IPPNW forum 137/2014 – Die Zeitschrift der IPPNW

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Fukushima bei Date. Yoshihiko Oyama mit seinem Dosimeter, das ein Jahr lang die tägliche Strahlendosis aufsummieren wird. © Alexander Neureuter

ippnw forum

das magazin der ippnw nr137 märz2014 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

- Syrien: Rojava – ein mutiges Experiment mitten im syrischen Bürgerkrieg - Türkei: Strahlender Müll - 6 Fragen an: Fabrizio Gatti

Folgen von Atomkatastrophen für Natur und Mensch


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EDITORIAL Dr. Alex Rosen ist Kinderarzt und stellvertretender Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW.

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napp drei Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe herrscht in Fukushima weiterhin große Verunsicherung und Angst. Die japanischen Behörden und die Atomlobby versuchen, durch Vertuschung und Verharmlosung die Bevölkerung in Sicherheit zu wiegen.

Originalfoto: Magalie L'Abbé, creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0

Doch die Menschen wollen nicht weiter um ihr Recht auf Gesundheit und das Leben in einer gesunden Umwelt betrogen werden. Japanische ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen und Bürgerinitiativen, oft maßgeblich getragen von besorgten Müttern, wagen es immer wieder, die geschönten Daten und Analysen der Atomlobby öffentlich zu hinterfragen. Unterstützt werden sie dabei in nicht unwesentlichem Umfang durch IPPNW-Sektionen in Kanada, den USA, Deutschland, der Schweiz und Australien. Die Folgen von Atomunfällen sind so vielfältig und vielschichtig, dass man damit ganze Bücher füllen könnte. Einige Aspekte dieses Themas, die uns anlässlich der jüngsten Katastrophe in Japan besonders aktuell erscheinen, möchten wir in dieser Ausgabe beleuchten. Den Einstieg machen Bilder und Geschichten aus dem Bildband „Fukushima 360°“ von Alexander Neureuter. Der engagierte Umweltjournalist reiste drei Wochen lang durch Japan und hielt die persönlichen Schicksale vieler Betroffener fest. Der in Japan lebende Dokumentarfilmer Ian Thomas Ash (Produzent des kritischen Fukushima-Dokumentarfilms „A2-B-C“) berichtet über die diffuse Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen durch das neue Geheimhaltungsgesetz und wie dieses die unabhängige Berichterstattung bedroht. Wie dringend nötig – v.a. für die betroffene Bevölkerung – diese unabhängige Aufklärung ist, verdeutlichen die Artikel von Dr. Mikhail Malko und Henrik Paulitz, die sich dem Thema von der medizinischen Seite nähern. Nach wie vor werden die Folgen von Strahlung von offizieller Seite runtergespielt und unterschätzt. Malko von der weißrussischen Akademie der Wissenschaften berichtet im Interview von den Erkenntnissen aus 28 Jahren medizinischer Forschung in den von Tschernobyl kontaminierten weißrussischen Gebieten. IPPNW-Referent für Atomenergie Paulitz fasst die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu gesundheitlichen Folgen ionisierender Strahlung zusammen, die auf einem von der IPPNW initiierten Expertentreffen im Oktober 2013 zusammengetragen wurden. „Folgen von Atomkatastrophen für Mensch und Umwelt“ ein komplexes Thema, das gerade für uns Ärztinnen und Ärzte leider noch viele Jahrzehnte relevant bleiben wird. Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht Ihnen, Ihr Alex Rosen. 3


INHALT Mexiko: Ein weiterer Schritt zu einer Welt ohne Atomwaffen

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THEMEN Rojava – ein mutiges Experiment mitten im syrischen Bürgerkrieg................................................................................................................8 Von Mexiko führt kein Weg mehr zurück...............................................10 Doktoren und Drohnen................................................................................... 12 Reden über Israels Atomwaffen.................................................................14 We come as friends...........................................................................................15 Für mentale Gesundheit und Menschenrechte.................................16

Foto: ICAN

Strahlender Müll................................................................................................ 18

SERIE Atomkatastrophen: Folgen für Mensch und Umwelt

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Die Nukleare Kette: Uranbergbau im Erzgebirge............................17

SCHWERPUNKT Gespaltenes Leben........................................................................................... 20 Der kurze Traum vom glücklichen Leben auf dem Lande........ 22

Foto: Alexander Neureuter

Neue Grundlagen zum Strahlenrisiko.....................................................24

Thailand: Ärztliche Friedensarbeit lernen

Unterschätzte Gesundheitsfolgen............................................................ 26 Interpretationssache Staatsgeheimnis.................................................. 28

WELT 30

Medical Peace Work........................................................................................ 30

RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33


MEINUNG

Karin Leukefeld ist freie Journalistin, Buchautorin und berichtet aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens.

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Die syrisch-syrischen Gespräche in Genf unter Vermittlung des Sonderbeauftragten für Syrien, Lakhdar Brahimi, sind lange überfällig. Zu lange hat es gedauert, bis Washington und Moskau sich zumindest darauf einigen konnten, dass syrische Kriegsgegner an einem Tisch sitzen und reden sollen, wie es die Genfer Vereinbarung vom 30. Juni 2012 vorsieht.

n Absprache mit ihrem langjährigen Verbündeten Moskau hat die syrische Regierung ihre ranghöchsten Diplomaten nach Genf entsandt, die das Genfer Abkommen Schritt für Schritt abarbeiten wollen. Washington und die „Freunde Syriens“ haben die Nationale Koalition für oppositionelle und revolutionäre Kräfte in Syrien (Etilaf) an den Verhandlungstisch geschickt. Nach deren Vorstellung sollen erst Präsident und Regierung abdanken, bevor man das Genfer Abkommen umsetzen kann. Am Ende der zweiten Gesprächsrunde in Genf am 15. Februar 2014 entschuldigte sich nun der Syrien-Sondervermittler Lakhdar Brahimi bei den Syrern, dass die Gespräche bisher keine essenziellen Ergebnisse erbracht hätten. Woran liegt es? Die westlichen Großmächte und ihre Verbündeten in den Golfmonarchien wollen ihre eigenwillige Interpretation der Genfer Vereinbarung durchsetzen. Diese Aufgabe übernimmt in Genf die Nationale Koalition. „Assad muss abtreten“ lautet die Devise, obwohl das im Genfer Abkommen an keiner Stelle erwähnt wird. Es geht nicht darum, dass man die Waffen zum Schweigen bringt, damit die Syrer ihr Land in einem politischen Prozess verändern, es geht um „Regime Change“.

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iemand in Genf vertritt die Interessen der politischen, innersyrischen Opposition, die gegen die Bewaffnung und gegen eine ausländische Einmischung in Syrien ist. Wo sind die Frauen und die Kurden, die für Frieden eintreten? Wo ist die schweigende Mehrheit der Syrer, die angesichts der eskalierenden Gewalt verstummt ist? Hoffnung macht derweil der innersyrische Dialog, der immer wieder torpediert, denunziert und mit Waffengewalt unterbrochen wurde, doch nie ganz abgerissen ist. Das geschieht nicht vor den Kameras der Weltpresse, doch es geschieht. Kämpfer legen ihre Waffen nieder und machen den Weg frei, damit Familien in ihre Wohnungen zurückkehren und mit dem Aufräumen beginnen können. Noch steht das alles am Anfang, doch es macht vielen Syrern Mut und gibt ihnen Vertrauen in die eigene Kraft. 5


Foto: UAA Nee (CC BY-SA 2.0)

Foto: blu-news.org (CC BY-SA 2.0)

N ACHRICHTEN

Benefizkonzert für LampedusaFlüchtlinge

Kritik an Bundespräsident Gauck

Privatisierung von URENCO vergrößert atomares Risiko

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as IPPNW-Benefizkonzert zugunsten der Lampedusa-Flüchtlinge vom Oranienplatz in Berlin am 10. Dezember 2013 erbrachte Einnahmen in Höhe von 11.000 Euro. Das Geld kommt der ökumenischen Initiative „Asyl in der Kirche“ und der „Malteser Migrantenmedizin“ für ihre Arbeit mit den Flüchtlingen zugute. Der Verein „Asyl in der Kirche“ finanziert mit dem Geld Lebensmittel und Fahrkarten für die Flüchtlinge. Die Malteser Migrantenmedizin kümmert sich um die medizinische Versorgung. Einige der Flüchtlinge, die im Caritas-Gebäude nicht mehr unterkamen, wurden in ein Flüchtlingswohnheim geschickt, wo sie zwar ein Dach über dem Kopf haben, sich aber selbst versorgen müssen. International bekannte Solisten, Berliner Philharmoniker, Mitglieder verschiedener Orchester sowie Tango- und Jazzgruppen spielten in der voll besetzten Kirche für die Flüchtlinge. Zwischendurch las Schauspieler und Dramaturg Hermann Beil aus den erschütternden Lebensgeschichten der Flüchtlinge. Die Idee zu dem Konzert kam Dr. Peter Hauber (IPPNW), nachdem er Sprechstunden für die Flüchtlinge gehalten hatte. Viele sind libysche Schwarzafrikaner, die im Bürgerkrieg 2011 aus Libyen vertrieben wurden und in Lampedusa strandeten. In Italien erhielten sie nur die Aufenthaltsgenehmigung für die EU. In Deutschland bekommen sie weder einen sicheren Aufenthaltsstatus oder eine Arbeitserlaubnis, noch soziale Leistungen, Geld oder Asyl.

undespräsident Joachim Gauck hat sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar dieses Jahres dafür ausgesprochen, dass Deutschland mehr internationale Verantwortung übernehmen solle. Das Militärische stand bei der Tagung im Vordergrund, Friedenspolitisches war kaum zu vernehmen. Außenminister und Verteidigungsministerin sekundierten entschlossen für die Entsendung deutscher Truppen nach Afrika. Die Kooperation für den Frieden hat die Rede Gaucks scharf kritisiert und gefordert, dass Deutschland sich nicht an militärischen Einsätzen in Afrika beteiligen dürfe, da diese vorwiegend der Sicherung westlicher Interessen dienten. „Die so genannten humanitären Interventionen sind eine Täuschung und verdecken die Zusammenarbeit mit korrupten und gewalttätigen Regimen“, heißt es in einer Erklärung. Wer Frieden wolle, müsse friedliche Mittel einsetzen. Die IPPNW warnte im Vorfeld der Konferenz ebenfalls eindringlich vor einem „erweiterten Sicherheitsbegriff“, der auch die Sicherung von Handels- und Rohstoffinteressen mit militärischen Mitteln beinhaltet und damit Aufrüstung, Waffenlieferungen und die Entwicklung neuer Waffensysteme mit sich bringt. Dieser Begriff verstoße gegen die in der Charta der Vereinten Nationen festgeschriebenen Prinzipien der souveränen Gleichheit, territorialen Integrität und Nichteinmischung. Friedensdekalog als Antwort an Gauck: http://kurzlink.de/gauck-kofrie 6

urch den Verkauf der Urananreicherungsanlage Gronau soll trotz Atomausstieg ein unbegrenztes Weiterlaufen der Anlage sowie die weitere Uran-Versorgung von Atomkraftwerken in aller Welt möglich werden. IPPNW und Robin Wood fordern mehr Beteiligung der Öffentlichkeit bei dieser Entscheidung, denn „dass ein privates Unternehmen die Kontrolle über eine Technologie erhalten soll, die zum Bau von Atombomben genutzt werden kann, ist ausgesprochen fragwürdig“, erklärte Dr. Alex Rosen, IPPNW. Uran wird in Deutschland zur Stromerzeugung in Atomkraftwerken zu 100 Prozent importiert. Dabei ist die Atomindustrie auch abhängig von Uranimporten aus Staaten außerhalb der OECD. Die deutsche Bundesregierung und die EURATOM Supply Agency verschleiern dabei die Herkunft des Urans. Als Lieferländer werden vor allem Frankreich und Großbritannien genannt, die jedoch über keine eigene Uranproduktion verfügen und lediglich als Zwischenhändler fungieren. Laut Bundeswirtschaftsministerium wurden im Jahr 2005 z. B. 8 % des Bedarfs aus dem Niger gedeckt, 29 % aus Kanada, 23 % aus Australien, 9 % aus Kasachstan, 8 % aus Russland und 23 % aus anderen Ländern. Für die Folgejahre lassen sich die Herkunftsländer nicht nachvollziehen. EURATOM gibt an, dass 2012 13 % des Natururans für Europa aus dem Niger kamen, eines der am stärksten verseuchten Abbaugebiete der Erde, das kaum von seinem Ressourcenreichtum profitiert.


Foto: Hermine Oberrück

Foto: opyh (CC BY-SA 2.0)

N ACHRICHTEN

Ärztetagung zu Gefahren ionisierender Strahlung

Atomkrieg wäre humanitäre Katastrophe

Elektronische Gesundheitskarte rechtswidrig

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ie Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl haben gravierende Auswirkungen auf die Menschen, die Natur und die Gesellschaft. Über das Ausmaß der Schäden gehen die Meinungen jedoch weit auseinander. Vertreter von UN-Organisationen wie der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEO), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Wissenschaftlichen Komitee der UN für die Folgen von Strahlen (UNSCEAR) behaupten, es bestünde keine Gefahr für die Gesundheit der betroffenen Bevölkerung. Demgegenüber kommen die Untersuchungen von Ärzten und anderen unabhängigen Wissenschaftlern zum Ergebnis, dass ionisierende Strahlung schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen zur Folge hat. Um den Austausch kritischer Wissenschaftler zu fördern, veranstalteten IPPNW und die Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Anfang März eine internationale Tagung zu den Folgen von Atomkatastrophen für Natur und Mensch. Ärzte, Wissenschaftler und Journalisten aus Japan, Belarus, Deutschland, den USA, Frankreich und Großbritannien tauschten sich über die Folgen ionisierender Strahlung aus. Die in Japan bekannte Journalistin Oshidori Mako thematisierte zudem die japanische Geheimhaltungspolitik. Zuvor hatte sich eine internationale Ärztedelegation in Minsk bereits über Schilddrüsenkrebs, Leukämie bei Kindern sowie genetischen Erkrankungen in Weißrussland in Folge der atomaren Katastrophe von Tschernobyl informiert.

n Nayarit an der mexikanischen Pazifikküste fand Mitte Februar eine internationale Staatenkonferenz zu den humanitären Folgen eines Atomkrieges statt. Die Regierung Mexikos hatte gemeinsam mit der „Internationalen Kampagne zur Abschaffung der Kernwaffen“ (ICAN) zu dieser Tagung eingeladen. Bereits seit einiger Zeit versuchen die Aktivisten, Politiker zum Handeln zu zwingen, indem sie vor den verheerenden humanitären, medizinischen, klimatischen und wirtschaftlichen Folgen eines Atomkrieges warnen. Ihr Fazit: Die Abschaffung der Atomwaffen ist die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass sie nie eingesetzt werden. Darum sollten unverzüglich Verhandlungen für eine weltweite Nuklearwaffenkonvention beginnen. Als VertreterInnen der Zivilgesellschaft Deutschlands nahmen IPPNW-Arzt Dr. Lars Pohlmeier, Xanthe Hall, IPPNW-Abrüstungsreferentin sowie Martin Hinrichs von ICAN an der Konferenz teil. Bereits im vergangenen März hatte in Oslo eine Vorgängerkonferenz zum gleichen Thema stattgefunden, an der 132 Staaten und mehrere UN-Organisationen teilnahmen. Die Atomwaffenstaaten boykottierten die Konferenz mit der Ausrede, dass sie sich „nicht von bisherigen, praktischen Schritten zur nuklearen Abrüstung ablenken lassen“ wollten. Die österreichische Regierung hat inzwischen angekündigt, die nächste Konferenz zu humanitären Folgen von Atomwaffen im September in Wien ausrichten zu wollen.

