Kommt und seht! Akzente Palästina/Israel 2019

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Foto: Förster / IPPNW

ippnw akzente

information der ippnw internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Kommt und seht ! Begegnungsfahrt Palästina/Israel der IPPNW, 31. März – 12. April 2019


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Reiseimpressionen

Jerusalem

Tent of Nations

Hebron

Bethlehem, Geburtskirche

Jaffa

Ramallah 2

Alle Fotos: IPPNW

An der Mauer, Bethlehem


BERICHT 2019

Inhalt Reiseimpressionen.............................................................................................................. 2 Inhaltsverzeichnis............................................................................................................... 3 Editorial............................................................................................................................ 5 Karte des Westjordanlands.................................................................................................. 4 Karte von „Großjerusalem“.................................................................................................. 6 Literaturtipps zum Weiterlesen........................................................................................... 39 BERICHTE Tel Aviv: Willkommen im heiligen Land.................................................................................. 7 Neve Shalom / Wahat al-Salam............................................................................................ 9 Bethlehem: Sumud Story House, Aida Camp ....................................................................... 10

Eine Mauer. Viele Namen.................................................................................................. 12 Ostjerusalem................................................................................................................... 14 Hebron: Abrahamsmoschee, Shuhada Street ....................................................................... 16 Tent of Nations................................................................................................................ 18

Vortrag: Zur aktuellen Situation in Palästina........................................................................ 20 Halhoul / Ramallah: Health Work Committees & Dunya Breast Cancer Hospital........................ 22 Treffen mit Ibrahim Lada‘a................................................................................................. 24 Addameer Prisoner Support Association.............................................................................. 25 Qalqiliya und Qalandia...................................................................................................... 26

Hauszerstörungen – Israels stiller Krieg gegen Palästinenser................................................... 29 Jordan / Mount of Temptation / Totes Meer............................................................................ 30 Die Checkpoints / EAPPI.................................................................................................... 32 Jerusalem: Military Court Watch......................................................................................... 34 Society of St. Yves, Kairos Palästina................................................................................... 35 Tel Aviv: Zochrot............................................................................................................... 37 Physicians for Human Rights Israel..................................................................................... 38 Jerusalem: Yad Vashem..................................................................................................... 40

Einer muss den Frieden beginnen!..................................................................................... 42 Palestine-Israel Journal..................................................................................................... 43 Anmerkung der Redaktion: Dieses Heft ist ein Reisebericht, auch wenn diese Reise vollgepackt war mit politischen Informationen, die in die Berichterstattung einfließen. Wir sind sehr dankbar, dass die Autor*innen sich an sehr persönliche Beschreibungen der heftigen Emotionen herangewagt haben, die so eine Reise in unterschiedlichsten Formen hervorruft. Die Artikel geben in erster Linie die Auffassung der jeweiligen Autor*innen wieder und sind nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion identisch.

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Grafik: UNOCHA


Foto:S. Farrouh / IPPNW

BERICHT 2019

Editorial

Jetzt erst recht! Begegnungsfahrt nach Palästina-Israel Bedingungen des täglichen Lebens für die palästinensischen und israelischen Menschen, die sich gewaltfrei dagegen wehren und für eine freie, sichere, menschenwürdige, gleichberechtigte, demokratische Region einsetzen. All das soll im Stillen unbemerkt von der Weltöffentlichkeit geschehen.

Diese Reise im April 2019 sollte meine sechste Palästina-Reise werden. Leider wurde daraus nichts. Nach einem eingehenden Verhör im Tel Aviver Flughafen und einer Nacht im Abschiebegefängnis wurde ich nach Deutschland zurückgeschickt. Seit 2008 nehme ich an pax christi-/IPPNW-Reisen teil oder organisiere sie. Offensichtlich sind diese Reisen den israelischen Behörden ein Dorn im Auge. Schon bei unserer letzten gemeinsamen Reise wurde mein Kollege Norbert Richter von pax christi abgeschoben. Warum ist das so? Wieso werde ich, eine alte Frau, offenbar als so gefährlich für die israelische Regierungspolitik eingestuft, dass ich nicht mehr ins Land darf?

Dagegen richtet sich auch der Aufruf der palästinensischen Christ*innen im Kairos-Dokument, wie auch der Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft insgesamt: „Kommt und seht!“ Das ist auch mein Fazit dieser Reise. Ich werde weiter versuchen, möglichst viele Menschen nach Palästina zu bringen. Dieses Jahr sind 30 Teilnehmer*innen dort gewesen, und schon im Herbst 2020 wird eine weitere IPPNW-Begegnungsreise nach Palästina und Israel stattfinden. Dieses Heft soll Lust machen, mitzukommen, die Botschaft weiterzugeben und nach der Rückkehr nicht zu schweigen.

Offenbar sollen wir nicht sehen, was hinter der Mauer in Palästina passiert. Die Städte der 600.000 Siedler*innen, die Landenteignungen, die Menschenrechtsverletzungen, die Entwürdigung der Menschen, die immer weiter fortschreitende Einschränkung des palästinensischen Lebensraumes, die immer schwerer werdenden

Dr. Sabine Farrouh, IPPNW Deutschland 5


Ostjerusalem, muslimisches Viertel. Im Hintergrund ein von Siedler*innen besetztes Haus. Aufschrift des Transparents: „Ein Volk wie ein Löwe, der aufsteht, wie ein Raubtier, das sich erhebt.“ (Num 23, 24) Foto: Förster/IPPNW


BERICHT 2019

Willkommen im heiligen Land ? 31. März 2019 Begegnungen mit Menschen in Palästina und Israel – das war der Wunsch der Teilnehmenden an der IPPNW-Begegnungsreise nach Palästina und Israel im April 2019. Die politische Realität aus Perspektive der Betroffenen kennenlernen, Impulse für die eigene Positionierung bekommen. Was ein wenig nach einer politisch sensiblen Friedensfahrt klingt, wird gleich zu Beginn der Reise zum hautnahen Erleben von Ohnmacht, Willkür und Abschiebung. Solvejg Bethke: Einige von uns sind schon durch. Wir haben unsere Visa und unser Gepäck und warten in der Ankunftshalle des Flughafens. Dann kommt Sabines Anruf. Sie wird gerade festgehalten. Weitere drei Personen aus der Gruppe werden auch festgehalten. Sie könne sie am anderen Ende der Halle sitzen sehen. Andere von uns rufen an. Sie haben ihr Visum schon, wurden aber von der Gepäckausgabe vor die Passkontrolle zurückgeschickt. Wer und wie viele sind es? Es braucht noch ein paar Anrufe, bis klar ist: Sabine wird festgehalten und befragt. Neun weitere Reiseteilnehmende werden ebenfalls festgehalten, wenn auch nicht befragt. Wir warten. Stunden. Es gibt im Moment nichts, was wir tun können. Dann ruft Sabine wieder an. Sie wird abgeschoben. Wir entscheiden, dass ich mit dem Teil der Gruppe, der in der Ankunftshalle ist, nach Neve Shalom fahre, unserem ersten Übernachtungsort. Die Oase des Friedens. Die Gruppe fühlt sich ganz und gar nicht in einer Oase des Friedens. Vielmehr herrscht Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Wut.

Solvejg: Abends haben wir nur noch eine halbe Stunde, um in der Gruppe zusammenzukommen und einen gemeinsamen Moment zu schaffen. Die Vorstellungsrunde wird übersprungen, stattdessen erzählen die neun. Wir tauschen uns über die mit ihren Einreiseerlebnissen verbundenen Gedanken und Gefühle aus. So vielfältig wie Menschen sind, sind auch die Gefühle, Gedanken und Umgangsweisen mit dem, was wir gerade erlebt haben. Fassungslosigkeit und Entrüstung füllen den Raum. Auch Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit gesellen sich dazu. Erleichterung darüber, dass die neun einreisen konnten. Wut und Erschütterung darüber, willkürlich behandelt worden zu sein; Wut und Erschütterung darüber, dass Sabine abgeschoben wurde. All diese Gefühle gehören dazu, wenn wir strukturelle Gewalt erleben, der wir ausgeliefert sind. So wie alle in der Gruppe – wenn auch in unterschiedlicher Weise – strukturelle Gewalt durch die Umstände dieser Einreise erlebt haben.

