IPPNW akzente: Türkei/Kurdistan 2018

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ippnw akzente

information der ippnw internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Foto: Sigrid Ebritsch

Mit Beiträgen von Johanna Adickes, Elke Schrage, Sara Krokemüller, Sigrid Ebritsch und Gisela Penteker

Entlassung, Verhaftung und Vertreibung
 Reiseeindrücke aus der Türkei im Ausnahmezustand Bericht einer Reise von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei vom 10. bis 24. März 2018


ZU GAST BEI DER HDP NUSAYBIN


INHALT

Einleitung Editorial............................................................................................................................ 4 Glossar............................................................................................................................. 7 Überblick.......................................................................................................................... 8

Tagebuch Istanbul................................................................................................................................................................. 9 Diyarbakir................................................................................................................................... 9-12, 16-19, 21-23 Mardin................................................................................................................................................................. 12 Nusaybin......................................................................................................................................................... 12-13 Midyat und Cizre................................................................................................................................................. 13 Dersim/Tunceli............................................................................................................................................... 20-21 Ankara................................................................................................................................................................. 23

Vertiefende Themen und Berichte Der steinige Weg der Zivilgesellschaft – Bildung als zentrales Element..................................... 26 Land unter Besatzung....................................................................................................... 29 Die Zerstörung ziviler Projekte............................................................................................ 30 Wir werden immer kränker: Die türkische Gesundheitsreform am Ende.................................... 32 Schmerz, Wut und Ohnmacht............................................................................................ 34 Anhang „Verletzung von Menschenrechten beenden“ – Resolution der IPPNW..................................... 35 Was jedeR tun kann.......................................................................................................... 36 Spendenaufruf, Impressum und Heftbestellung.................................................................... 36

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Editorial

Der Repression trotzen der oder die sich öffentlich oder in den sozialen Medien gegen den Krieg dort ausspricht, riskiert eine nächtliche Razzia in der privaten Wohnung, Entlassung und Verhaftung.

Eine achtköpfige Gruppe von Ärztinnen, Pädagoginnen und einem Pfarrer war vom 10. bis 24. März 2018 unterwegs in Istanbul, Diyarbakir, Mardin, Nusaybin, Cizre, Hasankeyf, Dersim/Tunceli und Ankara. Sie führte Gespräche mit VertreterInnen der Zivilgesellschaft, der HDP und der Deutschen Botschaft und nahm am Newrozfest in Diyarbakir teil.

Im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten des Landes ist die Situation noch extremer. Die zum Teil mit bis zu 90 Prozent der Stimmen gewählten BürgermeisterInnen und Stadtparlamente wurden entlassen und durch staatliche Verwalter ersetzt. Viele BürgermeisterInnen und HDP-Mitglieder sind in Haft. Alle kommunalen Zentren, auch die Frauenzentren in den Stadtteilen sind geschlossen. Dafür wurden einige Koranschulen für Frauen eröffnet. Ein- und Ausfahrten in Städte und Ortschaften sind durch Polizei- und Militärposten gesichert ebenso wie die öffentlichen Gebäude. Überall sind Überwachungskameras und Richtmikrophone installiert. Öffentliche Veranstaltungen, Presseerklärungen und Versammlungen auf der Straße sind verboten. Das Land steht unter Besatzung.

Seit dem Ende des Friedensprozesses mit den Kurden 2015 und besonders seit dem Putschversuch im Sommer 2016 steht die Zivilgesellschaft im ganzen Land unter großem Druck. Jede oppositionelle Arbeit wird verboten und gerichtlich verfolgt. Der Ausnahmezustand ist seit dem Putschversuch fortlaufend verlängert worden und ermöglicht es dem Präsidenten, per Dekret zu regieren. Fast alle unabhängigen Medien sind verboten, über 100 JournalistInnen in Haft. Die massiven Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst mit nachfolgenden Berufsverboten führen zu großen Engpässen besonders an den Schulen und bei der ärztlichen Versorgung. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben. Der Präsident gibt dem Parlament die Themen vor – die meisten Abgeordneten der HDP sind inhaftiert. Die CHP ist eine schwache Opposition, die leicht überstimmt werden kann.

Trotz der eigenen Probleme waren bei all unseren Gesprächen der Angriff auf Afrin und die Sorge um die Menschen dort das wichtigste Thema. Hier erfährt man täglich am eigenen Leib, was Besatzung heißt. Auch die brutale Zerstörung von Städten und Infrastruktur sowie die Ermordung und Vertreibung von unbewaffneten Zivilpersonen ist aus den Jahren 2015/2016 noch in böser Erinnerung. Um so perverser die ständigen Bilder des türkischen Fernsehens, die überall in Hotels und Gaststätten laufen, in denen die türkischen Streitkräfte und ihre dschihadistischen Söldner von der Bevölkerung in Afrin als Befreier gefeiert werden. Afrin war – wie auch die beiden anderen Kantone – vor dem Angriff der Türkei kein

Die Justiz ist abhängig vom Präsidenten, viele Richter und Staatsanwälte mussten ihren Dienst quittieren, oder sie werden entlassen, wenn sie nicht im Sinne der Regierung entscheiden. Die letzte Entlassungs- und Verhaftungswelle wurde durch den Angriff der Türkei auf die nordsyrische Provinz Afrin ausgelöst. Jeder und jede, 4


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NEWROZFEST MIT POLIZEISPERREN: DIYARBAKIR IM MÄRZ 2018

kerung in ihrem Sinne zu verändern. Viele von ihnen sind Familienangehörige von djihadistischen Kämpfern der „Freien Syrischen Armee“. Auch Amnesty berichtete im August 2018 Erschreckendes: Willkürliche Verhaftungen, Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen sind in Afrin an der Tagesordnung: www.amnesty.at/presse /tuerkei-muss-menschenrechtsverletzungen-in-afrin-stoppen

Kriegsgebiet. Im Gegenteil, es war Zuflucht für viele Geflüchtete aus den syrischen Kampfgebieten. Die Bevölkerung hatte sich im Laufe des Krieges verdreifacht. Trotz des andauernden Embargos durch die Türkei war es der autonomen Selbstverwaltung gelungen, die Menschen zu versorgen. Die Flüchtlinge aus Aleppo bauten kleine Textilfirmen auf, andere betrieben Getreide- und Ölmühlen. Die kommunale Verwaltung bezog alle Ethnien und Religionen, Männer und Frauen gleichberechtigt mit ein – die YPG, die kurdischen Selbstverteidigungskräfte in Syrien, setzten sich in Dörfern und Städte gegen die djihadistischen Milizen zur Wehr.

Mit der Eroberung von Afrin gibt sich die türkische Regierung nicht zufrieden. Die YPG und ihre amerikanischen Verbündeten sollen bis über den Euphrat zurückgedrängt werden. Östlich des Euphrat haben die USA mehrere militärische Stützpunkte. Hier befinden sich die reichen Öl- und Gasvorkommen und die Kornkammer Syriens. Sollten sich die US-Truppen, wie Präsident Trump droht, wirklich schnell aus Syrien zurückziehen, könnten die türkischen Truppen ihre Drohung wahrmachen und den Krieg auch in die autonomen Gebiete bis zur irakischen Grenze tragen. Auch im Irak droht die Türkei mit einem Einmarsch bis nach Sinjar, wo sie schon Luftangriffe fliegt.

Jetzt, nach der sogenannten „Befreiung“ von der YPG, liegt die Provinz in Schutt und Asche, wie der Rest von Syrien. Die dschihadistischen Söldner haben gemordet und geplündert. Insbesondere die BewohnerInnen der jesidischen Dörfer an der türkischen Grenze sind von Verbrechen und Übergriffen wie in Sinjar bedroht. Mädchen und Frauen werden verschleppt und versklavt, die Männer zur Konversion gezwungen. Tausende vertriebene Kurden harren in Camps aus und werden durch die Milizen an der Heimkehr gehindert.

Unsere Gesprächspartner in der Türkei beklagten sich bitter über das Schweigen Europas und besonders Deutschlands, dessen Rüstungsgüter in diesem völkerrechtswidrigen Angriff zum Einsatz kommen und dessen Waffenlieferungen an den NATO-Partner allen Beteuerungen zum Trotz unvermindert weitergehen. Als Ermutigung sahen sie die Bilder von den großen Demonstrationen gegen den Krieg in Afrin in europäischen Städten. Diese und auch die Bilder von den Zerstörungen und Vertreibungen erreichen die Menschen über kurdische und arabische Sender aus Nordirak und Rojava, die sie trotz der damit verbundenen Gefahr über Satellit empfangen.

Der türkische Präsident will derweil mit dem „Wiederaufbau“ beginnen. Wie ein solcher für ihn aussieht, konnten wir in der Südost-Türkei sehen: Ohne Rücksicht auf Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung werden Betonblocks hochgezogen, in denen die Wohnungen so teuer sind, dass die früheren Bewohner der zerstörten Städte und Dörfer sie sich nicht leisten können. Die bewaffneten Gruppen haben in Afrin bereits tausende Flüchtlinge aus der Türkei und aus anderen Regionen Syriens angesiedelt, um die Zusammensetzung der Bevöl5


TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Von Ausgangssperren betroffene Provinzen in der Türkei

Muş Varto Hakkâri Yüksekova

Diyarbakır Lice, Silvan, Sur, Bismil, Hani, Yenişehir, Dicle, Kocaköy, Hazro, Bağlar

Batman Sason, Kozluk

Şırnak Cizre, Silopi, İdil, Merkez

Mardin: Nusaybin, Dargeçit, Derik

Glossar Afrin ist eine Stadt und Sitz des von ihr verwalteten Distrikts Afrin im Nordwesten Syriens, der mehrheitlich von Kurden bewohnt wird. Der Distrikt, der nördlich von Aleppo liegt, grenzt im Nordwesten an die Türkei. Am 20. Januar 2018 bombardierte die Türkische Armee mehr als 100 Ziele in Afrin. Vor der Besetzung der Stadt durch türkische Truppen und ihre Verbündeten im März 2018 floh die Masse der Bevölkerung. AKP Adalet ve Kalkinma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung Amed kurdischer Name von Diyarbakir Ausgangssperren Die Ausgangssperren Ende 2015/Anfang 2016 waren eine Strafmaßnahme gegen widerständige kurdische Dörfer und Städte. Hunderte ZivilistInnen wurden getötet, Wohngebiete durch das Militär planiert. Bis heute werden die Ausgangssperren fortgesetzt, wenn auch in geringerem Ausmaß. Canakkale-Tag In Canakkale = Gallipoli verteidigten sich die Militärs des osmanischen Reichs im ersten Weltkrieg unter Führung von Mustafa Kemal Pascha (später Atatürk) erfolgreich gegen die Entente der Großmächte. Dieses Ereignis war von großer Bedeutung für die Konstituierung der türkischen Nation. Egitim Sen Erziehungsgewerkschaft Dolmabahçe Palast in Istanbul, in dem seit 1856 die osmanischen Sultane residierten. Später Wohnort von Kemal Atatürk. Wird heute bei Staatsbesuchen für repräsentative Zwecke benutzt.

Dorfschützer Paramilitärs, die von der Regierung gegen die PKK und die kurdische Bevölkerung eingesetzt werden HDP Demokratische Partei der Völker – Kurdenpartei, Nachfolgerin der BDP IHD Insan Haklari Dernegi, der Menschenrechtsverein, ist in vielen Städten aktiv Imam-Hatip-Schulen staatliche Berufsfachgymnasien für die Ausbildung zum Imam und Prediger in der Türkei. Der Abschluss berechtigt nach der Studienberechtigungsprüfung ÖSS auch zum Studium an einer Hochschule. Bis 2012 existierten einfache Imam-Hatip-Gymnasien. 2012/2013 ließ die türkische Regierung die religiösen Schulen auch für die Mittelstufe zu. In den letzten Jahren wurden viele Schulen der Mittelstufe in Imam-Hatip-Schulen umgewandelt. Schule und Berufsausbildung werden so immer stärker auf ein religiöses Weltbild eingeschränkt. İmralı Gefängnisinsel im Marmarameer, auf der Abdullah Öcalan, Führer und Mirbegründer der PKK, seit 1999 inhaftiert ist Kandilberge eine Region auf irakischem Territorium im Gouvernement Erbil nahe der irakisch-iranischen Grenze etwa 100 Kilometer südlich der Türkei. Rückzugsgebiet der PKK Newroz kurdisches Neujahrsfest am 21. März PKK Partiya Karkeren Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans Rojava kurdische Bezeichnung für die kurdischen Gebiete in Nordsyrien 6

SES Gewerkschaft der Angestellten im Gesundheits- und Sozialwesen Sinjar = Schengal Dschabal Sinjar im Irak ist ein ca. 50 km langer Höhenzug von Ost nach West, an dessen südlichem Ende die Stadt Sinjar im ebenfalls Sinjar genannten Distrikt liegt. TIHV Türkische Menschenrechtsstiftung TOKI Toplu Konut İdaresi Başkanlığı, die staatliche Wohnungsbaubehörde. Die traditionellen alten Stadtviertel, wo die ärmeren Menschen leben, reißt TOKI in den kurdischen Städten ab, um sie durch neue Gebäudekomplexe zu ersetzen. Hierbei handelt es sich um Hochhaussiedlungen, wo sich kaum soziale Strukturen entwickeln können. YPG Volksverteidigungseinheiten bzw. kurdische Selbstverteidigungskräfte in Syrien

Quelle: Trkische Menschenrechtsstiftung TIHV 2016

Elazığ Arıcak


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DIYARBAKIR, SUR 7


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Überblick 10. März Abflug nach Istanbul 11. März Istanbul | Yoleri Gülseren, Menschenrechtsverein IHD, Ali Ergün, HDP Istanbul. 12. März Diyarbakir | Raci Bilici, IHD Diyarbakir Ziya Pir, Parlamentsabgeordneter HDP BDP Diyarbakir: unter anderem Ibrahim Cicek, Ismael Bolukce, Halide Türkoglu 13. März Diyarbakir | Anwaltskammer: Ahmet Özmen und Cihan Ipek Ärztekammer: Dr. Mahmut Ortakaya, Dr. Mehmet Serif Demir Dr. Sinan Yüksel, Dr. Erdal Sipan, Dr. Hafis Yelikana

14. März Fahrt an die syrische Grenze Mardin | Eylem Amak, HDP, und Seymus Gökde, BDP Nusaybin | Mitglieder der HDP Nusaybin ein Kontaktmann aus Sirnak Midyat | Stadtbesichtigung 15. März Cizre | HDP- und BDP-Parteimitglieder Hasankeyf | Stadtbesichtigung 16. März Diyarbakir | Gesundheitsgewerkschaft SES Frauenzentrum Kardelen in Baglar 17. März Diyarbakir | „Tag der Mediziner“ in der Ärztekammer Diayarbakir mit Friedenspreis-Verleihung

PLANIERTE TEILE VON SUR, DIYARBAKIR 8

18. März Dersim/Tunceli | Gespräch mit Mitgliedern der HDP 19. März Dersim/Tunceli | Anwaltskammer 20. März Diyarbakir | HDP-Politikerin Serra Bucak und Veysi Ülke, Vorsitzender der Gesundheitsgewerkschaft SES 21. März Diyarbakir | Newrozfest 23. März Ankara | Deutsche Botschaft Öztürk Türkdogan, Vorsitzender IHD Ankara Erdem Gül, Chefredakteur der Cumhüriyet 24. März Rückflug über Istanbul nach Deutschland


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Tagebuch Dr. Gisela Penteker, Sara Krokemüller, Dr. Elke Schrage

Istanbul

Diyarbakir

11. März | VertreterInnen von IHD und HDP Am Flughafen bei der Einreise gab es keine Probleme. Am Sonntag trafen wir uns mit Yoleri Gülseren, einem Vorstandsmitglied des Menschenrechtsvereins IHD und mit Ali Ergün von der HDP, der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker. Sie berichteten von der Repression, der nicht nur sie persönlich und ihre Organisationen ausgesetzt seien, sondern alle, die eine andere als die Regierungsmeinung vertreten. Insbesondere wer sich offen gegen den Krieg im nordsyrischen Afrin äußere, müsse mit Haft und Verfolgung rechnen. Menschen würden denunziert, Telefone und Internet überwacht. 12. März | Gespräche in Sur

Es komme zu meist nächtlichen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Menschen könnten bis zu zwei Wochen in Gewahrsam genommen werden, ohne Kontakt zu Familie und Anwälten. Besonders in dieser Zeit komme es vermehrt zu Folter. Wenn bei der Haftprüfung die Freilassung angeordnet würde, sei sie mit der Auflage verbunden, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden. Oft zögen die Behörden den Pass ein. Während des immer wieder verlängerten Ausnahmezustands seien Versammlungen unter freiem Himmel und Presseerklärungen verboten. Die Möglichkeiten für MenschenrechtlerInnen und DemokratInnen, sich politisch zu äußern, seien sehr eingeschränkt. Trotzdem träfen sich z. B. die „Samstagsmütter“ in Galataserail regelmäßig mit den Bildern ihrer getöteten oder verschwundenen Angehörigen.