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ie das Hamburger Abendblatt berichtete, verstößt die Anfang 2014 eingeführte Gesundheitskarte mit Bild laut eines Gutachtens der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gegen das Gesetz. Die Krankenkassen hätten es versäumt, die Fotos zu überprüfen. Aufgefallen war dies als Mitglieder Fotos des „Star Wars“-Charakters „Darth Vader“ oder berühmter Persönlichkeiten, wie Brad Pitt oder Lady Gaga eingereicht hatten. Derzeit sind zwischen 55 und 60 Millionen E-Cards im Umlauf. Wie viele davon ungültig sind, ist nicht bekannt. Deshalb müssten prinzipiell alle Karten eingezogen oder nachgerüstet werden, da sie so keine gesetzlich gültigen Identitätsnachweise darstellen. Die Aktion „Stoppt die e-card“, ein Bündnis aus 54 Bürgerrechtsorganisationen, Datenschützern, Patienten- und Ärzteverbänden, fordert seit Langem die Abschaffung der Karte. Dr. Manfred Lotze, Vertreter der IPPNW im Bündnis, warnt: „Die NSA hat vorgemacht, wie schnell Daten zu entschlüsseln sind – das sollte auch den letzten Sicherheitsgläubigen eines Besseren belehren.“ Trotz allem ist das Bundesministerium für Gesundheit der Ansicht, die Krankenkassen hätten keinen Fehler gemacht, da die Verifizierung der Daten nicht zwingend während der Übermittlung des Lichtbilds geschehen müsste. Informationen darüber, wann die Überprüfung stattfinden müsse, gibt es allerdings nicht.


FRIEDEN

Rojava – ein mutiges Experiment mitten im syrischen Bürgerkrieg Bericht von der Delegationsreise in den kurdischen Norden Syriens im Januar 2014

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nfang Januar 2014 hatte ich die Gelegenheit, mit einer kleinen Delegation unseres wissenschaftlichen Beirats und Bundestagsabgeordneten Jan van Aken in den kurdischen Norden Syriens zu reisen.

ier ist auch die „Kornkammer“ Syriens. Große Weizenfelder, die früher Angehörige des Assad-Clans bewirtschaftet hatten, wurden den früheren Besitzern zurückgegeben oder werden von Kooperativen bewirtschaftet. Die Ernten waren gut, es gibt noch Vorräte an Getreide. Die Felder sehen gut aus. Ob auch die nächste Ernte gut wird, hängt davon ab, ob die für die intensive Monokultur notwendigen Düngemittel und Pestizide, die schon gekauft sind, auch ins Land kommen. Denn Rojava unterliegt einem totalen Embargo. Im restlichen Syrien ist kriegsbedingt die Versorgung zusammengebrochen. Von dort kommt außer islamistischen Kämpfern nichts mehr. Die Türkei hat ihre Grenze zu den kurdischen Gebieten geschlossen. Ebenso das irakische Kurdistan und auch der Irak, wie wir uns überzeugen konnten. So sind viele Dinge inzwischen Mangelware, wie Tee, Reis und Zucker. Tomaten z. B. kosten das 10-Fache des früheren Preises, wenn es denn welche gibt.

Nachdem es uns in zähen und langwierigen Verhandlungen gelungen war, nahe Mossul im Irak die Grenze zu überqueren, fanden wir uns in einem fast friedlichen, geschäftigen Land wieder, in dem es keine bombardierten Häuser und keine zerstörten Städte gibt. Nur die vielen Checkpoints deuteten auf die allgegenwärtige Bedrohung durch die Kriegsparteien im restlichen Syrien hin. Nach dem Rückzug der Assadtruppen vor 1½ Jahren ist in den kurdischen Gebieten eine autonome basisdemokratische Selbstverwaltung entstanden. In Dörfern und Städten organisieren paritätisch besetzte Komitees die einzelnen Lebensbereiche. Die Polizei Asayis, der alle Bevölkerungsgruppen angehören, sichert die Orte gegen das Einsickern von Islamisten, die YPG, die Volksverteidigungskräfte, eine Freiwilligenarmee mit 45 % Frauenanteil, sichert die Grenzen gegen Angriffe der Assadtruppen und der Dschihadisten.

Am eklatantesten ist der Mangel an Medikamenten. Die Apotheken erhalten keine Ware mehr. Die einzige Medikamentenausgabestelle der großen Stadt, in der auch viele Binnenflüchtlinge untergekommen sind, wird vom kurdischen Roten Halbmond von Rojava (Heyva Sor a Kurd a Rojava) betrieben. Dorthin kommen die Menschen mit ihrem Rezept. Wenn sie großes Glück haben, gibt es das Medikament, das sie brauchen. Wir sehen Kisten unsortierter Ärztemuster, die über die türkische Grenze geschmuggelt werden, auch deutsche Medikamente sind darunter. Einmal habe es eine größere Lieferung von medico international gegeben, die über die Bürgermeisterin von Nuseybin über die türkische Grenze gebracht werden konnte. In Nuseybin hatten wir schon bei unserer Reise im März an die türkisch-syrische Grenze von der großen Not der Kranken in Qamishli erfahren. Schon damals konnten die Krankenhäuser nicht arbeiten. Vor allem Dialysen

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und um Qamishli, der größten Stadt in Rojava, gibt es die größten Ölvorkommen Syriens. Wir sehen die Pumpen überall. Sie stehen still, weil das Öl von hier normalerweise nach Homs gepumpt wird, wo es den Islamisten in die Hände fallen würde. Inzwischen wird in primitiven Raffinerien schlechtes Benzin hergestellt, das rationiert an die Menschen verteilt wird und zumindest für den Betrieb der landwirtschaftlichen Maschinen und der Kornmühlen reicht. Überall am Straßenrand wird Benzin für die stinkenden Öfen in den Häusern in Flaschen verkauft.

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DIE EINZIGE MEDIKAMENTENAUSGABESTELLE DER GROSSEN STADT WIRD VOM KURDISCHEN ROTEN HALBMOND VON ROJAVA BETRIEBEN. DORTHIN KOMMEN DIE MENSCHEN MIT IHREM REZEPT. WENN SIE GROSSES GLÜCK HABEN, GIBT ES DAS MEDIKAMENT, DAS SIE BRAUCHEN.

Die Menschen auf der Straße, mit denen wir ins Gespräch kommen, und auch die Vertreter der assyrischen Partei fühlen sich in Rojava relativ sicher und unterstützen die demokratische Autonomie. Die provisorische Regierung bereitet Wahlen vor. Alle unsere GesprächspartnerInnen geben der Hoffnung Ausdruck, dass Rojava sich aus dem Krieg heraushalten und zu einer stabilen Friedenslösung in einem demokratischen, multiethnischen und multikulturellen Syrien beitragen kann.

konnten nicht durchgeführt werden. Die Patienten mussten fliehen oder sind inzwischen gestorben. Zurzeit sind alle chronisch Kranken und besonders auch Säuglinge bedroht, für die es nicht ausreichend Milch gibt.

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ir haben eine Liste der Medikamente bekommen, die am dringendsten gebraucht werden. Zusammen mit medico international werden wir zu Spenden aufrufen, damit diese Medikamente vor Ort z. B. in der Türkei, gekauft und nach Qamishli gebracht werden. Dazu muss Druck auf die türkische Regierung ausgeübt werden, wenigstens für humanitäre Lieferungen die Grenze zu öffnen.

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azu müssen das politische und wirtschaftliche Embargo aufgehoben und die Waffenlieferungen gestoppt werden. Es ist notwendig, dass die Bundesregierung ihre Bündnistreue zur Türkei überdenkt und die Brandmarkung der Kurden sowohl in der Türkei als auch in Syrien als Terroristen endlich fallen lässt. Wir erleben bei unseren Delegationsreisen seit Jahren, wie sich die kurdische Gesellschaft verändert, wie sie in Städten und Gemeinden weg von der alten Feudalstruktur zu basisdemokratischer Selbstorganisation mit einer starken Beteiligung der Frauen kommen und wie ihre zum Frieden ausgestreckten Hände immer wieder zurück gewiesen werden. Das endlich zur Kenntnis zu nehmen, wäre ein erster wichtiger Schritt auch zu einem Frieden in Syrien.

Es ist hier wie so oft in Kriegen: Die Grenzen sind durchlässig für Waffen und für radikale Kämpfer, nicht aber für Flüchtlinge und humanitäre Hilfe oder Handelsware. In einem Ausbildungslager der YPG nahe der Front sprechen wir mit einem Kommandanten: Der berechtigte Aufstand des syrischen Volkes gegen die Assad-Regierung sei durch die massive Einmischung von außen zu einem Stellvertreterkrieg geworden, an dem sich die Kurden nicht beteiligen wollten. Sie beanspruchten für sich den „Dritten Weg“ der demokratischen Autonomie. Sie seien ein Teil Syriens, hätten aber das Recht, ihre Dörfer und Städte selbst zu verteidigen. Dabei sei ihre Bewaffnung im Gegensatz zu der der Angreifer sehr einfach. Auf hartnäckiges Insistieren von Jan van Aken bringen sie uns eine von den Dschihadisten erbeutete Milan Rakete, eine deutsch-französische Präzisionswaffe, die hier vor allem im Häuserkampf eingesetzt wird. Anhand der gut erkennbaren Registriernummern, kann man ihren Weg zu den islamistischen Kämpfern wahrscheinlich zurückverfolgen.

Den ausführlichen Bericht finden Sie unter: www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/IPPNW-AkzenteSyrien-2014.pdf Den Reisebericht von IPPNW-Beiratsmitglied Jan van Aken finden Sie unter: www.jan-van-aken.de/themen/internationales. html?newid=386#d386

Die Vertreter der demokratischen Autonomie in Rojava, die PYD CO-Vorsitzende Asya Abdullah und Xelil Aldar, Ratsmitglied der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), drücken ihr Unverständnis darüber aus, dass der Westen, dass Deutschland sie nicht unterstützt. Sie sehen für die Ächtung durch den Westen im Wesentlichen drei Gründe: die ihnen unterstellte Nähe zur türkischen Arbeiter Partei Kurdistans PKK, das basisdemokratische Gesellschaftsmodell und die Bündnispolitik in EU und NATO mit der Türkei.

Dr. Gisela Penteker war Teilnehmerin der Delegationsreise. Sie ist Koordinatorin des AK Flüchtlinge/Asyl und Türkeibeauftragte der IPPNW. 9


FRIEDEN

Von Mexiko führt kein Weg mehr zurück 2. internationale Regierungskonferenz zu den humanitären Folgen von Atomwaffeneinsätzen

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ertreter von 146 Regierungen haben jüngst ganz außerhalb der üblichen UN-Städte eine ungewöhnliche Konferenz durchgeführt: Im sonnigen Nayarit an der mexikanischen Pazifikküste wurden die humanitären Folgen von Atomwaffeneinsätzen diskutiert. Die mexikanische Regierung hatte neben IPPNW-Co-Präsidenten Dr. Ira Helfand weitere Wissenschafter und Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und der UNO eingeladen. Angesichts erschreckender Erkenntnisse wurde deutlich: Es gibt ein tiefes Bedürfnis der atomwaffenfreien Staaten, nach langem Stillstand Druck zur Abrüstung aufzubauen. Nayarit, Pazifikküste von Mexiko: Während andere in Richtung Beach in ihren Badeanzügen schlendern, stehen wir in der Morgensonne im schicken Kleid bzw. Schlips und Anzug in der Sicherheitsschlange vor dem Konferenzgebäude. Wir sind an der mexikanischen Riviera in Nuevo Vallarta, wo sich vor paradiesischer Kulisse RegierungsvertreterInnen von 146 Staaten und ca. 120 VertreterInnen der Zivilgesellschaft grausame Vorstellungen durch den Kopf gehen lassen. Es ist die zweite Konferenz über den humanitären Folgen von Atomwaffeneinsätzen.

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ie erste Konferenz fand vor einem Jahr in Oslo statt. Die Regierung Österreichs hatte frühzeitig signalisiert, noch in diesem Jahr die nächste Folge-Konferenz in Wien auszurichten. Damit ist bereits gesichert, dass ein diplomatischer Prozess entsteht. Die Idee ist simpel: Mit der sogenannten humanitären Abrüstung wurden bereits Landminen und Streubomben durch einen Verhandlungsprozess außerhalb der UN-Gremien geächtet. Bei

den Atomwaffen ist es nun der Versuch, den zwanzigjährigen Stillstand in der multilateralen Abrüstung zu überwinden.

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m Anfang der Konferenz steht der Sprung ins kalte Wasser. Es wird geballt von den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki erzählt, und zwar von den Überlebenden – den Hibakusha. Wir haben durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vor fast 70 Jahren erfahren, welche Schrecken relativ kleine Atombomben anrichten können. Bei der Konferenz in Nayarit hörten aber viele Regierungsvertreter zum ersten Mal von den Überlebenden selbst, welchen Horror sie erlebten und was konkret eine Atombombe von anderen Bomben unterscheidet. Sie ist einmalig in ihrer Grausamkeit und Zerstörungskraft, sie trifft unterschiedslos jeden, auch nachkommende Generationen, denn ihre ionisierende Strahlung richtet auf der Zellebene langfristig Schaden an. Wer nicht durch Hitze, Druckwelle oder akute Strahlenkrankheit getötet wird, hat bis zum Ende seines Lebens an den physischen und psychischen Folgen zu leiden. Besonders bewegend war die Rede von Setsuko Thurlow, die als Kind in Hiroshima den atomaren Angriff erlebte. Aber für viele war es die junge Masaki Koyanagi, eine Hibakusha der dritten Generation, die deutlich machte, dass es fast siebzig Jahren nach den Abwürfen, immer noch Nachwirkungen gibt. Sie sagte, sie würde die Geschichten der Hibakusha weiter erzählen, bis die Atomwaffen weg sind, wenn die Überlebenden es nicht mehr könnten. Heutzutage haben Atomwaffen eine vielfach größere Zerstörungskraft als damals. Das mexikanische Amt für Zivilschutz 10

hat ausgerechnet, dass eine 50-Megatonnen-Bombe auf Mexiko-Stadt über 20 Millionen Menschen töten würde. Fast alle Krankenhäuser würden zerstört, die wenigen überlebenden Rettungskräfte hätten keine Chance, den Menschen zu helfen. Eine noch schlimmere Vorstellung kam danach: die globalen Folgen. Der Klimatologe Alan Robock erzählte vom nuklearen Winter, immer noch aktuell, obwohl die Zahl der Atomwaffen reduziert wurde.

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r. Patricia Lewis vom britischen Institut Chatham House erklärte, wie man eine Risikoeinschätzung kalkuliert. Denn viele Politiker meinen, dass das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes so minimal ist, dass es weiterhin akzeptabel sei. Risiko ist gleich Wahrscheinlichkeit mal Folgen, sagte sie. Doch bei solchen Folgen wäre eine Wahrscheinlichkeit, die mehr als Null beträgt, nicht mehr akzeptabel. Nach Bruce Blair, der selber im Kalten Krieg üben musste, 50 Interkontinentalraketen innerhalb 60 Sekunden abzufeuern, ist das Risiko eines Atomkrieges durch Fehlalarm immer noch sehr hoch. Wenn heute der Befehl zum Start eines Atomkrieges zwischen den USA und Russland fallen würde, würden Tausende Atomwaffen binnen Minuten ca. 70 Millionen Menschen auslöschen. Kein Wunder, dass sich die Mehrheit der bei der Konferenz in Nayarit vertretenen Staaten für eine Ächtung dieser Waffen aussprach. In einer weiteren Konferenz in Wien in diesem Jahr soll über mögliche Optionen für ein Atomwaffenverbot geredet werden. Trotz zarter Bekenntnisse von US-Präsident Barack Obama und anderer Regierungschefs zu einer atomwaffenfreien Welt ist gerade statt Abrüstung in allen


SITZUNG III MIT IPPNW-DELEGIERTEN: AUSWIRKUNGEN EINER ATOMWAFFENEXPLOSION AUF DIE GLOBALE GESUNDHEIT Foto: ICAN

Atomwaffenstaaten eine Modernisierung der Atomwaffen geplant. Anscheinend wollen die Atomwaffenstaaten ihre Macht für die Zukunft absichern und werden dabei von ihren Bündnispartnern unterstützt.

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ie atomwaffenfreien Staaten sind mit dieser Reihe von Konferenzen, die vor einem Jahr in Oslo startete, auf dem Weg zu einer neuen Lösung. Wie die Nichtraucher, die lange die verqualmte Luft der Raucher ertragen mussten, wollen sie diese Gefahr nicht länger akzeptieren. Eine Handvoll Staaten darf nicht die Macht haben – ob mit Absicht oder aus Versehen – eine Katastrophe solchen Ausmaßes auszulösen. Denn in Nayarit wurde deutlich: Auch ein regional begrenzter Atomkrieg würde aufgrund der damit verbundenen Klimaänderungen zu einer globalen Hungersnot führen. Daher tragen alle Staaten die Verantwortung für die Prävention einer solchen Katastrophe. Nicht alleine die Atomwaffen-Staaten dürfen entscheiden, wann und wie sie abrüsten. Die deutsche Vertreterin des Auswärtigen Amtes, Christiane Hohmann fiel mit

ihrem Beitrag negativ auf. Sie behauptete, der Sicherheitswert von Atomwaffen sei aus europäischer Sicht nicht zu ignorieren. Schließlich hätten Atomwaffen einen Konflikt zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt verhindert. Damit brüskierte sie alle, die von diesem alten „Kalten-Kriegs-Denken“ Abstand nehmen und in eine neue Richtung gehen wollen. Die extremistische nukleare AbschreckungsIdeologie beinhaltet als wesentlichen Bestandteil das unverantwortbare Risiko

eines Atomkrieges. Unter diesem Damoklesschwert wollen die meisten Staaten nicht verweilen. Vor allem Deutschland müsste das verstehen können.