Busfahrt mit Informationen an alle, Einchecken im Hotel. Auf dem Weg kommt die Nachricht, dass die neun Festgehaltenen ein Visum bekommen. Eine Art von Visum jedoch, von der ich noch nicht gehört hatte: „Visum – No AYOSH“, will heißen, „Visum – No Judea and Samaria.“ So nennen einige Menschen in Israel, einschließlich des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, das Westjordanland. Der biblische Begriff unterstreicht den Anspruch, den manche in Israel auf das besetzte Gebiet erheben. Ein Beispiel dafür, wie Sprache Wahrnehmung und politische Realität beeinflusst.

Jürgen: Wie können wir uns erklären, was passiert ist? Teil dieses ersten Austauschs ist natürlich auch der Charakter der Maßnahmen bei der Einreise. Übereinstimmende Sicht ist: die israelischen Kontroll-Beamt*innen und Grenz-Soldat*innen wollen in erster Linie das Ziel der Reise behindern, nämlich die Begegnung mit palästinensischen Familien, Einrichtungen und Organisationen. Das soll ihnen nicht gelingen. Klar ist: Rechtsstaatliche Erwägungen sind hier unnütz. Das ganze Vorgehen ist willkürlich. Das wusste ich seit der Antwort auf meine Bitte, eine Kopie des Schriftstücks zu erhalten, das ich zu unterzeichnen hatte: NEIN!

Jürgen Sendler: Sabine hatte vor mir in der Schlange gestanden. Nach weniger als einer Minute dreht sie sich halb zu uns zurück, der Einreisebeamte verlässt seine Kabine und schließt sie ab, um Sabine an einen anderen Platz zu führen. Sofort blitzt mir durch den Kopf: Das wars für sie. Wie bitter. Nach all den Vorbereitungen und voll freudiger Erwartungen. Zu neunt sitzen wir schließlich in einem uns zugewiesenen Wartebereich. Nach einer halben Ewigkeit erfährt Sabine das Aus für sie. In den Stunden zuvor hatte ich mich in dem Wartebereich in eine hintere Ecke zurückgesetzt, weil mir klar geworden ist: Aus München kommt noch ein Flugzeug mit Teilnehmer*innen, mindestens eine von ihnen würde mich kennen. Die sollten uns möglichst nicht sehen, sonst würden sie uns entgegen laufen – dann wären sie für die Grenzsoldat*innen sofort als Gruppenmitglieder erkennbar und derselben Behandlung unterworfen wie wir. Mein Kopf arbeitet nicht klar. Soll ich Sabine alleine zurückfliegen lassen? Dann sind wir neun an der Reihe. Wir haben Auflagen erhalten, deren Kenntnisnahme wir mit Unterschrift bestätigen müssen. Dann werden wir erkennungsdienstlich behandelt. Schließlich kommen wir mit georderten Taxis in Neve Schalom an.

Unter den Reiseteilnehmer*innen mit Auflagen gab es teilweise eine Verunsicherung, die sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen ausgedrückt hat. Manche haben weniger fotografiert, einige Teilnehmer*innen wollten nicht fotografiert werden. Auch mitgeschrieben wurde von Einzelnen weniger – alles vielleicht schon mit Blick auf die Ausreise. Auch ich habe viel zu wenig mitgeschrieben, ich befürchtete auch, dass die Reise der Gruppe insgesamt in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Solvejg: Wie können wir mit dem umgehen, was wir erlebt haben? Manche wollen die Energie der Wut nutzen, um aktiv zu werden. Sie wollen an die Presse gehen, politischen und diplomatischen Druck erzeugen. Andere wünschen sich Zurückhaltung, um die Gruppe und ihre Reise nicht weiter zu gefährden. Wieder andere brauchen etwas Zeit, um nach einem ersten Verarbeiten zu entscheiden, wie sie sich nun weiter verhalten wollen. Wichtig für die Gruppe ist außer-

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Chaska Katz von ICAHD, Foto: M. Tillmann


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

dem, sowohl ihre eigenen Reaktionen auf das Erlebte wahrzunehmen als auch sensibel und achtsam zu sein, wie es den neun Menschen mit „No-AYOSH“-Visum geht, ihre Gefühle und Reaktionen auf die Erlebnisse zu akzeptieren, wie auch ihre persönliche Entscheidung darüber, in welcher Weise sie am Rest der Reise teilnehmen können und wollen. Die Frage, wie mit dem Erlebten umgegangen werden soll, ist die Reise über weiter präsent. Auch Sabine ist weiter Teil unserer Gedanken. Wir vermissen sie, und groß ist das Bedürfnis, mit ihr während der Reise in Kontakt zu sein. Und der Wunsch, trotz der unangenehmen Gefühle, die das Erlebte in uns auslöst, weiter die Region, ihre Komplexität und ihre Menschen kennenzulernen. Jürgen: Und dennoch: das sorgfältig zusammengestellte Programm fand statt. Mit jedem Vortrag, jeder Besichtigung mehr wuchs die Klarheit, wie wichtig solche Begegnungsfahrten sind, die Verbreitung unserer Eindrücke und Erkenntnisse im Anschluss an die Reise sein würde.

Die Umgebung von Jerusalem Foto: Förster/IPPNW

Tempelberg, Jerusalem Foto: Förster/IPPNW

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Bethlehem Foto: Förster/IPPNW

Sabine Farrouh in Palästina Foto: IPPNW (2010)


BERICHT 2019

Neve Shalom / Wahat al-Salam 31. März 2019 Leider konnten wir im Friedensdorf Neve Shalom / Wahat al-Salam („Oase des Friedens“) nur übernachten und hatten keine Zeit, um persönlichen Kontakt zu Dorfbewohner*innen aufzunehmen. Seit 1972 besteht es nun schon: das kleine Dorf auf einem Hügel, das in Israel nahe an der Grenze des Westjordanlands liegt. Auf Initiative des Dominikanerpriesters Bruno Hussar kam es zur Gründung einer kleinen Gemeinschaft von jüdischen und arabischen Familien, die von der Idee beseelt waren, trotz aller Unterschiede in Frieden zusammenzuleben. Es begann mit einer Hütte ohne Wasser und Strom. Nach und nach entstand durch den Einsatz vieler friedensbewegter und praktisch begabter Menschen ein Gemeinwesen mit Kindergarten, Grundschule, Versammlungsraum und Gästezimmern. Die friedenspädagogischen Einrichtungen waren von Anfang an binational und bilingual, das heißt Erzieher*inne und Lehrer*innen unterrichteten neben Englisch Hebräisch und Arabisch. Es war das erste Dorf in Israel, wo Menschen aus freiem Willen partnerschaftlich und auf der Basis der Gleichberechtigung zusammenleben, in Achtung gegenüber der Kultur der jeweils Anderen. Die Grundschule, die heute mit zwei Parallelklassen bis Klasse sechs führt, erhielt als eine der neun besten Schulen des Landes einen Exzellenzpreis. Die 1979 gegründete Friedensschule „School for Peace“ ist eine Einrichtung für Begegnungen von Konfliktgruppen in Form zeitlich und thematisch definierter Projekte, z.B. Umweltbewusstsein, Medizin, Rechtsfragen. Sie hatte von Anfang an ein klares Ziel: tatsächliche Gleichberechtigung zwischen Jüd*innen und Palästinenser*innen zu erreichen. Seit den 1990er Jahren verfügt die Friedensschule über eine eigene Dokumentations- und Forschungsabteilung und wurde zum Modell für andere im jüdisch-arabischen Kontext tätige Einrichtungen. Am Rande der 263 Personen umfassenden Siedlung befindet sich ein kuppelförmiger zeltartiger Bau mit nur einem halbmondförmigen großen Fenster mit Blick in die weite Latrun-Ebene, das Haus der Stille. Dorthin können sich Menschen aller Religionen und Geistesausrichtungen zurückziehen, beten oder nur wohltuende Ruhe genießen. Von hier scheidet man mit einem Gefühl der Hoffnung in einem zerrissenen Land. Mehr Infos zur „Oase des Friedens“: http://wasns.org/-oase-des-friedens

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An der Mauer, Foto: A. Wilmen


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Bethlehem: Sumud Story House 1. April 2019

„Wenn der Himmel ergraut Und ich plötzlich eine Rose blühen sehe Aus den Rissen in der Mauer, So sage ich nicht, der Himmel sei grau, Sondern betrachte lange die Rose Und ich sage zu ihr:

Welch ein schöner Tag!“ Mahmud Darwisch

Unsere Begegnungsfahrt wurde in Zusammenarbeit mit dem Arab Educational Institute (AEI) in Bethlehem organisiert, das hier kurz vorgestellt werden soll. Es begann während der ersten Intifada 1986, als wochenlang der Schulunterricht ausfiel und einige Pädagog*innen als Ausgleich Aktivitäten für Kinder und Jugendliche anboten. Diese Arbeit ging nach der Intifada weiter und dehnte sich aus, sowohl hinsichtlich der Angebote als auch der angesprochenen Gruppen.

