorgos Vichas ist Kardiologe und Leiter der solidarischen Klinik Ellinikó. Er ist Mitglied des Vorstandes der ärztlichen Vereinigung Athens. 27

Fotos: © Luiza Puiu, luizapuiu.com

Foto: © Luiza Puiu

FLUCHT


Bundesarchiv, Bild 102-11536 Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0

Bundesarchiv, Bild 102-11537 Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0

Eng verwoben: Das DRK, die Macht und das Militär Geschichte und Aufgaben des Deutschen Roten Kreuzes

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ie Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) ist seit 1863 eng mit der deutschen Geschichte verflochten. Gründungen und Auflösungen der Rotkreuzorganisationen als Folge gewonnener und verlorener Kriege, die Etablierung zweier Rotkreuzgesellschaften nach 1945 und die Vereinigung der beiden Organisationen machen dies deutlich.

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on Anfang an bestand zwischen Staat, Gesellschaft und Rotkreuzorganisationen eine enge Verbindung. Sie gründete auf der Unterstützung des militärischen Sanitätsdienstes („Ursprungsaufgabe“), weitete sich aber auch auf eine Zusammenarbeit in der Krankenpflege, der Wohlfahrtstätigkeit und dem Gesundheitswesen aus. Seit Gründung der Rotkreuzgesellschaften in den den deutschen Staaten (1864ff.) gibt es eine Politik, die gezielt auf eine Personalunion von ehrenamtlich tätigen Rotkreuzrepräsentanten und politischen bzw. gesellschaftlichen und militärischen Funktionsträgern auf allen Ebenen hinarbeitet. Daraus ergibt sich eine Fülle von Möglichkeiten für eine – meist indirekt ausgeübte – Einflussnahme, oft durch den Versuch einer Monopolstellung, etwa der Rotkreuzschwestern als „Kriegsschwestern“ im Ersten Weltkrieg oder der angestrebten Monopolstellung im Krankentransport im Rahmen des Zivilschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit der Anerkennung des DRK in der Weimarer Republik als „nationale Hilfsorganisation“ wurde die – im Kaiserreich

bereits bestehende und im Ersten Weltkrieg ausgeweitete – Sonderstellung des DRK offiziell bestätigt. Ausgehend von seiner Ursprungsaufgabe verstand das Rote Kreuz, wie auch Rotkreuzorganisationen in anderen Staaten, lange Zeit seine in Friedenszeiten ausgeübten Tätigkeiten in den Bereichen Krankentransport und Krankenpflege, Schulung und Vorratshaltung als notwendige Vorbereitung auf einen potentiellen Krieg. Damit trug man auf der einen Seite den Bedingungen eines modernen Krieges Rechnung, auf der anderen Seite leistete das Rote Kreuz aber auch einen erheblichen Beitrag zur Militarisierung der deutschen Gesellschaft. Andererseits war das Rote Kreuz in Deutschland eine der ersten Rotkreuzorganisationen, die im 19. Jahrhundert großes Gewicht auf Wohlfahrtsarbeit und Gesundheitspflege legten.

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m Kaiserreich und weit darüber hinaus war das Rote Kreuz in Deutschland eine bürgerliche Organisation mit häufig fürstlichen bzw. adligen Vorständen. Die adligen Damen beschränkten sich nicht auf repräsentative Aufgaben, sondern entfalteten im Roten Kreuz eine rege karitative und soziale Tätigkeit nach dem Vorbild der preußischen Königin und Kaiserin Augusta, der „Seele des Roten Kreuzes“. Die Schwesternschaften des Roten Kreuzes hielten bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts am Mutterhaus als Ort der Erziehung und Ausbildung sowie an der Ehelosigkeit der Schwestern als Ausdruck „geistiger Mütterlichkeit“ fest. Die Institution der Rotkreuzschwestern trug viel zur 28

Professionalisierung und Spezialisierung der Krankenschwestern bei. In Männervereinen, zumal in den Sanitäts- und Transportkolonnen, ist eine wachsende Tendenz zur Militarisierung erkennbar. Sie rekrutierten sich teilweise aus den Kriegsvereinen. Der „Nationalismus der kleinen Leute“ war vor allem in den letzten Jahren der Weimarer Republik weit verbreitet.