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n seiner Zusammenfassung sagte der mexikanische Vorsitzende der Konferenz: „Nayarit markiert den Zeitpunkt, von dem es kein Zurück mehr gibt.“ Staaten haben sich in Mexiko verabredet, einen Weg zu finden, die Welt von Atomwaffen zu befreien. Wir sehen uns wieder in Wien.

Offizielle Webseite der Konferenz mit Links zu allen Präsentationen und der Zusammenfassung des Vorsitzenden: www.sre.gob.mx/en/index.php/humanimpact-nayarit-2014

Dr. Lars Pohlmeier ist Europäischer IPPNWPräsident.

Xanthe Hall ist Abrüstungsreferentin der IPPNW Deutschland. 11


Foto: U.S. Air Force/Paul Ridgeway

FRIEDEN

Doktoren und Drohnen Interview mit Tomasz Pierscionek über den aktualisierten Medact-Report zu Drohnen Forum: Kürzlich ist eine Neuauflage des Medact-Reports „Drohnen: Die physischen und psychologischen Auswirkungen eines globalen Kriegs-Theaters 2013“ erschienen. Was wollte Medact mit diesem Report erreichen? Tomasz Pierscionek: Die Erstausgabe des Reports vom Oktober 2012 sollte das öffentliche Bewusstsein für den Gebrauch und die Verbreitung von bewaffneten Drohnen wecken. Es war erschreckend, wie wenig die Öffentlichkeit über Drohnen wusste. Seit die erste Rakete von amerikanischen Drohnen Ende 2001 in Afghanistan abgeschossen wurde, um einen mutmaßlichen Al-Qaida-Führer zu töten, wurde diese Methode der Kriegsführung immer häufiger, bis zu dem Ausmaß, dass heute vermutlich 76 oder mehr Staaten in irgendeiner Form Drohnen besitzen. Zurzeit verfügen die meisten Staaten nur über kleine unbewaffnete Drohnen zu Überwachungszwecken. Bisher setzen nur die USA, Großbritannien und Israel bewaffnete Drohnen im Kampf ein. Angesichts der weltweiten Entwicklungen und Weiterverbreitung der Drohnentechnologie von 2012 bis 2013 hatten wir den Eindruck, dass eine aktualisierte Version des Reports nötig sei.

Mit der Neuauflage wollten wir eine größere parlamentarische Debatte in Gang bringen und die britische Regierung dazu bringen, weitere Informationen über die Folgen der Drohneneinsätze in Afghanistan zu veröffentlichen. Es ist in öffentlichem Interesse und auch im Interesse unserer Streitkräfte, wenn es mehr Transparenz, parlamentarische Überprüfung und öffentliche Debatte gäbe über die Einsatzplanung, den Einsatz von Drohnen und die Zielauswahl. Forum: Im Dezember letzten Jahres hat eine US-Drohne Hochzeitsgäste im Jemen getroffen. Was denken Sie darüber? Pierscionek: Traurigerweise sind solche Vorfälle viel zu sehr zur Gewohnheit geworden. Hochzeitsfeiern und Stammesversammlungen wurden irrtümlicherweise für Terroristen-Treffen gehalten und attackiert. Am 17. März 2011 zum Beispiel hat eine US-Drohne eine „Jirga“ (Stammestreffen) in Nord Waziristan (Bergregion im nordwestlichen Pakistan an der Grenze zu Afghanistan) attackiert und dabei 40 Menschen getötet. Das Treffen war Berichten zufolge ein Zusammentreffen lokaler Stammesmänner und fand statt, um einen lokalen Landstreit zu beseitigen – weit entfernt also von einem militärischen Zweck.

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Es gab auch Vorfälle, bei denen die so genannten „military aged males“ getötet wurden. Das sind in erster Linie junge Männer, die, aus welchen Gründen auch immer, verdächtigt werden militant zu sein und die getötet werden. Da die Drohnen-Angriffe so gut wie immer in weit abgelegenen Gebieten, wie in Waziristan oder anderswo an der pakistanisch-afghanischen Grenze, stattfinden, ist es oft schwierig, unabhängige Informationen darüber zu bekommen, wer die Opfer wirklich waren. Es ist also nahezu unmöglich zu erfahren, wenn fehlerhafte Geheimdienstinformationen dazu geführt haben, die „falschen Menschen“ zu töten. Sicher ist, dass Drohnen-Angriffe, ob in Pakistan oder anderswo, bei den Hinterbliebenen Wut hervorrufen und in manchen Fällen dazu geführt haben, dass Taliban-Krieger pakistanische Soldaten zur Vergeltung attackiert haben. Viele Menschen in Pakistan sind verärgert darüber, dass die USA ihr Land bombardieren. Und sie sind genauso verärgert darüber, dass die pakistanische Regierung den USA ihre stillschweigende Erlaubnis dazu gibt. Zur Erinnerung: Die USA befinden sich nicht im Krieg mit Pakistan und dennoch fliegen Drohnen über das Land und töten


Den aktualisierten, englischen Originalreport „Drones – the physical and psychological implications of a global theatre of war. Update 2013“ der britischen Schwestersektion der IPPNW, MEDACT finden Sie im Internet unter: www.medact.org/wp-content/uploads/2013/11/report-dronesupdate-2013.pdf

Als ich ihn vor über einem Jahr in London getroffen habe, hat er mich darüber informiert, dass Waziristan ein Gebiet ist, das häufig durch die pakistanische Armee vom Rest Pakistans abgeriegelt wird, was es sogar für medizinisches Personal aus anderen Teilen Pakistans schwierig macht, Zugang zu dieser Region zu bekommen. Andere von Drohnen-Kriegsführung betroffene Länder wie Somalia, Afghanistan, Libyen, Jemen und Palästina (Gaza) sind auch schwer erreichbare Gebiete, in denen es an entsprechenden medizinischen Einrichtungen und medizinischem Personal fehlt.

diejenigen, die jenseits der pakistanischen Grenze leben. Die USA finden es akzeptabel, Feinde in Ländern, mit denen sie nicht im Krieg sind, zu verfolgen und zu töten. Man müsste sich nur einmal vorstellen, was für ein Aufruhr entstehen würde, wenn – sagen wir mal – Kuba bewaffnete Drohnen einsetzen würde, um kubanische Exil-Terroristen, wohnhaft in Miami, ins Visier zu nehmen, oder wenn Russland einen Drohnen-Angriff gegen einen mutmaßlichen tschetschenischen Militanten, wohnhaft in Seattle, starten würde. Vielleicht wird globaler Terrorismus eines Tages als Ausrede verwendet werden, um in souveränes Territorium eindringen und Feinde verfolgen zu können. Forum: Welche Kontakte haben Sie zu medizinischen Organisationen und Krankenhäusern in Drohnen-Abwurf-Gebieten, die mit Drohnen-Opfern zu tun haben? Pierscionek: Ich habe keinen persönlichen Kontakt zu medizinischen Organisationen, die in Drohnen-Abwurf-Gebieten arbeiten. Ich habe mich mit Shahzad Akbar getroffen, einem ausgebildeten Rechtsanwalt, der für die Wohltätigkeitsorganisation „Reprieve“ in Pakistan arbeitet. Shazad vertritt Familien von Drohnen-Opfern in den Gebieten von Nord-Waziristan in Pakistan.

Forum: Es gibt häufig ein Kommunikationsdefizit zwischen internationalen Organisationen wie der UN und solchen, die mit den direkten Auswirkungen von Drohnen-Angriffen vor Ort arbeiten. Was kann getan werden, um diese Situation zu verbessern? Pierscionek: Ich denke, für den Anfang müssten mehr Informationen über die Verletztenraten von Drohnen-Angriffen bereitgestellt werden, auch wenn ich verstehe, wie schwierig das ist. Sobald Hilfsorganisationen genau wissen, wie viele Zivilisten bei Drohnen-Angriffen getötet und verletzt werden, können sie besser einschätzen, wie viel Hilfe benötigt wird. Ein anderes Problem wird sein, dass die Hilfe bei den Menschen in den schwer erreichbaren Gebieten überhaupt ankommt. Ich würde mal behaupten, dass ein Mangel an Vertrauen auch ein Problem ist. Ich vermute, dass die Menschen, die in den von DrohnenBombardierungen betroffenen Gebieten leben, dazu neigen, westlichen Organisationen zu misstrauen, die mit den Drohnenbetreibern in Verbindung stehen. Also sollte vielleicht lokalen Hilfsorganisationen, denen die Betroffenen eher vertrauen, die erforderliche Unterstützung zukommen. Aber ich bezweifle, dass für die Behand-

lung von Drohnen-Opfern soviel Geld zur Verfügung gestellt wird wie wir für die Herstellung und Nutzung von Drohnen ausgeben. Forum: Eine der Forderungen von Medact ist, die britische Regierung solle „die zivilen Opfer seines bewaffneten DrohnenProgramms öffentlich anerkennen und eine angemessene Entschädigung, medizinische psychologische und finanzielle Hilfe mit einbegriffen, anbieten“. Welchen Fortschritt gab es daraufhin? Pierscionek: Leider sehr wenig, soviel ich weiß. Wir haben immer noch keine genauen Informationen über die Zahl der Toten und Verletzten von britischen DrohnenAngriffen in Afghanistan (Großbritannien hat nur in Afghanistan seit 2008 Drohnen eingesetzt). Eine der ersten Herausforderungen ist es, die Geheimhaltung anzugehen und dafür zu kämpfen, diese Informationen zu bekommen sowie Informationen darüber, wie „Ziele“ von Drohnen-Angriffen ausgewählt wurden. Wir wissen, dass es seit 2008 Hunderte von britischen Drohnen-Angriffen in Afghanistan gab. Vielleicht wird es mutige Individuen geben, die in die Fußstapfen von Chelsea Manning und Edward Snowden treten und die Öffentlichkeit mit Informationen versorgen, welche die Regierung nicht preisgibt. Sicherlich wäre es moralisch richtig von den verantwortlichen Ländern, die Opfer von Drohnen-Angriffen und ihre Familien zu entschädigen. Außerdem denke ich, dass Entschädigungen an die Menschen aus Afghanistan, dem Irak und Libyen gezahlt werden sollten, die Invasionen und Bombardierungen ausgesetzt wurden. Dr. Tomas Pierscionek ist Co-Autor des MedactReports „Drohnen: Die physischen und psychologischen Auswirkungen eines globalen KriegTheaters“

Das Interview führte Carol Anne Grayson. Übersetzung Sandra Klaft. Kürzungen durch die Forum-Redaktion. Die ausführliche Originalversion (englisch) finden Sie unter: http://activist1.wordpress.com/2014/01/06/doctors-and-drones-2014-interview-with-tomasz-pierscionekon-the-updated-medact-report 13


FRIEDEN

Reden über Israels Atomwaffen Haifa-Konferenz zur massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten im Dezember 2013

Am 4. Dezember 2013 wurde die erste internationale Haifa-Konferenz „Für einen Mittleren Osten frei von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen“ schließlich Wirklichkeit. Der Bürgermeister von Haifa Jona Jahav hieß die KonferenzteilnehmerInnen willkommen und sprach sich für eine Welt ohne Atomwaffen aus. Er gelobte, sich der Bewegung der BürgermeisterInnen für den Frieden anzuschließen.

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iel der Konferenz war, unter der israelischen Bevölkerung sowie den israelischen Medien ein Bewusstsein für die Gefahren atomarer Anlagen und Massenvernichtungswaffen herzustellen. So soll langfristig eine breite Öffentlichkeit geschaffen werden, die sich für die vollständige Abschaffung der Massenvernichtungswaffen in Israel einsetzt. Bemerkenswert für alle TeilnehmerInnen war die Tatsache, dass sich schon im Vorfeld eine „Israeli Coalition Against Nuclear Weapons“ zur Vorbereitung der Konferenz gebildet hatte. In dem Ort Dimona in der Negev-Wüste ist ein 50 Jahre altes Kernforschungszentrum ununterbrochen in Nutzung, abgesehen von mehreren Hundert atomaren Sprengkörpern, die im Land stationiert sind. In Ness Ziona, unweit Tel-Avivs, werden im Biologischen Institut dem Vernehmen

nach biologische und chemische Waffen entwickelt. Mit der Konferenz, die von palästinensischen und jüdischen Israelis vorbereitet und durchgeführt wurde, sollten historische Fakten geschaffen werden, die es künftig leichter machen, auf Knesset und Regierung einzuwirken, damit sie von Atom- sowie anderen Massenvernichtungswaffen ablassen. Israel soll mit den anderen Staaten der Region auf der Helsinki-Konferenz einen Prozess initiieren, der das Vorhaben eines Mittleren Ostens, frei von Massenvernichtungswaffen, auf den Weg bringt.

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m in diesem Zusammenhang den Fokus auf den Konflikt zu lenken, den keine Regierung Israels seit der Staatsgründung einer Lösung zuzuführen vermochte und, der stattdessen fortwährend zur Rechtfertigung einer zügellosen Aufrüstung instrumentalisiert worden ist, fand der dritte Konferenztag in Ramallah statt. VertreterInnen aus Wissenschaft, Politik sowie palästinensischen Friedensorganisationen der Westbank erläuterten den Konferenzbeteiligten die Wirkungsweise der Atompolitik Israels im Kontext der Besatzung der Westbank und Gazas. Bemerkenswert war der Bericht von Dov Khenin, Knessetabgeordneter, über eine Knesset-Sitzung, auf der IPPNW-Arzt Dr. Ira Helfand als Gutachter geladen war, die Abgeordneten über die Gefahren aufzuklären, die von dem Atomwaffenarsenal in Israel für Mensch und Natur ausgehen. Mehrere anwesende Knessetmitglieder auf der Konferenz waren sich einig, dass in der Sitzung klar wurde, dass aus der eigenen Atomrüstung ebenso große, wenn nicht größere Gefahren und Schäden auch für Israel erwachsen wie von der iranischen. Sharon Dolev, Vorsitzende der israelischen Abrüstungsbewegung, berichtete, dass die von Ira Helfand verfasste Schrift, „Nukleare Hungersnot“ von ihrer Organisation ins Hebräische übersetzt worden sei, um in Israel zu vermitteln, dass die Vernichtungs-, Schädigungs- und nicht zuletzt auch ökologische Zerstörungskapazität eines Atomkriegs nicht begrenzbar und steuerbar ist. Daher sei ein atomarer Gegenschlag 14

im Prinzip nicht zu führen, ohne mit dem eigenen Untergang zu spielen.

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n der internationalen Konferenz nahmen Delegierte aus Israel, Palästina, Belgien, Frankreich, Senegal, Kongo, Deutschland, Ägypten, Zypern, Griechenland, Slowenien, Bulgarien, Japan und den USA teil. Knesset-Abgeordnete waren vor Ort und verpflichteten sich, politisch initiativ zu werden und Parlaments- und Parteivertreter aus Europa bekundeten Unterstützung. Das Treffen wurde unter dem Eindruck der erfolgreich verhandelten Abrüstungsabkommen mit Iran und Syrien als Wendepunkt in der Geschichte Israels gesehen. Mit der Fortsetzung der Orientierung auf eine Politik der Stärke und Abschreckung isoliere sich Israel in der Region und international. Vor diesem Hintergrund sahen die TeilnehmerInnen der Konferenz auch Israels Möglichkeit schwinden, weiterhin die „Existenzbedrohung“ zur Rechtfertigung seiner Abschreckungspolitik vorzubringen. Aus Sicht der Organisatoren legte die Konferenz den Startpunkt für die Festigung und Erweiterung der „Israeli Coalition Against Nuclear Weapons“, die zivilgesellschaftliche Organisationen, Knessetabgeordnete sowie Kunst- und Medienschaffende umfassen und eine Reihe jährlicher internationaler Haifa-Konferenzen einberufen, Wege zu einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten aufzeigen und das Reden über Israels Atomwaffen möglich machen sollen. Die Langfassung des Berichts finden Sie unter: www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/ Bericht-WMDFZ-Haifa-Konferenz_2013.pdf

Prof. Dr. FannyMichaela Reisin ist Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte.