Foto: Förster/IPPNW

„Das AEI unterstützt palästinensische Jugendliche, Frauen und Pädagog*innen beim Aufbau einer Gemeinschaft in Palästina, in der Pflege ihrer kulturellen Identität und im Einsatz für Menschenrechte. Unsere Arbeit wurzelt in den Werten von Sumud (Arabisch: „Standfestigkeit, Durchhalten“), Frieden, Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, sowie interkulturellem und interreligiösem Respekt, erklärt der Jahresbericht des AEI. Langfristig wünscht sich das AEI, dass sich die Palästinenser*innen aktiv und öffentlich am Aufbau eines freien, demokratischen und pluralistischen Palästina beteiligen.“ Das Mauermuseum in Bethlehem: Wie kann man seine Kritik an der Besatzung, den erlebten Demütigungen und Schikanen gewaltfrei und wirkungsvoll artikulieren? Auf mehr als 100 Postern haben Frauen und Jugendliche an der Mauer Erlebnisse und Begegnungen aus ihrem Alltag festgehalten: Da ist von Gewalt die Rede, von Willkür, aber auch von Träumen, von Hilfsbereitschaft – und sogar Humor finden wir.

Foto: IPPNW

Protest ja – Gewalt nein: Da gibt es Schweigekreise und Gebete an der Mauer, ein Klavierkonzert unter einem Wachturm, Musik über die Mauer hinweg, Zeichnungen von Kindern, Sammlungen von Berichten – und natürlich das bereits beschriebene Mauermuseum.

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Rechts: Das „Wall Museum“ – Einwohner*innen aus Bethlehem erzählen auf 270 Tafeln an der Mauer ihre persönliche Geschichte. Fotos: IPPNW

Zukunftsperspektiven: Die Organisation von Begegnungsfahrten wie der unseren gehört seit Jahren zu den Arbeitsbereichen des AEI. Zur Zeit wird geprüft, ob sich daraus ein Ausbildungszweig ergeben kann, der die vorhandenen offiziellen Angebote ergänzt, zum Beispiel für besondere Programme, in der Administration oder zum Catering. Damit könnte für junge Menschen eine Erwerbsmöglichkeit geschaffen werden, damit sie nicht gezwungen sind, Palästina zu verlassen.

Kurse in Gewaltfreier Kommunikation (nach Marshall Rosenberg) oder die Beschäftigung mit der Praxis von Mahatma Gandhi bestätigen die Wirksamkeit solcher Aktivitäten. „Empowerment“: Die Frauengruppen setzen sich auch mit ihrer eigenen Situation auseinander und bestärken sich darin, neue Fähigkeiten zu entwickeln. So üben sie sich, in der Öffentlichkeit zu reden oder ihr Englisch zu verbessern. Auch gegenüber der Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde und ihrer Sicherheitskräfte treten sie auf und fordern ihre Rechte ein.

Zum Abschluss eine persönliche Bemerkung: Bei meinem ersten Besuch in Palästina und bei der Frauengruppe war ich überrascht, wie die Frauen lachten, sangen und tanzten. Ich dachte im Stillen, dass die Situation doch nicht so schlimm sein kann, wenn sie so fröhlich sind. Doch dann erklärte mir eine Teilnehmerin: „Du verstehst das falsch. Es ist bei uns oft wirklich zum Verzweifeln. Aber wir könnten es nicht aushalten, wenn wir nicht manchmal für kurze Zeit lachen, singen und tanzen würden.“

Kunst- und Musikfestivals: Seit einigen Jahren findet jährlich ein Festival statt, in dem neben professionellen Künstler*innen auch Mitglieder der Gruppen des AEI auftreten. Da gibt es einen Frauenchor, Dabke-Tanzgruppen und selbstverfasste Spielszenen oder Videos, in denen die Lebenssituation der Menschen zur Sprache kommt. Zusammenleben von Muslim*innen und Christ*innen: Kein Friede zwischen den Menschen ohne Frieden zwischen den Religionen. Diesem Ziel dienen einige Gruppen, zum Teil zusammen mit Lehrkräften aus Bethlehem, Hebron und Ramallah. Das Kennenlernen der jeweils anderen Religion – gemeinsamer Religionsunterricht – gegenseitige Besuche bei Festen – gemeinsame Ausflüge zu wichtigen Stätten der anderen Religion sind solche Aktivitäten.

Mehr Infos zum AEI: https://aeicenter.org

Dabei geht es nicht um Bewertungen oder „Wer hat Recht?“, sondern eher um Fragen wie: „Was bedeutet Hoffnung für Euch?“ Oder „Wie seht Ihr Maria (Maryam)?“ Die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten, die dabei entdeckt werden, tragen nicht selten auch zum besseren Verständnis der eigenen Religion bei. 11

Rosemarie Wechsler


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Eine Mauer. Viele Namen. Von offiziellen israelischen Stellen wird die Mauer meist „Sicherheitszaun“ genannt. Dies, um sie als notwendig für die Sicherheit Israels darzustellen, und da einige Kilometer der Mauer aus Beton und einige aus Zaun bestehen. Auch „Schutzwall“ oder „Anti-Terror-Zaun“ sind in der israelischen Politik häufig genutzte Begrifflichkeiten. Gelegentlich wird auch der Begriff „Grenzanlage“ verwendet, auch wenn die Mauer zu 85 % nicht auf der nach internationalem Recht anerkannten zukünftigen Grenze zwischen den Staaten Palästina und Israel verläuft und auch an den meisten Stellen nicht als Grenze fungiert. Israelische Friedens- und Menschenrechtsaktivist*innen sowie Palästinenser*innen wiederum sprechen häufig von der „Apartheid-“, „Landraub-“ oder „Annexionsmauer“. Damit unterstrei-

chen sie die von ihnen wahrgenommene Funktion der Mauer als Mittel zur Enteignung und Annexion von Land. Von einigen internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen wird sie schlicht als „Mauer“ bezeichnet, oder als „Separationsbarriere“. Mit letzterem Begriff wird der Mauer die Funktion zugesprochen, dass sie unterschiedliche Bevölkerungsteile des Westjordanlandes, nämlich Siedler*innen und Palästinenser*innen, voneinander trennt. Da sehr viele der jüdisch-israelischen Siedlungen mitten im Westjordanland liegen, und nicht nahe der Mauer, werden sie allerdings durch die Mauer selbst an den Stellen nicht von der palästinensischen Bevölkerung abgetrennt, an denen die Mauer weit in das besetzte Westjordanland hineinragt.

Foto: B. Janicke / IPPNW

Über 150 palästinensische Ortschaften oder Stadtviertel mit einer Gesamtbevölkerung von einer halben Million Menschen sind vom Barrierebau betroffen – sie „landen“ entweder auf israelischer Seite der Mauer, sind von dieser teilweise oder gänzlich umgeben, haben Grundstücke und Ernten durch die Bauarbeiten verloren oder werden durch die Barriere von landwirtschaftlichen Flächen abgeschnitten. Dafür hat Israel 84 „landwirtschaftliche Tore“ eingerichtet.

Die Mauer mit den vielen Namen wurde während der Zweiten Intifada (2000) angefangen, angeblich um israelische Bürger*innen vor palästinensischen Selbstmordattentäter*innen zu schützen. „Infolge des unaufhörlichen Terrors hat Israel entschieden, eine Barriere zu errichten“, erklärte das israelische Außenministerium. „Der Zaun“ sei eine „legitime vorübergehende Sicherheitsmaßnahme“, keine Grenze, und trenne Palästinenser*innen nicht von ihren Feldern, wirtschaftlichen oder städtischen Zentren.