Bei herrlichem Frühlingswetter und Sonnenschein schien das Leben hier völlig normal und geschäftig zu verlaufen. Die Polizeiabsperrungen und gepanzerten Fahrzeuge, die es im letzten Jahr noch überall gab, waren weitgehend verschwunden. Auch in den westlichen Teilen der Altstadt pulsierte das Leben und Baumaßnahmen waren in Gang. Die östlichen, zerstörten Teile der Altstadt waren weiterhin abgesperrt, allerdings jetzt mit farbenprächtigen Plastikplanen, die Bilder des „neuen Sur“ zeigen. Die Geschäfte entlang der beiden großen Straßen bekommen einheitliche weiße Fassaden und helle Markisen, der große Basar neue Glasdächer.

Yoleri Gülseren sagte: „Wir versuchen, unsere Arbeit normal fortzuführen.“ Dabei sei die Situation in Istanbul und Ankara etwas offener. Auch in Diyarbakir gebe es noch geringe Spielräume. In Städten wie Cizre oder Sirnak sei Oppositions- und Menschenrechtsarbeit gar nicht möglich. Ali Ergün ist oft im Gefängnis gewesen, so unter anderem von 1996 bis 2006, hat aber immer für die Partei gearbeitet. Er sei als Schlichter bei Familienstreitigkeiten wie Blutrachefällen tätig, erzählt er uns. Die Partei habe eher einen Zuwachs an Mitgliedern. „Wenn zehn Mitglieder verhaftet werden, treten hundert neu ein.“ Mit den Mitgliedsbeiträgen finanzierten sie die soziale Arbeit, die für sie eine politische sei. 9


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Diyarbakir

Wir konnten mit dem Vorsitzenden des IHD, Raci Bilici, sprechen, der bei unserem Besuch im letzten Jahr gerade inhaftiert worden war, zusammen mit dem in Deutschland aufgewachsenen HDP-Abgeordneten Ziya Pir. Auch einige VertreterInnen der BDP trafen wir – der regionalen kurdischen Partei, deren gewählte BürgermeisterInnen und StadträtInnen 2015 von der Zentralregierung abgesetzt und durch staatliche Verwalter ersetzt worden sind. Viele von ihnen befinden sich in Haft. Die Arbeit hier sei schwierig und finde innerhalb privater Räume statt. Die Parteien besuchten ihre Mitglieder. Sie gingen in den Vierteln und Dörfern von Haus zu Haus, um für Newroz oder für die kommenden Wahlen zu werben. Dabei würden häufig Begleiter festgenommen. Die vielen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst führten überall zu Engpässen, besonders in den Schulen. Oft ist ein Lehrer für drei Klassen zuständig. Es komme häufig zu Unterrichtsausfällen. Auch in den Krankenhäusern gebe es Mangel, vor allem an Orten wie Cizre und Sirnak. In den Gerichten arbeiteten junge, unerfahrene Richter, die nicht einmal ihr Referendariat abgeleistet hätten. Ziya Pir berichtete, dass in Ankara zwar noch Parlamentssitzungen stattfänden, dass die Themen aber von der Regierung vorgegeben würden und sie als HDP-Abgeordnete kaum Möglichkeiten hätten, eigene Themen einzubringen oder positiv zu beraten. Nach den neuen Wahlgesetzen sollen die Wahllokale vieler kleiner Dörfer „aus Sicherheitsgründen“ in die nächste Stadt verlegt werden. Bei den letzten Wahlen und beim Referendum seien bewaffnete Polizisten in den Lokalen gewesen. Die HDP habe ihre Mitglieder zu den Auszählungen geschickt. Die seien aber oft erst in die Wahllokale gelassen worden, wenn die Stimmen bereits ausgezählt worden seien – zum Teil von den Polizisten. Das wichtigste Thema für alle, mit denen wir bis dahin gesprochen hatten, war der Krieg in Afrin. Unsere Gesprächspartner fühlten sich von Deutschland, Europa bzw. dem Westen im Stich gelassen. Die YPG, die „Kurdischen Selbstverteidigungskräfte in Syrien“, hätten für die Großmächte den IS bekämpft und die Kohlen aus dem Feuer geholt. Jetzt würden die Kurden, wie schon so oft, fallengelassen – wie es die irakischen Kurden nach dem ersten Golfkrieg in den 1980er Jahren mit den USA erlebt haben. 13. März | Diyarbakir, Sur Am Vormittag besuchten wir die wieder zugänglichen Gebiete der Altstadt Sur. Auf der Hauptstraße wirkte es wie normaler Alltag, aber schon nach wenigen Metern in den verzweigten, engen Nebenstraßen stießen wir auf hohe Absperrungen. Dahinter sahen wir die zerstörten Gebiete: leere Flächen und Bauschutt. Das historische vierfüßige Minarett, an dem Tahir Elci, der Präsident der Anwaltskammer, am 28. November 2015 bei einer Rede erschossen worden ist, war mit großen türkischen Fahnen behängt. 10


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rorismus vorgeworfen wird, wirst Du selbst behandelt wie ein Terrorist.“ Gegen ca. 65 der AnwältInnen dieser Kammer liefen aktuell Verfahren. Er berichtete, wie Pressekonferenzen von der Polizei blockiert, wie AnwältInnen schikaniert und kontrolliert würden. „Das ist alles psychischer Druck zur Abschreckung“, sagte er.

Die Stimmung hier schien gespalten: Während sich am Fuße des Minaretts lachend kleine Gruppen von Studierenden und SpaziergängerInnen fotografierten, war es für andere ein Ort stillen GedenTAH IR ELC I kens. Zu beiden Seiten der Straße sahen wir Häuser, denen die Fassade fehlte. In manchen war noch altes Mobiliar vorhanden. Je näher die Häuser an der Einkaufsstraße standen, desto neuer waren ihre weißen Fassaden, dahinter Werkstätten und Läden. Je näher wir den Absperrungen kamen, desto leerer und stiller wurden die Gassen.

Trotzdem würden weiterhin genügend AnwältInnen die Verteidigung von politisch verfolgten MandantInnen übernehmen. Ein großes Problem seien die türkeiweit 4.970 Entlassungen von RichteInnen und StaatsanwältInnen. Die eingestellten jungen und unerfahrenen Ersatzpersonen kämen frisch von den Universitäten und hätten kein Referendariat gemacht. Ihre Entscheidungen könnten daher oft gar nicht rechtsstaatlich sein. Angesprochen auf seine Prognose zur weiteren Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, war sich Özmen sicher: „Es wird wieder besser werden.“ Allerdings entferne sich die Türkei mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Verletzung der Organisationsfreiheit und anderen Dekreten deutlich von bereits erzielten Fortschritten und der EU. Auch die Gesellschaft werde wieder konservativer. Für ihn sei klar, dass die aktuelle Nostandsverordnung so negative Folgen für das gesamte Land habe, dass sie wieder zurückgenommen werden müsse.

Mitten im rußschwarzen Viertel der Schmiede und Schweißer stießen wir auf ein Innenhofcafé. Junge städtisch gekleidete Menschen saßen an kleinen Tischen ins Gespräch vertieft. Die Architektur und die schwarz-weißen Steine ließen die Schönheit der alten Höfe erahnen. Am Eingang zum Café führte eine Steintreppe in einen Gewölbeladen, wo kurdische Bücher und Kunsthandwerk angeboten wurden. Seit acht Jahren gibt es Café und Laden schon. Offensichtlich haben zumindest Teile der jungen, weltoffenen städtischen Szene überlebt, die vor dem Krieg hier im Entstehen war.

13. März | Anwaltskammer Diyarbakir

13. März | Ärztekammer Diyarbakir

„In den Ermittlungen um die Ermordung von Tahir Elci liegen keine neuen Erkenntnisse oder Beweise vor“, erläuterte uns Ahmet Özmen, der Präsident der Anwaltskammer. Eine Tonaufnahme des Schusswechsels sei aber zur Auswertung in ein englisches Labor geschickt worden. Die Anwaltskammer erhofft sich davon Klarheit darüber, mit welcher Waffe geschossen worden ist. Die wöchentliche Mahnwache für die Aufklärung des Todes von Tahir Elci sei die einzige öffentliche Protestaktion, die bisher nicht verboten worden sei. Özmen schilderte, wie durch immer neue Dekrete die Gesetzgebung ausgehebelt und die anwaltliche Arbeit erschwert werde. Dabei hob er besonders hervor, dass die anwaltliche Immunität aufgehoben worden sei. „Wenn Du jetzt jemanden vertrittst, dem Ter-

Der Empfang abends in der Ärztekammer war sehr herzlich. Dabei war auch Dr. Mahmut Ortakaya. Er ist der älteste Arzt in Diyarbakir und Gründungsmitglied der türkischen IPPNW-Sektion NÜSED. Wegen des Statements „Krieg schadet der öffentlichen Gesundheit“ wurde der gesamte Vorstand der türkischen Ärztekammer im Februar 2018 für mehrere Tage inhaftiert. Alle stehen nun unter Meldeund Residenzpflicht. Die Verfahren laufen. „In unserem Land ist es immer schwer, Arzt zu sein. Aber im Krieg ist es besonders schwer. Denn unser Beruf ist es, Menschen am Leben zu erhalten. Und das ist im Krieg nicht erwünscht.“ 3.500 ÄrztInnen und 8.500 Angestellte aus anderen Gesundheitsberufen seien lan11


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bakir. Demonstrationen, Fahnenhissen, das Verteilen von Flyern, Luftballons mit politischen Sprüchen oder Zeichen seien verboten. Immer wieder würden sie verhört: „Es wird uns sehr schwer gemacht. Menschen werden wegen einer SMS verhaftet.“

desweit aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Während dafür in einigen Gebieten viele neue regierungsnahe Kräfte eingestellt würden, sei das hier kaum der Fall. Die Versorgungslücke werde immer größer. Der Druck auf die Verbliebenen in den Gesundheitsberufen werde immer stärker. Die Situation der Entlassenen sei noch schlechter. Den meisten werde auch die Arbeit in Privatkliniken verboten. „Im Rentenregister gibt es eine Markierung neben Deinem Namen und dann bekommst Du keine Arbeit mehr.“ Viele seien traumatisiert, litten physisch und psychisch. Gezielte Traumabehandlung für ÄrztInnen gebe es nicht.

Trotzdem trafen wir die beiden kurz vor einer Aktion auf dem Markt, wo sie mit den Menschen sprechen und Flyer für Newroz verteilen wollten. Das Fest sei noch nicht genehmigt – bisher sei jeder Antrag abgelehnt worden. Aber sie hätten die Hoffnung auf ein großes Newrozfest in Mardin und in Nusaybin nicht aufgegeben. Die Feier zum 8. März, dem Weltfrauentag, sei auch verboten worden – das habe sie nicht daran gehindert, sich öffentlich zu versammeln. Von Beobachtung und Behinderung durch die Polizei hätten sich die Frauen nicht abschrecken lassen.

Auch hier wurden wir auf Afrin angesprochen: „Warum ist Europa so leise?“ In Afrin werde um die Menschenrechte Aller gekämpft. Das müsse Europa verstehen und sich einmischen.

Mardin

Zur Behinderung der politischen Arbeit komme hier große wirtschaftliche Not. In dieser ohnehin armen Gegend lebten kaum Binnenvertriebene, dafür an die 200.000 Geflüchtete aus Syrien. Um syrische Stimmen für die AKP zu gewinnen, hätten diese Vorrang bei den Arbeitsplätzen und erhielten jetzt auch die Staatsangehörigkeit im Schnellverfahren. Viele KurdInnen hingegen bekämen bei der Arbeitsvermittlung einen Mitgliedsantrag für die AKP vorgelegt. Unterschreiben oder arbeitslos bleiben, sei die Wahl. Die Motivation für die weitere politische Arbeit komme aus der Bevölkerung. Die HDP sei eine Bewegung, die sich den Repressionen zum Trotz immer wieder selbst erneuere. Die AKP dagegen sei nur funktionsfähig, solange sie Geld habe: „Sie kauft ihre Kraft.“

Nusaybin 14. März | VertreterInnen der HDP Mardin Wir fuhren im gemieteten Minibus an die syrische Grenze, sicherlich der kritischste Teil unserer Reise. Unser Vermittler in Deutschland hatte es nicht leicht, Gesprächspartner für uns zu finden. Treffen mit uns sind mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden. So waren es denn die kurdischen Parteien HDP und BDP, die sich dazu bereitfanden. In Mardin liegt das Parteibüro in einer Seitenstraße, in der Nähe des mit türkischen Fahnen behangenen Rathauses, in dem jetzt ein Zwangsverwalter residiert. Kaum hatten wir den Raum betreten, meldete sich einer der Aktivisten zu Wort: „Ihr seid aus Deutschland gekommen – was soll aus dem kurdischen Volk werden? Erst Kobane, jetzt Afrin. Wir haben uns auf Europa verlassen und sind im Stich gelassen worden!“

DIE GRENZE ZU SYRIEN Wir fuhren an der Grenze zu Syrien entlang, die hier mit der Bagdadbahn verläuft. Die zwei Meter hohe Betonmauer entlang der gesamten Grenze ist fertiggestellt. Davor liegt ein breiter, verminter Streifen Brachland und alle paar hundert Meter ein Wachturm oder ein aufgeschütteter Hügel, auf dem Panzer in Stellung gehen können. Auch hier residiert der Zwangsverwalter im verbarrikadierten Rat-

Im Gespräch mit dem arabischstämmigen Vorsitzenden der BDP Seymus Gökde und der kurdischen HDP-Vorsitzenden Eylem Amak merkten wir, dass die Lage hier noch angespannter ist als in Diyar12


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Männer müssten türkischen Militärdienst leisten und damit auch in Afrin oder an anderen Orten gegen Kurden in den Krieg ziehen. Der einzige Ausweg sei die Flucht nach Europa oder der Weg in die Berge zur PKK. Der Grenzübergang nach Qamischli (Syrien) ist geschlossen. Es gibt keine Kontakte mehr in die Nachbarstadt.

haus. Vor dem HDP-Büro stand ein Zivilpolizist, der uns alle gewissenhaft mit seinem Handy fotografierte. Es war der zweite Jahrestag der letzten Ausgangssperre. Deutlich war zu spüren, wie präsent die Geschehnisse immer noch waren. In der Eingangstür waren noch die Einschusslöcher zu sehen.