Foto: Michael F. Mehnert creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0

Wenn das offizielle Israel nicht nach Helsinki kommt, wird sich Helsinki auf den Weg nach Israel machen“, erklärte Issam Makhoul im Dezember 2012 in Helsinki verärgert, weil die USA und Israel die geplante UN-Konferenz zu einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten behindert hatten. Makhoul war von 1999 bis 2006 KnessetAbgeordneter der Linksliste Hadash und hatte bereits 2000 als erster Abgeordneter in der Geschichte Israels eine Knessetsitzung zur atomaren Aufrüstung des Landes beantragt. Diese Selbstverpflichtung nahm der inzwischen als Direktor des über die Grenzen Israels hinaus bekannten „Emile Touma Institute for Palestinian & Israeli Studies“ in Haifa für das Jahr 2013 mit nach Hause.


We come as friends Der Friedensfilmpreis 2014

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er 29. Friedensfilmpreis der Internationalen Filmfestspiele Berlin, Berlinale, ging an den österreichischen Regisseur Hubert Sauper für seinen Dokumentarfilm „We Come As Friends“. In der Jury-Begründung heißt es: „Der österreichische Filmemacher Hubert Sauper fliegt mit einem selbst gebauten Kleinflugzeug nach Afrika, ins Epizentrum eines Konfliktes: in den Sudan. Bei jeder seiner vielen Landungen begegnet er Menschen, die Akteure in einer für den Kontinent exemplarischen Situation sind. Was zunächst interventionistisch erscheint, wird zu einem wichtigen künstlerischen Mittel, das überraschende Einblicke gewährt. Alle sind Aliens: der amerikanische, evangelikale Pastor, die chinesischen Ölproduzenten und der Filmemacher selbst. (Der) Film zeigt, dass die Fehler der kolonialen Vergangenheit wiederholt werden. Er kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, an dem Afrika von der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik wiederentdeckt wird. Die ‚Freiheit‘ wird bald nicht mehr nur am Hindukusch verteidigt, sondern auch jenseits der Sahara. Und damit auch der Zugang zu Rohstoffen: ‚We Come As Friends‘“.

Foto: www.stephan-roehl.de

DER ÖSTERREICHISCHE FILMEMACHER UND FRIEDENS­F ILMPREISTRÄGER HUBERT SAUPER (LI.) MIT DEM SUDANESISCHEN TV-MODERATOR PAUL SIMON LOKWANG (RE.) BEI DER VERLEIHUNG DES 29. FRIEDENSFILM­P REISES.

sourcen setzt sich das Prinzip ‚Macht schafft Recht‘ zunehmend durch und es droht ein neuer ‚Kalter Krieg‘ um Rohstoffe. (...) Uns Studierende und Ärztinnen und Ärzte der IPPNW eint das Misstrauen gegenüber dem Konzept der Ausgrenzung des Feindes, die positive Einschätzung der vielfältigen Formen von Macht in der heutigen Welt, das Gefühl, derselben Menschengattung auf demselben Planeten anzugehören, die Verantwortlichkeit und Berechenbarkeit füreinander sowie das Wissen, dass jeder Hoffnungen und Werte mit vielen anderen über Grenzen hinweg teilt. (...) Zugegeben, es erfordert größten Mut, nach Möglichkeiten zu suchen, die wir vielleicht noch nicht ausprobiert oder noch nicht entdeckt haben, es erfordert Verstand und Stärke, der Erste zu sein, der die Richtung ändert. Zeichen des Neuanfangs zu setzen kann daher nicht von denjenigen erreicht werden, die nur zu Boden schauen oder nur wiederholen können, was andere sagen. Einen Neuanfang können nur die erreichen, die bereit sind, als Erste die Richtung zu ändern und erhobenen Hauptes in die Zukunft blicken.“

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ubert Sauper hat mit mehreren Dokumentarfilmen über Afrika Aufsehen erregt und Preise gewonnen. Er bleibt seinem Thema, dem fortdauernden Kolonialismus, auch hier treu. Der Titel, „We Come As Friends“ zitiert die Formel, die oft den ersten Händedruck zwischen Einheimischen und Fremden begleitete, diese Lüge, die so oft am Beginn von Ausbeutung und Unterdrückung stand und steht. Saupers Film zeigt die bittere Wahrheit, dass dieser jüngste Staat der Erde bereits vor seinem Entstehen zur Beute gemacht wurde. Ölförderung und Land-Grabbing zugunsten von Energieversorgung und Ernährungssicherheit anderswo. Und die unerträgliche Borniertheit weißer Christen, die die Füße kleiner Sudanesen in weiße Tennissocken zwängen. Überall begegnen uns Kleinwaffen. Das Land ist hochgerüstet. Der Waffenhandel begleitet die Geschäfte mit einheimischen korrupten Eliten – mit tödlichen Folgen für Zehntausende. „We Come As Friends“ – ein Friedensfilm? Er bietet keine Lösungen, er entlässt uns ZuschauerInnen mit Scham und Zorn und fast ohne Trost. Fast. Da sind ein paar widerborstige Teenager, die sich weigern, ihre traditionelle Kleidung gegen die hässliche Schuluniform zu tauschen. Da ist eine junge Frau, die in stolzer Zuversicht behauptet, dass die nächsten Generationen sich anders verhalten werden gegenüber denen, die „als Freunde“ kommen. Ein Trost mag auch sein, dass es diesen Film überhaupt gibt, dass Hubert Sauper uns mit so eindringlichen Bildern und manchmal quälend langen Szenen vor Augen führt, wie es ist. Und es ist an uns, dieses „ist“ zu verändern.

Die vollständige Rede von Dr. Nicola Kaatsch sowie viele Informationen zum Friedensfilmpreis, zum diesjährigen Preisträger und zur Preisverleihungsveranstaltung unter www.Friedensfilm.de

Dr. Nicola Kaatsch, IPPNW, sprach in ihrem Grußwort gegen das fortdauernde „Paradigma der Ausgrenzung, ‚Entweder – Oder‘, ‚Wir und die Anderen‘. Die ‚Dämonisierung des Anderen‘ scheint mit der ‚Ignoranz dem Anderen gegenüber‘ Hand in Hand zu gehen. Und bei der Absicherung von lebensnotwendigen Res-

Ulla Gorges ist Projektkoordinatorin des Friedensfilmpreises für die IPPNW. 15


FRIEDEN

Für mentale Gesundheit und Menschenrechte In memoriam Dr. Eyad al-Sarraj, Psychiater und Menschenrechtsaktivist, 1944–2013

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aza, im Januar 1988 im Shifa-Hospital. Dort trafen wir Dr. Eyad al-Sarraj. Er begleitete uns und erklärte mit sanfter Stimme den harschen Anblick der verwundeten jungen Menschen und die Vernachlässigung und den Schmutz des Shifa-Regierungskrankenhauses. Nach eineinhalb Stunden in seiner Wohnung war die Stimmung gut und kooperativ. Es war Eyad, der den Prozess und den Wandel in unserer Gruppe bewirkte. Plötzlich hatten wir einen palästinensischen Doktor zum Freund.

durch den Mangel und die Arbeitslosigkeit, die den Eltern aufgezwungen wurden. Eyad kämpfte für die Frauen in Gaza und schuf ein spezielles therapeutisches Netzwerk für sie. Das war keine leichte Aufgabe in einer traditionellen Gesellschaft im beschleunigten Prozess der Rückkehr zur Religion.

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uf der ganzen Strecke unseres gemeinsamen Weges war Eyad ein untrennbarer Teil des Kampfes gegen Folter. Eyads publizierte Artikel über seine psychologische Sichtweise als Ergebnis seiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Gaza ernteten große internationale Aufmerksamkeit. Eyad sagte vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen aus – nach der Operation „Vergossenes Blei“ (der israelischen Armee, Anmerkung des Übersetzers) 2009. Sein Zeugnis war wichtiger Teil des Goldstoneberichts.

Zwei Monate später, in Neve Tzedek in Tel Aviv, fand die Gründungskonferenz der Vereinigung Israelischer und Palästinensischer Ärzte für Menschenrechte (AIPPHR) statt. Der Saal war voll von Ärzten aus Israel, dem Gazastreifen, Ost-Jerusalem, der West Bank und den Golanhöhen. Eyad sagte: „Ich bin ein palästinensischer Arzt aus Gaza, und ich bin stolz, an der Gründung dieser Ärzte-Organisation für Menschenrechte teilzuhaben. Ich rufe Sie alle auf, daran mitzuwirken.“ Die Organisation wurde am gleichen Tag gegründet. Danke, Eyad!

2008 wurde das Gaza Center for Medical Health von der israelischen Armee bombardiert. Die Zerstörungen waren schwer und es war schwer für Eyad, ihnen ins Auge zu sehen. Ich traf ihn einige Zeit nach der Bombardierung. Ich sah, dass er krank war. Einige Jahre vergingen für Eyad in seinem Kampf gegen die maligne Leukämie, an der am 17. Dezember 2013 in einem Krankenhaus in Israel verstarb.

Er sammelte Gelder und kehrte nach Gaza zurück, mit der Möglichkeit, seinen Traum zu verwirklichen: ein Zentrum für psychische Gesundheit in Gaza. Das war nicht einfach in einer Gesellschaft, in der es keine Infrastruktur und kein professionelles Personal gab. Ich beteiligte mich zusammen mit anderen Kollegen als Freiwillige beim Gaza Zentrum für Mentale Gesundheit (GCMH) an der Ausbildung von therapeutischem Personal.

Eyad wurde in Beersheva geboren und floh als kleiner Flüchtlingsjunge nach Gaza – er sah sich selbst als stolzer Gaza-Bürger. Er war nicht religiös und war nicht mit irgendeiner politischen Partei verbunden, sondern sein Wunsch war es, mit all der Großzügigkeit zu helfen, die ihn charakterisierte.

Wir stellten Kontakte zur psychologischen Abteilung der Universität Tel Aviv her und schufen einen Rahmen für Supervision und Ausbildung. Dieses Netzwerk arbeitete weiter, bis die Armee den Studenten aus Gaza nicht mehr erlaubte, für ihre Studien nach Tel Aviv zu kommen.

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yad gehörte nicht zu irgendeiner politischen Partei in Gaza. Er war nicht einverstanden mit der verbreiteten Meinung: Zuerst bekämpfen wir die Besatzung, und erst danach kämpfen wir für Unversehrtheit zu Hause. Die palästinensische Behörde mochte seine Meinung oder seine politische Unabhängigkeit nicht. Eyad wurde während der Zeit des Vorsitzenden Yasser Arafat 1995/96 dreimal verhaftet. Die Inhaftierung durch die eigenen Leute deprimierte ihn. Er brauchte eine lange Zeit und viele Gespräche, um wieder er selbst zu werden. Währenddessen machte das GCMH Fortschritte. Eyad kümmerte sich besonders um Kinder und Jugendliche. Er verstand deren schwierige emotionale Situation, in der die traditionelle Institution der Familie unmittelbar vor ihren eigenen Augen zerstört worden war, indem der Vater seinen Platz in der Familie verlor, entweder infolge der Schläge und Erniedrigung durch israelische Soldaten vor den Augen der Familie oder

Dies ist eine gekürzte und übersetzte Fassung des Nachrufs von Dr. Ruchama Marton. Übersetzung Matthias Jochheim (IPPNW, Deutschland). Den vollständigen Nachruf in englisch finden Sie unter: www.phr.org.il/default.asp?PageID=190&ItemID=1844

Dr. Ruchama Marton ist Präsidentin der „Physicians For Human Rights Israel“ und Trägerin des alternativen Nobelpreises. 16

Foto: Phrisrael creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0

ch vermisse dich sehr, lieber Freund, einen Menschen, mit dem zu sprechen und Gedanken auszutauschen solch eine einzigartige Erfahrung war. Unsere Welt ist anders und ärmer ohne ihn.


SERIE: DIE NUKLEARE KETTE

Uranbergbau im Erzgebirge Noch heute spürbare Folgen für Umwelt und Gesundheit in der Region

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1954 kam es bei Lengenfeld zu einem Dammbruch eines Abraumsees. 50.000 m³ radioaktives Material ergossen sich bis zu 4 km ins darunter gelegene Tal. Radioaktives Abwasser ging zudem ins örtliche Trinkwasser über, und strahlende Partikel wurden durch Wind und Wetter in der gesamten Region verteilt. Silikose und Lungenkrebs wurden zu einem relevanten Gesundheitsrisiko auch für die lokale Bevölkerung.

as Erzgebirge hatte einst eines der weltweit größten Vorkommen an Uranerz, dessen Abbau von der Wismut Gesellschaft in den Jahren 1946 bis 1990 vorangetrieben wurde. Weit mehr als 130.000 Bergleute arbeiteten in den über 20 Minen der Region. Mit Uran aus dem Erzgebirge wurden sowjetische Atombomben und Brennstäbe bestückt. Die Wismut wurde der weltweit drittgrößte Uranerzlieferant, mit einer Gesamtfördermenge von 231.400 Tonnen Uranerz bis zur endgültigen Schließung der Wismut nach der Wiedervereinigung im Jahre 1991. Viele Tausende Arbeiter und Einwohner der Region leiden bis heute an strahleninduzierten Erkrankungen wie Lungenkrebs.

Die Strahlenbelastung der Bevölkerung wurde in der Region erstmals 1956 gemessen, die Messergebnisse jedoch über viele Jahrzehnte geheim gehalten. Im Jahr 2006 veröffentlichte das Deutsche Bundesamt für Strahlenschutz die weltweit größte Studie zum Uranbergbau, bei der insgesamt 59.000 ehemalige Bergarbeiter der Wismut untersucht worden waren.

Folgen für Umwelt und Gesundheit Durch den Abbauprozess des Uranerzes werden radioaktive Isotope wie Radon, Polonium und Bismut freigesetzt, die Alpha- und Beta-Strahlung abgeben. Die Partikel werden von den Bergarbeitern eingeatmet und verbleiben in der Lunge, wo sie über Jahre das umliegende Gewebe verstrahlen. So entstehen Zellschäden, Mutationen und letztendlich Krebs.

Die Ergebnisse zeigten einen Anstieg der Lungenkrebsrate um 50–70 % sowie über 7.000 strahleninduzierte Todesfälle unter den 59.000 untersuchten Studienteilnehmern (11,9 %). Weiterhin zeigte die Studie, dass das Risiko für die Entwicklung von Lungenkrebs 15 bis 24 Jahre nach der Uranexposition am höchsten ist, sodass auch in Zukunft zahlreiche Neuerkrankungen erwartet werden dürften.

Ausblick Das Nachfolgeunternehmen der Wismut ist heutzutage eine staatlich geförderte GmbH mit der Aufgabe, die zerstörerischen Folgen von 50 Jahren Uranbergbau zu sanieren. Die Sanierung kostet den deutschen Staat Milliarden Euro und wird noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Währenddessen kämpfen noch immer viele betroffene Menschen um Gerechtigkeit und Entschädigung. Während 1990 noch 5.275 Fälle von Lungenkrebs offiziell als Folge der Arbeit im Uranbergbau anerkannt wurden, werden neue Erkrankungen ehemaliger Bergleute mittlerweile nicht mehr als Berufskrankheit akzeptiert. Das Vermächtnis des Uranbergbaus wird für viele Jahrzehnte die Region und die Gesundheit ehemaliger Bergleute und der Lokalbevölkerung negativ beeinflussen.