Die UN-Agentur OCHA fasst zusammen: „Die Barriere ist wesentlicher Teil eines vielschichtigen Systems tatsächlicher und bürokratischer Hindernisse, die palästinensische Bewegungsfreiheit im gesamten Westjordanland empfindlich einschränken. Die Barriere hat die Zerstückelung der besetzten palästinensischen Gebiete verschlimmert (…). Sie isoliert Grundstücke und verhindert Zugang zu Ressourcen, die für palästinensische Entwicklung benötigt werden, und untergräbt weiterhin landwirtschaftliche Existenzgrundlagen im gesamten Westjordanland.“

Berichte von UN-OCHA oder der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem sprechen dagegen eine andere Sprache. Durch den Zickzack-Verlauf wird die Barriere bis zu 720 Kilometer lang sein, da sie zu 85 Prozent nicht der international anerkannten Waffenstillstandslinie von 1949, der sogenannten Grünen Linie, folgt; die lediglich 315 Kilometer lang ist. Dieser schneidet stellenweise tief ins palästinensische Land, beim sogenannten „Ariel-Finger“ gar 22 Kilometer. Somit wird die Barriere 48 jüdische Siedlungen mit fast 190.000 Siedler*innen dem Staat Israel einverleiben. „Im Endausbau“ werde die Barriere „zirka sechs Prozent des Westjordanlandes abgetrennt haben“, meint das deutsche Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung e.V. (BIB) im Rundbrief Nummer 30. Andere Quellen gehen von zehn Prozent Landverlust aus – nicht gerade wenig bei einem Gebiet, das nur etwas größer als der Bayerische Wald ist.

Was bewegt die israelische Regierung, die Bewegungsfreiheit und Lebensqualität so vieler Palästinenser*innen auf so massive Art einzuschränken?

Thomas König / Solvejg Bethke

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BERICHT 2019

Ein weiteres Museum, das „Walled-off“-Museum in Bethlehem wurde von Grafittikünstler Banksy eingerichtet. Fotos: B. Janicke & R. Ratke/IPPNW

Bethlehem, Mauer Foto: Förster/IPPNW

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BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Ostjerusalem 2. April 2019 keine Bürgerrechte. Ein Auslandsstudium, ein Umzug in eine billigere Wohnung in der Peripherie für mehr als drei Jahre z.B. können Grund sein, den Lebensmittelpunkt in Jerusalem anzuzweifeln. Durch Entzug des Residenzrechtes wurden von 1967 bis 2017 mehr als 14.500 Menschen ihres Wohnrechtes in Jerusalem beraubt. Neugeborene können nur registriert werden, wenn beide Eltern Jerusalem-Palästinenser sind und das Kind in Jerusalem selbst geboren ist. So sammeln die Palästinenser*innen alle Stromrechnungen, Steuerbelege usw. akribisch, um den Lebensmittelpunkt ihrer Familie in Jerusalem zu dokumentieren.

Wie überall in Palästina und Israel konnten wir besonders in Ostjerusalem Zeug*innen der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung werden. Zu Ostjerusalem gehört die Altstadt einschließlich des Gebietes bis zum Ölberg. Die heiligen Stätten der drei Religionen, von Christ*innen, Jüd*innen, Muslim*innen liegen hier: der Tempelberg mit Felsendom, die Al-Aqsa-Moschee, die Grabeskirche. Laut der UN-Resolution von 1947 sollten Jerusalem und Bethlehem unter internationaler Verwaltung stehen. Dieser Plan ist jedoch nicht wirksam. 1980 wurde durch die Knesset das „Jerusalemgesetz“ verabschiedet, wonach ganz Jerusalem „die ewige Hauptstadt Israels“ sei. Die UN reagierte mit der Resolution 478, wonach dieses Vorhaben nicht rechtens sei.

* Palästinenser*innen erhalten weder im Westjordanland noch in Jerusalem eine Baugenehmigung. Es gibt nicht mal einen Bauantrags-Formular für arabische Einwohner*innen Jerusalems für Aufstockungen, Gebäudeerweiterung, Renovierungen o.ä. – auf dem eigenen Grundstück werden derartige Vorhaben in der Regel auch bei Baufälligkeit nicht genehmigt. Also wird oft ohne Genehmigung gebaut, mit der Folge, eine nachträgliche Legalisierung für eine Zehntausend-Dollar-Strafe zu erwerben oder den Abriss des Hauses zu erleben. Dies konnte kürzlich im Juli 2019 in Sur Bahir beobachtet werden, wo aus „Sicherheitsgründen“ zwischen 70 und 100 Wohnungen palästinensischer Jerusalemer*innen abgerissen wurden.

Die Verträge von Oslo 1993 und 1995, auch „Friedensverträge“ genannt, sparen das Thema Jerusalem völlig aus. Dieses sollte nach den Osloer Verträgen neu verhandelt werden. So wurde es überhaupt möglich, die Verträge zu schließen – über Jerusalem hätte es keine Einigung gegeben. 2018 wohnten in Ostjerusalem 341.500 Palästinenser*innen mit Residenzstatus – der sogenannten „Jerusalemite ID“ (Quelle: Auswärtiges Amt). Andere Quellen sprechen von 324.000 arabischen Einwohner*innen Jerusalems (Rosa-Luxemburg-Stiftung Tel Aviv). 1967, nach dem Sechstagekrieg, wurde als erstes das arabische, aus dem zwölften Jahrhundert stammende Mughrabi-Viertel in der Altstadt zugunsten eines nun großen Platzes an der Klagemauer abgerissen. Mittlerweile gibt es auch jüdische Siedlungen im angrenzenden Silwan. Dort soll mit dem Projekt „City of David“ mit dem Argument der „archäologischen Forschung“ das Viertel von Palästinenser*innen geräumt werden, die seit Jahrhunderten dort leben.

* Häuser, die vor 1948 in jüdischem Besitz waren, werden zurück-

verlangt. So in Jerusalem z.B. in dem Stadtteil Silwan, wo Israel archäologische Ausgrabungen der antiken „Davidsstadt“ durchführt. Umgekehrt wird den 947-49 und erneut 1967 vertriebenen Palästinenser*innen das Recht auf Rückkehr in die ehemals von ihnen bewohnten Häuser verwehrt, das in der UN-Resolution 194 festgeschrieben ist.

*

Der Siedlungsgürtel um Ostjerusalem mit mehr als 210.000 jüdischen, überwiegend national-konservativen und streng religiösen Siedler*innen ist fast geschlossen.

Um die Entwicklung der arabischen Bevölkerung in Ostjerusalem zu erschweren, ist ein Netz von Bestimmungen wirksam:

* Die meisten Palästinenserinnen und Palästinenser haben nicht die israelische Staatsangehörigkeit, sie sind quasi staatenlos. Die Jerusalem-ID-Karte macht sie nicht zu Einwohner*innen Jerusalems, sondern gibt ihnen ein „Residenzrecht“, das ihnen entzogen werden kann. Die arabischen Einwohner*innen Jerusalems haben

* Hinzu kommt der Mauerbau. Der Großteil der Mauer ist auf paläs-

Ostjerusalem, Foto: R.Ratke/IPPNW

tinensischem Land gebaut, wodurch nicht nur Ländereien westlich der Mauer für die palästinensischen Besitzer*innen unzugänglich gemacht und langfristig annektiert werden, sondern auch erhebliche kilometerlange Umwege durch Checkpoints entstehen, die die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung einschränken und auch den traditionellen Handel mit dem Umfeld erschweren. Für diese Außenbezirke, insbesondere Palästinenser*innen in der sogenannten „Seam Zone“ (Nahtzone), die östlich der grünen Linie und westlich der Mauer liegen, gibt es keine kommunale Versorgung mehr. Das führt zu einer hohen Armutsrate der palästinensischen Bevölkerung. Wir erlebten auf unserer Reise die Folgen für das palästinensische Volk, da die internationale Gemeinschaft dieses völkerrechtswidrige Verhalten Israels mehrheitlich stillschweigend toleriert. So entsteht der Eindruck, dass es das Ziel Israels ist, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben, um die „Judaisierung Jerusalems“ voranzutreiben – so der Ausdruck Aryeh Kings, der 2013 für das Amt des Jerusalemer Bürgermeisters kandidierte (siehe Haaretz: ippnw.de/bit/haaretz). Ursula Haun-Jünger 14


BERICHT 2019

Enteignung in Ostjerusalem und Umgebung Enteignung in Ost-Jerusalem und Umgebung Ramallah