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eine größte organisatorische Stärke, aber auch seine schwerste moralische Krise erlebte das DRK während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die schon 1945 bewusst verbreitete Behauptung, lediglich 10% der Mitglieder des Präsidiums seien Mitglieder der NSDAP gewesen, ist nachweislich falsch. Im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Organisationen war der NSDAP-Organisationsgrad im DRK sehr hoch. Seit 1937 war geschäftsführender Präsident der „SS-Reichsarzt“ Dr. Ernst Grawitz, der für die verbrecherischen Experimente an Menschen verantwortlich war und sich bei Himmler für die Errichtung von Gaskammern zur Vernichtung der Juden einsetzte. Es gab jedoch keine systematische Einbeziehung des DRK in solche oder ähnliche Untaten. Es existierten zahlreiche Abkommen und Verbindungen zu anderen NS-Organisationen, zur „Volksdeutschen Mittelstelle“ (Rassenpolitik) und „Lebensborn“. Die Gründung und der rasche Aufbau der beiden Rotkreuzorganisationen – das Rote Kreuz in der DDR und der BRD – war eine Folge des „Kalten Krieges“, vor allem des Koreakrieges. Unter seinem ersten Präsi-


VORAUSEILENDE KRIEGSVORBEREITUNG: GROSSE ÜBUNG DES DRK IN BERLINTEMPELHOF (1930)

Bundesarchiv, Bild 102-11535 Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0

Bundesarchiv, Bild 183-L0517-0048 Horst Sturm / CC-BY-SA 3.0

DRK-SCHWESTER OST AM BAHNHOF FRIEDRICHSTRASSE

Das Rote Kreuz in der DDR stand ganz unter Kontrolle der Staats- wie auch der Parteiführung, die zunächst die Rotkreuzführung als „bürgerliche“ Organisation mit Misstrauen betrachteten. Bis zur Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik war das deutsch-deutsche Rotkreuzgespräch die einzige Einrichtung zur Erörterung humanitärer Probleme. Das Rote Kreuz in der DDR hatte zweifellos Verdienste in der Gesundheitspolitik und im hygienischen Bereich, befasste sich

aber nur am Rande mit sozialen Aufgaben. Es verhielt sich bis zuletzt loyal gegenüber Partei und Staat. Seit dem Einigungsvertrag trägt die Organisation wieder den alten Namen „Deutsches Rotes Kreuz“. Sie ist – nach dem ADAC – mit über fünf Millionen Mitgliedern die zweitgrößte Organisation in der Bundesrepublik Deutschland.

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n Paragraf vier der Satzung des DRK sind Aufgaben genannt, die sich aus den Genfer Konventionen von 1864, 1906 1929 und 1948 ergeben: Unterstützung des offiziellen Heeres-Sanitätsdienstes, Bereitstellung von Pflegekräften und medizinischem Personal bis zur Hälfte der personellen und materiellen Mittel des DRK, Schutz der Zivilbevölkerung, Hilfe für Kriegsopfer, Übernahme des Suchdienstes und der Familienzusammenführung. Die enge Zusammenarbeit mit dem Staat wird besonders deutlich in der Auslandshilfe des DRK, die zu einem großen Teil mit Finanzmitteln der Bundesregierung bestritten wird. Nach Auffassung des ehemaligen Präsidenten des DRK Botho Prinz von Sayn-Wittgenstein ist trotz vertraglicher Abmachungen und pragmatischer Zusammenarbeit die relative Unabhängigkeit des DRK nicht gefährdet. Der Historiker Prof. Dr Dieter Riesenberger ist am 15. Oktober mit einem Vortrag über das DRK zu Gast auf dem Kongress „Medizin und Gewissen“. 29