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aspekte der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe, bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Auf Deutsch wird die Ausstellung erstmalig vom 11.–13. April 2014 beim IPPNW-Jahrestreffen in Dresden zu sehen sein. Danach kann Sie für Veranstaltungen ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.ippnw.de/hibakusha-weltweit 17


ATOMENERGIE

Strahlender Müll Atommüll im Wohngebiet von Gaziemir, Izmir

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chon seit vielen Jahren hatten sich die Bewohner von Gaziemir über die alte Bleihütte Aslan in ihrem Wohngebiet wegen der schwarzen und übel riechenden Dämpfe bei den städtischen Behörden von Izmir beschwert. Die Hütte produzierte Blei aus alten Batterien und Metallschrott. Aber Ende 2012 enthüllte die Presse den Skandal. Auf der Deponie des alten Fabrikgeländes befindet sich nicht nur Altmetall, sondern strahlender Atommüll. Der Atommüll besteht laut Angaben der türkischen Atomaufsichtsbehörde TAEK hauptsächlich aus Europium-152, ein Element, das nur in nuklearen Reaktoren, also in AKWs oder in Atom-U-Booten entsteht. Eu-152 ist ein Beta- und Gamma Strahler. Nicht nur die Art der Atommülllagerung irritiert, sondern auch die Frage, woher der Atommüll stammt, denn die Türkei besitzt noch keinen Atomreaktor. Wir stehen vor einem Rätsel: Woher stammt das Eu-152? Diese Frage kann bisher nicht beantwortet werden, weil die TAEK bzw. die türkische Regierung keinerlei Nachforschungen betreibt, zumindest nicht für die Öffentlichkeit.

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er Physiker Prof. Hayrettin Kilic geht davon aus, dass es sich um Abfall aus abgebrannten Kontrollstäben in AKWs oder Atom-U-Booten handelt, die von der Firma Aslan wegen ihres reichen Anteils an Silber (80 %) recycelt wurden. Eine kurze Chronik zeigt, dass der Atommüll erstmalig entdeckt wurde, als die Firma Aslan am 7. April 2007 Fabrikmüll am Tor der IZAYDAS Müllverbrennungsanlage in der Stadt Izmit entladen wollte und durch das dortige Strahlungsüberwachungsgerät eine hohe Konzentration von Radioaktivität im Müll festgestellt wurde. IZAYDAS informierte umgehend die türkische Atomenergieaufsichtsbehörde (TAEK).

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m 16. April 2007 untersuchten die TAEK-Experten das Gelände sowie die Lagerhallen. Sie berichteten, dass 0,2–3 µSv/ Stunde Strahlung gemessen wurde, besonders hohe Werte von mehr als 3 µSv/Stunde wurden im Lagergebäude gemessen. Trotz dieses Befundes hat TAEK bzw. die türkische Regierung keine Entsorgung des radioaktiven Mülls aus dem Wohngebiet angeordnet. Lediglich etwas Erde wurde auf die kontaminierte Deponie geworfen. Am Rande des Deponiegeländes befindet sich eine Grundschule, arme Leute haben sich in einer Baracke ganz nah am Deponiegelände angesiedelt, gerade Kinder gehen immer wieder auf das Gelände und spielen. Der Zaun um das Gelände hat viele Löcher, sodass auf dem Gelände auch Tiere grasen. Mitte Februar und Ende April 2013 sowie Anfang Januar 2014 führten die IPPNW-Ärzte Alper Öktem und Angelika Claußen Messungen mit einem GammaScout-Gerät durch und kamen zu folgenden Ergebnissen: 18


Das Gebiet ist übersät mit vielen Schlackeanteilen. Dort, wo die Schlacke sehr dicht liegt, finden sich deutlich erhöhte Strahlungswerte (höchster Wert 0,7 µSv/Stunde). An der östlichen Grenze des Geländes, wo die Grundschule liegt, wurden etwa ein bis zwei Meter von der Schulhofmauer entfernt 0,3 µSv/Stunde gemessen. Diese Werte liegen eindeutig über der Hintergrundstrahlung und stellen insbesondere für die Kinder, Jugendlichen und Schwangeren eine Gesundheitsgefahr dar.

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nfolge mehrfacher Beschwerden der Anwohner und angesichts der Tatsache, dass sie gegen die zuständigen städtischen Aufsichtsorgane Anklage vor Gericht erhoben, erlies die städtische Umweltbehörde nun eine Geldstrafe von 5,7 Millionen Türkische Lira (2,8 Millionen US-Dollar) an ASLAN Co Inc. Unsere Begehung am 3. Januar 2014 zusammen mit Journalisten einer großen türkischen Nachrichtenagentur führte zu Presseberichten in großen türkischen Zeitungen. Doch es bleiben viele ungeklärte Probleme: Als Erstes muss der Atommüll aus dem Wohngebiet geschafft werden und in entsprechenden Containern abseits von Wohngebieten gelagert werden. Nicht nur der Atommüll, sondern auch die reichlich vorhandenen Schwermetalle wie Blei verlangen eine gründliche Sanierung des Stadtviertels. Nach wie vor ist unklar, seit wann Atommüll von der Firma verbrannt wurde, wie groß die Menge des Atommülls ist und wie weit die Kontamination in das Stadtviertel und in das Grundwasser reicht.

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weitens muss die internationale Atomagentur IAEO über diesen wahrscheinlichen Atommüllschmuggel informiert werden. Die Behörde muss nachforschen, aus welchem Land der Atommüll stammt. Wir haben den Vorort-Aktivisten und der Presse erklärt: Atommüll gehört zurück in das Erzeugerland.

Dr. Angelika Claußen war langjährige Vorsitzende der IPPNW Deutschland.

Dr. Alper Öktem ist Radiologe, IPPNW-Mitglied und Vorstandsmitglied des Demokratischen Türkeiforum e.V. 19


FOLGEN VON ATOMKATASTROPHEN

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unimi bei Date. Wieder einmal fragen Akemi Shima und ihre Tochter Shuri sich, ob die Lebensmittel wirklich unverstrahlt sind und das Etikett die tats채chliche Herkunft angibt.


„Fukushima 360º – Das atomgespaltene Leben der Opfer vom 11. März 2011“ 44 Foto-Reportagen von Alexander Neureuter ISBN: 978-3-00-044733-4 29,80 Euro www.neureuters.de Erhältlich im IPPNW-Shop unter: http://shop.ippnw.de

Gespaltenes Leben Seit der Atomkatastrophe von Fukushima ist für die Menschen in der Region nichts mehr, wie es war Links unten: Iwashita, Distrikt Namie (Sperrzone). Farmer Yoshizawa Masami zeigt auf einer Karte, wie stark seine Rinderfarm vom radioaktiven Fallout getroffen wurde. Er widersetzte sich allen amtlichen Aufforderungen, seine verstrahlte Farm zu verlassen. Er will seine Rinder nicht im Stich lassen, deren Fleisch und Milch nun unverkäuflich sind. Die Rinder bekommen auf den kontaminierten Weiden ihr Gnadenbrot, bis sie aufgrund der Strahlung oder ihres Alters sterben.

Manchmal denke ich, dass TEPCO nicht nur die Atome, sondern auch unser Leben gespalten hat. In eine schöne, unbeschwerte Zeit vor dem Unfall. Und in eine ungewisse, beschwerliche Zeit nach dem Atomunfall“, sagt Akemi Shima, die Mutter einer 14-jährigen Tochter aus der Präfektur Fukushima. Sie ist eine von 40 betroffenen Menschen, die der Umweltjournalist Alexander Neu­ reuter für sein Buch „FUKUSHIMA 360º – Das atomgespaltene Leben der Opfer vom 11. März 2011“ begleitet hat und deren Geschichten davon zeugen, wie tief greifend die Atomkatastrophe ihr Leben veränderte. Neureuter zeigt die Herausforderungen und Schwierigkeiten im Leben nach Fukushima, schreibt über Verzweiflung und Hoffnung der Menschen, aber auch über die Skrupellosigkeit eines alteingesessenen Systems aus Politikern, Beamten, Ärzten, Medien, organisierter Kriminalität und Industriekonzernen, für die ein Menschenleben nicht sehr viel zählt. Dabei entsteht ein ebenso verstörendes wie berührendes Panorama aus einer Region, um die es in den Medien still geworden ist. Ein 360°-Blick, der begreifbar macht, was eine Atomkatastrophe wirklich bedeutet – und, dass sie noch lange nicht vorbei ist.

Fotos: © Alexander Neureuter

Rechts unten: Fukushima City. Seit mehr als 1.000 Tagen lebt Kimiko Abe in einem Wohncontainer. In ihrem alten Leben hatte sie ein stattliches Gehöft, auf dem sie zusammen mit ihrem Sohn Tabak und Gemüse anbaute – bis zu jenem Tag, an dem die radioaktive Wolke kam. Ihr neues Leben ist zwölf Quadratmeter groß, ein einziges Zimmerchen, in dem sie schläft, isst, fernsieht, liest, lebt. Von einem Fotoalbum mit Bildern ihres verstorbenen Mannes abgesehen, hat sie alles verloren. Ob sie jemals wieder in ihre verstrahlte Heimat zurückkehren kann, ist ungewiss.

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FOLGEN VON ATOMKATASTROPHEN

Der kurze Traum vom glücklichen Leben auf dem Lande Das Aussteiger-Paar Takashi Kitamura und Nakako Wada aus Hanawa-cho

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eit zehn Minuten schon ist kein Haus mehr zu sehen, rechts und links des Weges wiegen sich junge Reispflanzen im Wind, und der Jeep holpert auf dem ausgefahrenen Feldweg durch die hellgrünen Reisfelder. Dann erscheint am Ende des Tals ein einsames Haus am Waldrand, noch eine letzte Steigung, den Motor aus und schon begrüßen die beiden Hofhunde aufgeregt das Auto. Zwei Ziegen und fünf Katzen gibt es auch noch. Landleben pur.

das Gärtnern gelernt – und außerdem bringen uns unsere Nachbarn immer etwas von ihrer Gemüseernte vorbei.“ Nicht einen Moment haben die beiden Aussteiger ihren Entschluss bereut, aus der Millionenmetropole Tokio in ihr einfaches Bauernhaus nahe dem 40-Seelen-Dorf Hanawa-cho gezogen zu sein – bis die radioaktive Wolke auch ihr kleines Glück vom Leben auf dem Lande zerstörte. Immer noch strahlt ihr Hausdach mit über zwei Mikrosievert pro Stunde, immer noch messen sie die Lebensmittel aus ihrem Garten auf Radioaktivität und sammeln die Pilze im Wald hinter ihrem Haus nicht mehr.

„Irgendwann haben meine Frau und ich uns gefragt, was wir eigentlich erreichen wollen in unserem Leben“, erzählt Takashi Kitamura, „und wir haben erkannt, dass es nicht das schnelle Geld und die Macht über möglichst viele Mitarbeiter sind. Nach einigem Überlegen haben wir beide schließlich unsere hoch bezahlten Managerkarrieren und das hektische Stadtleben in Tokio an den Nagel gehängt und gegen unseren Traum vom einfachen Landleben eingetauscht.“ Aus dem ehemaligen Verlagsleiter und der Managerin beim Computerhersteller Fujitsu wurden Aussteiger und Selbstversorger. Takashi hat sich im Naturschutz engagiert und seine Frau Nakako Wada ihre Leidenschaft des Brotbackens zu einer kleinen Bio-Bäckerei weiterentwickelt.

„Was uns aber die meisten Sorgen bereitet, ist diese neue Baustelle da hinten im Wald“, gesteht Takashi. „Keine drei Kilometer von unserer kleinen Farm wird eine Müllverbrennungsanlage für radioaktive Trümmer aus der verstrahlten Sperrzone gebaut.“

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itten durch den Wald führen eine frisch geteerte Straße und eine neu verlegte Stromleitung zu dem umzäunten, sechs Hektar großen Gebiet, auf dem der Verbrennungsofen entsteht. Am Zufahrtstor sorgt ein Wachmann in Uniform dafür, dass nur Baustellenfahrzeuge auf das Gelände gelangen. Neben dem Tor wurde als erste Maßnahme eine Strahlenmessstation installiert, die schon jetzt in großen roten Ziffern die momentane Ortsdosisleistung anzeigt: Vor dem Atomunfall waren es 0,04 Mikrosievert pro Stunde, jetzt sind es 0,15 Mikrosievert pro Stunde – über die Höhe der zu erwartenden radioaktiven Freisetzungen nach Inbetriebnahme der Anlage haben die Behörden den Bürgern nichts mitgeteilt.

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akako Wada erinnert sich schmunzelnd an ihre erste Zeit auf dem Land: „Wir wollten uns weitgehend selbst versorgen, aber weder Takashi noch ich hatten Ahnung, wie man Obst und Gemüse anbaut. Was haben sich die Bauern aus unserer Nachbarschaft am Anfang darüber amüsiert, dass zwei Stadtmenschen hier auf dem Lande ihre Lebensmittel selbst anbauen wollen. Doch inzwischen sind wir akzeptiert und haben viel über 22


Nur drei Kilometer von der kleinen Farm von Takashi Kitamura und Nakako Wada entsteht eine Atommüllverbrennungsanlage. „Nach dem Atomunfall wurde staatlich festgelegt, dass zu verbrennender Müll mit maximal 8.000 Becquerel pro kg radioaktiv belastet sein darf – doch nur, wenn er in einer Müllverbrennungsanlage mit einer Kapazität von mehr als 200 Tonnen verbrannt wird. Für kleine Anlagen gilt diese Obergrenze nicht, und nun raten Sie mal, wie viele Tonnen hier jeden Tag verbrannt werden sollen? Na? Genau! Exakt 199 Tonnen am Tag“, berichtet Takashi Kitamura.

Takashi Kitamura berichtet, dass der Grund und Boden 18 Privatpersonen gehört hat, die sich nach Bekanntwerden des Bauprojektes geschlossen geweigert haben, ihren Wald zu verkaufen. „Doch dann haben die Beamten der Präfektur und die Manager des zukünftigen Anlagenbetreibers einzeln mit den Grundeigentümern gesprochen. Dabei muss wohl auch einiges an finanziellen Zuwendungen geflossen sein, denn letztendlich haben 17 Eigentümer dem Verkauf zugestimmt und nur noch einer hat sich geweigert und wollte dadurch das ganze Bauprojekt stoppen.

feuert werden.“ Und er fährt fort: „Diese Anlage ist übrigens ein Testofen. Bei erfolgreichem Betrieb sollen weitere 23 baugleiche Verbrennungsöfen in der gesamten Präfektur Fukushima errichtet werden, um letztendlich über die gesamte Präfektur verteilt auch höher kontaminierte Trümmer mit einer Belastung von mehr als 8.000 Becquerel pro kg verbrennen zu können.

Die zwangsweise Enteignung eines Grundstückseigentümers kann nach japanischem Recht nur dann erfolgen, wenn das Land vom Staat gekauft und anschließend vom Staat genutzt wird. Die Atommüllverbrennungsanlage wird aber von einem privaten Unternehmen gebaut und betrieben. Also haben die Beamten argumentiert, dass der Privatkonzern in dieser Anlage ausschließlich staatlichen Müll im Auftrag des Staates verbrennen wird – und schon haben die Richter der Enteignung zugestimmt.“

Besorgniserregend ist auch, was mit den radioaktiven Verbrennungsrückständen geschehen soll. Das Umweltministerium gab mir die Auskunft, dass die strahlende Asche maximal drei Jahre auf diesem Gelände zwischengelagert und danach zu einer noch unbekannten endgültigen Deponie gebracht werden soll. Doch dieses Endlager existiert noch nicht. Der zuständige Beamte unserer Distriktverwaltung sagte mir, dass er vorsichtshalber schon einmal von einer Zwischenlagerung von fünf Jahren auf diesem Gelände ausgeht. Und unser Dorfbürgermeister vermutet, dass die radioaktive Asche eher zehn Jahre hier zwischenlagern soll. Aber vielleicht ist sie bis dahin ja auch ganz vergessen worden.“

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E

r schüttelt den Kopf. „Noch schlimmer ist allerdings, mit welchen Winkelzügen der Staat seine eigenen Strahlengrenzwerte unterläuft: Nach dem Atomunfall wurde staatlich festgelegt, dass zu verbrennender Müll mit maximal 8.000 Becquerel pro kg radioaktiv belastet sein darf – doch nur, wenn er in einer Müllverbrennungsanlage mit einer Kapazität von mehr als 200 Tonnen verbrannt wird. Für kleine Anlagen gilt diese Obergrenze nicht, und nun raten Sie mal, wie viele Tonnen hier jeden Tag verbrannt werden sollen? Na? Genau! Exakt 199 Tonnen am Tag. Der Grenzwert gilt also für diesen Ofen nicht, hier darf alles ver-

r sieht mich mit einem traurigen, bitteren Lächeln an: „So funktioniert Atommüllentsorgung auf Japanisch. Und so wird Schritt für Schritt unser Traum vom Landleben zerstört. Vielleicht ist es langsam an der Zeit, zusammenzupacken ...“

Aus dem Buch: „Fukushima 360º – Das atomgespaltene Leben der Opfer vom 11. März 2011“ von Alexander Neureuter.