Israelische Siedlungen

Bitunija Al Bireh

Palästinesische Ortschaften Kochav Jaakov

Altstadt

Kafr Aqab Qalandiya

Giva't Ze'ev

Qalandija Flüchtlingslager

Niemandsland

Dschaba Ar Ram Geva Binjamin

Waffenstillsandslinie von 1949 (Grüne Linie)

Neve Yaakov

Biddu

Hizma

Beit Hanina

Har Adar

Kfar Adumim

Beit Surik Beit Iksa

Pisgat Zeev Ramot Shuafat

Schu’afat

French Hill

Erweiterte Stadtgrenze nach 1967

Khan al Ahmar

Flüchtlingslager Al-Issawija

Az-Za’ajem Beduinen

Scheich Dscharrah

Adumim Industriegebiet

At-Tur Maale Adumim

Silwan Abu Dis Dschabal Muqaber

Abu-Nuwar Arab al Dschahalin

East As-Sawahrah Talpiot

Al-Waladsche

Gilo

Battir

Wadi Fukin

Husan

Beit Dschala

'Ayda Flüchtlingslager

Bethlehem

Deheische Flüchtlingslager

Beitar Illit

Sperranlage fertiggestellt

Sur Baher

fertiggestellt

Har Homa

Permanente Checkpoints Beit Sahur

Gebiet zwischen Sperranlage und Stadtgrenze

Quelle: Israel – Ein Blick von innen heraus. Rosa-Luxemburg-Stiftung 2018/19, Auf Basis der Daten von UNOCHA –https://www.ochaopt.org

Siedlungen „Siedlung“ ist das Wort, das im Deutschen für diejenigen Dörfer und Städte genutzt wird, in denen jüdisch-israelische Menschen, genannt Siedler*innen, im palästinensischen Westjordanland leben. Der internationalen Gemeinschaft nach sind das Westjordanland, einschließlich Ostjerusalems, der Gazastreifen und die Golanhöhen von Israel besetzte Gebiete. Die sind geographisch vom Staat Israel durch die sogenannte grüne Linie getrennt, die Waffenstillstandslinie von 1949. Im Fall einer Besatzung gilt internationales humanitäres Recht. Dieses besagt unter anderem, dass es in einer Besatzungssitu-

ation verboten ist, die Zivilbevölkerung der Besatzungsmacht in die besetzten Gebiete zu transferieren. Auf Palästina bezogen heißt das, dass jüdisch-israelische zivile Siedlungen östlich der grünen Linie, der international anerkannten Grenze zwischen Israel und einem zukünftigen Staat Palästina, nach internationalem Recht illegal sind. Diese nach internationalem Recht illegalen Siedlungen sind nach israelischem Recht oft legale israelische Städte und Dörfer, die auch einem Siedlungsplan der Regierung entsprechen. Allerdings gibt es auch diejenigen Siedlungen, die spontan und ohne Genehmigung der israelischen Regierung von radikalen Siedler*innen gebaut werden. Dies sind dann oft zunächst Contai-

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neransiedlungen, die allerdings vom israelischen Staat mit Infrastruktur, also Straßen, Strom, Wasser und Internet versorgt werden. Diese Art von Siedlung werden Außenposten genannt, und sind sowohl nach internationalem als auch nach israelischem Recht illegal. In seltenen Fällen entscheidet der israelische oberste Gerichtshof, dass ein Außenposten geräumt werden muss. In manchen Fällen wird ein solches Urteil auch umgesetzt. In den meisten Fällen allerdings werden Außenposten, wenn sie gewachsen sind, als israelische Siedlungen anerkannt und legalisiert – nach israelischem Recht. Nach internationalem Recht bleiben sie illegal. Solvejg Bethke


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Hebron: Abrahamsmoschee, Shuhada Street 3. April 2019 Und wieder geht es früh los. Unser Bus nimmt Landstraßen im Westjordanland gen Süden. Mittlerweile ist unser Blick schon geübter. Wir erkennen „die“ Mauer (die Palästinenser*innen nennen sie Apartheid Wall), stadtgroße jüdische Siedlungsblöcke und die zuführende israelische Schnellstraße dahin. Manchmal auch eine „illegale“, noch sehr provisorische Siedlung, also israelische Fahne, ein paar Wohnwagen, Absperrungen. Eigentlich sind ja alle jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland nach internationalem Recht illegal (Artikel 49/6 des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen), aber „illegale Siedlungen“ sind selbst nach israelischem Recht illegal, trotzdem werden sie wohlwollend geduldet, mit Armeeposten gesichert und erhalten infrastrukturelle Anbindungen. Irgendwann sind Tatsachen geschaffen und der „Außenposten“ wird als Siedlung legalisiert, das ist zumeist nur eine Frage der Zeit. Der Roman von Assaf Gavron „Auf fremdem Land“ drängt sich mir auf.

An der Abrahamsmoschee. Foto: Förster/IPPNW

Das für Christen, aber besonders Muslime und Juden religiös bedeutsame Hebron (Al Khalil auf Arabisch) empfängt uns an dem muslimischen Feiertag al-Miradsch, an dem die Himmelfahrt Mohammeds gefeiert wird; die Abrahamsmoschee mit dem Grab der Patriarchen können wir daher nicht besuchen. Schade. Aber weit wichtiger erschien mir, mein vorhandenes Wissen, auch um das blutige Attentat von 1994, als ein jüdischer Armee-Arzt unter den betenden Muslimen in der Moschee ein schreckliches Blutbad anrichtete, im örtlichen Kontext zu „erfühlen“. Nach Passage eines Checkpoints erreichen wir den Suq, den Markt von Hebron. Er erinnert mich etwas an die engen Gassen der Jerusalemer Altstadt. Ein Trubel an festlich gekleideten, muslimischen Familien, ausgelassene Feiertagsstimmung liegt in der Luft und will uns in ihren Bann ziehen. In einem kleinen Park der Altstadt genießen wir Kaffee und Säfte, um uns toben Kinder, Familien sitzen zusammen, junge Mädchen üben sich in Gruppen-Selfies. Ein Gefühl von Normalität kommt auf. Bis wir wieder in die Altstadt abtauchen und über unseren Köpfen den Maschendraht entdecken. Einige Häuser sind von jüdischen Siedlern besetzt und diese werfen gelegentlich ihren Müll oder sogar Steine in die Gassen unter ihnen – der Maschendraht schützt die Passanten etwas. Die omnipräsenten Kameras verunsichern und erinnern mich daran, dass auch Deutschland auf dem Weg zu immer stärkerer Überwachung ist; Überwachen hat nichts mit Sicherheit zu tun … . Immer wieder stoßen wir auf bewaffnete Patroullien der israelischen Armee (IDF), in der Nähe der Abrahamsmoschee entdecken wir direkt über unseren Köpfen Scharfschützen. Alltag im Westjordanland.

Soldat*innen, oft wechselnde Bestimmungen und plötzlich erklärte Sperrgebiete – wie in vielen Teilen der besetzten Gebiete wird auch in Hebron das Alltagsleben der Palästinenser*innen extrem erschwert. Ein Paradebeispiel für diese Politik der Trennung ist die ShuhadaStraße, eine der Hauptstraßen der Hebroner Altstadt, die 1994 für Palästinenser*innen fast komplett gesperrt wurde. Als wir uns der Shuhada-Straße nähern, lassen viele bewaffnete Soldaten schon im Vorfeld ein beklemmendes Gefühl aufkommen. Der Eingang in die Straße ist durch Absperrgitter geteilt: nur der eine Rand ist für die Masse der Palästinenser*innen gedacht; eng, unwegsam, mit Löchern und Bordsteinabsenkungen. Der restliche Teil der Straße ist eben und von Soldaten abgegrenzt. Dieser Gegensatz hat mich stark berührt und bringt vieles, was ich auf dieser Reise an Unrecht, ja Apartheid erleben musste, auf den Punkt: auf zwei unwegsamen Meterchen drängeln sich die Palästinenser*innen dieser Stadt, Mütter mit Kleinkindern, Alte, eilige Männer. Direkt daneben beobachten wir, wie eine junge, traditionell gekleidete Siedlerin „ihren“ breiten, ebenen Weg entlangschreitet, die Soldaten dabei vertraut grüßend. Es gelingt mir nicht, mir diese Szene in einem anderen bekannten Land vorzustellen; Bilder aus Geschichtsbüchern und aus Südafrika tauchen in meinem Kopf auf.