„Afrin ist nur der Anfang. Erdogan ist ein Despot, der die USA und die NATO auf die Probe stellt. Eure Regierung muss reagieren!“ und „Wir bestehen nicht auf einem eigenen Staat. Wir können als Kurden mit den Türken leben. Aber wir fordern gleiche Rechte.“ Wir hatten im Anschluss an das Gespräch einen Rundgang mit einer Aktivistin durch die zerstörten Stadtviertel geplant. Doch eine Polizeieskorte wartete bereits vor der Tür. Unser Fahrer war zu unseren weiteren Plänen befragt worden und riet uns, nur noch das alte Kloster Mor Jakob d‘Saleh und die Ausgrabungen von Nisibis zu besuchen – der ersten Universität der Welt – gegründet von den Aramäern um das Jahr 350 vor Christus. Zu unserem Schutz begleitete uns die Polizei. Nach einer umständlichen Passkontrolle fuhren wir nach Midyat in unser Hotel.

Midyat und Cizre

14. März | VertreterInnen der HDP Nusaybin Der Vorsitzende der HDP in Nusaybin erinnert daran, dass während der insgesamt viermonatigen Ausgangssperren 2015-16 in der Region 100 ZivilistInnen, vor allem Kinder und alte Menschen, von Scharfschützen ermordet und mindesten 150 weitere verletzt worden sind. 50 Prozent der Stadt seien komplett zerstört und 15.000 Menschen vertrieben worden. Bis heute seien die meisten Vertriebenen nicht zurückgekehrt, weil sie hier kein Zuhause mehr hätten. Dabei sei der Wiederaufbau in vollem Gange. 9.400 Wohneinheiten seien zerstört worden, 9.800 würden jetzt durch die Baufirma TOKI neu gebaut, die im Besitz der Erdoganfamilie sei. Die Besitzer der kaputten Häuser sollten unterschreiben, die PKK hätte ihr Eigentum zerstört. Mehr als die Hälfte verweigere diese Unterschrift und verlöre damit jeden Anspruch. Die Mieten für die neugebauten Wohnungen seien zudem für die Menschen hier unerschwinglich. Die Befürchtung sei, dass die Regierung das sehr wohl einkalkuliere und hier in dieser bisher zu 99 Prozent kurdischen Gegend Geflüchtete aus Syrien ansiedeln wolle, um die Hoheit über das Gebiet und die Politik zu erlangen.

JESIDENCAMP, MIDYAT 15. März | auf dem Weg nach Cizre Am Morgen sahen wir bei der Fahrt aus der Stadt auf dem Hügel über Midyat das Jesiden-Camp, in das auch die Jesiden aus Diyarbakir verlegt worden sind. Es liegt auf einem großen Militärgelände und wird von der türkischen Regierung betrieben. Die türkische Fahne weht darüber im Wind.

Auch in diesem Gespräch hörten wir Beispiele von politischer Verfolgung, aktuell insbesondere anlässlich von Äußerungen gegen den Krieg in Afrin. Der HDP-Vorsitzende sei wegen einer ablehnenden Äußerung zu Beginn des Krieges für zwei Wochen in Untersuchungshaft genommen worden. Die Situation sei jetzt kaum besser als zu Zeiten der Ausgangssperren Ende 2015/Anfang 2016. In der Kurdenfrage seien sie auf sich gestellt. „Die türkischen Linken und die Sozialdemokraten bieten der faschistischen Regierung da keine Opposition,“ meinen unsere Gesprächspartner. Die kurdischen jungen

Am Ortseingang von Cizre winkte uns der Kontrollposten durch. Vor dem Gebäude von HDP und BDP wartete aber bereits ein Polizeiauto. Durch das rote Tor betraten wir den Innenhof. Das Tor blieb demonstrativ weit geöffnet. Im Hof erwarteten uns mindestens 13 Aktivisten auf Plastikstühlen. 13


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Unser Kontaktmann lud uns ein, mit ihm nach Sirnak zu kommen und die zerstörte Stadt anzusehen. Im Bus erfuhren wir, dass der Fahrer intensiv zu unserer Gruppe befragt worden war und der Polizei unsere nächsten Ziele habe angeben müssen. Er hatte sichtlich Angst. Wir entschieden uns schweren Herzens, auf die Fahrt nach Sirnak zu verzichten und unseren Mann aus Sirnak noch ein Stück des Weges mitzunehmen. Nach einer erneuten Personenkontrolle mit intensiver Befragung konnten wir die Gegend verlassen. Am Abend hörten wir, dass auch unser Kontaktmann wieder gut zu Hause in Sirnak gelandet war.

Hasankeyf 15. März | Bei der HDP in Cizre Die Männer meldeten sich abwechselnd zu Wort. Alle wirkten sehr betroffen und angespannt. 10.000 AnhängerInnen der Partei seien inzwischen landesweit in Haft. Hier in Cizre hätten die Menschen Angst, zu ihnen ins Büro zu kommen. Das Leben möge uns vom Straßenbild her vielleicht normal vorkommen, das sei es aber nicht. Es gebe flächendeckende, strukturelle Arbeitslosigkeit, Industrie sei nicht vorhanden. Das früher florierende Transportwesen in den Irak sei am Ende. Im Bau beschäftige die auch hier weithin sichtbare TOKI nur teilweise örtliche Kräfte. Es gebe wenig Arbeit, und wer zur HDP oder BDP gehöre, habe erst recht keine Chance auf einen Job. Die Chancen stiegen für die, die zur AKP wechselten. Die meisten BewohnerInnen der Stadt lebten von Ackerbau und Viehzucht, seien auf Saisonarbeit in den Dörfern angewiesen. Da dabei die ganze Familie gebraucht werde, gingen Kinder und Jugendliche oft nicht zur Schule. „Die AKP will uns durch Hunger erziehen.“ In Cizre sind bei den Ausgangssperren 2015-16 drei Stadtviertel zerstört worden. Auch hier baut TOKI neue Häuser auf den alten Grundstücken. Im Unterschied zu anderen Orten bekämen die ursprünglichen Besitzer der Grundstücke hier aber eine Wohnung im Haus zugesprochen.

15. März | Hasankeyf Weil die Fahrt nach Sirnak entfiel, blieb uns noch Tageslicht für einen Abstecher nach Hasankeyf, der historischen Höhlenstadt, die nach dem Willen der Regierung in den Fluten des Ilisu-Staudamms versinken soll. Die Konservierungsarbeiten haben sichtbare Wunden geschlagen: Es hat Sprengungen gegeben und Ausbesserungen mit hässlichem Beton. Noch hat die Flutung nicht begonnen, aber die Schäden sind unwiderruflich. Im Zauberlicht der untergehenden Sonne aßen wir gegrillten Fisch aus dem Tigris und hingen unseren Gedanken nach.

Die meisten Türken zögen nicht freiwillig hierher. Sie kämen als PolizistInnen, Soldaten oder LehrerInnen in allen Bereichen, wo Kurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden seien. Die Frauen seien die Stärke des Widerstands und säßen genauso häufig wie die Männer im Gefängnis. Für viele Frauen auf der Welt könnten sie ein Vorbild sein. Der Krieg in Afrin ist auch hier ein zentrales Anliegen. Mit Schmerz und spürbarer Frustration machte sich einer der Anwesenden Luft: „Unsere Kinder sterben in Afrin. Was für ein Leben haben wir hier?“ Ein anderer Mann verdeutlichte: Der Druck der Regierung befördere eine Radikalisierung. Immer mehr Menschen, Junge und Alte griffen wieder zu den Waffen und schlössen sich der PKK an. 14


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DERSIM/TUNCELI

NUSAYBIN, MOR JAKUB

DAS ANTIKE HASANKEYF 15


TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Diyarbakir

Die staatliche Überwachung setze schon früh ein: Nach Abschluss des Studiums müssten alle AbsolventInnen eine Anhörung, eine Art Gesinnungsprüfung hinter sich bringen. Wer in dieser Anhörung säße, wisse man vorher nicht. Wer durchfalle, habe keine Chance mehr auf einen Job. Offiziell würden keine Erklärungen gegeben, aber aus den Entscheidungen werde deutlich, dass es ausreicht, wenn in der Familie jemand „auffällig“ geworden ist. Von einer Sippenhaftung in der Türkei hatten wir bisher nur bei AnhängerInnen der Gülen-Bewegung gehört. Das scheint sich verändert zu haben. Zusätzlich könne auch eine bereits bestandene Facharztanerkennung – auch Jahre später – wieder entzogen werden. Proteste gegen die Regierung seien selten geworden. Die SES habe seit Mai 2017 keine Erlaubnis mehr für eine öffentliche Kundgebung bekommen. Am stärksten wirke aber die Einschüchterung durch das neue Gesetz, dass Polizisten, die nach eigenem Ermessen Demonstranten erschießen, straffrei bleiben sollen. Die Angst, erschossen zu werden, halte die Leute zu Hause. Angst und wirtschaftliche Not treibe die Mitglieder aus der Gewerkschaft.

Präsident Erdogan auf Tour durch die Osttürkei: Große Plakate mit seinem glatt retuschiertem Konterfei kündigten seinen Besuch in Diyarbakir für den 17. März an. Lange Wimpelketten wurden über die Straßen gehängt, Bürgersteige und Straßen geschrubbt. Wie waren gespannt, was am nächsten Tag passieren würde.

Die SES hatte 2015 in Diyarbakir 4.700 Mitglieder, jetzt seien es noch 2.800. MitarbeiterInnen privater Kliniken sei die gewerkschaftliche Organisation verboten. Dabei seien die Mitgliedsbeiträge wichtig, um den Entlassenen ein Unterstützungsgeld zu zahlen. Zu Beginn seien das für ein Jahr 1.500 Türkische Lira im Monat gewesen. Als absehbar geworden sei, dass weniger Geld in der Gewerkschaftskasse landen würde, sei der Betrag auf monatlich 750 Türkische Lira gekürzt worden, die ohne eine Garantie gezahlt werden, solange Geld vorhanden ist. Auch dafür müssten sie bereits auf private Spenden zurückgreifen. Diese Unterstützung müsse auch für Rücklagen und medizinische Versorgung ausreichen, denn wer entlassen werde, falle aus der Kranken- und Rentenversicherung. Die schlechte Versorgungslage für die PatientInnen in den staatlichen Kliniken, in denen es überall an Personal mangele, und durch die hoffnungslos überlasteten FamilienärztInnen bezeichneten die VertreterInnen der SES als Absicht. Eine sich stetig verschlechternde Grundversorgung und Vorsorge münde in einem höheren Krankenstand und häufigeren Notfällen, die dann in Kliniken behandelt werden müssten. In diesen gebe es für die ÄrztInnen Prämien pro behandelter Person. In den privaten Kliniken sei das System ähnlich. Außerdem zahlten in den staatlichen Kliniken die PatientInnen über die versteckten Medikamentenaufschläge fünf Prozent der Behandlungskosten zurück in den Staatshaushalt. „Es gibt kein staatliches Interesse an guter Grundversorgung oder Impfungen. Notfälle werden produziert, damit in den Kliniken Geld verdient werden kann. Das ist betriebswirtschaftliches Kalkül.“

16. März | Gesundheitsgewerkschaft SES Das Polizeiaufgebot vor dem Büro der SES galt nicht uns. Parallel zu unserem Treffen fand eine Pressekonferenz statt. Wir waren froh, dass unsere Ankunft vielleicht als Teilnahme gewertet würde. Die Abschreckung durch die Polizei wirkte: Nur ein paar bereits entlassene JournalistInnen waren gekommen, die über private soziale Medien arbeiten. Die meisten GewerkschafterInnen sind entlassen worden. Wegen des faktischen Berufsverbots und der Markierung der Entlassenen im Rentenregister könnten sich die KurdInnen nicht gegenseitig in ihren Praxen anstellen, da jedeR Angst hat, eineN der Entlassenen zu beschäftigen. 16


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lichen Ansatz: „Wir arbeiten für die Frauen – nach ihren Bedürfnissen.“ Seval berichtete, dass Frauen oft aus den regierungseigenen Frauenhäusern wegliefen und zu ihnen kämen. Die Regierungsmitarbeiterinnen verträten den Ansatz: „Er ist dein Mann – er kann dich lieben – er kann dich schlagen“ und drängten oft auf eine Rückkehr der Frauen in ihre Familien. Es gebe zwar kein Gesetz, das den Männern Gewalt gegen Frauen erlaube, aber eben auch keines, das sie ihnen verbiete. „Wenn die Frauen dann in die Familie zurückgehen, kommen sie meistens tot wieder heraus.“

Zum Ende des Gesprächs zog die SES-Vertreterin Vergleiche zum Faschismus in Europa. Die Verbrennung von Menschen in den Kellern von Cizre, das seien Nazi-Methoden: „Der Faschismus hier wird aus Europa genährt. Dass hier ein islamischer Staat entsteht, ist im europäischen Interesse“, meint sie. Sie setze keinerlei Hoffnung mehr in das politische System Europa. Aber dass die Menschen in Europa für Afrin auf die Straße gegangen seien, das habe ihnen Mut gemacht.

Eine verstärkte Islamisierung gebe es in der Gesellschaft noch nicht. Noch habe die kurdische Frauenbewegung hier die Oberhand. Am 8. März, dem Weltfrauentag seien sie trotz Repression, ID-Behandlung und Beobachtung in großer Zahl auf die Straße gegangen: „Das ist psychologischer Druck – dagegen müssen wir uns wehren.“ Interessanterweise sei das Vorgehen der Polizistinnen gegen Frauen weitaus rabiater und erbarmungsloser als das ihrer männlichen Kollegen. Trotzdem sei die demonstrierte Stärke der kurdischen Frauen am Ende. „Wir können hier kaum noch etwas verändern. Wir brauchen Eure Hilfe. Seid unsere Stimme,“ baten uns die Frauen beim Abschied.

14. März | Kommunales Frauenzentrum Kardelen

Das Frauenzentrum im Stadtteil Baglar Kardelen ist das einzige noch offene kommunale Zentrum seiner Art in der Stadt. Zu verdanken ist das der gewählten Stadtteilbürgermeisterin der HDP, die sich als einzige nicht zu den bewaffneten Auseinandersetzungen in Sur geäußert hat. Sie ist weiter im Amt, wurde aber inzwischen aus der Partei ausgeschlossen. Die Koordinatorin des Zentrums beschrieb traurig, dass fast alle Angestellten entlassen seien und auch die übrigen um ihre Arbeitsplätze fürchteten. Es fänden keine Kurse mehr statt. Die staatliche Unterstützung sei komplett gestrichen worden. Der große Wandteppich im Flur sei nur noch eine Erinnerung an die früheren Aktivitäten. Das Zentrum habe trotzdem täglich geöffnet und fungiere als Anlaufpunkt für Frauen, die in das Frauenhaus aufgenommen werden wollen, das Kardelen weiterhin an einem geheimen Ort betreibe.