Bleibt zivil und neutral! Die „Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen“ (DFG-VK) wendet sich mit der Kampagne „Bleibt zivil“ gegen eine Werbekampagne des Deutschen Roten Kreuzes Grund ist die enge Kooperation des DRK mit der Bundeswehr – im Militärjargon „Zivil-Militärische-Zusammenarbeit“ genannt. Schon 2003 bekannte Bild: DFG-VK

denten Otto Geßler, dem früheren Reichswehrminister, wandte sich das Rote Kreuz in der BRD im Rahmen der Wiederbewaffnung vor allem dem Aufbau des Zivilschutzes zu, ohne jedoch die extreme Not der Bevölkerung, die Hilfe für Kriegsgefangene und Heimkehrer, für Flüchtlinge und Vertriebene, zu vernachlässigen. Dabei war die Not der HelferInnen und Helfer ebenso groß wie die der Hilfsbedürftigen.

sich das DRK explizit zur „Mitwirkung“ an Militäreinsätzen. 2008 definierte dann ein Bundesgesetz die „Unterstützung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr“ als zentrale „Aufgabe“ der Hilfsorganisation. Seit 2009 unterhält das DRK einen eigenen „Beauftragten für zivil-militärische Zusammenarbeit“. Seit 2014 finden gemeinsame „Joint Cooperation“-Manöver von DRK, Bundeswehr und weiteren Armeen statt. Und am 24. November 2015 unterzeichneten der DRK-Generalsekretär Christian Reuter und Markus Grübel, der parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, die erste zentrale Kooperationsvereinbarung – sie soll der Zusammenarbeit ein „offizielles Fundament“ geben. Mehr Infos unter: www.bleibt-zivil.de Quelle: DFG-VK


WELT

Nukleare Teilhabe beenden Die europäischen Sektionen der IPPNW setzen sich gemeinsam für ein Atomwaffenverbot ein

Der versuchte Militärputsch in der Türkei hat die 180 US-Atombomben, die im Rahmen der nuklearen Teilhabe in Europa lagern, wieder in den Blick der Medien gebracht.

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FÜR VERBOTSVERHANDLUNGEN! GENF, 19. AUGUST 2016

indestens 50 Atomwaffen befinden sich auf der Airbase Incirlik der US-Luftwaffe, nur 110 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Die internationale IPPNW hat sich entschieden, die Forderung nach einem Abzug der US-Atomwaffen aus Incirlik aufzunehmen und mit der Forderung nach dem Abzug aller in Europa stationierten Atomwaffen zu verbinden. Anlässlich des Hiroshima-Tages gaben die Sektionen einen gemeinsamen Appell heraus, die Politik der nuklearen Teilhabe zu beenden und mit Verhandlungen für einen Verbotsvertrag im Rahmen der Humanitären Initiative zu beginnen.

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elches nach der in Genf verabschiedeten Resolution über die Aufnahme von Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot die nächsten Schritte sind und wie wir aus den europäischen Sektionen weiter Druck auf unsere Regierungen ausüben können, bei der kommenden Generalversammlung in New York den Beschluss für eine Konferenz zur Verhandlung eines Verbotsvertrags für Atomwaffen zu unterstützen, darauf liegt zurzeit der Fokus aller europäischer Sektionen. Unsere Arbeit dazu ist seit dem NATO-Gipfel in Warschau nicht leichter geworden, denn im gemeinsamen Statement bekräftig-

ten die NATO-Mitgliedsstaaten erneut die wesentliche Rolle von Atomwaffen im Rahmen ihrer Abschreckungspolitik. Viele europäische Staaten sind durch die NATO-Politik der nuklearen Teilhabe eng an die US-Atomwaffenpolitik gebunden. In einer IPPNW-Telefonkonferenz stellten insbesondere die skandinavischen Sektionen, Großbritannien, Deutschland und die Niederlande ihre aktuelle Arbeit und ihre Probleme in diesem Zusammenhang vor: Die IPPNW in den Niederlanden (NATOMitglied) macht seit einem Jahr intensive Lobbyarbeit mit ihrem medizinischen Appell, Atomwaffen vollständig abzuschaffen und die Humanitäre Initiative für einen Verbotsvertrag zu unterstützen. Über 100 führende MedizinprofessorInnen haben diesen Appell unterschrieben, viele ParlamentarierInnen sind überzeugt worden und fordern, dass die niederländische Regierung sich in den kommenden Konferenzen in Genf und New York klar für Verhandlungen für einen Verbotsvertrag einsetzt. In Norwegen (NATO-Mitglied) gibt es inzwischen eine konservative Regierung, weshalb die anfängliche starke Unterstützung für einen Verbotsvertrag auch finanziell stark zurückgefahren wurde. Kon30