Nach dem Massaker an Muslimen in der Abrahamsmoschee wurde ab 1994 in Hebron eine Politik der Trennung von israelischen Siedlern und Palästinensern durchgesetzt und ab 2000 (zweite Intifada) weiter verschärft. Insbesondere um jüdische Siedlungen wurde die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen durch Ausgangsverbote, Straßenschließungen, Checkpoints und Barrieren stark eingeschränkt. Familien mussten umziehen, die Schule, der Arbeitsplatz oder Verwandte sind nur noch über Umwege zu erreichen. Tägliches und langwieriges Passieren von Checkpoints der IDF mit willkürlichen Verhaftungen, Schikanen bis hin zu Misshandlungen durch

Nach ein paar Metern werden wir von Soldaten umringt und unsere Reiseleiterin wird befragt. Als deutsche Touristen dürfen wir weiterlaufen, unser palästinensischer Stadtbegleiter jedoch wird aussortiert und zurückgeschickt. Vorbei an Militärjeeps gelangen wir in eine wahre Geisterstraße. Die Sonne brütet, links und rechts verrammelte 16


Geschäfte, zugeschweißte Hauseingänge, Stacheldraht, Unkraut. Gerade noch geschäftiges Treiben in der Altstadt, nun, einige Meter entfernt, ist alles menschenleer. Die Stille erscheint bedrohlich und unwirklich. Hundert Meter vor uns schreitet die Siedlerin. Ab und an prescht plötzlich ein SUV oder ein vergitterter Bus durch die Straße, wir springen zur Seite. Siedler. Auf einem Hügel sehen wir einen ArmeestützShuhada punkt, Soldaten patrouillieren. Blau-weiße Fahnen und recht hübsch gemalte Plakate zeigen nach einer Weile an, dass wir uns einer der jüdischen Stadtsiedlungen nähern. Die Plakate in Hebräisch und Englisch – Darstellung der Sichtweise der Siedler: unser Gott, unser Volk, unser Recht, unser Land; unser Eigentum, geraubt von Arabern. Religion zur Legitimierung und Verschleierung handfester wirtschaftlicher Interessen, auch hier.

Street früher. Foto: K. Scholl

Einige wenige Häuser werden in den oberen Stockwerken noch von Palästinenser*innen bewohnt. Die Haustür ist jedoch versperrt, der Zugang ist nur über Fenster oder Zweiteingänge von der Rückseite des Hauses her möglich. Fenster und Balkone sind mehrfach vergittert – auf Anordnung des Militärs, oder als Schutz der Bewohner*innen vor Angriffen durch die Siedler*innen? Vermutlich beides. Hinter den Gittern Plakate wie „Caution: this was taken by Israel“ und „You are Apartheid“.

Shuhada Street heute. Foto: Förster/IPPNW

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Auf der Rücktour gerät unser Bus in einen plötzlichen Stau. Das Gerücht über einen „mobilen Checkpoint“ der israelischen Streitkräfte macht sofort die Runde. Schrittweise kommen wir der Straßensperre näher, die sich jedoch als kleiner Autounfall herausstellt. Ein Aufatmen geht durch den Bus, Anspannung bleibt. Es handelt sich offensichtlich um einen Lackschaden zwischen einem palästinensischen Auto und einem Siedler-SUV. Drei Jeeps der israelischen Armee sperren ab, Soldaten sichern mit ihren Sturmgewehren den Unfallort. Der palästinensische Fahrer steht verunsichert zwischen Soldaten, die beiden Siedler, vermutlich Vater und Sohn, diskutieren mit den Offizieren. Die Siedler tragen wie selbstverständlich ihre Schnellfeuergewehre über der Schulter. Militär, nicht Polizei klärt hier die Situation. Wir werden schlagartig daran erinnert, dass hier Besatzungs-, also Militärrecht gilt, jedoch nur für die Palästinenser. Die Siedler*innen unterstehen israelischem Zivilrecht. M. Förster


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Tent of Nations 3. April 2019 Ihre Überzeugungen geben Daoud und Daher Nassar in Feriencamps weiter, die sie für palästinensische Kinder anbieten. Für diese Kinder oft die einzige Gelegenheit, einige Tage lang aus der Enge ihrer Dörfer auszubrechen. Vision der Nassars ist, ein Umweltzentrum aufzubauen, um den Kindern diese Verbindung zum Land und die Verständigung zwischen den Völkern und die Verantwortung für den Frieden nahezubringen. Daouds Frau Jihan gibt Kurse für die Frauen aus dem nahe gelegenen Nahalin, z.B. in Englisch oder im Umgang mit dem Computer. Außerdem werden Wein, Olivenöl und Honig hergestellt und verkauft.

Steine versperren dem Bus die Straße, die zum Weinberg hochführt. Wir steigen aus und klettern über die Barriere. Wir laufen den Weg hoch zum „Tent of Nations“, auch Dahers Weinberg genannt, einem landwirtschaftlichen Familienbetrieb und Begegnungszentrum, wo uns Daoud Nassar die Geschichte seiner Familie erzählen will. Aber erstmal gibt es ein reichhaltiges Mittagessen auf der Terasse vor dem kleinen Haus. Die Aussicht ist wunderschön. Weil wir im Frühling hier sind und es viel geregnet hat, ist das Land grün – von hier oben wirkt es weit. In der Ferne sieht man etwas funkeln, von dem jemand behauptet, es sei das Tote Meer. Schaut man sich jedoch weiter um, sieht man schnell, dass die Idylle trügt. Das Land der Familie Nassar liegt umgeben von fünf großen Siedlungsblöcken, deren Ausweitung schon lange geplant ist – auf dem Land, auf dem wir gerade stehen.

Schutz durch internationale Öffentlichkeit Nach dem beeindruckenden Vortrag führt uns Daouds Bruder Daher über das Gelände und zeigt uns den Garten, wo wir Freiwillige unterschiedlichster Nationalität treffen, die offen und begeistert von ihrer Arbeit berichten. Uns wird erzählt, dass die Angriffe durch Siedler*innen und die Zerstörungen durch Soldat*innen weniger geworden sind, seit sich fast immer internationale Gruppen und Einzelpersonen im „Tent of Nations“ aufhalten. Daoud Nassar hat in Deutschland und Österreich studiert und verfügt dort über gute Kontakte. Gäste aus dem Ausland bedeuten hier zumindest einen temporären Schutz, weil das isralische Militär mit der Zerstörung des Eigentums friedlicher Bauern nicht international bekannt werden möchte. Mit Sorge beobachten Daoud und sein Bruder allerdings den Bau einer großen Thora-Schule in ihrer Sichtweite und fragen sich, wie sich die Schüler*innen ihnen gegenüber verhalten werden.

Versuchte Enteignung und Angriffe durch Siedler*innen Wir folgen Daoud in eine der geräumigen Höhlen mit bunten Zeichnungen von internationalen Jugendbegegnungen an den Wänden. Er erzählt uns, wie die Familie seit nunmehr 28 Jahren um ihren Besitz kämpft: Das Anwesen wurde im Jahr 1916 von Daouds Großvater gekauft, und obwohl die Nassars den Kauf samt Bezahlung der Steuern seit dieser Zeit lückenlos nachweisen können, werden von ihnen immer neue Beweise verlangt: Übersetzungen, aktuelle Vermessungen, Luftaufnahmen, Beauftragung eines israelischen Anwaltes anstelle des bisherigen palästinensischen, Bestätigungen der Nachbarn, dass das Anwesen ständig bewohnt und bewirtschaftet wird… Diese Nachweise haben die Familie bisher etwa 150.000 Euro gekostet. Seit 14 Jahren liegt das Verfahren nun beim obersten israelischen Gericht, ohne dass es eine Entscheidung gegeben hätte.

Unsere Fage an Daoud Nassar ist, was wir als Besucher tun können. Er bittet uns, über das Gesehene weiter zu berichten und bei konkreten Anlässen Briefe an unsere Regierung zu schreiben, die seiner Erfahrung nach nicht ohne Wirkung bleiben.

Nicht minder belastend sind die wiederholten Angriffe von Siedler*innen: Sie „besuchen“, manchmal bewaffnet, unangemeldet das Anwesen und zerstören in nächtlichen Aktionen wertvolle Anpflanzungen. Immer wieder werden für alles, was auf dem Land gebaut und angebaut wird, Räumungsbefehle „zugestellt“, die oft versteckt auf dem Grundstück hinterlassen werden. Auch der Steinwall, über den wir zu Anfang klettern mussten, ist Teil der Strategie, das Leben auf dem Weinberg zu erschweren. (Offiziell aus „Sicherheitsgründen“ – dieser Ausdruck verfolgt uns über unsere Reise hinweg.)