2013 WURDEN DIE DREI FRAUENRECHTLERINNEN DER PKK IN PARIS ERMORDET. Am Abend trafen wir eine langjährige Freundin in einem vegetarischen Restaurant. Das Ambiente in dem hellen, mit Holztischen und Stühlen eingerichteten Kellerlokal, war sehr angenehm. An den dunkelblauen Wänden hingen kleine Kunstwerke, das Publikum wirkte studentisch, akademisch, alternativ. Nach den Berichten, die wir am Tag gehört hatten und der Verzweiflung waren wir froh zu sehen, dass es anscheinend noch Freiräume gibt.

Eine Psychologin, eine Soziologin und mehrere Erzieherinnen unterstützten die zwölf Frauen und ihre Kinder, die dort aktuell lebten. Maximal zwölf Bewohnerinnen seien von der Regierung zugelassen, aber im Notfall werde keine Frau abgewiesen. Für das Frauenhaus gebe es noch staatliche Unterstützung. Bezahlt werde die Verpflegung sowie ein monatliches Taschengeld von 150 Türkischen Lira. Während die drei regierungseigenen Frauenhäuser in Diyarbakir mit den Familien der Frauen oder sogar mit deren Männern zusammenarbeiteten, habe Kardelen den auch in Deutschland üblichen partei17


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Da die zerstörten Bezirke von Sur nicht zugänglich waren, hatte man uns die innere Festung, die Iç Kale, als Aussichtspunkt auf die Altstadt empfohlen. Alte Gefängnisse, Museen und Kirchen sind dort in den letzten Jahren restauriert worden. Wo früher dicht gedrängt ärmliche Hütten entlang der Mauer standen und auch die Zugangsstraße wenig ausgebaut war, eröffnete sich jetzt eine einladende Parkanlage mit weitem Ausblick auf das Tigris-Tal und die HevselGärten, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Alle BesucherInnen mussten am Eingang eine Polizeikontrolle passieren. Die Steintreppen hinauf zur Stadtmauer waren durch Polizeigitter abgesperrt. Nach einem Rundgang durch die Festung sahen wir aber SpaziergängerInnen oben auf der Mauer und fanden eine Lücke in der Absperrung. Der Eindruck von Sur war niederschmetternd: soweit das Auge reichte, nichts als ein abgeräumtes Trümmerfeld. Auf weiter Strecke standen nicht einmal mehr die Grundmauern. Ein einsamer Kirchturm, den wir von früheren Fotos der Silhouette kennen, zwei kleine Stadtteilmoscheen und ein überwucherter kleiner Friedhof sind alles, was vom östlichen Teil Surs noch erhalten ist.

17. März | Diyarbakir

Kutlu yürüyüşe devam: „Setzen wir den gesegneten Marsch fort“ – unter diesem Slogan wollte Präsident Erdogan in Diyarbakir sprechen. Portraits, AKP-Wimpel und die massive Beflaggung an Einfahrtsstraßen und öffentlichen Gebäuden hingen schon seit ein paar Tagen. Oppositionelle Kundgebungen waren nicht erkennbar. Alles Kurdische war aus dem öffentlichen Raum verbannt. Alltag und Geschäftsleben machten einen ruhigen Eindruck. Die Straße vor unserem Hotel war blitzblank gefegt. Die Schuhputzer an der Ecke hatten ihre Stände ab- und Fernseher aufgebaut. Vor dem Hotel zog eine kleine Gruppe mit AKP-Fahnen vorbei. Kinderstimmen riefen aus der Nähe „Es lebe unser Führer Apo!“ – gemeint war Öcalan). Die AKPDemonstration reagierte nicht darauf. Die zentrale Kreuzung war für den Autoverkehr und die vielen Seitenstraßen sogar für FußgängerInnen gesperrt. Parkende PKW wurden abgeschleppt, Helikopter kreisten über der Stadt. Bei der Touristeninfo erfuhren wir, dass das Stadion, in dem der Präsident seine Rede halten werde, weit außerhalb der Altstadt liege. Die Polizeipräsenz und die Verkehrsbehinderungen im Zentrum waren als Machtdemonstration und Schikanierung der Bevölkerung zu verstehen.

17. März | „Tag der Mediziner“ Einmal jährlich begehen ÄrztInnen in der ganzen Türkei den „Tag der Mediziner“. Wir waren unterwegs zur Friedenspreisverleihung im Tagungshotel der Ärztekammer von Diyarbakir. Im Vorraum zum Saal trafen wir auf bekannte Gesichter aus der Ärztekammer, der Anwaltskammer, den Gewerkschaften und Parteien. Wir wurden herzlich begrüßt. Unsere Freunde betonten, dass dieses Kammertreffen dem Austausch mit den Gruppen der Zivilgesellschaft diene, auch, um sich gegenseitig Mut zu machen. Der festliche Saal war mit dem Logo der Kammer geschmückt, auf Kurdisch und mit dem alten Namen Diyarbakirs Amed. Nach der Begrüßung auf Türkisch und Kurdisch gab es drei Reden zur sozialen und politischen Situation in der Region um Mardin. Vor der Friedenspreisverleihung verdunkelte sich der Raum. Nach historischen Aufnahmen von schweren Gewalteinsätzen, Verhaftungen und Kriegsszenen, die es seit den 80er Jahren

ZERSTÖRTES SUR 18


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Danach erhielten RepräsentantInnen der zivilen Organisationen Friedensplaketten, darunter war auch unsere Gruppe. Wir durften mit unserem IPPNW-Banner aufs Podium. Zum Schluss wurde der Rechtsmediziner Prof. Dr. Ümit Bicer, der für Menschenrechte und gegen Folter kämpft, für sein Lebenswerk mit dem Friedenspreis 2018 geehrt. Er war erst vor kurzem aus der Haft entlassen worden.

in der Region gegeben hatte, folgten still die Porträts der bisherigen PreisträgerInnen seit 2001. Sie endeten mit der Physikerin und Schriftstellerin Asli Erdogan, der Preisträgerin von 2017, die wegen ihrer Mitarbeit bei der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem in Haft war. Das Anschauen dieses Films war ein Stück kollektive Trauerarbeit. Es fühlte sich an, als wären die Inhaftierten und Ermordeten anwesend. Zweimal wurde geklatscht, zuletzt beim Porträt von Tahir Elci, dem ermordeten Präsidenten der Anwaltskammer, der den Preis 2015 erhalten hatte. Anschließend wurden die AbsolventInnen der Facharztprüfungen geehrt.

Während des Abends gab es Nachrichten von der Bombardierung des Krankenhauses und der bevorstehenden Einnahme Afrins in Nordsyrien. Seymus Gökalp vom Vorstand der Ärztekammer erklärte uns, dass vom hiesigen Flughafen die Bomber nach Afrin starten und wie sehr das die Menschen hier belaste. Trotzdem wurde gut gegessen und gefeiert. Wir begriffen, dass dies mehr war als ein internes Kammertreffen. Hier konnte politische Arbeit geschehen, kein Blatt wurde vor den Mund genommen. Die Menschen begegneten sich herzlich und wertschätzend. Für uns war der Ort ein geschützter Raum, der uns Gelegenheit zum Luftholen gab.

ÄRZTEKAMMER DIYABAKIR, 17. MÄRZ 2018 19


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Dersim/Tunceli

worden seien, antworteten unsere Gesprächspartner lachend: „Die hören die Telefone ab und wissen, dass ihr hier seid. Die wissen auch, dass ihr in Deutschland über Euren Besuch hier berichtet.“ Die Bevölkerung sei täglichen Kontrollen ausgesetzt. Die Studierenden würden auf dem Weg zur Universität zweimal kontrolliert, einmal von der Uni und einmal von der Regierung. Dabei würden auch ihre Taschen durchsucht. Schon unbekannte Bücher könnten zu einem Tagesarrest führen.

CEM-HAUS IN DERSIM Die kurdische Stadt Dersim hatten die Türken nach den blutig niedergeschlagenen Aufständen der Aleviten 1938 in „Tunceli“ ( „eiserne Faust“) umbenannt. Den kurdischen Namen Dersim zu nennen, war lange Zeit verboten. Seit sechs Jahre sind wir nicht mehr in Dersim/Tunceli gewesen. Auf beiden Seiten der gut ausgebauten Gebirgsstraße befanden sich in Abständen von je 200 Metern massive neue Laternen mit unübersehbaren vogelkastenartigen Gehäusen für Überwachungskameras. Unser Fahrer berichtete, dass sie den abgelegenen Militärposten eine komplette Übersicht über die Zufahrtswege in die Stadt ermöglichen.

Der Vorsitzende berichtete von der großen Hoffnung auf Frieden vor den Wahlen im Juni 2015. „Es war beinahe alles geklärt. Aber Präsident Erdogan hat den Friedensprozess abgebrochen.“ Seitdem sei es immer schlimmer geworden. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 habe die HDP in Dersim/Tunceli 70 Prozent der Stimmen erhalten und damit zwei Parlamentsmandate. Die AKP habe die Regierungsbildung gezielt verhindert, um Neuwahlen ausrufen zu können. Unsere Gesprächspartner waren überzeugt, dass die AKP dann Stimmen gekauft hätte und mit der verstärkten Repression begann. Präsident Erdogan hatte damals schon öffentlich gedroht, dass er das Land mit Terror überziehen werde, falls er nicht in seinen Präsidialamtsbestrebungen und dem Antrag auf Verfassungsänderung unterstützt würde. Bei den Neuwahlen im November sei die HDP dann nur noch auf 60 Prozent der Stimmen gekommen und habe damit ein Parlamentsmandat verloren. Die Verhaftungswelle von 1.500 HDP-AnhängerInnen direkt im Anschluss an die Wahl sei aber von größerer Tragweite für die Menschen vor Ort gewesen. 250 seien immer noch in Haft. Die Co-Bürgermeister Edibe Sahin und Mehmet Alibul seien am 17. November 2016 zu je neun Jahren Haft verurteilt worden. Parteiarbeit sei kaum noch möglich. Die Stadt stehe unter Zwangsverwaltung.

Wir passierten die Straßenkontrollen, ohne angehalten zu werden. Neben dem neuen Unicampus erstreckten sich monotone Hochhausneubauten. Die belebte Altstadt liegt wie ein Adlernest über dem Munzurtal. Die Militärfestungen auf den umliegenden Bergspitzen wirken wie ein Belagerungsring. Auf dem Weg zum Hotel sahen wir, dass der Hof vor dem Rathaus durch hohe Zäune abgesperrt war. Dieser war bei unseren letzten Besuchen noch ein viel genutzter Versammlungsort. Damit ist ein wichtiger öffentlicher Raum verlorengegangen. 18. März | HDP Dersim

Das Gespräch verlief schleppend. Eine der jungen Frauen richtete unvermittelt direkte Worte an uns: „Es kommen oft Delegationen her, um Bericht zu erstatten – aber es ändert sich nichts. Ich glaube nicht daran, dass wirklich berichtet wird. Das, was dem kurdischen Volk passiert, passiert sonst niemandem. Und nichts ändert sich. Die Welt guckt weg, während man uns abschlachtet, nicht nur hier, auch in Syrien, im Iran und dem Irak. Wir senken unseren Kopf aber nicht, wir heben ihn!“ Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin schnappten sich die jungen Leute nach diesen Worten ihre Jacken, verabschiedeten sich und gingen. Wir blieben perplex zurück.

Im HDP-Büro empfing uns eine größere Gruppe von Menschen. Es waren überwiegend junge Leute. Der örtliche Parteivorsitzende erklärte: „Es gibt hier keine Zerstörung wie in Sur, aber das macht für uns keinen Unterschied.“ In den umliegenden Bergen gebe es tägliche Gefechte mit der Guerilla und Bombardierungen durch die Regierungstruppen. Er sprach von über 150 Toten in den letzten zwei Jahren, darunter viele ZivilistInnen. Auf unsere Frage, warum wir auf dem Weg in die Stadt nicht kontrolliert

Der Vorsitzende versuchte einen höflichen Abschluss des Gesprächs zu finden. Es sei genug geredet worden. Er appellierte an uns: „Wir lieben das deutsche Volk. Ihr seid unsere Freunde. Aber wir erwarten von den Deutschen, dass ihr die türkische Wirtschaft schwächt und straft, zum Beispiel indem ihr Urlaubsreisen in die Türkei boykottiert. Fahrt in Länder, in denen kein Krieg herrscht.“ Wir wurden von einem Aktivisten zum Hotel zurückgebracht. Er betonte noch einmal, Repression und Okkupation würden sie nicht hinnehmen. Der Kampf werde fortgeführt. Gleichzeitig seien hier alle zu 100 Prozent für den Frieden, auch die Menschen in den Bergen hätten genug vom Krieg. 20


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Diyarbakir

19. März | Anwaltskammer Dersim Am nächsten Tag bestätigte unser Gesprächspartner bei der Anwaltskammer die von der HDP genannten Zahlen der Toten und Verhafteten. Er ging sogar von 200 Todesopfern aus. Die Inhaftierten könne er aus eigenen Berechnungen sicher auf ca. 300 beziffern. Er und seine KollegInnen hätten zu viele Fälle zu bearbeiten, aber Kammermitglieder seien bis jetzt nicht festgenommen worden. Da AnwältInnen in ihren eigenen Büros arbeiteten, seien sie unabhängig und nicht von Berufsverboten betroffen. Vertretungsverbote, von denen wir in Istanbul gehört hatten, gebe es hier derzeit nicht.

20. März | Newroz in Diyarbakir

Seit unserer Ankunft wurde immer wieder betont, dass das politische Leben durch Ausnahmezustand, Berufsverbote, Inhaftierungen, Zwangsverwaltung, Dekrete und Überwachungsmaßnahmen vernichtet würde. Als öffentliche Aktion sei seit dem Putsch nur der internationale Frauentag gefeiert worden. Auf Newroz aber verzichte niemand – erlaubt oder nicht. Trotz der angestauten Wut signalisierten HDP und BDP, dass sie das Fest organisieren wollten.

DAS MUNZUR-TAL Beim Nacharbeiten unserer Reiseeindrücke verbrachten wir einen Vormittag in einem sonnenbeschienenen Teehaus über dem MunzurTal. Wir haben uns an diesem liberalen Ort auf Anhieb wohlgefühlt. Ein Straßenverkäufer bot die lokale HDP-Zeitung „Dersim Gazetesi“ an. Wir kamen mit Menschen ins Gespräch. Thema dabei war die besondere Situation der Aleviten: Alevitische Kurden machen in Dersim/ Tunceli 98 Prozent der Bevölkerung aus. Sunnitisch seien hauptsächlich die von auswärts kommenden Regierungsangestellten.