servative Regierung und Parlament sind in der Frage gespalten. Die norwegische Sektion will jetzt ebenfalls mit einem medizinischen Appell arbeiten, um den Druck zu erhöhen. In Schweden (kein NATOMitglied) hat die sozialdemokratisch-grüne Regierung ebenfalls starke Vorbehalte gegen die humanitäre Initiative. Die schwedische Sektion betreibt seit Jahre eine starke und zum Teil erfolgreiche Lobbyarbeit, die das Parlament in der Mehrheit überzeugen konnte. Die finnische Sektion hat stark mit ihrer extrem konservativen Regierung zu kämpfen. Finnland (kein NATO-Mitglied) hatte traditionell die Entspannungspolitik mit Russland befördert. Im Zuge der Ukraine-Krise ist das früher freundschaftliche Verhältnis zwischen Finnland und Russland aber sehr abgekühlt, in Finnland wird eine mögliche NATO-Mitgliedschaft diskutiert. Am Gipfel der NATO in Warschau nahmen Finnland und Schweden als Gäste teil, was ihre Annäherung sehr deutlich zeigt. Im Parlament gibt es keine Mehrheit für den Verbotsvertrag.

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ie IPPNW-Sektionen sehen die größten Chancen für einen positiven Wechsel hin zu einem Verbotsvertrag für die Niederlande und für Schweden. Gleichwohl wollen alle europäischen Sektionen ihre Lobbyarbeit mit einem Appell für MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen verstärken und haben dazu am Hiroshima-Tag erste Aktionen gestartet. Im Oktober 2016 soll die gemeinsame internationale Medienarbeit für die Unterstützung der Humanitären Initiative und des Beginns von Verhandlungen eines Verbotsvertrags 2017 begleitend zur UNGeneralversammlung verstärkt werden. Die IPPNW wird prominent an der UNGeneralversammlung teilnehmen.

Angelika Claußen ist IPPNWVizepräsidentin für Europa.


AKTION

FRANKFURT

BERLIN

Nie wieder Hiroshima Gedenken an den Jahrestagen der Atombombenabwürfe An die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki erinnerten auch in diesem Sommer bundesweit IPPNW-Gruppen, vielerorts im Bündnis mit anderen Friedensinitiativen. Nicht nur Mahnwachen und Demonstrationen, auch Ausstellungen und Diskussionen standen auf dem Programm. Unter dem Motto „Wie bringen wir die atomare Abrüstung voran?“ organisierte die IPPNW Braunschweig eine Podiumsdiskussion mit PolitikerInnen aller Fraktionen, in der es auch um den Bundestagsbeschluss von 2010 für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ging. In der Berliner Gedächtniskirche begeisterte die 16-jährige Pianistin Umi Garrett an die 400 ZuschauerInnen. Das von IPPNW Concerts organisierte Benefizkonzert „Nie wieder Hiroshima“ brachte über 2.000 Euro an Spendengeldern ein. Weitere Berichte und Bilder finden Sie im internen Teil.

MÜNCHEN

BREMEN 31


G ELESEN

Mit dem IS verhandeln?

Geschichte der IPPNW

Unmissverständliche Antworten: Von einer pazifistischen Grundüberzeugung getragen begründet Thomas Carl Schwoerer, dass Krieg als Mittel der Politik noch nie Lösungen, sondern immer nur Tod, Elend und verbrannte Erde zur Folge hatte.