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FOLGEN VON ATOMKATASTROPHEN

Hayama-Park in Koriyama. Die Strahlung konnte durch das Dekontaminieren zwar um 80 % gesenkt werden, liegt aber immer noch 10-fach über dem Ursprungswert. Foto: © Alexander Neureuter

Neue Grundlagen zum Strahlenrisiko Ulmer Expertentreffen zu den Gefahren ionisierender Strahlung

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tomwaffentests, Atomunfälle, der Atomkraftwerksbetrieb und die medizinische Strahlendiagnostik führen zu erheblichen Strahlenbelastungen von vielen Millionen Menschen. Auf Einladung der IPPNW tauschten sich im Oktober 2013 Experten aus verschiedenen Fachgebieten in Ulm über den aktuellen Wissensstand zu Gesundheitsrisiken durch ionisierende Strahlung aus und kamen unter anderem zu folgenden Ergebnissen:

karzinom und Hirntumore). Die Ulmer Expertenrunde empfiehlt deshalb, „diagnostisches Röntgen und nuklearmedizinische Untersuchungen auf das notwendige Maß zu reduzieren, nur strahlungsarme CT-Geräte und nur bei strenger Indikationsstellung einzusetzen und, wo immer möglich, Magnetresonanztomografie (MRT) oder Ultraschalluntersuchungen vorzuziehen“.

Schon die Hintergrundstrahlung verursacht epidemiologisch nachweisbare Gesundheitsschäden

Auch schon der „Normalbetrieb“ von Atomkraftwerken erhöht bei Kleinkindern im Nahbereich das Risiko, an Krebs, besonders an Leukämie, zu erkranken. Beruflich strahlenexponierte Arbeitnehmer erkranken häufiger als andere, selbst wenn offizielle Dosisgrenzwerte eingehalten werden. Bei Beschäftigten im Uranbergbau und in Atomwaffenfabriken ist eine Zunahme nicht nur von Lungen- und Bronchialkarzinomen, sondern auch von chronisch lymphatischen Leukämien nachgewiesen. Leukämien und viele andere Krebserkrankungen werden auch durch die Strahlendosen nach Atomwaffentests und Atomunfällen induziert. Unter Radiojodbelastung werden erhöhte Raten von Schilddrüsenerkrankungen einschließlich Krebs beobachtet. Bei den durch niedrige Strahlendosen verursachten nicht-malignen Erkrankungen handelt es sich vorwiegend um kardiovaskuläre, cerebrovaskuläre, respiratorische, gastrointestinale, endokrinologische und psychische Erkrankungen sowie um Katarakte und benigne Tumore, wie z. B. Meningeome. Mehrere Studien belegen Störungen der Intelligenzentwicklung nach intrauteriner Strahlenexposition. Nach Atomunfällen sind teratogene Schäden bewiesen. Viele weitere Untersuchungen sprechen für genetisch bzw. epigenetisch bedingte Langzeitschäden.

Atomenergie-Nutzung

Die Hintergrundstrahlendosis pro Person liegt in Deutschland bei durchschnittlich 2,1 Millisievert im Jahr. Auch die Belastung durch medizinische Strahlendiagnostik und durch Atomanlagen hat die Größenordnung von einem bis zu einigen wenigen Millisievert. Die epidemiologischen Studien zur Hintergrundstrahlung, Strahlendiagnostik und Atomenergienutzung stimmen darin überein, dass diese Strahlendosen nicht nur zu verschiedenen Formen von Krebs, sondern auch zu schwerwiegenden nicht-malignen Erkrankungen führen können. Belegt werden die Aussagen der Experten mit rund 160 Literaturangaben aus überwiegend peer-reviewten wissenschaftlichen Fachzeitschriften, die im Ergebnispapier der Ulmer Tagung aufgelistet sind.

Empfehlung für diagnostisches Röntgen Als Folge computertomografischer wie auch konventioneller Röntgen-Untersuchungen wurde ein erhöhtes Krebsrisiko nachgewiesen (vorrangig Mammakarzinom, Leukämien, Schilddrüsen24


Krebs schon nach niedrigen Strahlendosen

Quantitative Folgenabschätzung

Ob Uranbergbau, zivile Nutzung der Atomenergie, Atomwaffentests oder Atommüll – seit Langem warnen Ärzte vor den gesundheitlichen Folgen ionisierender Strahlung. Die Atomlobby hat diese Warnungen stets mit dem Argument abgetan, dass die meisten Strahlendosen zu niedrig seien, um messbare Effekte zu verursachen. Erst vor Kurzem behauptete das wissenschaftliche Komitee der UN zu den Folgen von atomarer Strahlung (UNSCEAR), in Fukushima würden keine gesundheitlichen Folgen zu erwarten sein, da die durchschnittlichen Strahlendosen die gesetzlich vorgegebenen Richtwerte von 20 mSv im Jahr nicht überschreiten würden.

Essenziell für die Bewertung der ionisierenden Strahlung im Allgemeinen und der Atomenergie-Nutzung im Besonderen ist schließlich die Frage nach den quantitativen Folgen. Hierzu einigte sich die Ulmer Expertenrunde auf folgende Feststellungen: Umfangreiche neue klinische Arbeiten bestätigen das linear-nothreshold-Modell, nach dem es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen Strahlung unwirksam wäre.

Eine neue Studie vom Mai 2013 aus dem British Medical Journal zeigt jedoch erneut, dass es keine harmlosen Strahlendosen gibt. Die Daten von 10,9 Millionen Menschen wurden untersucht und die Inzidenz von Krebserkrankungen mit der Anzahl der CT-Untersuchungen verglichen. Die Ergebnisse: ein CT mit einer Strahlendosis von durchschnittlich 4,5 mSv lässt das Risiko, nach 10 Jahren an Krebs zu erkranken um 24 % steigen. Mit jedem weiterem CT stieg das Risiko um etwa 16 %. Es gibt also eine nachvollziehbare Dosis-WirkungsRelation. Vor allem Menschen, die in jungen Jahren Röntgenstrahlen ausgesetzt waren, hatten ein erhöhtes Krebsrisiko. Abschließende Aussagen über die Folgen nach mehr als 20 Jahren lässt diese Studie nicht zu und Krebserkrankungen mit langer Latenz oder welche, die erst in fortgeschrittenen Stadien erkannt werden, könnten durch diese Studie daher noch unterrepräsentiert sein.

Das sogenannte Kollektivdosiskonzept ist gesicherter Stand der Wissenschaft für die quantitative Abschätzung stochastischer Strahlenschäden. Kann also nach einem Super-GAU infolge der radioaktiven Freisetzungen die Kollektivdosis für eine Population abgeschätzt werden, dann kann man mit Hilfe von Risikofaktoren beispielsweise die zu erwartenden Krebserkrankungen näherungsweise ermitteln.

Neue Risikofaktoren für Krebs Dreh- und Angelpunkt ist also die Bestimmung der Risikofaktoren. Dazu stellt die Expertenrunde in ihrem Ulmer Papier zunächst mit einer ausführlichen Begründung fest, dass die Risikobewertung aufgrund statistischer Erhebungen an Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki als Referenzkollektiv „überholt“ ist.

Wir ÄrztInnen sollten mit diesem Wissen verantwortungsvoll umgehen – sowohl in unserem eigenen ärztlichen Handeln, also auch in unserem Engagement für eine Aufklärung der gesundheitlichen Folgen von Atomkatastrophen wie in Tschernobyl oder Fukushima, den Atomwaffentests, dem Uranbergbau, dem Atommüll, kurzum: der gesamten nuklearen Kette.

Für maligne Erkrankungen lautet die Empfehlung an die nationalen Strahlenschutzbehörden sowie an die Weltgesundheitsorganisation WHO: „Für die Abschätzung von Krebserkrankungen ist aufgrund aktueller Arbeiten ein Risikofaktor von 0,2/Sv für die Mortalität und 0,4/Sv für die Inzidenz anzunehmen. UNSCEAR, BEIR und ICRP verwenden z.Zt. noch deutlich niedrigere Faktoren.“

Dr. Alex Rosen Stellvertretender Vorsitzender der IPPNW Deutschland Den vollständigen Artikel finden Sie unter: http://kurzlink.de/Strahlendosen

Was kann man mit solchen Risikofaktoren anfangen? Laut UNSCEAR (Bennett 1995, 1996) soll die Kollektivdosis infolge der Atomkatastrophe in Tschernobyl in der Größenordnung von 600.000 Personen-Sievert (PSv) liegen. Bei einem Risikofaktor von 0,4/Sv für die Inzidenz können so 240.000 zu erwartende Krebserkrankungsfälle als Folge von Tschernobyl abgeschätzt werden. Laut U.S. Department of Energy (Anspaugh et al. 1988) ist eine Kollektivdosis von 930.000 PSv anzunehmen, was rund 370.000 Krebserkrankungsfälle als Tschernobylfolge bedeuten würde.

Konzept für krebserzeugende Arbeitsstoffe kann hierbei in seinen Grundzügen als gutes Beispiel dienen. Ziel ist es, im Sinne des gesetzlich geforderten Minimierungsgebotes mithilfe eines strukturierten Maßnahmenkatalogs das strahlungsbedingte Risiko zu senken. Die Langfassung des Papiers „IPPNW-Informationen: Gefahren ionisierender Strahlung – Ergebnisse des Ulmer Expertentreffens vom 19.10.2013“ kann in gedruckter Form bestellt werden bei der IPPNW-Geschäftsstelle in Berlin oder online abgerufen werden unter: www.ippnw.de/strahlung

Beachtet werden muss auch ein breites Spektrum weiterer schwerer Erkrankungen und Gesundheitsfolgen, für die allerdings bislang eine Festlegung von Risikofaktoren noch nicht möglich ist. Die wissenschaftliche Forschung lässt aber folgende Trendaussage zu: „Für die Abschätzung des Risikos für nicht maligne somatische Krankheiten („Nichtkrebs-Erkrankungen“), hier insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sind dem Krebsrisiko vergleichbare Faktoren anzunehmen.“

Risikobasiertes Strahlenschutzkonzept

Henrik Paulitz ist Referent der IPPNW Deutschland für Atompolitik und Energiewende.

Als Empfehlung für den Strahlenschutz spricht sich die Ulmer Expertenrunde für ein „risikobasiertes Konzept zur Gefährdungsbeurteilung ionisierender Strahlung“ aus. Das Risiko-Akzeptanz25


FOLGEN VON ATOMKATASTROPHEN

Unterschätzte Gesundheitsfolgen Interview mit Prof. Dr. Mikhail Malko, Minsk

Forum: In der weißrussischen Provinzstadt Ostrovets nahe der Grenze zu Litauen baut Präsident Alexander Lukaschenko das erste Atomkraftwerk des Landes. Und das, obwohl Weißrussland wie kein anderes Land mit den Strahlenfolgen der Katastrophe von Tschernobyl zu kämpfen hat. 28 Jahre nach dem Super-GAU gehen die Meinungen über das Ausmaß der Schäden für Umwelt und Gesundheit weit auseinander. Vertreter von UN-Organisationen wie der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEO), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Wissenschaftlichen Komitee der UN für die Folgen von Strahlen (UNSCEAR) rechnen die Gesundheitsfolgen nach Ansicht der IPPNW klein. Wie unterscheiden sich die Beobachtungen der Wissenschaftler aus Weißrussland und der Behauptungen internationaler Organisationen?

heißt, die Veränderung eines Gens oder Chromosoms ist erstmalig bei einem betroffenen Familienmitglied aufgetreten und nicht das Ergebnis einer Mutation in den Geschlechtszellen der Eltern. Die Anzahl der zusätzlichen Entwicklungsstörungen im Zeitraum von 1987 bis 1992 betrug etwa 87 Fälle oder etwa 6,8 % der Gesamtzahl der angeborenen Entwicklungsstörungen, die zwischen 1987 und 1992 registriert wurden. Forum: Wie viele Kinder in Weißrussland sind nach der atomaren Katastrophe von Tschernobyl zusätzlich an Leukämie erkrankt? Malko: Nach der letzten Abschätzung beträgt die Zahl der strahleninduzierten Leukämien bei Kindern in Weißrussland von 1986 bis 1995 etwa 200 Fälle. Circa 20 % der Leukämiefälle in Weißrussland wurden durch Tschernobyl verursacht.

Prof. Dr. Mikhail Malko: Es gibt einen sehr großen Unterschied. Nach Meinung internationaler Organisationen wie UNSCEAR, IAEO und der Internationalen Kommission für Strahlenschutz (International Commission on Radiological Protection, ICRP) sind strahlenbedingte Effekte in der betroffenen Bevölkerung der ehemaligen UdSSR nicht statistisch signifikant nachweisbar. Ihre Wissenschaftler behaupten, dass die Tschernobylkatastrophe lediglich psychologischen Stress und die Verängstigung der Bevölkerung hervorgerufen habe. Gleichzeitig können UNSCEAR, IAEO und ICRP aber keine Beweise für ihre Erklärung der erhöhten Erkrankungsraten in den stark radioaktiv kontaminierten Regionen von Weißrussland vorlegen. Ihre Erklärungen sind daher bloße Behauptungen und können nicht ernst genommen werden.

Forum: Sie haben die in Folge der Tschernobylkatastrophe ermittelten Bestrahlungsdaten auf bösartige Neubildungen bezogen. Welche zusätzlichen Neuerkrankungen an bösartigen Tumoren ergeben sich durch die so ermittelten Zahlen? Malko: Die Zahlen der strahlenbedingten bösartigen Neubildungen in Weißrussland stammen aus statistischen Auswertungen. Es existieren Daten für mehrere Krebslokalisationen und für jede Provinz von Weißrussland sowie für das gesamte Land. So konnte ich die Zahl der zu erwartenden bösartigen Neubildungen in jeder administrativen Einheit des Landes abschätzen. Dies wiederum erlaubte einen Vergleich zwischen den zu erwartenden Krebserkrankungen und den tatsächlich vorkommenden und somit die Bestimmung des relativen Risikos für jede administrative Einheit von Weißrussland.

Forum: Wie entwickelt sich die Zahl der Betroffenen, die an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind? Malko: Nach meiner Einschätzung gab es in Weißrussland im Zeitraum von 1990 bis 2012 11.000 strahlenverursachte Schilddrüsenkrebsfälle. Forum: Wie sieht es mit den Fällen meldepflichtiger Fehlbildungen aus?

Im zweiten Schritt überprüfe ich, ob es eine funktionelle Abhängigkeit zwischen den geschätzten relativen Risiken und den Bestrahlungsdosen gibt. Wenn ich eine solche funktionelle Abhängigkeit zwischen der Strahlendosis und des relativen Krebsrisikos finde, dann betrachte ich das als Beweis für den Einfluss der Strahlung auf die Krebsrate.

Malko: Die Zahl der strahlenbedingten meldepflichtigen Fehlbildungen in Weißrussland reduziert sich seit 1987 proportional zur Reduzierung der Ganzkörperstrahlendosen der Bevölkerung um etwa den Faktor 17. Daher liegt die Vermutung nahe, dass diese Fehlbildungen das Ergebnis somatischer De-novo-Mutationen und teratogener Effekte während der Embryonalzeit sind. Das

Im dritten Schritt errechne ich das zusätzliche absolute Risiko und das zusätzliche relative Risiko. Die von mir berechneten Risikofaktoren liegen etwa 5-mal höher als die Risikofaktoren, die für die Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki festgestellt wurden. Daher komme ich zu dem Schluss, dass die Risikofaktoren der Atombombenüberlebenden von Hiroshima 26


Gomel/Weißrussland: Junge Frau nach einer Schilddrüsenkrebs-Operation. Aus dem Fotoband Leben nach Tschernobyl, Fotografie 1986–2010 von Hermine Oberrück.

den Risikofaktoren übereinstimmen, die für die Atombombenüberlebenden im Bereich von niedrigen Strahlendosen festgestellt wurden.

und Nagasaki für die Abschätzung von Gesundheitsfolgen durch chronische niedrig dosierte Bestrahlung einer Bevölkerung nach einer Atomkatastrophe nicht zutreffend sind. Die Verwendung dieser Risikofaktoren unterschätzt die Gesundheitsfolgen einer solcher exponierten Population.

Forum: Wie hoch sind die wirtschaftlichen Verluste für Weißrussland aufgrund der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl?

Forum: UNSCEAR, IAEO und ICRP berufen sich aber nach wie vor auf die Risikobewertung aufgrund statistischer Erhebungen an Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki.