„Sumud“ bedeutet Standhaftigkeit Das Tent of Nations ist der erste Ort, an den wir kommen, an dem nicht alles einfach nur schrecklich ist. Daoud vermittelt so viel Durchhaltevermögen und schöpferische Kraft, aus der Situation das Bestmögliche herauszuholen und niemals aufzugeben. Er betont, wie wichtig es ihm ist, dass die Palästinenser*innen ihr Schicksal in die Hand nehmen statt sich lähmen zu lassen. Für uns ist das Tent of Nations das beste Beispiel für eine Haltung, die uns in Palästina immer wieder begegnet ist und die mit dem arabischen Wort „Sumud“ umschrieben wird. „Sumud“ bedeutet Standhaftigkeit und Durchhalten – beides wünschen wir auch der Familie Nassar.

Wir weigern uns, Feinde zu sein! Trotz der ständigen Belastungen ist die Familie entschlossen, der Situation gewaltfrei zu begegnen, mit dem Satz, „Wir weigern uns, Feinde zu sein“. Ein weiteres Motto der Familie lautet: „Wir weigern uns, Opfer zu sein“. Das heißt, sie will sich nicht durch die ständige Bedrohung und Behinderung lähmen lassen, sondern nutzt die Möglichkeiten, die sie trotz allem hat: Da die Familienmitglieder keine Wasserleitung bekommen, nutzen sie die Quellen auf ihrem Berg, bauen Zisternen und Komposttoiletten – da es keinen Strom gibt, errichten sie eine Solaranlage – da sie keine Baugenehmigungen erhalten, weichen sie auf die Höhlen aus, die bereits ihr Großvater genutzt hat. Selbst im Winter bleiben immer einige Familienmitglieder auf dem Berg.

Der friedliche Weinberg inmitten der Siedlungen im besetzten Gebiet hat mich stärker mit der Sehnsucht nach Frieden erfüllt als irgendein Ort auf der Reise. Vielleicht, weil ich einen Funken von diesem Frieden dort gesehen habe. Umso trauriger bin ich, als wir uns bei tief stehender Sonne auf den Weg zurück zum Bus machen und an dem berühmten Stein mit den Worten „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ vorbeilaufen. Wir möchten gerne wiederkommen. Mehr Infos: www.tentofnations.org Rosemarie Wechsler / Sarah Wichert 18


Foto: A. Wilmen/IPPNW

Foto: B. Janicke/IPPNW

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Foto: B. Janicke/IPPNW


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Zur aktuellen Situation in Palästina Ein Überblick von Prof. Helga Baumgarten – Universität Birzeit

Ein halbes Jahr nach der IPPNW-Reise hat sich die Lage der Palästinenser*innen auf allen Ebenen weiter verschlechtert:

Schtajjeh sein. Er tat sich in den vergangenen Monaten mit einer klaren politischen Positionierung im Widerstand gegen die Besatzung hervor, und mit einer neuen, durchaus originellen Initiative, die Besatzung auf allen Ebenen zu untergraben. Ob er seine politischen und ökonomischen Ideen in die Praxis umsetzen kann, muss abgewartet werden. Er steht nicht nur gegen das übermächtige Besatzungssystem, sondern durchaus auch in einem gewissen Konflikt mit dem autoritären Palästinenser-Präsidenten Mahmud Abbas.

– Die tägliche Gewalt von Armee und Siedler*innen hat zugenommen. – Die ökonomische Situation hat sich weiter verschlechtert. – Der Gazastreifen wird für seine fast zwei Millionen Einwohner bald unbewohnbar sein.

Immer wieder ist die Rede von der Nachfolge für Mahmud Abbas, der immerhin bald 84 Jahre alt und gesundheitlich eher angeschlagen ist. Bis dato zeichnet sich jedoch kein allseits akzeptierter Kandidat ab.

– Eine wie auch immer geartete politische Lösung ist nicht in Sicht. – Die autoritäre Herrschaft von Mahmud Abbas (Fatah) im Westjordanland und die autoritäre Herrschaft von Ismail Haniyeh und Yahya Sinwar (Hamas) im Gazastreifen, haben sich weiter verfestigt, auch wenn beide der israelischen Besatzung untergeordnet sind.

Die Lage im Gazastreifen ist gekennzeichnet von den katastrophalen Folgen der israelischen Abriegelung seit 2006/07, denen die Hamas-Führung nichts entgegenzusetzen hat. Die Hoffnung von 2006 auf eine nicht-korrupte und basisnahe Regierung konnte die Hamas nicht erfüllen. Kritik an einer autoritären Führung, ähnlich der Führung in Ramallah, ist weit verbreitet.

– Israel hat einen zweiten Wahlgang hinter sich und bereitet sich möglicherweise auf einen dritten Wahlgang vor. Die Bildung einer Regierung erscheint zusehends schwieriger.

Während Mahmud Abbas massiver Kritik ausgesetzt ist wegen der Fortsetzung der „Sicherheitskooperation“ mit Israel, die verbal immer ausgesetzt, in der Realität allerdings ununterbrochen praktiziert wird, konzentriert sich die Kritik an der Hamas-Führung an deren Versuchen, Abkommen mit Israel zu erreichen, die die Lebenssituation der Menschen in Gaza verbessern sollen. Die Opposition wirft beiden, der Fatah wie der Hamas, vor, zuerst und vor allem an ihrer eigenen, wie auch immer limitierten, Herrschaft interessiert zu sein.

– Palästinenser*innen in Israel streiken und demonstrieren gegen den nicht vorhandenen Schutz durch die Polizei vor Gewalt innerhalb der palästinensischen Gesellschaft.

Die palästinensische politische Führung Der Konflikt zwischen Fatah und Hamas, zwischen Gaza und dem Westjordanland, hat sich bis heute nicht entspannt. Zwar signalisieren beide Seiten, sie seien bereit zur Aussöhnung. Kaum ist das gesagt, beginnen jedoch die gegenseitigen Angriffe, die an Schärfe nichts verloren haben und, v.a. von Seiten der Fatah, nicht mehr akzeptabel, ja unter der Gürtellinie sind.

Die Politik Israels unter Benjamin Netanjahu Bis heute ist die israelische Politik bestimmt vom Versuch Netanjahus, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, nicht zuletzt um eine Anklage vor Gericht wegen Korruption zu vermeiden. Ob er angeklagt wird, soll sich bis Ende des Jahres entscheiden, nachdem im Oktober 2019 eine erste Anhörung stattgefunden hatte.

Ende September 2019 eskalierte der Konflikt auf der Ebene der studentischen Organisationen in Birzeit in wüste Zusammenstöße, die zur Schließung der Universität durch die Verwaltung führten. Am 1. Oktober, nach einer Aussetzung der Auseinandersetzungen, zogen die Studierenden zu Demonstrationen gegen die Besatzung zum „DCO“-Checkpoint Beit El, der stundenlang geschlossen war. Am nächsten Tag waren die Spuren der „Demonstrationen“ unübersehbar (Steinbarrikaden, Reste von Feuer etc.).

Egal, wer die Regierung Israels übernehmen wird – der Rechtsruck in der israelischen Politik ist eine auf absehbare Zeit feste Konstante. Es gibt keine politische Kraft, die bereit wäre, die Besatzung zu beenden, den Siedlerkolonialismus zu stoppen, mit den Palästinensern zu verhandeln und ihnen einen eigenen Staat in den 1967 besetzten Gebieten zu gewähren. Die Zweistaatenlösung, an die sich nicht zuletzt Deutschland klammert, ist längst gestorben. Der Grund ist einfach: Israel lehnt diese Lösung ab und versucht, das ganze historische Palästina unter seiner Kontrolle zu behalten. Es wird, so erwartet man es hier vor Ort, sukzessive weitere Annexionen geben. Für die Palästinenser*innen gibt es im besten Fall einige wenige Bantustans.

Auslöser für die Demonstrationen war die brutale Folter eines verhafteten Palästinensers, der verdächtigt wird, eine junge Israelin mit einer ferngezündeten Bombe getötet zu haben. Der politische Aktivist überlebte die Folter nur knapp. Ein Hoffnungsschimmer könnte die politisch aktive und durchaus innovative Rolle des neuen palästinensischen Premiers Mohammed 20


Universität Birzeit, Foto: Förster/IPPNW

Die palästinensische Gesellschaft

Wie wird es weitergehen?