Als wir aus Dersim/Tunceli zurückkamen, hingen einige nüchterne Newrozplakate und Einladungsbanner in der Stadt. Das Fest war genehmigt, aber die Menschen bekamen nicht frei. Auf der Arbeit wurde kontrolliert, wer fehlte. Krankmeldungen wurden nicht akzeptiert, in den Schulen wurden Arbeiten und Prüfungen geschrieben. Am Morgen nahmen wir einen der Busse Richtung Festplatz. In früheren Jahren hatte die Stadtverwaltung diese Busse finanziert, jetzt mussten alle bezahlen. Im Bus trugen die Menschen Alltagskleidung. Erst kurz vor der Ankunft stiegen zwei Frauen mit Tüchern und Perlen in den kurdischen Farben ein. Der erste kurdische Trillerlaut kam von unserer Übersetzerin. Als wir mit den anderen in Richtung Kontrollgitter liefen, fühlten wir uns eher wie auf einer Demo als auf einem Fest. Nur ein einziger Stand verkaufte kurz vor der ersten Polizeikontrolle Blumenkränze und Bänder in Rot-GelbGrün. Die meisten wurden gleich wieder einkassiert. Uns wurden unsere Stricknadeln und Stifte abgenommen –„because of illegal activities“, den Menschen um uns herum Teegläser, Tücher, Fahnen und Bänder.

Ein Kellner berichtete, nach der Entlassungswelle gäben sunnitische ReligionslehrerInnen jetzt auch Mathematikunterricht. Das Niveau sinke entsetzlich. Für Aleviten sei der als „Werteunterricht“ bezeichnete Religionsunterricht an den Schulen nicht tragbar. Obwohl ausschließlich sunnitisch-islamisch geprägt, sei er für alle Kinder verpflichtend. Die erzwungene Islamisierung der Gesellschaft schreite fort. OberstufenschülerInnen aus entlegeneren Regionen müssten in Internaten beschult werden. Dort finde eine islamische Indoktrination statt. Wenn diese Jugendlichen dann als ausgebildete LehrerInnen in die Gesellschaft zurückkehrten, hätten sie sich von der alevitischen Liberalität, den Traditionen und Denkmustern entfernt. Über die zentrale Religionsbehörde Dianet würden sogar die Vorsteher der alevitischen Gebetshäuser (Cem-Häuser) vom türkischen Staat bestimmt. So auch im großen Cem-Haus in Dersim, das ein Teil unserer Gruppe besuchen konnte. Damit sei die alevitische Tradition besonders bedroht. 21


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Offensichtlich gab es einen Pool an klandestinen Ideen, wichtige Dinge an der Polizei vorbeizuschmuggeln. Auf dem Platz gab es HDP-Fahnen, wunderschöne Schmuckkleider, volle Picknickkörbe und Tücher in den kurdischen Farben, wenn auch weniger als in den letzten Jahren. Die AusländerInnen wurden separat von der Sicherheitspolizei gecheckt und einer doppelten Passkontrolle unterzogen. Als wir gegen elf Uhr ankamen, war der Platz nur locker gefüllt. Im hinteren Bereich saßen einige Familien beim Picknick zusammen. Es gab keine Imbiss- oder Getränkestände, auch keine Wasserverkäufer, trotz der Hitze. Nur Simit (Sesamkringel) und Gözleme (gefüllte Pfannkuchen) wurden aus Plastiktüten verkauft. In Richtung Bühne sammelten sich vor allem junge Menschen. Die große Bühne war weithin sichtbar und festlich geschmückt. Zur Rechten strahlte eine riesige Leinwand das Geschehen auf der Bühne aus. Zur Linken nahmen geladene Gäste auf einer überdachten Tribüne Platz. HDP- und BDP-Wimpel sowie lange Luftballonbänder überspannten strahlenförmig den Platz, die Ballons in den kurdischen Farben unterbrochen von Blau-lila, der Farbe der Frauen.

streckten sie Arme und Hände zum kurdischen Gruß in die Luft. Für uns wirkte das wie ein Ausdruck von Trauer und Betroffenheit, von Zusammenhalt und einer gemeinsamen, fast militärisch anmutenden Körperhaltung. Im Folgenden wechselten sich Reden und musikalische Beiträge ab. Leider verstanden wir kaum etwas vom Inhalt. Die Worte „Afrin“, „Kampf“ und „Freiheit“ schallten oft von der Bühne. Öcalan-Rufe kamen von vielen Jugendlichen aus der Menschenmenge. Junge Leute fanden sich im hinteren Teil des Platzes zusammen, banden sich Tücher und Fahnen um, drängten Slogans skandierend nach vorne und verteilten weitere Fahnen und Banner an Umstehende. Für einen Moment hatten wir Angst, es könnte es zu einer Eskalation kommen, sahen aber dann, wie die Jungen von den Älteren besänftigt wurden. Mit der Zeit und zunehmender Hitze wurde die Stimmung lockerer. Mehr Familien breiteten die Picknick-Decken aus, ältere Frauen setzten sich zum Stricken zusammen – die Rasenfläche um den Platz füllte sich weiter. Als wir uns am frühen Nachmittag zurückzogen, strömten noch einmal viele Menschen auf den Platz – wahrscheinlich die „zweite Schicht“, die direkt nach Arbeit und Schule das Fest besuchte. An den Kontrollpunkten arbeiteten noch immer Polizeikräfte daran, die Massen zu kontrollieren und zu schikanieren. Eine Freundin erzählte uns später von einem Video auf YouTube, in dem ein Polizist, nicht ahnend, dass er gefilmt wurde, resignierend zu seinem Kollegen sagte: „Egal was wir tun, sie kommen trotzdem!“ Das Newrozfest verlief friedlich. Nur am Rande gab es einige Verhaftungen. Wir konnten uns nur ausmalen, was unter dem großen Druck, der Wut, der Verzweiflung und Trauer, die wir in den letzten zwei Wochen mitbekommen hatten, passiert wäre, wenn nicht die beiden Parteien HDP und BDP das Fest organisiert hätten, wenn bei einem Verbot die Menschen der Stadt ihren Gefühlen und ihrem Aktionismus überlassen gewesen wären. 500.000 Besucher sollen es gewesen sein, trotz aller Behinderungen. 21. März | Serra Bucak, HDP

Wir hatten in Diyarbakir und Ankara vor unserer Abreise noch interessante Gespräche. Besonders das Treffen mit Serra Bucak war eine große Bereicherung. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, lebt mit ihrer Familie seit 2006 in Diyarbakir. Bis zu ihrer Entlassung im Rahmen der Zwangsverwaltung war sie als Mitglied der HDP im Stadtparlament. Mit anderen entlassenen Stadtbediensteten betreibt sie jetzt einen alternativen, privaten Kindergarten. Die Gruppe arbeitet mehr oder weniger ehrenamtlich und teilt sich die Beiträge der Eltern. Für die Kinder der aus Sur Vertriebenen bekommen sie u.a. Unterstützung von Medico Schweiz. So gebe es auch einige alternative private Schulen in der Stadt.

Im Zentrum des Platzes stand auf einem hohem Gestell die Feuerschale, in der nach der Eröffnungsrede das Newroz-Feuer entflammt wurde. Offensichtlich war es HDP und BDP trotz der späten Erlaubnis und aller Auflagen gelungen, eine Bühne und ein Programm für das Fest zu organisieren.

Natürlich seien sie immer von Schließung bedroht, aber sie wollten arbeiten, solange es geht. Das staatliche Schulsystem sei eine Katastrophe. Es werde alle zwei Jahre geändert und seit der Entlassung so vieler LehrerInnen sei es noch schlechter geworden. Neuerdings

Das Programm begann mit einer Schweigeminute für die Ermordeten der letzten Jahre und für die Menschen in Afrin. Stille legte sich über den Platz. Die Menschen verharrten bewegungslos. Dann 22


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ist es außerdem möglich, ab der fünften Klasse eine der Imam-Hatip-Schulen zu besuchen, die an immer mehr Orten eröffneten. Die SchülerInnen dieser privaten religiösen Schulen erreichten aber das Universitätsniveau nicht. Ihre Eltern müssten teure Nachhilfestunden bezahlen. Serras kleiner Sohn soll jetzt eingeschult werden. Sie macht sich große Sorgen, ihn dem staatlichen System auszuliefern. Eine Privatschule können sie sich nicht leisten. Es war nach all dem Schweren herzerfrischend und ermutigend, wie diese junge Frau und ihre Freunde versuchen, die Nischen zu nutzen, die ihnen bleiben, um die Reformierung der Gesellschaft im Stillen fortzusetzen.

23. März | Erdem Gül Erdem Gül, der Chefredakteur der Cumhüriyet, einer der wenigen oppositionellen Zeitungen, die der CHP nahesteht, berichtete von der schwierigen Arbeit und kleinen Spielräumen, die den Journalisten bleiben. Er erzählte uns auch von den laufenden Gerichtsverfahren gegen seine Kollegen und gegen ihn selbst.

Ankara

23. März | Deutsche Botschaft, Ankara In der deutschen Botschaft trafen wir auch in diesem Jahr auf interessierte Zuhörer. Einer von ihnen war vor kurzem nach zweieinhalb Jahren zum ersten Mal wieder im Südosten, hatte in Diyarbakir mit offiziellen Vertretern der Verwaltung und einigen Vertretern der Zivilgesellschaft gesprochen. Die Einblicke und diplomatischen Möglichkeiten der Botschaft seien allerdings sehr begrenzt. Die MitarbeiterInnen versuchten, Prozessbeobachtungen zu machen, könnten aber schon wegen der dünnen Personaldecke nicht viel tun. Sie ermutigten uns, unsere Arbeit fortzusetzen. Die große Ressource der Türkei sei ihre vielfältige und gut entwickelte Zivilgesellschaft, die es zu pflegen und über die schwierige Zeit zu bringen gelte. Dazu seien Begegnungen wie die mit uns hilfreich und notwendig.

23. März | IHD Ankara In Ankara trafen wir uns mit dem Vorsitzenden des IHD, Öztürk Türkdogan, einem erfahrenen Menschenrechtler, der die jetzige Situation mit Gelassenheit in eine lange Reihe schwieriger Zeiten einordnete und baldige Veränderungen zum Besseren kommen sah.

24. März | sicher zurück in Deutschland Unsere Gedanken sind bei den Menschen, die wir zurückgelassen und mit unserem Besuch vielleicht sogar in Gefahr gebracht haben. Am Tag vor dem Newrozfest wurden der Präsident der Ärztekammer in Diyarbakir und zwei leitende Mitglieder der Gesundheitsgewerkschaft SES verhaftet. Sie sind zwar wieder auf freiem Fuß, sehen sich aber mit einer weiteren Anklage und langwierigen Gerichtsverhandlungen konfrontiert. Zum Abschluss der Reise haben die TeilnehmerInnen einen Appell an die Bunderegierung formuliert. Sie finden ihn auf Seite 35. 23


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BERICHT 2018

Newroz in Diyarbakir

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

KORANSCHULE IN SUR – ERSATZ FÜR FRAUENZENTREN

Der steinige Weg der Zivilgesellschaft – Bildung als zentrales Element Johanna Adickes die Idee eines eigenen kurdischen Staates wieder
auf. Als der Erfolg ausblieb und die Unterdrückung zunahm, rief ihr Anführer Abdullah
Öcalan im August 1984 zum bewaffneten Kampf auf.

1920 war den Kurden nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches im
Vertrag von Sevres Autonomie für Nord- und Südkurdistan (heute in der Türkei und im Irak gelegen) mit der Möglichkeit einer späteren Vereinigung der beiden Teile zugesagt worden. Dieser Vertrag wurde nie umgesetzt. Stattdessen
entstanden durch die koloniale Aufteilung der Westmächte die Nationalstaaten Türkei,
Iran, Irak und Syrien. Im Friedensvertag von Lausanne vom 14. Juli 1923 war dann von Autonomie
keine Rede mehr. Nur die Grundrechte auf die eigene Muttersprache und auf politische
Betätigung ohne ethnische oder religiöse Einschränkung wurden den Kurden garantiert.

Es folgten bis 2013 fast 30 Jahre Krieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK,
mit Verhaftungen – auch der Öcalans – mit Folterungen, Vertreibungen und
der Zerstörung von Dörfern. 50.000 Menschen starben auf kurdischer Seite, auf türkischer Seite gab es tausende getötete
Soldaten und ZivilistInnen. Die Einsicht, dass das Problem nicht mit Waffengewalt zu lösen sei, führte schließlich ab
2008, verstärkt ab 2011, zu Gesprächen und 2013 zu Verhandlungen über die Einleitung eines
Friedensprozesses mit dem auf der
Insel Imrali in Isolationshaft sitzenden Öcalan. Die Lösung der Kurdenfrage sollte Teil eines allgemeinen
Demokratisierungsprozesses in der Türkei sein. Die Forderung nach einem eigen Staat
hatten die Kurden bereits 1993 aufgegeben. Es ging nun um die „demokratische
Autonomie“ innerhalb der Türkei. Der Friedensprozess hatte keine Chance – Präsident Erdogan nutzte
ihn für die Verwirklichung seiner eigenen Ziele, die Schaffung eines Präsidialsystems.

Zwei Jahre später kam es in der Türkei zu ersten Aufständen der Kurden, weil ihnen diese
elementaren Rechte vorenthalten wurden. Die
kemalistische Regierung setzte alles daran, sie zu assimilieren, und machte sie zu „Bergtürken“.
 Von den vielen oft blutigen Auseinandersetzungen in den Folgejahren ist besonders der
große Aufstand von Dersim im Bewusstsein der Kurden/Aleviten verankert, der 1938 niedergeschlagen worden war. Zwischen 40.000 und 50.000 Menschen
wurden allein in Dersim ermordet. Insgesamt starben bei den Aufständen in den Jahren
von 1925 bis 1938 ca. 1,5 Millionen Kurden. Ebensoviele wurden aus dem traditionellen
Siedlungsgebiet in den Westen der Türkei zwangsdeportiert (Informationen zum Deportationsgesetz von
1934 finden sich bei Ismail Küpeli, s.u.)

Wahlergebnisse wurden für ungültig erklärt, die Verfassung
geändert, schließlich der Ausnahmezustand verhängt. Welche Perspektiven gibt es? Parallel zur Organisation in Parteien, die zwar immer wieder verboten, aber unter anderen Namen neu gegründet wurden, organisierten
sich die Menschen seit vielen Jahren in Vereinen, Berufsverbänden, Gewerkschaften und
losen Interessengruppen, um an Lösungen der bestehenden Probleme zu arbeiten.

Den Freiheitswillen der Kurden konnten die repressiven Maßnahmen des Staates jedoch
bis heute nicht brechen. Nach Phasen der Lähmung organisierten sie sich in den 1960er Jahren neu und 
gründeten verschiedene Parteien. Nicht wenige fanden in der PKK, der „Arbeiterpartei Kurdistans“, ihre Interessen vertreten. Diese forderte soziale und politische
Gleichberechtigung. Darüber hinaus griff sie

Die jahrzehntelange Unterdrückung, Entrechtung und Gewalterfahrung hatte die
Menschen in den kurdischen Gebieten politisiert, ins26


BERICHT 2018

besondere die Frauen. Sie hatten die
Versorgung der Großfamilien in die Hand genommen, wenn die Männer getötet oder
inhaftiert worden waren, und sich als direkt Betroffene organisiert. Die Erfahrung auch internationaler Solidarität stärkte das Bewusstsein, gemeinsam etwas
erreichen zu können. Der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft konnte nur gemeinsam
gelingen, bedingte eine gleichberechtigte Teilnahme der Frauen am politischen Prozess,
dem mit der Etablierung der Doppelspitze in allen Bereichen Rechnung getragen wurde. ten zu sprechen, tragen stattdessen ihre
dringenden Probleme vor. Stadtteilvertreter verteilen trotz Verbot Grundnahrungsmittel an die notleidende Bevölkerung in den belagerten
Gebieten. Mediziner negieren Behandlungsverbote, folgen ihrem Eid. Andere widersetzen sich den Anordnungen und holen Leichname aus den
verbotenen Zonen, um sie bestatten zu können. Feuerwehrleute missachten Befehle der Sicherheitskräfte und löschen Brände. Die Kampagne „Öffnet eure Herzen und Türen“ ermöglichte den aus den Städten
Vertriebenen die Aufnahme bei Familien in benachbarten Orten und verhinderte
damit die Abwanderung wie in den 1970er Jahren. JournalistInnen recherchieren selbst, statt die
propagierte Regierungsversion zu übernehmen. Einige verweigern oder entziehen sich dem Militärdienst.