„Medizin gegen den Kalten Krieg“ ist aus der Habilitationsschrift von Claudia Kemper entstanden. Über 700 Fußnoten zeugen von der Fülle des Materials, das die IPPNW dem Hamburger Institut für Sozialforschung zur Verfügung stellte.

ktuell fordert der Krieg gegen den Terror in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und auch in Mali Millionen sinnloser Opfer; unvorstellbares Chaos nimmt ungezählten Menschen ihre materiellen, kulturellen und institutionellen Lebensgrundlagen und zwingt sie zur Flucht. Die Politik des Westens, auch die deutsche, verrennt sich immer mehr in eine kriegerische Sackgasse. Schwoerer klagt die Unvernunft, die Verbohrtheit der PolitikerInnen an, die wider besseres Wissen weiter Waffen sprechen lassen, gegen den Willen der meisten Menschen dort wie hier, die nicht mehr als ein friedliches Leben ohne Angst und Gewalt wünschen. Nicht zuletzt kurbeln deutsche Waffenlieferungen die Spirale der Gewalt an.

as Buch ist ein zeitgeschichtliches Dokument der Friedensbewegung, nicht nur eines der Ärzteschaft in den Jahren 1980 bis 1986. Der Leser erfährt vieles über die Planung und Durchführung der nationalen und internationalen Kongresse, der Auseinandersetzung mit der Bundesärztekammer und die den Konflikten bei der Verleihung des Friedensnobelpreises 1985, vor allem im Hinblick auf eine angebliche kommunistische Unterwanderung der IPPNW.

A

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Ausführlich beschrieben werden die Beziehungen zwischen der IPPNW in der DDR, staatlich organisiert ohne Einzelmitgliedschaft, den bei der Evangelischen Kirche angesiedelten ärztlichen Friedensgruppen und der IPPNW in der Bundesrepublik Deutschland.

Er weist kenntnisreich nach, dass die bisherigen militärischen Interventionen den Terror nicht geschwächt, sondern gestärkt haben. Drohnen, Panzer und Bomber erhöhen mit jedem zerfetzten Zivilisten, mit jedem getöteten Kind – vor allem bei jungen Menschen – Hass und Bereitschaft zur terroristischen Gegenwehr. Mit vielen Beispielen belegt der Autor, dass alle großen Konflikte durch Verhandlungen beigelegt worden sind – oder in ein Ausmaß von Zerstörung mündeten, das menschliches Vorstellungsvermögen übersteigt. Er mahnt mit den Vorbildern Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela das Erbe der friedlichen Beendigung von Gewalt an. Und schließlich entwickelt er eine praktikable Doppelstrategie: Den Terrorismus austrocknen und durch Verhandlungen seinen Anhängern demonstrieren, dass ihre Lebensbedürfnisse ernst genommen werden.

Geschildert werden die vor Gründung der IPPNW an vielen Orten existierenden Anti-Atom- und Friedensinitiativen der ÄrztInnen, wodurch eine zentrale Organisation der Sektion in der Bundesrepublik nicht so zu gestalten war, wie sich das Central Office in Boston das vorstellte. Die Entstehungsgeschichten in den USA und der Sowjetunion nehmen einen breiten Raum ein, dazu die Spannungen mit der bereits in den Sechziger Jahren in den USA entstandenen Ärztebewegung Physicians in Social Responsibility. Die Autorin thematisiert auch finanzielle Fragen und ein ausführliches Namensregister ermöglicht es, etwas über die AkteurInnen der ersten Jahre zu erfahren. Das Buch ist nach soziologischen Gesichtspunkten in fünf Kapitel gegliedert, was zu einigen Wiederholungen führt und gründliches Lesen abverlangt.

Wer seine Hoffnung auf zivile Konfliktlösungen nähren möchte, sollte sich die Zeit zur Lektüre nehmen, mit ein wenig kritischer Distanz zu Schwoerer: Das politische Widersprüche einebnende „Wir“, wenn es um die Bedrohung des Westens durch den Terror geht – wer möchte mit Merkel, von der Leyen, de Maizière verbal zusammengepfercht werden? Und wenn er westliche Werte beschwört, die doch längst zerdrohnt, parlamentarisch plattgewalzt und dem Profit geopfert sind, entsteht ein unverständlicher Bruch seiner ansonsten stimmigen Argumentation.