Malko: Weißrussische Spezialisten haben die wirtschaftlichen Verluste nach der atomaren Katastrophe von Tschernobyl auf 235 Milliarden US-Dollar (Wert des Jahres 1986) für die Periode 1986 bis 2015 geschätzt. Dieser Betrag ist 7,5-mal so hoch wie das Bruttosozialprodukt von Weißrussland im Jahr 1986.

Malko: Ja, die internationalen Organisationen verwenden die Daten der Atomüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki. Diese Bevölkerung war nach der Atombombenexplosion vor allem mittleren und hohen Dosen akuter Strahlung ausgesetzt. Die Risikofaktoren von Strahlendosen, die sich aus dieser Bevölkerungsstudie errechnen lassen, werden zusätzlich noch auf Empfehlung von UNSCEAR um einen Reduzierungsfaktor von 2-10 geteilt. Dieses Vorgehen unterschätzt jedoch die Effekte im Falle einer chronischen Bestrahlung der Bevölkerung wie in Tschernobyl. Dabei ist zu betonen, dass unsere Risikofaktoren qualitativ mit

Das Interview führte Angelika Wilmen, Pressesprecherin und Koordinatorin der Öffentlichkeitsarbeit der IPPNW. Prof. Dr. Mikhail Malko ist Wissenschaftler am Institut für Energiewirtschaft im weißrussischen Minsk. Er war einer der Referenten auf der internationalen Tagung „Folgen von Atomkatastrophen für Natur und Mensch“ vom 4.-7. März 2014 in Arnoldshain.

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Foto: © Alexander Neureuter

FOLGEN VON ATOMKATASTROPHEN

Interpretationssache Staatsgeheimnis Der Dokumentarfilmer Ian Thomas Ash über die Schwierigkeiten kritischer Berichterstattung in Japan

I

Das Gesetz würde angeblich Angelegenheiten schützen, die die nationale Sicherheit betreffen. Dennoch wurden die Intentionen der japanischen Regierung infrage gestellt, als sie aktuelle Fälle des Geheimnisverrates („Whistle blowing“) in anderen Ländern anführte, um zu begründen, warum solch ein Gesetz in Japan nötig sei.

m November 2013, während ich auf Tour war mit meinem Dokumentarfilm A2-B-C, der das Leben der Kinder in Fukushima nach der atomaren Katastrophe im Fokus hat, nahm ich an einer Pressekonferenz im Klub der Auslandskorrespondenten von Japan teil. Anwesende Redner waren Mizuho Fukushima, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Japans, Sohei Nihi von der Kommunistischen Partei Japans, Ryo Shuhama von der „People’s Life Party“ und der unabhängige Abgeordnete Taro Yamamoto. Sie alle sprachen sich gegen das geplante „Geheimhaltungsgesetz“ aus, das, wenn es verabschiedet würde, der japanischen Regierung die Befugnis gäbe, jeden, der ein „Staatsgeheimnis“ öffentlich macht zu verhaften, zu inhaftieren und/oder mit einer Geldbuße zu belegen.

D

ie Einführung und Debatte des Gesetzentwurfes fiel zusammen mit der Nominierung Japans für die Olympischen Sommerspiele 2020, als zeitgleich immer wieder Neuigkeiten über die fortlaufenden Probleme im havarierten Atomkraftwerk Fukushima in die Öffentlichkeit rieselten. Weiteres Potenzial, die japanische Regierung auf dem internationalen Parkett schlecht dastehen zu lassen, ergab sich aus dem „Fukushima Health Management Survey“, das von der Regierung überwacht wird und das kürzlich offenbart hatte, dass es 58 Fälle von vermutetem Schilddrüsenkrebs bei Kindern aus der Präfektur Fukushima gibt.

Aber was genau wäre diesem Gesetzentwurf nach ein „Staatsgeheimnis“? Auf der Pressekonferenz berichtete Mizuho Fukushima, dass sie genau diese Frage den Abgeordneten der Regierungspartei gestellt hatte und die Antwort, die sie erhielt, beunruhigte sie sehr: „Was als Geheimnis eingestuft wird“, wurde ihr gesagt, „ist geheim“.

Meine aktuellen Dreharbeiten, die fast ausschließlich in Fukushima stattfanden, veranlassten einige meiner Freunde und Kollegen mir zu raten „lieber vorsichtig“ zu sein, was immer das heißen soll. Wie kann man vorsichtig sein, wenn man nicht einmal weiß, was nicht erlaubt ist?

Als Reaktion auf das geplante Gesetz hat die Präsidentin des Klubs der Auslandskorrespondenten ein Protest-Statement herausgegeben: „Der Gesetzentwurf warnt Journalisten im Besonderen, sich nicht unangemessener Methoden bei ihren Recherchen zur Regierungspolitik zu bedienen. Das scheint eine direkte Drohung, die sich an die Medienschaffenden richtet, und ist im Einzelfall so weit interpretierbar, dass es inakzeptabel ist. Solch eine vage Formulierung könnte tatsächlich eine Lizenz für Regierungsbeamte sein, Journalisten strafrechtlich zu verfolgen, so wie es ihnen gerade gefällt.“

Im Dezember letzten Jahres, als die Regierungspartei das Gesetz spät in der Nacht durchdrückte, bevor das Parlament in die Neujahrspause ging, war ich gerade dabei, Filmmaterial für meinen neuen Dokumentarfilm über Kinder aus Fukushima zu sichten. Würde eine Arbeit wie meine – Interviews mit Ärzten in Fukushima, die Sammlung von Daten und die Aufnahme von Zeitzeugen – als „Staatsgeheimnis“ gewertet?

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Öffentliches Messgerät an der Fukushima University (links) und privates davor (rechts). Fast alle amtlichen Messgeräte zeigen einen viel zu geringen Wert an. Wäre die Berichterstattung darüber nach dem neuen japanischen Geheim­haltungsgesetz der Verrat eines „Staatsgeheimnisses“?

sie dafür riskieren möchten. Das Gesetz war noch nicht verabschiedet, aber es hatte schon angefangen Menschen zu kontrollieren, indem diese begannen, sich der Selbstzensur zu unterwerfen.

Ich hatte guten Grund mir diese Frage zu stellen. Nachdem ich seit vielen Jahren in Japan gelebt hatte, war letzten Sommer die Verlängerung meines Arbeitsvisums plötzlich verweigert worden. Auch wenn ich keinen Beweis habe, dass es hier eine Verbindung gibt, war es doch so, dass mein Antrag, zwei Monate nachdem mein Film „A2-B-C“ auf dem „Nippon Connection Film Festival“ in Frankfurt Weltpremiere hatte und mit dem Hauptpreis ausgezeichnet worden war, abgelehnt wurde.

E

s gibt für mich keine Möglichkeit zu wissen, ob meine weiteren Dreharbeiten in Fukushima mich in Gefahr bringen, unwissentlich etwas zu enthüllen, das als „Staatsgeheimnis“ gedeutet werden könnte. Tagtäglich setzte ich meine Dokumentation der Situation fort, ich tue es, obwohl ich weiß, dass es unter Umständen meine Erlaubnis in dem Land zu bleiben, das für mehr als zehn Jahre mein zu Hause war, betreffen könnte.

I

ch beauftragte einen Einwanderungsanwalt, und durch ein Berufungsverfahren wurde mein Arbeitsvisum am Ende verlängert – allerdings nur für ein Jahr, nicht wie üblicherweise für drei. Verschiedene Leute rieten mir das nächste Jahr über lieber „stillzuhalten“, bis mein Visum erneut verlängert würde, weil ich nach dieser Zeit formal berechtigt wäre, mich für eine permanente Aufenthaltsgenehmigung zu bewerben. Mit „stillhalten“ meinten sie vermutlich, ich sollte nichts mehr filmen, was mit Fukushima zu tun hat.

Dennoch, wenn es diese Arbeit sein sollte, die ich in Japan mache und dieses Land, das ich so sehr liebe, die es mir unmöglich machen hier zu bleiben, dann werde ich keine Wahl haben, als das Land zu verlassen. Meine Arbeit zu unterlassen, nur, damit ich in Japan bleiben kann, hieße sich zurückzuziehen und Zeuge zu werden, wie es sich in ein Land verwandelt, in dem ich nicht länger leben wollte.

Auf der Pressekonferenz, bevor das Gesetz verabschiedet worden war, hatte der parteilose Abgeordnete Taro Yamamoto zu verstehen gegeben, dass es merkwürdig sei, dass über den Gesetzentwurf so wenig in den Medien berichtet würde. „Indem die Medien jetzt schon nicht berichten“, sagte er, „legen sie sich die Schlinge um den eigenen Hals.“ Traurigerweise scheint das wahr geworden zu sein. Noch bevor der Gesetzentwurf verabschiedet wurde, konnte man seine Auswirkungen bereits spüren. Professionelle Journalisten und Zeitungsredakteure, Blogger und Nutzer sozialer Medien fragten sich selber: „Könnte das, was ich veröffentlichen möchte als Staatsgeheimnis eingestuft werden?“, und wägten ab, wie viel

Ian Thomas Ash ist Dokumentarfilmer. Er wurde in den USA geboren und lebt seit über zehn Jahren in Japan. Mehr über seine Arbeit unter www.DocumentingIan.com 29


Medical Peace Work Ärztliche Friedensarbeit in Süd-Thailand: Trainings-Workshop für Gesundheitspersonal an der Frontlinie

S

eit über zehn Jahren gibt es gewaltsame Ausschreitungen in den drei südlichsten Provinzen Thailands. Hintergrund ist ein ethno-politischer Konflikt zwischen dem thai-buddhistischen Staatsapparat und der malaiischsprechenden muslimischen Minderheit, die für Anerkennung und Autonomie kämpft. Der gewaltsam-eskalierte Konflikt hat enorme Konsequenzen für das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung: Weit mehr als 5.000 Menschenleben sind den Anschlägen und Kampfhandlungen bereits zum Opfer gefallen; eine vielfach höhere Anzahl Personen wurde verletzt, verstümmelt oder psychisch traumatisiert. Aufgrund von politisch-religiösem Druck, gegenseitigem Misstrauen und der gegebenen Unsicherheitssituation sind einige Gebiete von der öffentlichen Gesundheitsversorgung abgeschnitten, was zu zusätzlicher Belastung speziell für die muslimische Bevölkerung führt. Ärzte und anderes Gesundheitspersonal beider ethnisch-religiöser Gruppierungen arbeiten unter schwierigsten Bedingungen, um der leidenden Bevölkerung zu helfen: Sie bauen Gesundheitsdienste aus, lindern die Folgen von Gewalt und Terror, und versuchen, dem Unfrieden entgegen zu wirken. Viele möchten mehr tun, als nur Symptome behandeln; doch es fehlt an Wissen, Erfahrung und Unterstützung in ärztlicher Friedensarbeit.

2. Die Stärkung von friedensrelevanten Lerninhalten, samt Entwicklung eines Wahlkurses in Frieden und Gesundheit in den medizinischen Hochschulen und Pflegeschulen im Süden. 3. Die Gründung eines Friedensnetzwerkes für Gesundheitspersonal in Süd-Thailand zur Förderung von gegenseitiger Verständigung und des offiziellen Friedensprozesses. 4. Der Aufbau von mobilen Kliniken mit gemischten Teams, welche in Zusammenarbeit mit den lokalen Moscheen die Gesundheitsversorgung in den unsicheren Gebieten verbessern wollen.

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iese vier Initiativen werden im Laufe von 2014 von den internationalen Kollegen betreut und unterstützt. Eine Folgeevaluierung soll die Nachhaltigkeit und die Bedeutung des Workshops für den Friedensprozess in Süd-Thailand aufzeigen. Es wird zusätzlich ein Buchprojekt geben, um die Inhalte und WorkshopErfahrungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Unserer Meinung nach war dieser Workshop ein großer Erfolg, was sich auch an den regen Diskussionen und dem kollegialen Umgangston zeigte. Wichtige Faktoren, die zum Gelingen beitrugen, waren der geschaffene Freiraum fern von der Frontlinie, die Zugehörigkeit zu Gesundheitsberufen, und der gemeinsame Wunsch, weiterer Gewalt vorzubeugen und Frieden zu fördern.

M

it diesem Hintergrund hat eine Gruppe von internationalen Ärzten und Diplomaten, die früher für WHO und ICRC gearbeitet und sich nun als „The Rugiagli Initiative“ (tRI) zusammengeschlossen haben, ein Pilotprojekt gestartet. Mithilfe der lokalen ärztlichen Hilfsorganisation „Deep South Relief and Reconciliation“ (DSRR) haben sie vom 6.-8. Dezember 2013 einen Trainings-Workshop organisiert. Unter dem Titel „Supporting Mutual Understanding and Violence Reduction“ wurden 30 Gesundheitsberufler mit unterschiedlicher Verantwortung und Zugehörigkeit ausgewählt und aus den drei südlichsten Provinzen in ein sicheres Ferienresort gebracht.

A

ls Repräsentanten für das Europäische „Medical Peace Work“ (MPW) Netzwerk wurden wir zum Workshop eingeladen, und durften unsere Erfahrungen in ethischen Dilemmata im Klinikalltag, in der Entwicklung von medizinischen Friedens-Curricula und in der internationalen IPPWN-Friedensarbeit mit allen Anwesenden teilen. Der Workshop machte uns bewusst, dass es weltweit viele Kollegen gibt, die Unterstützung brauchen, um ihre ärztliche Friedensarbeit leisten zu können. Das MPW-Netzwerk möchte diesen Bedarf durch zwei neue Arbeitskreise decken: MPW research und MPW education working group. Interessenten bitte melden bei klaus.melf@gmail.com.

Ziel war es, den Teilnehmern einen Freiraum zu geben, um zusammen den Konflikt zu bearbeiten, gemeinsame Gesundheitsund Friedensinitiativen auf den Weg zu bringen, und einen Dialogkanal zu etablieren. Neben friedensfachlichen Vorträgen wurde speziell auf Kleingruppenarbeit Wert gelegt. Die Teilnehmer konnten dadurch ihre Fertigkeiten in Konfliktanalyse und Mediation üben, berufliche Herausforderungen und ethische Dilemmata teilen, und folgende vier Aktionspläne erarbeiten:

Dr. Stefan Kolb (links) und Dr. Klaus Melf (rechts) koordinieren das MPW-Projekt für die IPPNW Deutschland.

1. Eine Initiative für Trauma-Arbeit und Förderung der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, um Hass und Gewalt zu reduzieren. 30


AKTION

Mit viel Energie Aktionen im letzten Quartal 2013 16.000 Menschen sind am 30. November 2013 trotz trüben Nieselwetters in Berlin auf die Straße gegangen, um die Energiewende gegen die Große Koalition und die alten Stromkonzerne zu verteidigen. Nicht nur die Berliner IPPNW-Mitglieder waren dabei, auch IPPNW-Mitglieder aus anderen Regionen waren eigens zu diesem Anlass nach Berlin gekommen. Die Demonstrierenden forderten von der künftigen Bundesregierung, die Energiewende mit Sonne und Wind zu gestalten und Fracking, Kohle und Atom aufs Abstellgleis zu stellen, den Stromkonzernen den Stecker zu ziehen und für eine Energieversorgung in Bürgerhand zu sorgen. Der Demonstrationszug startete am Berliner Hauptbahnhof und endete mit einer Umzingelung des Kanzleramtes. Am 22. März 2014 sind erneut Demonstrationen in sieben Landeshauptstädten geplant. Infos hierzu unter: energiewende-demo.de

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G ELESEN

G ESEHEN

A2-B-C

Der lange Weg zum Ausstieg

A2, B und C – so werden in Japan die Schilddrüsenveränderungen kategorisiert: von kleineren Knoten oder Zysten (A2) bis zu Veränderungen, die sofortige Abklärung erfordern (C). Diese Kürzel kennt in Fukushima heute jedes Kind.

Wolfgang Sternstein untersucht die Erfolgs-Architektur der AKW-Bewegung – 40 Jahre Auf- und Abstieg aus der Perspektive eines reflektierten Aktivisten.

W

yhl, Grohnde, Kalkar, Brokdorf und Wackersdorf sind Symbolbegriffe der Nachkriegsgeschichte und Fahnenworte für eine erfolgreiche, wenn nicht die erfolgreichste Protestbewegung der Nachkriegszeit. Sternstein hat den „langen Weg zum Ausstieg“ rekonstruiert und vier Jahrzehnte erlebter Protestkultur reflektiert.