Wie sehr die Frauen geschätzt werden, wurde in Cizre deutlich. „Ich kann euch sagen: Die, die hier standhalten, sind die Frauen. Sie haben gezeigt, wie man Widerstand leistet. Es
sitzen genauso viele Frauen im Gefängnis wie Männer. Es gibt keinen Präsidenten – stattdessen überall Doppelspitzen. Die kurdischen Frauen können ein Beispiel für viele sein. Darum
sagen wir ja, dass wir Veränderungspotential haben. Die größten Schmerzen, die wir erleiden, ertragen die Frauen,“ war die Antwort eines Mannes im HDP-Büro auf unsere
Frage nach den Frauen. Die Kurden kämpften weiter für eine Parlamentsbeteiligung, die sie bei der
Wahl am 7. Juni 2015 mit 13,1 Prozent erreichten. Die Möglichkeit, erstmals bei
parlamentarischen Entscheidungen mitwirken zu können, wurde von der Regierung mit
der Aufkündigung des Friedensprozesses, Annullierung der Wahl und mit Bombardements,
zunächst in Syrien und im Irak, dann in der Region Sirnak und anderen Provinzen
beantwortet. Daraufhin erklärten verschiedene kurdische Städte am 10. August 2015 ihre
Autonomie und organisierten die Selbstverwaltung.

Eine andere Form des gestaltenden Eingreifens ist, sich Bewegungen anzuschließen oder in
Projekten wie dem Tahir-Elci-Waldprojekt mitzuarbeiten: Seit 2015 hat das Militär in der Provinz Diyarbakir oft große Wälder in Brand gesetzt.
Soldaten hinderten die Feuerwehr und die Zivilbevölkerung daran, die Brände zu löschen.
Auch die kommunale Verwaltung durfte nicht eingreifen. Offensichtlich sollten die
umliegenden Dörfer entvölkert werden, damit nordwestlich der Stadt eine Militärbasis aufgebaut werden kann. Verschiedene
Gruppen haben sich zusammengetan und rufen international dazu auf, Bäume zu pflanzen, damit in den zerstörten Gebieten ein Stadtwald für alle entsteht. Durch diese Projektarbeit entstehen nicht nur neue
selbstverwaltete zivile Strukturen, sondern auch ein ökologisches Bewusstsein. Ähnliche
Projekte gibt es auch im nordsyrischen Kanton Cizire.

Ermutigt worden waren sie durch das
Beispiel der nordsyrischen Stadt Kobane in Rojava. Mit diesem Schritt setzte die kurdische Gesellschaft ein starkes Zeichen gegen die
Entrechtung und Fremdbestimmung. Sie realisierte ein demokratisches Gegenmodell zum
angestrebten Präsidialsystem. Die Menschen wollten Subjekt basisdemokratischer Entscheidungen sein. Präsident Erdogan fürchtete die Vorherrschaft über die 1,5 Millionen Kurden und
die Kontrolle über die Region im Südosten zu verlieren und reagierte mit rechtswidrigen Ausgangssperren, Vertreibungen, mit der Bombardierung der kurdischen Städte, der Verhängung von Ausnahmezuständen und der Zwangsverwaltung der kurdischen Bezirke.

Ein weiteres Projekt betrifft den Erziehungs- und Bildungsbereich. In Diyarbakir hatte der
Stadtrat im Stadtteil Baglar 2016 einen Kindergarten mit kurdischer Sprache gegründet.
Nach der letzten Wahl wurde allen Mitarbeitern gekündigt. Seit April 2017 wird der
Kindergarten als ein selbstorganisiertes Projekt von Ehrenamtlichen weitergeführt,
berichtetete eine der entlassenen PädagogInnen. Zur Zeit werden dort Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren betreut. In fünf bis sechs altersgerechten Kleingruppen wird nach dem Konzept „Eine andere Schule ist möglich“
gearbeitet. Dieses Konzept gibt es seit 15 Jahren. Kinder aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, unterschiedlicher Ethnie und Religion
werden gemeinsam zu selbständigem Handeln und gegenseitigem Respekt angeleitet. Alles
geschieht in der Hauptsache in kurdischer Sprache, aber es wird auch Türkisch und Englisch
gesprochen.

Welcher Weg bleibt den Kurden im Jahr 2018 nach Absetzung der gewählten
BürgermeisterInnen und Entlassung von 120.000 Personen aus dem öffentlichen Dienst, Inhaftierung von Parteivorsitzenden und -mitgliedern, der Gleichschaltung der Presse, dem Demonstrationsverbot und dem Verbot bzw. der
Schließung von mehr als 1.300 Vereinen? Welcher Weg bleibt der Zivilgesellschaft in der Türkei insgesamt? Seit den Gezi-Protesten im Mai 2013 ist deutlich geworden, dass Millionen von Menschen nicht mit der Politik
der AKP einverstanden sind. Hier entstand auch eine neue Kultur des zivilen
Protestes jenseits der etablierten Parteien.

Finanziert wird das Projekt durch Beiträge der Eltern und durch Spenden, z. B. von Medico
International Schweiz, das zehn Kindern aus dem zerstörten Stadtteil Sur die kostenlose
Teilnahme ermöglicht. Zwei- bis dreimal im Jahr nehmen Eltern und ErzieherInnen an Weiterbildungsmaßnahmen mit 
PädagogInnen und PsychologInnen teil. Im Sommer soll ein Kulturprojekt folgen, für das Gelder beim Goethe-Institut beantragt
wurden. Es ist den MitarbeiterInnen wichtig, öffentlich wahrgenommen zu werden, und sich nicht aus
Angst vor

Die Kraft der Menschen liegt in ihrem Widerstandsgeist, der
erworbenen Handlungsfähigkeit und ihrer Solidarität untereinander. Mit viel Mut und
Phantasie werden immer neue Formen des Ungehorsams praktiziert. Beispiele
dafür: Die Co-Bürgermeisterin von Cizre, Leyla Imret, setzt ihre Arbeit fort und übt ihre repräsentative
Funktion trotz Entlassung aus. HDP-Abgeordnete weigern sich im Parlament während der knapp bemessenen
Redezeit zu den vorgegebenen Punk27


ZAHL DER ENTLASSENEN AKADEMIKER/INNEN IN DEN EINZELNEN PROVINZEN, JULI 2018

Quelle: Academics for Human Rights, www.tihvakademi.org/english-2 Repressalien zu verstecken. Für viele Eltern sind solche und ähnliche Projekte eine Alternative zu den teuren
Privatschulen und den staatlichen Schulen, in denen zunehmend eine konservative
Ausrichtung von Erziehung und Bildung besteht. Insgesamt hat sich das Bildungssystem seit Einführung des „Vier plus vier plus vier“-Systems“ 2013
negativ entwickelt. Nach vier Jahren Grundschule sollen vier Jahre Mittelschule und vier
Jahre Oberschule folgen. Die Schulpflicht von acht Jahren wird faktisch nicht durchgesetzt, da es auf dem Land oft kaum Schulen gibt. Die religiös geprägten Imam-Hatip-Schulen, die immer stärker eingeführt werden, existieren hauptsächlich in städtischen Regionen. Im Grunde sind sie eine Art Berufsschule für Imame. Nach der zwölften Klasse soll ein Wechsel an die Universität erfolgen. Während der Ausgangssperren brach in vielen kurdischen Regionen das Schulwesen
weitgehend zusammen, Lehrkräfte wurden abgezogen und viele Schulen zu Militär- und
Polizeistationen umfunktioniert oder durch Beschuss stark beschädigt. Seit dem Putschversuch und der Verhängung des Ausnahmezustandes sind tausende von
LehrerInnen entlassen worden. Ihnen wurde die Lehrerlaubnis entzogen, so dass sie – aus
Angst vor einer Schließung – nicht einmal von Privatschulen angestellt werden. Sie halten sich
notdürftig mit Nachhilfeunterricht über Wasser. In den Schulen wurden in Folge des entstandenen LehrerInnenmangels Klassen zusammengelegt. Jetzt unterrichten junge, unerfahrene LehrerInnen, mit der „richtigen“ politischen und religiösen
Einstellung. Als Folge des veränderten
Lehrplans hin zu einer konservativ-religiösen Ausrichtung benötigen die SchülerInnen
Nachhilfeunterricht, wenn sie die Aufnahmeprüfung an einer Universität bestehen wollen, besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern. Hinzu kommt eine
starke Diskriminierung der Binnenvertriebenen an den Schulen. Viele Kinder wollen deshalb nicht zur
Schule und gehen arbeiten. Wie kann eine Diktatur unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes überwunden
werden? Wie schaffen es verängstigte Menschen, Neues zu denken? Wie kann eine
einseitig ausgebildete junge Generation alternative Modelle des Zusammenlebens
entwickeln? Bedarf es nicht einer gewissen Gleichzeitigkeit, d. h. des Ausprobierens von
Ideen und alternativen Formen sowie der Praxis gewaltfreier Strukturen? Die Gefahr, dass das Unrechtsystem das entstandene Vakuum zur
Restauration des Alten mit nur geringfügigen Veränderungen genutzt wird, ist groß und hat
in der Geschichte viele Beispiele. Die im Südosten der Türkei entstehenden kleinen selbstorganisierten und selbstverwalteten
Projekte sowie die mutige Weiterarbeit in noch nicht verbotenen Vereinen sind wichtige
Elemente einer zu-

künftigen zivilen Gesellschaft, in der Frauen und Männer unterschiedlicher
Herkunft, Ethnie und Religion gleichberechtigt die Zukunft gestalten können. Diese zu
unterstützen ist dringend geboten. 2014, als der Friedensprozess noch im Gange war, sagte Emrullah Cin, der Bürgermeister von Viransehir, in einem unserer Gespräche: „Wir hoffen, dass hier überall
lokale Strukturen entstehen. Vielleicht eines Tages in der ganzen Welt. Wir wissen, dass die
Gründe für Kriege in Europa die Nationalstaaten waren. Durchlässige Grenzen gehören zum Friedensprozess.“ Ein solches Denken steht den Kategorien von zentralistischen
Nationalstaaten diametral entgegen. Daher wurde die Selbstverwaltung in den kurdischen
Städten zerstört und Afrin angegriffen. Das nordsyrische Rojava konnte sich 2015 behaupten und gilt weiterhin
als Modell für viele, die nach Alternativen suchen, nach dem Motto: „Eine andere Welt ist möglich“. Zudem entspricht es den historischen Erfahrungen in der Region.
Jahrhundertelang lebten unterschiedliche Gruppen – als Stammeskonföderationen organisiert – innerhalb eines Staates zusammen. Es ist eine Frage der Zeit, wie lange die jungen Menschen die Kraft zum
friedlichen Widerstand aufbringen, angesichts der alltäglichen Gewalt, der zunehmenden
Perspektivlosigkeit und des Schweigens Europas. Noch gibt es Stimmen wie diese: „Wir
leisten seit 40 Jahren Widerstand. Den kann man nicht einfach zurückdrängen. Höchstens ein
bisschen wegnehmen, die Leute ein wenig kleiner machen.“ Zu befürchten ist, dass viele junge Menschen den Weg des gewaltlosen Widerstandes aufgeben oder aber versuchen, das Land in Richtung Europa zu verlassen. „Mit meinem individuellen Aufstand gegen die Ausweglosigkeit, in die ich geboren wurde,
gegen Ignoranz und Knechtschaft (...) wollte ich ein Bewusstsein, ein Denken, einen Geist
gegen jede Art von Zwang schaffen. Heute sehe ich, wieweit dieser Aufschrei geführt hat“,
schrieb Abdullah Öcalan am 21. März 2013 in seiner Rede zum Newroz-Fest aus dem Gefängnis
heraus. „Die Suche nach einem Modell, das das freie und geschwisterliche
Zusammenleben aller zulässt, ist zu einem so dringenden Bedürfnis wie Brot und Wasser
geworden.“ Es darf kein Verbrechen sein, KurdIn zu sein und selbstbestimmt leben zu wollen. Quellen: Fikret Aslan/Kemal Bozay u. a. : Graue Wölfe heulen wieder (1997) Connection e.V. (Hrsg) : Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei Ismail Küpeli: Die kurdischen Aufstände in der Türkei der 1920er und 1930er Jahre Frühere Delegationsreiseberichte unter: issuu.com/ippnw 28


BERICHT 2018

STARKE POLIZEIPRÄSENZ AUF UNSERER FAHRT DURCH CIZRE

Land unter Besatzung Sigrid Ebritsch Wir erleben ein Land im gesellschaftlichen Wandel. Die AKP hat eine Gesellschaft geschaf fen, in der Angst und Unterdrückung
vorherrschen, wo nicht kritisch nachgefragt werden darf. In dieser
Gesellschaft wird die kurdische Identität unterdrückt. Schon jetzt wird weniger Kurdisch gesprochen. Was macht das mit den Menschen, die ihre Stimme nicht mehr erheben dürfen?
Können sie die Hoffnung auf bessere
Zeiten bewahren? Vor allem im Osten der Türkei ist die Überwachung total, sowohl im öffentlichen Raum als auch in den Medien. Öffentliche
Gebäude sind durch umfangreiche Polizei- und Militärposten gesichert. Die Ein- und
Ausfahrten von Ortschaften können wir unter intensiver Kontrolle passieren. Einige unserer früheren Gesprächspartner Innen sind in Haft oder müssen immer damit
rechnen, verurteilt zu werden. Andere sind aus ihren Ämtern und
Diensten entlassen worden. Missliebige StudentInnen finden nach Ende ihres
Studiums keine Arbeit. Die Entlassenen
werden oft krank oder depressiv. Wieder andere emigirieren. Sie hinterlassen Lücken. Ihr Gehen macht den anderen das Bleiben schwerer.

Die MitarbeiterInnen des Menschenrechtsvereins IHD beklagen, dass Menschen vermehrt aus Angst Besuche
beim Menschenrechtsverein meiden, und sich als freiwillige HelferInnen abmelden.
Die große Gesundheitsgewerkschaft SES verzeichnet einen starken
Mitgliederschwund. Viele treten aus aus Angst, ihre Arbeit zu verlieren. Vor allem in Gegenden, in denen strukturelle Arbeitslosigkeit
herrscht, wechseln einige aus wirtschaftlicher Not zur AKP. Sie versuchen, ihre Familien so gut es geht über Wasser zu halten. Als HDP-
oder BDP-Mitglied ist man bei der Arbeitsvergabe chancenlos. Nicht selten hören wir von unseren GesprächspartnerInnen: „Wir leben hier in einem
großen Gefängnis. Ihr seid unsere Stimme
nach draußen.“ Bei aller Hoffnungslosigkeit erleben wir, dass der Gruppenzusammenhalt
den Einzelnen Kraft gibt, weiterzumachen. Wir treffen auch Menschen, die die kleinen Freiräume nutzen und alternative Projekte umsetzen. Auch wenn diese immer von der Schließung bedroht sind, heißt es immer: „Wir wollen weiterarbeiten und versuchen unser Bestes –
solange es geht.“ Auch das Newroz-Fest muss gefeiert werden – ob erlaubt oder nicht. Da waren
sich unsere Gesprächspartner einig. 29

Sie sollen schweigen Richter, die Recht sprechen Journalisten, die nachfragen Ärzte, die mit ihren Patienten Kurdisch reden Frauen, die sich gegen Gewalt auflehnen Frauen, weil sie Kurdinnen sind Menschen, die den Krieg in Afrin ablehnen, die sich für Frieden einsetzen Ärzte, die sich in der Gewerkschaft engagieren Der alte Mann an der Absperrung, der uns über die Vertreibung aus Sur berichtet Politiker, die abweichende Meinungen vertreten Lehrer, die der Gülen-Bewegung angehören Aleviten, die in den Gebetshäusern bespitzelt werden Ihr Schweigen lastet auf dem Land. Ein Land im Ausnahmezustand.


TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

WELTFRAUENTAG AM 8. MÄRZ 2018

Die Zerstörung ziviler Projekte Elke Schrage

HDP und BDP Formen von Einschüchterung an.
Unsere GesprächspartnerInnen berichten, dass sich die Bevölkerung kaum noch zu ihnen wagt.

Unsere GesprächspartnerInnen haben uns sehr schnell darauf hingewiesen, dass die oberflächliche Normalität und die Geschäftigkeit des Alltags einem zweiten Blick nicht
standhalten. In den Geschäftsstraßen Diyarbakirs pulsiert zwar das Leben. Märkte und Läden präsentieren
ein in unseren Augen reichhaltiges Angebot. Es fehlt aber jegliches Zeichen politischer Opposition oder
Vielfalt. Nicht einmal für Touristen sind noch Souvenirs in Gelb-Rot-Grün erhältlich. Die Tage um Newroz erscheinen wie ein Oktoberfest ohne Blau-Weiß.

Das weiter östlich gelegene Sirnak wird uns durch Polizei- und Militärkontrollen ganz verwehrt. In einem solchen Klima ist die kommunale, basisdemokratische, parlamentarische Arbeit einer Zivilgesellschaft extrem schwierig. Wie in den Vorjahren sind überall Militär und Polizei. Die Willkür der Überwachungskräfte
auf dem Lande und in kleineren Orten ist wie bei unseren vorherigen Besuchen offensichtlich.

Wir lernen, das zu sehen, was nicht mehr zu sehen ist und diese Spuren zu lesen. Wenn nur noch einer der wenigen bisher nicht inhaftierten Parlamentarier der HDP im Schutz seiner
Immunität in den Straßen Flugblätter und Handzettel verteilen darf, seine BegleiterInnen für dieselbe
Tätigkeit aber sofort verhaftet werden, wenn die einzige nicht verbotene öffentliche Versammlung die
wöchentliche Mahnwache der Anwaltskammer zum ungeklärten Mord an Tahir Elci
ist, dann sind Möglichkeiten, sich öffentlich zu äußern, unter die demokratische Nachweisgrenze gesunken. Treffen und Kundgebungen können nur noch innerhalb der geschlossenen Räume und Büros unserer
GesprächspartnerInnen stattfinden. In den Parteien, Berufskammern, Gewerkschaften und Vereinen sind
sich alle sicher, abgehört zu werden. Als es eine Pressekonferenz in den Räumen der Gesundheitsgewerkschaft gibt, werden wir
am Eingang von einem regelrechten Blitzlichtgewitter der Geheimdienstmitarbeiter empfangen. In den kleineren Orten Nusaybin und Cizre nahe der syrischen Grenze
nimmt die Kontrolle aller BesucherInnen der Büros von

Die Repression setzt jetzt im Privatleben der Menschen an. Die aktuelle Welle der Unterdrückung
besteht aus Massenentlassungen und Zwangsverwaltung. Das Einschüchterungspotential besteht in den
wirtschaftlich existenziellen Folgen für die Betroffenen und ihre Familien und wirkt abschreckend
auf das Umfeld. Waren in früheren Jahren Folter in Gefängnissen oder die gezielte Inhaftierung und Folter
minderjähriger Steinewerfer eine Repressionsmethode, so soll jetzt vor allem Ruhe im Land herrschen. Physische Gewalt besteht fort.
Willkür ist weiterhin ein zentrales Merkmal bei Verhaftungen und staatlichem Terror. Durch die Eskalation der Gewalt werden nicht nur öffentliche politische
Akteure in ihrer Existenz vernichtet – ganze Bevölkerungsgruppen verschwinden. Seien es die 110.000 LehrerInnen, die durch we30


BERICHT 2018

des strategisch wie militärisch instrumentalisiert werden können. Neben dem
innenpolitischen Elend und Rückschritt macht die Machttrunkenheit der AKP-Regierung das Land zum
Spielball und Wackelkandidaten internationaler Bündnis- und Kriegspolitik. Die heutigen „Kriege niedriger Intensität“ zeichnen sich durch die vorrangige Zerstörung ziviler Einrichtungen
bei gleichzeitiger Schonung militärischer Ressourcen aus. Das Verhältnis von toten ZivilistInnen zu toten KämpferInnen hat sich von fünf Prozent zu Anfang des letzten
Jahrhunderts auf 95 Prozent zu Anfang diesen Jahrhunderts geradezu umgekehrt. Große militärische Entscheidungsschlachten werden nicht mehr geschlagen (siehe Henrik Paulitz : „Anleitungen gegen den Krieg“, Akademie Bergstraße 2016).

niger
fachkompetente KollegInnen ersetzt wurden oder die zerstörten kurdisch-multiethnischen Wohngebiete, in denen
sunnitische Flüchtlinge und AKP-Getreue angesiedelt werden sollen. Diese Maßnahmen kommen einer Zerstörung der Identität gleich, nicht nur der Sanktionierung politischer Verlautbarungen und Aktionen. Ganz verschwunden ist die Projektarbeit in den Kommunen. In einer Region, die für Generationen durch
Armut, schwache Infrastruktur und Repression gekennzeichnet war, wurde durch die vielfältige Basisarbeit
in den Zeiten des Friedensprozesses ein Wandel direkt im Alltag spürbar. Angehörige von Minderheiten, Frauen, Arme,
Behinderte, waren plötzlich Partner eines politischen Interesses. Jetzt sind Frauenhäuser zwar nicht
geschlossen, aber wie sie zu arbeiten haben, wird staatlich diktiert. Die kurdisch-multiethnischen Parteien
sind nicht verboten, ihre Abgeordneten und gewählten Stadtverwaltungen aber inhaftiert. Büros von Parteien
und NGOs existieren noch, aber aufsuchende Arbeit außerhalb ihrer Räume wird unterbunden.

Die Vernichtung kurdisch-multiethnischer Wohngebiete in den Kernzentren oppositioneller Wahlerfolge reiht
die Türkei auch innenpolitisch in diese Kriegsführung ein. Der Ausnahmezustand macht es möglich, über
Gewalt zu streiten, ohne über Gerechtigkeit reden zu müssen. Soziale Kämpfe können mit einem allgemeinen
Terrorvorwurf zunichte gemacht werden. Die HardlinerInnen auf allen Seiten werden so nur gestärkt.

Eine Gesellschaft, die im Aufbruch stand, ihre unter Ausgrenzung und Okkupation konservierten Hierarchien
und Ehrbegriffe einem modernen Begriff von Würde und Emanzipation zu öffnen, wird durch routinemäßige
Unterdrückung und Terror erneut gedemütigt und schwer verletzt. Erst das macht es Präsident Erdogan vielleicht möglich, den Schritt eines offenen Angriffskrieges auf das
Nachbarland Syrien zu wagen. Die Spaltung der Gesellschaft durch das Präsidialsystem und die Entkernung
demokratischer Selbstverständnisse und ihrer Vielfalt setzt extreme Gewalt frei. Eine Macho-Mentalität, wie sie der türkische Staatsapparat pflegt, ist gut vereinbar mit einer neoliberalen Umgestaltung. Sie gefährdet allerdings die kollektive, gesellschaftliche Gesundheit. Wie in westlichen Ländern erweckt die Konsumgesellschaft die Illusion gemeinschaftlicher Teilhabe und wird
identitätsstiftend. In der Praxis aber bestehen soziale Gegensätze fort und verstärken sich.Mit dem Bau von Staudämmen, Flughäfen, Autobahnen und einer Phase außen- und innenpolitischer
Diplomatiearbeit konnte sich Präsident Erdogan als Heilsbringer präsentieren. Und die zweitgrößte Armee der NATO
reicht mit einer allgemeinen Wehrpflicht tief in türkische (und kurdische) Familien hinein.

DIYARBAKIR, SUR Das Geschäftsleben geht vordergründig weiter. Diesem globalen Trend setzt eine immer noch starke Zivilgesellschaft in der Türkei ihre Kampferfahrung,
ihren hohen Organisationsgrad und ihren Wunsch nach kollektiver Alternative und Freiheit entgegen. Die Ideen einer föderalen, laizistischen, multiethnischen Gesellschaft waren in den Jahren des
Friedensprozesses ein Bollwerk gegen Landflucht im Südosten und Abwanderung der Jugend. In Nordsyrien haben sie Hunderttausende aus den Kriegswirren herausgehalten und
verhindert, dass auch sie als entwurzelte Arbeitskräfte und Heimatlose nach Europa kommen.

Staatsbegräbnisse mit einem publikumswirksam trauernden Landesvater sind kein Ersatz für lebende Söhne,
Väter, Brüder. Gerade am 18. März, dem nationalistisch geprägten Canakkale-Tag, die von Flüchtlingen überfüllte
Kleinstadt Afrin zu erobern – das wird nur von den Boulevard-Blättern gefeiert. Wo Kemal Atatürk sich 1915 erfolgreich gegen die Großmächte verteidigte, steht Präsident Erdogan heute
vor den Augen der Weltöffentlichkeit für einen völkerrechtswidrigen Angriff und ein Kriegsverbrechen.
Alle GesprächspartnerInnen äußerten Trauer und Entsetzen über die Belagerung und Einnahme des nordsyrischen Kantons Afrin. Sie sahen diese als Zerstörung eines demokratischen Projektes und weiteres Zeichen der Doppelstandards
des Westens, der die dortige Bevölkerung den Angriffen der türkischen Armee aussetze.

Wenn es in der Region eine Alternative zum bewaffneten Kampf geben soll, müssen aus Europa und Deutschland Zeichen der Unterstützung ziviler Projekte kommen und die Anerkennung, dass die kurdischen-multiethnischen Parteien HDP, BDP, PKK der Demokratisierung
dienen. Gesprächsbereitschaft in diese Richtung zu unterstützen, würde einer Friedensarbeit Gesichter und
Hoffnung geben. Denn was immer in der Region geschieht, kommt auch auf Europa zu.

Diese Betroffenheit überragte bei vielen das eigene Leiden. Die erzwungene Tatenlosigkeit
angesichts dieser Vernichtung kollektiver Identität muss als langfristig wirksame
Demütigung und Verletzung angesehen werden. Die „Kurdenfrage“ wird weiterhin die Achillesferse der Türkei bleiben. Sie wird von Gegnern wie
Partnern des Lan31


TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Wir werden immer kränker: Die türkische Gesundheitsreform am Ende Sara Kokemüller

Viele unserer GesprächspartnerInnen auf dieser Reise haben die Friedenszeit von 2012 bis 2015 als eine Zeit der Hoffnung und der Verbesserung beschrieben. Die AKP-Regierung hatte seit 2003 viele Reformen angestoßen im Annäherungsprozess an die EU. Es gab einen wirtschaftlichen Aufschwung, von dem die meisten Menschen selbst in den ländlichen Gebieten im Südosten profitierten, was zu den großen Wahlerfolgen der AKP führte.

Von 2003 bis 2013 wurde eine tiefgreifende Gesundheitsreform HTP (Health Transformation Programme) in Angriff genommen, die auch messbare Verbesserungen der internationalen Gesundheitskriterien brachte. So sind jetzt nahezu alle BürgerInnen krankenversichert. Die Säuglings- und Müttersterblichkeit ist stark gesunken, die Lebenserwartung stieg von 52 Jahren im Jahr 1960 auf jetzt 77,7 Jahre. Es wurden viele sehr gut ausgestattete Privatkliniken gegründet, zum Teil mithilfe ausländischen Kapitals. Die interdisziplinären Gesundheitszentren wurden nach und nach durch Familienärzte ersetzt. Viel Lob gab es von Weltbank und WHO.

In einer Lancet-Studie von 2013 wird der Gesundheitsminister Recep Akdag zitiert: „Wir haben ein sehr effizientes System geschaffen; der Zugang zur Versorgung ist in der Türkei jetzt hervorragend. Alle primären Gesundheitsleistungen, die Diagnose und Behandlung eingeschlossen, sind kostenlos.“ Der Mitautor der Studie Rifat Atun von der Universität Harvard wies warnend darauf hin, dass die politische Lage in der Türkei einen negativen Einfluss auf die Gesundheitsversorgung nehmen könnte. (The Lancet Volume 328, S. 66 ff) Unsere eher sozialistisch ausgerichteten Kollegen von der Ärztekammer Diyarbakir und der Gewerkschaft SES aber auch von der Public-Health-Abteilung der Universität in Izmir waren weniger begeistert und warnten vor einer zunehmenden Kommerzialisierung im Gesundheitswesen. 2015 endete der Friedensprozess mit den Kurden. Die politische Lage ist instabil. Die Wirtschaft leidet. „Es gibt keine Gesundheitsreform mehr, die Lage verschlechtert sich immer weiter,“ sagte eine Vertreterin der Gesundheitsgewerkschaft SES in Diyar32

bakir. Ein Grund dafür seien die massenhaften Entlassungen von medizinischem Personal und ÄrztInnen aus dem öffentlichen Dienst. Allein in Diyarbakir waren nach ihren Angaben 2017 etwa 100 Angestellte entlassen worden, bis März 2018 bereits 350. Während im Westen und in den Städten diese Stellen noch wieder besetzt werden könnten, fehle es im Südosten überall an Personal. Weder durch die Einstellung von geschätzten 600 syrischen ÄrztInnen (die so zum Spielball der innenpolitischen Auseinandersetzungen werden) noch durch die wachsende Zahl medizinischer Hochschulen könne diese Lücke geschlossen werden. Einer der Familienärzte berichtete aus seinem Alltag: 4.000 Menschen versorge er gemeinsam mit einer Krankenschwester. 1.000 davon lebten in der Stadt, die anderen 3.000 versprengt in den umliegenden Dörfern. Die Menschen auf den Dörfern hätten vor Ort keine ärztliche Versorgung mehr, sie müssten für jede Behandlung den zum Teil sehr weiten und beschwerlichen Weg in die Stadt nehmen. Er habe sich deshalb entschieden, die Dörfer regelmäßig zu besuchen, doch die Belastung sei einfach zu


Foto: Melissa Maples / CC BY-NC 2.0

BERICHT 2018

Krankenhaus erhoben – die Medikamentenpreise beinhalteten jedoch einen Aufpreis für die Untersuchung. Die Apotheken zögen diesen – für die PatientInnen nicht sichtbar – mit ab und übermittelten ihn, abzüglich einer Verwaltungsgebühr, an die Regierung. „Die Regierung verkauft die Bürger für dumm“, sagte ein Vertreter der Ärztekammer „und alle werden immer kränker“.

hoch. „Ich komme nicht hinterher. Ich versuche, mich um alle zu kümmern. Aber pro PatientIn bleiben vielleicht fünf Minuten“. Für seine Arbeit bekomme er ein festes Gehalt vom Staat. Davon müsse er die Miete für die Praxis bezahlen, Strom und Wasser, seine Fahrten in die Dörfer und alle Verbrauchsmaterialien. Die Versorgung der syrischen Geflüchteten, die neuerdings auch in die Krankenkasse aufgenommen würden, komme noch dazu. Ein zusätzliches Budget bekomme er dafür nicht.