Lesenswert für die an der IPPNW-Geschichte Interessierten, auf jeden Fall ein sehr informatives Nachschlagewerk! Claudia Kemper: Medizin gegen den Kalten Krieg. Ärzte in der anti-atomaren Friedensbewegung der 1980er Jahre. Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte Band 54, 2016, 476 S., 42,00 €, ISBN: 978-3-8353-1812-0

Thomas Carl Schwoerer: Mit dem IS verhandeln? Neue Lösungen für Syrien und den Terrorismus. Redline Verlag, 2016, 112 S., 7,99 €, ISBN 978-3868816525

Dörte Siedentopf

Günter Rexilius 32


GEDRUCKT

TERMINE

Erdogans Krieg

SEPTEMBER

IPPNW-Akzente Türkei/Kurdistan 2016

10.9. IPPNW-Benefizkonzert für Flüchtlingskinder, Berlin

T

rotz aller Sicherheitsbedenken hat sich auch in diesem Jahr eine Delegation der IPPNW auf den Weg in den Südosten der Türkei gemacht. In diesem Bericht dokumentieren wir die Gespräche, die wir mit VertreterInnen von Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen geführt haben, und die bedrückenden Erfahrungen, die wir gesammelt haben. Die Reise stand ganz im Zeichen des Krieges, der mit unvorstellbarer Grausamkeit gegen die kurdische Bevölkerung geführt wird.

18.-30.9. Begegnungsfahrt Palästina – Israel 18.9.-2.10. Ausstellung Hibakusha Weltweit, Berliner Friedenszentrum 21.9. Vortrag und Diskussion „Modernisierung der NATO-Atomwaffenpotentiale“ mit Matthias Jochheim, Essen 24.9. 9. Atommüllkonferenz, Göttingen 30.9.-3.10. Weltfriedenskonferenz des International Peace Bureau, Berlin

Von: Johanna Adickes, Christa Blum, Mehmet Bayval, Sigrid Ebritsch, Margit Iffert-Roeingh, Dr. Gisela Penteker und Dr. Elke Schrage

OKTOBER

36 Seiten A4, Farbe, 5,- Euro Bestellen unter: https://shop.ippnw.de Anschauen unter: kurzlink.de/tuerkei2016

8.10. Bundesweite Friedensdemonstration „Die Waffen nieder“ in Berlin 14.-15.10. 5. Internationaler IPPNWKongress „Medizin & Gewissen“, Nürnberg

GEPLANT Das nächste Heft erscheint im Dezember 2016. Das Schwerpunktthema ist:

Nukleare Abrüstung von unten Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 148/Dezember 2016 ist der 31. Oktober 2016. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

Redaktionsschluss für das nächste Heft:

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

31. Oktober 2016

wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

Samantha Staudte; Druck: Vivian Schneider

Wilmen, Regine Ratke

Druckereidienstleistungen Berlin; Papier: Re-

Freie Mitarbeit: Marek Jessen

cystar Polar, Recycling & FSC.

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-

Bildnachweise: S.6 li.: Demo in Lingen, 24.12.15,

straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80

/ http://weltweit.nirgendwo.info; S. 6 re: Janine

74 0, Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@

Kohlmann, Sportsoldatin 2012, von: Wir. Dienen.

Bankverbindung:

Deutschland, https://creativecommons.org/licen-

Bank für Sozialwirtschaft, Kto-Nr. 2222210, BLZ

ses/by-nd/2.0; S. 7 li.: Connection e. V.; S. 7 Mit-

10020500, IBAN DE39100205000002222210,

te: © Boris Heger/ ICRC; S. 28 links: „Erste große

BIC BFSWDE33BER

Sanitätsübung des DRK“, Bundesarchiv, Bild 102-

ippnw.de,

www.ippnw.de,

9.-15.9. Ausstellung Hibakusha Weltweit in Saarbrücken

Das Forum erscheint viermal im Jahr. Der Be-

11536, Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0; S. 28 re.: Erste

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag

große Sanitätsübung des DRK, Bundesarchiv, Bild

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-

102-11537, Georg Pahl/CC-BY-SA 3.0

kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. 33

16.10. IPPNW-BUND-Seminar: Stilllegung und Abriss von Atomkraftwerken – Gefahren durch Freimessen und Freigabe von Atommüll, Stuttgart 29.10. Uranfabriken schließen!, Demonstration in Lingen

DEZEMBER 16.12. Aktionstag der Syrien-Kampagne „Macht Frieden“ Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

Vormerk en DEZEMBER 5.–11.12.2016 Aktionswoche „Macht Frieden! Zivile Lösungen für Syrien“