18 Monate nach der atomaren Kernschmelze sind die gesundheitlichen Folgen vor allem für Kinder in Fukushima gravierend. In dem international ausgezeichneten Dokumentarfilm „A2-B-C“ des Filmemachers Ian Thomas Ash aus Tokio werden Kinder mit ihren Familien in ihrem persönlichen Alltag begleitet. Der Film zeigt auf berührende Art und Weise, wie sie mit den Folgen der radioaktiven Kontamination ihrer Heimat umgehen und zu kämpfen haben. Die ständige Verharmlosung der Radioaktivität und das Vertuschen von relevanten Informationen gehört zur täglichen Realität und verstärkt das Misstrauen der Menschen gegenüber dem eigenen Staat. Kennen wir dieses Phänomen nicht bereits?! Es erinnert mich stark an den Umgang mit den Folgen der Katastrophe in Tschernobyl. In Japan zeigt sich nun eine ähnliche Situation des politischen und medialen Verharmlosens der Folgen.

Das autobiografisch gefärbte Lebensbuch „Atomkraft – nein danke“ zeichnet sich durch einen besonderen Hybrid-Charakter aus. Sternstein, der seinen Beruf mit „Friedensforscher und Friedensaktivist“ angibt, macht aus beiden Rollen das Beste. Ein Buch der geglückten Paradoxie. Die Nähe des Akteurs verbindet sich mit der Distanz des Analytikers, der aus einem prallen internen und externen Wissensfundus schöpfen kann. Sternstein war sechs Jahre lang Vorstandsmitglied des untergegangenen, einst sehr einflussreichen Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz. Diese Erfahrungen wertet der Autor aus. Klarer und informierter wurden der Niedergang des BBU und die Fallstricke der Institutionalisierung noch nicht beschrieben. Gleichzeitig war der Stuttgarter Friedensforscher gewaltfreier Aktivist in der ersten Reihe zahlloser Protest- und Widerstandsaktionen. Er berichtet aus der Perspektive des reflektierten Akteurs, aber mit dem Handwerkszeug des distanzierten, suchenden Forschers. Diese Rollen-Ambivalenz zieht sich durch die acht Kapitel, die oft an die sprachliche Flughöhe renommierter, amerikanischer Historiker heranreichen.

Ian Thomas Ash trifft in seinem Film auf Kinder, die wie alle anderen draußen im Freien spielen wollen – so wie es vor der atomaren Katastrophe möglich war. Für die Kinder gehört ein Dosimeter um den Hals oder an der Schultasche zum Alltag und bestimmt ihr Leben auf Schritt und Tritt. Manchmal werden sie in der Schule auch an windigen Tagen zum Sportunterricht rausgeschickt. Mütter sind empört über diese Verantwortungslosigkeit und das fehlende Bewusstsein der Schulleitung gegenüber den gesundheitlichen Folgen für ihre Kinder. Nasenbluten, Hautausschlag, Schilddrüsenzysten, -knoten und -krebs gehören inzwischen zu den festgestellten Gesundheitsschäden. Viele Mütter lassen ihre Kinder in Privatkliniken untersuchen, um eine Zweitmeinung zu hören. Den offiziellen medizinischen Einrichtungen trauen sie nicht.

Der Ausstieg aus der Atomkraft und der holprige Einstieg in ein alternatives Energiekonzept wären ohne den jahrzehntelangen Kampf der AKW-Bewegung undenkbar gewesen. Sternsteins Bilanz: „Die Anti-Atomkraftbewegung gehört damit zu den wenigen erfolgreichen sozialen Bewegungen in der an gescheiterten Emanzipationsversuchen so reichen deutschen Geschichte.“

Ian Thomas Ash zeigt in seinem Film japanische Familien zwischen Verzweiflung und Misstrauen und ihren Kampf um die Wahrheit über das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe.

Thomas Leif „A2-B-C“ ist eine authentische, bewegende Dokumentation, die sehr zu empfehlen ist. Mehr Informationen zum Film unter: www.a2documentary.com

Wolfgang Sternstein: „Atomkraft – nein danke!“ Der lange Weg zum Ausstieg, Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt/M, 2013, 240 Seiten, 19,90 €, ISBN-10: 3955580334

Kaoru Maeno 32


GEDRUCKT

TERMINE

Strahlende Geschosse

MÄRZ 22.3. „Energiewende retten“Demonstrationen in Düsseldorf, Kiel, Hannover, Mainz/Wiesbaden, München, Potsdam

Erste Broschüre in der neuen IPPNW-Reihe zur „Nuklearen Kette“ Die erste Broschüre in der neuen IPPNW-Reihe zur „Nuklearen Kette“ befasst sich mit den gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von Uranmunition. 28 Seiten, 4-farbig 1 Stk. kostenlos, 2-9 Stk. 0,80 €, 10 Stk. 6 €, 50 Stk. 25 €, 100 Stk. 40 €

APRIL 11.–13.4. Jahrestreffen und Mitgliederversammlung der IPPNW, Dresden 20.–21.4. Ostermärsche, bundesweit 25.–27.4. „Afghanistan 2014 – Herausforderung für Frieden und Entwicklung“, Internationale Afghanistankonferenz, Straßburg

Bestellnummer: 146 Erhältlich in der IPPNW-Geschäfststelle oder über den IPPNW-Online-Shop: http://shop.ippnw.de

26.4. Tschernobyl-Jahrestag 26.4. Demo „Brokdorf abschalten“ am AKW Brokdorf

oder online lesbar unter: www.issuu.com/ippnw

MAI 9.–11.5. Europäisches IPPNW-Studierendentreffen, Helsinki 10.5. „Energiewende nicht kentern lassen“, Groß-Demonstration, Berlin

GEPLANT

JUNI 6.–9.6. Peace Event Sarajevo, Sarajevo

Das nächste Heft erscheint im Juni 2014. Im Schwerpunkt geht es um

Neue Kriege – Von Drohnen bis Cyberwar Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 138/Juni 2014 ist der 30. April 2014. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

19.–22.6. Fachtagung „Die gesundheitlichen Auswirkungen radioaktiver Strahlung beim Uranbergbau“, Ronneburg

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS

Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

Redaktionsschluss

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

30. April 2014

wortung e.V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

Samantha Staudte; Druck: Oktoberdruck Berlin;

Wilmen, Samantha Staudte

Papier: Recystar Polar, Recycling & FSC.

Freie Mitarbeit: Sandra Klaft

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Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-

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rael,

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AUGUST 25.–26.8.2014

Internationaler IPPNWStudierendenkongress Astana, Kasachstan 27.–30.8.2014

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21. IPPNW-Weltkongress

BIC BFSWDE33BER Das Forum erscheint vier Mal im Jahr. Der Be-

„Vom Atomteststopp-Vertrag zu einer atomwaffenfreien Welt – Abrüstung, Frieden und globale Gesundheit im 21. Jahrhundert“ Astana, Kasachstan

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. 33


G EFRAGT

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6 Fragen an … Fabrizio Gatti Journalist und Buchautor

1

Frankreichs Außenminister Laurent Fabius hat nach dem Bootsunglück von Lampedusa im Oktober letzten Jahres gefordert, dass das „Mittelmeer kein großer Friedhof“ sein darf. Das ist ein sehr humanitärer Ansatz oder? Seit 1988 sind 19.000 Menschen auf dem Weg von Afrika nach Europa gestorben – und dabei sind nur die Ertrunkenen gezählt, von denen wir wissen. Der Friedhof in der Sahara, die viele Menschen auf dem Weg nach Europa durchqueren müssen, ist übrigens viel größer. Aber bei 19.000 Toten frage ich mich: Wenn das nicht genügt, um dieses Massaker zu stoppen, sollten wir dann nicht gleich die Menschenrechte aus unserer Verfassung streichen? Denn sie dort festzuschreiben, wäre dann eine Lüge. Doch die Realität zeigt: Was die Europäische Union in den vergangenen Jahren gemacht hat, besteht einzig aus Abschottung.

auf See nicht als Alltagsphänomen akzeptieren wollen, dann müssen wir einen humanitären Korridor eröffnen. Dafür müssten wir aber die Dublin-Regeln ändern, die Asyl-Anträge nur noch in dem EU-Land zulassen, in dem die Menschen ankommen.

4

Damit wäre die Unterscheidung von humanitären und Wirtschaftsflüchtlingen hinfällig. Die 500 Menschen auf dem Boot, das im letzten Oktober gesunken ist, waren zum großen Teil aus Eritrea. Waren sie nun Wirtschaftsflüchtlinge? Nein, sie lebten in einem autoritären Staat und brauchten Schutz. Deutschland und Italien haben übrigens gute Beziehungen zu Eritrea. Warum unterstützen europäische Länder das Regime, aus dem dann so viele Menschen fliehen müssen?

5

Sie sprangen 2005 selbst vor Lampedusa ins Wasser, um, als Flüchtling getarnt, über die Verhältnisse aus dem Auffanglager zu berichten. Was hat sich seitdem dort verändert? Das Lager ist noch voller, weil in den vergangenen Jahren so viele Neuankömmlinge eingetroffen sind und alle Kapazitäten überschritten wurden. Allerdings haben sich auch Dinge verbessert – nach der Veröffentlichung meines Buches, wo ich von Übergriffen durch das italienische Sicherheitspersonal berichtete, erhielten Gruppen wie Ärzte ohne Grenzen und das Rote Kreuz Zugang. Es gibt jetzt Kontrollen. Das ist aber nicht in allen Internierungslagern so. Auf Sizilien gibt es ein Lager, in das kein Journalist hineinkommt. Es gibt Berichte über Ausschreitungen und Übergriffe durch das Sicherheitspersonal. Zwei Parlamentarier haben erzählt, dass die Insassen Valium erhalten, damit sie in der Nacht ruhig sind. Hohe Zäune, Internierungslager, Tabletten zur Ruhigstellung: Das ist nicht unser Europa.

2

Folgen die Verantwortlichen damit nicht nur dem Willen der Bevölkerung? Viele Menschen haben Angst, dass die Folgen der Einwanderung den sozialen Frieden gefährden. Einwanderung ist in der Geschichte immer wieder genutzt worden, um Einigkeit in Gesellschaften zu erreichen – nämlich, indem man das Fremde an ihr dämonisiert hat. Sehen Sie sich Italien an: In den fast 20 Jahren, in denen Berlusconi in irgendeiner Form an der Regierung beteiligt war, ist Fremdenfeindlichkeit zum politischen Mittel geworden. Es gibt hier einen breiten Konsens, gegen Einwanderung vorzugehen, es herrscht eine regelrechte Furcht vor ihr. Nur in der Praxis hat diese Politik doch überhaupt nichts geändert. Deshalb ist es Zeit, die Ideologie gegen Pragmatismus einzutauschen.

3

Was bedeutet das bei einem solch komplexen Problem? Die Lösung ist sicher nicht, alle Ankommenden mit Hilfe von Polizei und Marine an den Grenzen zurückzuschicken und damit ihre Reisen noch teurer und gefährlicher zu machen. Ich habe mit vielen Migranten gesprochen. Einen Vater, der sogar seine Kinder mit auf eines dieser Boote nimmt, wird keine Polizeiaktion der Welt davon abhalten können, wieder und wieder die Einreise nach Europa zu versuchen. Mir geht es nicht darum, die Grenzen zu öffnen und plötzlich Millionen Menschen hier aufzunehmen. Aber wir müssen doch ehrlich sein: Auf der anderen Seite des Mittelmeeres, an den Stränden Libyens, finden Sie keine Menschenrechtsorganisationen, sondern nur Schlepper. Wenn wir die Toten

6

Von welchem Europa sollen Flüchtlinge aus Afrika in Zukunft einmal erzählen? Vielleicht sollten wir die Menschen besser selber fragen. Was ich mir wünschen würde: von einem Ort, an dem sie als Bürger leben können. Einem Kontinent, von dem aus sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können, weil die Probleme in ihren eigenen Ländern inzwischen überwunden worden sind. Aber ich weiß natürlich: Es dauert noch, bis es so weit ist. Interview: Süddeutsche Zeitung, Johannes Kuhn 34


ANZEIGEN

19.–22.Juni 2014 Fachtagung in Ronneburg

Die

gesundheitlichen

Schicksale jüdischer Ärzte aus Nürnberg nach 1933

Auswirkungen

Die Publikation ist eine Würdigung der verfolgten jüdischen Ärzte und ein Bekenntnis zur unheilvollen Vergangenheit des eigenen Berufsstands. Im ersten Teil werden die politischen Rahmenbedingungen für jüdische Ärzte in der NS-Zeit mit dem Schwerpunkt Nürnberg beschrieben und im zweiten Teil die Biografien von 107 jüdischen Kollegen aus Nürnberg.

radioaktiver Strahlung beim Uran­bergbau Deutsche IPPNW-Sektion in Zusammenarbeit mit PSR Schweiz, der Gesellschaft für Strahlenschutz und dem kirchlichen Umweltkreis Ronneburg

Themen

» Die unterschätzte Wirkung geringer Strahlendosen » Gesundheitsschäden beim Abbau von Uran » Analysen und Erfahrungsberichte von Personen aus der Uranabbauregion Eine Exkursion zu einer ehemaligen Abbaustätte der Wismut ist geplant. Anmeldung und Infos in der IPPNW-Geschäftsstelle. Bernd Höffken Metropol-Verlag, Berlin 2013 Broschiert: 456 Seiten ISBN: 978-3-86331-157-5 EUR 29,90 www.metropol-verlag.de Foto: HydaspisChaos, creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0


Astana Kasachstan

21. IPPNW-WELTKONGRESS 2 7. – 3 0 . A u g u s t 2 0 1 4 Vom Atomteststopp-Vertrag zu einer atomwaffenfreien Welt – Abrüstung, Frieden und globale Gesundheit im 21. Jahrhundert INTERNATIONALER IPPNW-STUDIERENDEN-KONGRESS 25.–26.8.2014 Foto: kersy83, creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0

27. August 2014 28. August 2014 29. August 2014 30. August 2014 • Eröffnungszeremonie Zeugnis kasachischer Ärzte: Die wichtigsten Ergebnisse von 50 Jahren Forschung zu den Folgen der Atomtests auf dem Testgelände Semipalatinsk für die Gesundheit der Bevölkerung. • Eröffnungsvorträge Abschaffung der Atomwaffen als humanitärer Imperativ: Aktuelle Chancen und die humanitäre Perspektive auf Konflikte und Abrüstung im Allgemeinen. • Plenarsitzung 1: Die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen Wie und warum die Kernbotschaft der IPPNW über die medizinischen, Umweltund humanitären Folgen von Atomwaffen und Atomkriegen der Schwerpunkt einer neu entstehenden Bewegung zur Ächtung und Vernichtung der Atomwaffen wurde. • Workshops • IPPNW Regional Business Meetings • Eröffnungsfeier

• Plenarsitzung 2: Bewaffnete Gewalt als Public-Health-Krise • Workshops • Plenarsitzung 3: Lektionen von Atomwaffentests: Die Stimmen der Opfer Eine besondere Sitzung über die langfristigen Gesundheitsauswirkungen von Atomwaffentests und Strahlenexposition. Organisiert durch die IPPNW-Kasachstan. • Plenarsitzung 4: Die Auswirkungen der Nuklearen Kette auf Gesundheit, Umwelt und Sicherheit Eine Sitzung, die verschiedene Fakten zusammenträgt über die Risiken vom Uranabbau bis zum Atommüll und die Gefahr der Weiterverbreitung durch den Dual-Use der Atomtechnologie. • Dinner ausgerichtet von Astanas Gouverneur und Bürgermeister

• Plenarsitzung 5: Ein politischer Prozess zur Ächtung der Atomwaffen – ICAN und der Verbotsvertrag Der anhaltende Stillstand in der UN und der NPT-Konferenz haben Staaten und Zivilgesellschaft nach alternativen Wegen zu einer atomwaffenfreien Welt suchen lassen; wie die Regierenden von atomwaffenfreien Staaten den Ausschlag geben können; die Risiken und Chancen eines Verbotsvertragsprozesses im Vergleich mit anderen Initiativen.

• Exkursion nach Semei und Kurchatov Besuch der Gedenkstätte für die Opfer der Atomtests und zum Forschungsinstitut für Nuklearmedizin und Ökologie. • Seminar in der Semey State Medical University Rückkehr nach Astana für die Abreise am 31. August 2014

• Plenarsitzung 6: Multimediale Feier der Energie und Kreativität, die die IPPNW voranbringen • Abschlusszeremonie • International Council Meeting • Incoming Board Meeting

Weitere Informationen unter: www.ippnw.org


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