Natürlich gibt es in der Türkei eine sehr gute medizinische Betreuung – in den Privatkliniken – für die, die es sich leisten können. Zumindest bis 2013 gab es einen wachsenden Medizintourismus, der von der Weltbank ausdrücklich gelobt wurde.

Er sei kein Einzelfall. Im Schnitt sei ein Familienarzt für 5.000 PatientInnen zuständig und zwar landesweit, bestätigte eine SES-Vertreterin. Alle Vorsorgeuntersuchungen, Schwangerschaftsuntersuchungen und die Behandlung chronisch Kranker lägen dann in der Zuständigkeit des Arztes oder der Ärztin. Für Impfungen und intensive Anamnesen bliebe keine Zeit. Wenn nicht alle vorgeschriebenen Schwangerschafts- und U-Untersuchungen dokumentiert würden, werde der ohnehin knappe Lohn weiter gekürzt. Die Basisversorgung werde unter diesen Bedingungen drastisch schlechter. Immer häufiger würden Krankheiten chronisch, die zu behandeln gewesen wären – oder es komme zu Notfällen, weil eine frühe Behandlung nicht möglich gewesen sei. In dieser Praxis sehen die Gewerkschaftsmitglieder monetäres Kalkül: „Der Kranke wird nicht als Patient gesehen, sondern als Geldquelle. Die Leute sollen krank werden, damit sie in die Kliniken kommen. Anders als die FamilienärztInnen erhielten KollegInnen hier eine finanzielle Beteiligung für die Behandlung. Es sei eine Art Kopfpauschale. Pro Patient rechne die Klinik einen Bonus ab. Dieses System im öffentlichen Sektor gleiche nun dem der Privatkliniken. Pfleger und Krankenschwester würden nicht beteiligt, sie hätten nur mehr Arbeit..

Fest steht: Bei der derzeitigen politischen Praxis des Mundtotmachens und der Verfolgung von RegierungskritikerInnen, AkademikerInnen, ÄrztInnen, GewerkschafterInnen, Feministinnen, KurdInnen wird es für die Menschen in der Türkei immer schwerer, gegen die neoliberale Politik und das daraus entstehende krankmachende Gesundheitssystem zu demonstrieren. Umso wichtiger, dass wir es tun. Quellen: The Lancet Volume 328: Health Transformation Program in Turkey, Prof. Dr. Recep Akdag, Januar 2009 sbu.saglik.gov.tr/ekutuphane/ kitaplar/turkeyspdeng.pdf World Bank: Project in Support of Restruction of Health (P102172) Restructuring Paper 2013, kurzlink.de/weltbank Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: German Mittelstand – Zielmarktanalyse: Türkei 2014, Branche: Krankenhausbau, ausstattung, -management Operation Gesundheit: Türkei reformiert sich, Ärzte Zeitung, 20.08.2013

Das eigentlich Perfide an diesem System sei aber, dass die PatientInnen in dem Glauben gehalten würden, die Behandlung in den staatlichen Kliniken sei für Versicherte kostenlos. Das aber sei schon lange nicht mehr der Fall. Die Gebühren würden zwar nicht direkt im

Zeki Öztürk: Das türkische Gesundheitssystem, München, GRIN Verlag, www.grin.com/document/3163 33


TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Schmerz, Wut und Ohnmacht Sara Kokemüller

Die Situation sei noch nie so schlimm gewesen, fasst es ein langjähriger Aktivist der Gesundheitsgewerkschaft SES
zusammen. Auch die früheren Freunde und Verbündeten hätten sich
jetzt abgewandt.

Die Protokolle all unserer Gespräche sind beinahe 100 Seiten lang. Einige Ausdrücke tauchen
immer wieder auf: „Afrin“, „Die ganze Welt guckt weg“, 
„Keine demokratischen Handlungsmöglichkeiten mehr“, „Seid unsere Stimme“. Die Menschen, die wir sprechen, sind voller Schmerzen und Wut, über das, was im Norden Syriens geschieht. Während unseres Besuchs laufen in Dauerschleife
Nachrichten, Bilder und Live-Übertragungen der türkischen Invasion.

„Wir haben keine demokratischen Handlungsmöglichkeiten mehr“, klagt ein HDP-Abgeordneter aus Cizre. Durch den Ausnahmezustand sei die türkische Justiz nicht mehr unabhängig, parlamentarische Arbeit sei für die kurdischen Parteien unmöglich.
Selbst die Oppositionsparteien würden sich in der Kurdenfrage nicht gegen die
Regierung stellen, sondern bezeichneten die HDP und ihre Anhänger als TerroristInnen. Überall beschreiben die Menschen, dass sie in Angst und unter Druck leben. Sie
können sich nicht frei bewegen – je weiter wir in den Osten der Türkei kommen, desto
präsenter sind militärische Kontrollen, desto dichter ist das Netz der Überwachung der
Menschen, desto häufiger sind Entlassungen aus dem Öffentlichen Dienst und
Vertreibung durch Enteignung von Grundstücken.

Schmerz, Wut und
Ohnmacht sind die Gefühle, die unsere Gespräche in der Türkei beherrschen. Afrin wurde zum Synonym für das Elend, dem viele KurdInnen ausgesetzt sind. Auf den allgegenwärtigen Bildschirmen laufen während unserer Gespräche in Dauerschleife
Nachrichten, Bilder und Live-Übertragungen der türkischen Invasion. „Wir sind Brüder und Schwestern, viele von uns haben Verwandschaft dort,“ hören wir oft. Sie
alle seien KurdInnen und teilten eine politische Überzeugung. Gleichzeitig schwingt oft die
Angst mit, dass die Lage in der Ostürkei sich weiter verschlechtern wird und erneut große
kriegerische Auseinandersetzungen drohen. Unsere GesprächspartnerInnen fühlen sich von der EU, den USA und der NATO im Stich gelassen. Auch die deutsche Regierung unterstütze den Krieg, um Geschäfte zu machen.

„Das kurdische Volk erlebt diese Entwürdigung schon seit Jahrhunderten. Sie haben
 sich so an Folter und Ermordung gewöhnt, dass sie sich nicht mehr einschüchtern lassen
– und die Gegenwehr nimmt zu“ sagen Abgeordnete der BDP in Mardin. Wir haben viele Beispiele für gewaltfreie Gegenwehr gehört und gesehen: Pressekonferenzen, die trotz polizeilicher Repression veranstaltet werden. Neue
kreative Wege der Berichterstattung über das Internet. Veröffentlichungen von
kritischen Schriften – trotz der Unweigerlichkeit der Haftstrafen. Ein weiterhin
geöffnetes Frauenzentrum, trotz Abhörung, Durchsuchung, gestrichener Finanzierung.
Behandlung von Verwundeten jeglicher Zugehörigkeit – trotz folgender
Verhaftungen.

„Gabriels Teezeremonie hat uns das Genick gebrochen. Das war unverschämt!“ sagt
ein Abgeordneter der HDP in Diyarbakir. Der Deal mit Rheinmetall, der Einsatz von Waffen der
NATO und deutschen Leopard-Panzern in Afrin und anderswo sind kein Geheimnis. „Die
verkauften Waffen werden hauptsächlich gegen die Kurden gerichtet, das sage ich nicht
als Journalistin oder Aktivistin, sondern als Frau aus dem Volk“ – so eine junge
HDPlerin in Dersim/Tunceli . 34


BERICHT 2018

GRÄBER VON FRAUEN AUF DEM ALTEN FRIEDHOF IN NUSAYBIN

Resolution der IPPNW

Aber: je inflationärer die Terrorismusvorwürfe werden, je
mehr Menschen für Whats-App-Nachrichten mit Inhalten wie „Afrin ist Unrecht“
verhaftet werden, desto größer wird auch der militante Widerstand.

„Türkei: Verletzung von Menschenrechten beenden“ Die Mitgliederversammlung der IPPNW fordert die Bundesregierung auf, sich dafür
einzusetzen, dass die türkische Regierung:

Ein Aktivist in Nusaybin beschreibt, dass sich wieder deutlich mehr Menschen, junge und
ältere, Frauen und Männer, der PKK in den Bergen anschließen. Für junge kurdische Männer ist das oft der einzige Ausweg aus dem
Militärdienst, der sie auch nach Afrin und in andere Regionen in den Kampf gegen
KurdInnen schicken könnte. In Dersim/Tunceli sehen wir frische „Join the PKK“-Aufkleber.

• alle aus politischen Gründen verhafteten und verurteilten Menschen (LehrerInnen,
JoumalistInnen, RechtsanwältInnen, ÄrztInnen, besonders auch die gewählten
BürgermeisterInnen und Abgeordneten) freilässt. • alle aus politischen Gründen Entlassenen wieder einstellt und das faktische Berufsverbot für
sie aufhebt.

„Seid unsere Stimme,“ bitten uns die Mitglieder der Frauenorganisation Kardelen, „wir sind stark, aber wir brauchen Hilfe“. Auch in den vorangegangenen Gesprächen wurde immer wieder diese
Bitte geäußert: „Erzählt, was ihr hört und seht, gebt unsere Worte weiter, wendet euch
an eure Regierung.“ Eine SES-Vertreterin machte klar, wie wichtig internationale Solidarität ist: „Wir haben uns von Europa abgewendet, weil wir keine Hoffnung sehen. Wir haben
aber auch gesehen, dass die Menschen in Europa für Afrin auf die Straßen gegangen sind. Das hat uns Mut gemacht.“

Weiterhin muss die Bundesregierung • die Verletzung von Rechtsstaatlichkeit in der Türkei kritisieren und die Verletzung von
Bürgerrechten und Menschenrechten nicht zugunsten von Waffengeschäften und
Flüchtlingsabwehr hintan stellen. • alle deutschen Rüstungslieferungen in die Region unterbinden • darauf hinwirken, dass die türkische Armee sich aus Afrin zurückzieht,den Krieg beendet
und stattdessen die Friedensverhandlungen mit der PKK wieder aufnimmt und sich bemüht,
diese zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. • sich bemühen, eine „ehrliche Mittlerin“ zu sein zwischen der türkischen Regierung und den
KurdInnen mit ihren VertreterInnen – sowohl der HDP als auch der PKK – und diese
VertreterInnen zu einem Friedensgespräch nach Deutschland einladen. • in Deutschland die undifferenzierte Kriminalisierung der kurdischen Bewegung beenden
und die PKK als eine der legitimen Vertreterinnen von KurdInnen anerkennen. • Zivilgesellschaftliche Projekte unterstützen, die auf Austausch und Verständigung
ausgerichtet sind.

Die Gespräche zeigen, wie weit entfernt von einem
Friedensprozess zwischen KurdInnen und TürkInnen die Situation wieder ist. Der von Präsident Erdogan angeheizte innenpolitische Konflikt im Kampf um seine
Vormachtsstellung gefährdet dabei das große Potential der Türkei: die Zivilgesellschaft. Die neue Generation auf beiden Seiten wächst in einem Millieu der Radikalisierung auf. Das Wissen über die Errungenschaften der Friedenszeiten wird wieder
verschwinden. Unterstützung bedeutet daher, international für die Beendigung des Notstandes,
Wiedereinführung der Rechtsstaatlichkeit und die Gleichberechtigung der KurdInnen
einzustehen. Gleichzeitig brauchen die zivilgesellschaftlichen AkteurInnen unsere praktische
Unterstützung durch Spenden, Austausch und Öffentlichkeitsarbeit. Wie Sie an Prozessbeobachtungen teilnehmen oder Hilfsprojekte unterstützen können, lesen Sie auf der Rückseite des Heftes.

Köln, im Mai 2018

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Was jedeR tun kann Zum Beispiel: Das Gespräch mit türkischen und kurdischen Nachbarn suchen. Und: Pflegen sie private und berufliche Verbindungen in die Türkei. Die IPPNW Deutschland macht zur Zeit in Abstimmung mit dem Menschenrechtsverein TIHV Prozessbeobachtungen bei der Gerichtsmedizinerin und Menschenrechtlerin Prof. Sebnem Korur Fincanci, dem Arzt und langjährigen Partner Dr. Necdet Ipekyüz aus Diyarbakir und dem Arzt Dr. Serdar Küni aus Cizre. Die nächsten Verhandlungen finden im Oktober und November 2018 statt. Wir suchen noch KollegInnen, die sich physisch oder finanziell beteiligen.

Türkeiarbeit der IPPNW

IPPNW e.V. – Stichwort „Türkei“ IBAN: DE39 1002 0500 0002 2222 10, BIC: BFSWDE33BER – Bank für Sozialwirtschaft Berlin Diese Spende ist nicht steuerlich absetzbar.

Direkts pende: ippnw. de/bit/ direkt- spende

Medico international

Medico hat sowohl in der Türkei als auch in Rojava einheimische Mitarbeiter und kooperierende Gruppen. Medico International IBAN DE21 5005 0201 0000 0018 00 BIC HELADEF1822 – Frankfurter Sparkasse

Kurdistanhilfe e.V.

Der Verein in Hamburg unterstützt Menschen und Projekte im nordsyrischen Rojava, besonders in Afrin. Mitglieder wie der Politiker Jan van Aken haben kürzlich eine Delegationsreise dorthin unternommen. Kurdistanhilfe e.V. IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04 BIC HASPDEHHXXX, – Hamburger Sparkasse

Diesen Reisebericht können Sie im IPPNWShop bestellen: shop.ippnw.de Online-Version unter: www.issuu.com/ippnw

Türkei-Kurdistan-Reise – März 2018 © IPPNW e.V. / August 2018

Zur Reiseleitung: Dr. Gisela Penteker ist Allgemeinärztin i.R. in Otterndorf an der Nordsee und seit 1983 Mitglied der IPPNW. Seit 19 Jahren führt sie gemeinsam mit dem Dipl.-Sozialpädagogen Mehmet Bayval aus Frankfurt (Main) Delegationsreisen in die Türkei/Kurdistan durch.

© IPPNW e.V., August 2018 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung möglich.

TeilnehmerInnen der Reise und AutorInnen des Berichts: Johanna Adickes, Elke Schrage, Friederike Speitling, Friedrich Vetter, Sara Kokemüller, Sigrid Ebritsch, Gisela Penteker. Nurhak Al Rosan unterstützte die Gruppe als Dolmetscherin.

IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Endredaktion: Dr. Gisela Penteker, Regine Ratke, Angelika Wilmen Layout: IPPNW e.V. / Regine Ratke Titelfoto: Sigrid Ebritsch

Bestellmöglichkeit unter shop.ippnw.de oder in der IPPNW-Geschäftsstelle:

Körtestraße 10 | 10967 Berlin Tel.: +49 (0) 30 – 69 80 74 – 0 Fax:  +49 (0) 30 – 683 81 66 ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de


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