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Foto: Lopata/AkdÄ

GEFRAGT

6 Fragen an … Wolf-Dieter Ludwig

Chefarzt der Klinik für Krebsmedizin in Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)

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Professor Ludwig, sind Medikamente in Deutschland zu teuer? Ja, die Preise für Medikamente in Deutschland sind häufig zu teuer. Patentgeschützte Arzneimittel sind dabei die Hauptursache der jährlich steigenden Ausgaben für die gesetzlichen und privaten Krankenkassen. Im Jahr 2015 sind die Ausgaben erneut gegenüber dem Vorjahr mit mehr als 4 % überdurchschnittlich auf knapp 37 Mrd. Euro gestiegen. Dabei sind Arzneimittel für die Behandlung von Krebserkrankungen die mit Abstand umsatzstärkte Indikationsgruppe. Die höchsten Kosten verursachen neue Wirkstoffe wie monoklonale Antikörper und Proteinkinaseinhibitoren.

Im Vergleich mit anderen Ländern sind die Arzneimittelkosten in Deutschland im ersten Jahr nach Zulassung immer noch unverhältnismäßig hoch. Warum? Richtig ist, dass die Preise für neue Arzneimittel in Deutschland deutlich über dem europäischen Niveau liegen. Deutschland ist der größte Arzneimittelmarkt in Europa. Daher sind die hier erzielten Preise wichtig für die sog. externe Preisreferenzierung, dem wichtigsten Mechanismus für die Festlegung von Arzneimittelpreisen in Europa. Da die pharmazeutischen Unternehmen in Deutschland im ersten Jahr nach Markteinführung den Preis für Medikamente frei bestimmen können, sollte für Arzneimittel ohne Zusatznutzen der verhandelte Erstattungsbetrag nicht erst ein Jahr nach Markteinführung, sondern rückwirkend gelten. Dann müssten die Pharmaunternehmen die zu viel gezahlten Erlöse zurückerstatten.

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Sie kritisieren, dass viele Arzneimittel nutzlos seien. Gibt es keine Fortschritte, z.B. bei der Behandlung von Krebs? Es gibt unbestritten große Fortschritte im Verständnis der molekulargenetischen Grundlagen der Krebserkrankungen, die auch zur Entwicklung neuer, gezielt einsetzbarer medikamentöser Therapien geführt haben. Gleichzeitig sind jedoch erhebliche Mängel in der Forschung und Entwicklung neuer onkologischer Wirkstoffe deutlich geworden. Hierzu zählen beispielsweise beschleunigte Zulassungsverfahren für die Mehrzahl der neuen Krebsmedikamente, die dazu führen, dass zum Zeitpunkt der Zulassung unsere Kenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit noch unzureichend sind. Außerdem lässt sich der patientenrelevante Nutzen der neuen Medikamente häufig erst Jahre nach Zulassung endgültig beurteilen.

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Wie frei sind ÄrztInnen vom Einfluss der Pharmaindustrie? ÄrztInnen werden heute mit vielfältigen Marketingstrategien der Pharmaindustrie konfrontiert. Hierzu zählen u.a.: verzerrte Darstellung von Ergebnissen klinischer, meist von der Pharmaindustrie gesponserter Studien zu Arzneimitteln in Fachzeitschriften sowie ebenfalls gesponserte Fortbildungsveranstaltungen, auf denen das Nutzen-Risiko-Verhältnis von neuen Arzneimitteln häufig interessengeleitet dargestellt wird. Deshalb hat die AkdÄ auch im Januar klare Regeln für die Durchführungen ihrer Fortbildungsveranstaltungen aufgestellt: 1. Keine direkte oder indirekte Finanzierung der Veranstaltungen durch die Pharmaindustrie. 2. Berücksichtigt werden nur Referenten, die seit mindestens zwei Jahren keine finanziellen Interessenkonflikte haben.

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Seit sechs Jahren dürfen die Hersteller die Preise für ältere Arzneimittel nicht mehr erhöhen, neue Medikamente werden auf ihren Nutzen überprüft. Reicht das aus, um die Arzneimittelkosten zu senken? Die 2011 eingeführte frühe Nutzenbewertung im Rahmen des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes ist zweifelsfrei ein wichtiger Schritt, um einen am Zusatznutzen orientierten Preis für neue Medikamente festzulegen. Die Erfahrungen der letzten 5 Jahre zeigen allerdings, dass die bisher erzielten Einsparungen bei den Patentarzneimitteln insgesamt nur etwa 1,4 Mrd. Euro betragen und damit deutlich unter den avisierten 2,1 Mrd. Euro jährlich liegen. Die hohen Preise für neue Arzneimittel werden weder durch die Kosten für Forschung und Entwicklung oder Herstellung neuer Arzneimittel, noch durch den gerade bei Krebsmedikamenten meist geringen Nutzen begründet.

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Was muss die Politik Ihres Erachtens tun? Ziel muss weiterhin sein, frühzeitig nach Markteinführung neuer Arzneimittel unabhängige Informationen zu deren Nutzen zu erhalten und angemessene Erstattungsbeträge festzulegen. Die angepeilten Einsparungen werden mittelfristig allerdings nur durch eine nutzenbasierte Preisbildung erreicht werden. Vermieden werden müssen falsche ökonomische Anreize für Pharmaunternehmen, die vor allem in der Onkologie zur Entwicklung einer Vielzahl von sehr teuren Arzneimitteln ohne neuen Wirkmechanismus und meist mit unklarem Zusatznutzen geführt haben.

Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig wird am 14. Oktober 2016 mit dem Vortrag Leitlinien für ÄrztInnen – Wer leitet wen wohin? auf dem IPPNW-Kongress „Medizin und Gewissen“ in Nürnberg zu Gast sein. Mehr Informationen unter: www.medizinundgewissen.de 34


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Die beste Zukunftsanlage ist die Erhaltung des Friedens. Übliche Geldanlagen ziehen ihre Rendite aus Rüstungsproduktion und Krieg. Immer mehr Waffen überschwemmen den Planeten, die Welt treibt auf einen neuen Weltkrieg zu. ProSolidar verzichtet auf Rendite. Und finanziert stattdessen Einsatz für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Frieden sowie für Konzernkritik.

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5. Internationaler IPPNW-Kongress

Medizin & Gewissen

Was braucht der Mensch? Nürnberg, 14.–15.Oktober 2016

Leitlinien für ÄrztInnen – wer leitet wen wohin? Patientenorientiert behandeln Foto: Lopata/AkdÄ

14. Oktober 18.15 Uhr

14. Oktober 19.15 Uhr

15. Oktober 10.00 Uhr

15. Oktober 13.30 Uhr

IPPNW – Regionalgruppe Nürnberg – Fürth – Erlangen der International Physicians for the Prevention of Nuclear War – Ärzte für Frieden und Soziale Verantwortung e.V.

Plenarvortrag von Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig (AkdÄ) Siehe Seite 30

Healing under Fire – Medical Peace Work in the Field Best-Practice-Beispiele Plenarvortrag von Dr. Gabriella Arcadu (4Change) Siehe Seite 22-23

Foto: © Lela Ahmadzai/medica mondiale

15. Oktober 9.00 Uhr

Programmausschnitt

Solidarität und Würde – Unterstützung für traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten Plenarvortrag von Dr. Monika Hauser (medica mondiale) Siehe Seite 24-25

Eng verwoben: Das DRK, die Macht und das Militär – Geschichte und Aufgaben des Deutschen Roten Kreuzes Workshop u.a. mit: Prof. Dr. Dieter Riesenberger (emer. Universität Paderborn), Dr. Judith Hahn (Charité Universitätsmedizin), Dr. Horst Seithe (IPPNW) Siehe Seite 28-29

Global medical Aid: How to do no Harm, but support Peace Diskussionsforum u.a. mit: Dr. Louisa Chan Boegli, (4Change) Katja Maurer (medico international) Carlotta Conrad (IPPNW) Dr. Gisela Schneider (DIFAEM), Dr. Harald Kischlat (German Doctors) Siehe Seite 22-23

www.medizinundgewissen.de

Medizingeschichte + Medical Peace Work & Global Health + ethische Fragen im Medizinalltag


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