52 Jahre Besatzung und das System des Siedlerkolonialismus mit immer weiter expandierenden Siedlungen haben in der palästinensischen Gesellschaft ihren Zoll gefordert. Das Pariser Protokoll, das die Kontrolle Israels über die palästinensische Wirtschaft zementiert, die ökonomische Öffnung und das Eindringen neoliberaler Mechanismen (und Werte) in Wirtschaft und Gesellschaft haben zur Herausbildung extremer Widersprüche zwischen Arm und Reich geführt, am sichtbarsten in Ramallah.

Israel wird seine rücksichtslose Politik der Unterdrückung der Palästinenser*innen aufrechterhalten und seine Herrschaft über die 1967 besetzten palästinensischen Gebiete noch weiter expandieren und vertiefen, möglicherweise durch umfassende Annexionen. Ohne internationalen Druck wird keine politische Kraft in Israel dies ändern. Der Widerstand in der palästinensischen Gesellschaft ist derzeit vor allem verbal und entwickelt sich in Think-Tanks, auf zahllosen Webseiten, teils in der Zivilgesellschaft und von Seiten herausragender Individuen.

Ramallah ist Sitz der riesigen Bürokratie der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Die Stadt wird von der ökonomischen und politisch-bürokratischen Elite dominiert. Die dort lebende untere Mittelklasse ist durch extensive Kredite leicht kontrollierbar. Der ärmere und ärmste Teil der Bewohner*innen in Ramallah und überall im Westjordanland ist im täglichen Kampf um das Leben und Überleben absorbiert. Politischer Widerstand ist vor diesem Hintergrund eher punktuell, oft individuell und ohne die klare Führung durch eine organisierte politische Kraft. Die Hamas, die Gruppe „Islamischer Dschihad“ und die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP) sind zwar präsent, aber ohne wirkliche Freiräume für politische Arbeit oder Widerstand gegen die Besatzung.

Oft ist die Forderung zu hören, die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO müsse als politisches Instrument der Veränderung wiederbelebt werden (so etwa der Schriftsteller Asmi Bishara, die NGO al-Shabaka und andere). Dabei wird allerdings übersehen, dass die PLO vollständig durch die Fatah kontrolliert wird, während die Hamas und die Gruppe „Islamischer Dschihad“ noch nicht einmal in ihr vertreten sind. Eine einerseits hoffnungslose Situation – andererseits aber sind die Palästinenser*innen da und bestehen auf ihrer kontinuierlichen Präsenz. Der Historiker Adel Manna aus Galiläa hat das in seinem letzten Buch klar formuliert: es geht um das „Baqa“, darum, auszuharren und zu bleiben.

Die in Deutschland verteufelte BDS-Bewegung („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“) wird in Palästina von allen politischen und zivilgesellschaftlichen Kräften unterstützt, spielt ihre wichtigste Rolle jedoch auf der internationalen Ebene mit ihren drei zentralen Forderungen nach Boykott Israels, nach Investitionsentzug sowie nach Sanktionen, solange Israel die Besatzung und das illegale System des Siedlerkolonialismus aufrechterhält. Nicht zuletzt fordert BDS, Israel müsse gezwungen werden, internationales Recht zu respektieren und einzuhalten und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachzukommen. Das bedeutet auch, dass Israel die zahllosen Beschlüsse der UN, die auf dem Rückkehrrecht der Flüchtlinge und Vertriebenen von 1948 und 1967 bestehen, umsetzt. Mit Antisemitismus hat das nicht das Geringste zu tun.

Schließen möchte ich deshalb mit einem Zitat der Juristin Noura Erekat, die in den USA lehrt und eine unermüdliche Aktivistin ist: „Wir wagen es zu existieren und werden nicht einfach verschwinden... Man behauptet, das sei lediglich unsere Antwort auf Israel, nicht unser Wunsch, zu leben... Aber wir wollen leben. Und Israel ist der Hauptgrund, dass wir nicht leben, dass wir unser Leben nicht in Würde leben können.“

Prof. Helga Baumgarten ist Politikwissenschaftlerin. Am 3. April 2019 hielt sie an der Universität Birzeit einen Vortrag für die IPPNW-Reisegruppe. Mehr Informationen unter: https://www.birzeit.edu/ 21


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Health Work Committees & Dunya Breast Cancer Hospital 3. und 4. April 2019 Sektor aus. Ein großes Problem sei dabei die eingeschränkte Mobilität aller Palästinenser*innen. Sie müssen auf dem Weg zur nächstgelegenen medizinischen Einrichtung häufig israelische Checkpoints mit unvorhersehbaren Wartezeiten passieren. Nicht nur Patient*innen werden so an ihrem Zugang zur Versorgung gehindert, auch die Lieferung von Medikamenten und Laboruntersuchungen wird verzögert und Bewegungsfreiheit des medizinischen Personals erschwert. Aber auch die Anzahl der zur Verfügung stehenden Einrichtungen sei nicht ausreichend. Die Menschen versuchten daher in ihrer Bedürftigkeit nach Israel oder Jordanien zu gelangen, um dort professionell versorgt zu werden. Spezialisierte Kliniken befinden sich zum Beispiel in Ostjerusalem, doch für die Fahrt dorthin bedarf es erneut einer Genehmigung durch israelische Behörden, auch in Notfällen. Die Bearbeitung der Anträge in israelischen Institutionen benötigt in Regelsituationen häufig mehrere Wochen bis Monate. Außerdem muss für den Krankentransport ein israelischer Wagen angefordert werden, der nur in Begleitung des Militärs fahren darf. So sind Behandlungen für beispielsweise an Krebs erkrankte Menschen häufig erst nach monatelangen Wartezeiten möglich oder Patient*innen in Notsituationen können selbst dann nicht transportiert werden, wenn ein israelischer Rettungswagen vor Ort ist, aber die Militärbegleitung fehlt.

Unser Bus wackelt die letzten Meter bis an den Rand einer der vielen hellen und sandigen Straßen, kommt dann zum Stehen. Ein paar wenige Schritte bis zum Eingang eines der typisch aussehenden hellbeigen Steinhäuser, ein bisschen warm und staubig ist die Luft, dann gehen wir rein, in das Halhoul Health Center. Mir schwirren noch die Eindrücke der letzten Tage durch den Kopf. Ein kompliziertes, buntes Chaos mit unzähligen offenen Fragen.

Zusätzlich zu der ungenügenden Versorgung haben die Bedingungen unter israelischer Besatzung sogar krankheitsfördernde Wirkung. Einerseits ziehen Maßnahmen der Besatzungspolitik massive psychische Belastungen nach sich – unter anderem allgegenwärtige Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch die Mauer, Unterbrechung der sozialen und familiären Netzwerke, Diskriminierungserfahrungen an den Checkpoints, permanente Bedrohungslage durch unangekündigte Razzien und Verhaftungen. Andererseits gibt es aufgrund mangelnder Infrastruktur nur eingeschränkten Zugang zu Trinkwasser und Heizung, was notwendigerweise Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen hat.

Dann auf einmal eröffnet sich ein Mikrokosmos und es wirkt alles überraschend vertraut. Die Schwelle zur wohlbekannten Arbeitsatmosphäre: Halbrunde Empfangstheke, geordnete Akten, ein kurzer Hinweis auf Datenschutz, es riecht ein bisschen nach Hygiene, ein paar typische Wartestühle in Reihe, Poster mit regionalen Gesundheitsthemen an den Wänden.. viel weiß, blau, türkis.

Die Mitwirkenden der HWCs haben es geschafft, in 17 Orten innerhalb des Westjordanlands Gesundheitszentren bzw. Kliniken und auch Zentren zur Entwicklungsförderung (im Sinne von Prävention) selbstverwaltet zu betreiben: Sieben im Norden, fünf in zentraleren Regionen und weitere fünf im Süden des Westjordanlands. Außerdem versorgen mobile Kliniken die marginalisierten Regionen im äußersten Norden und Süden. Die Organisation finanziert sich durch Spendengelder, so dass Patient*innen nicht den vollen Behandlungsbetrag zahlen müssen und mittellose Patient*innen kostenfrei behandelt werden können. Es gibt zahlreiche Präventionsprojekte zur Gesundheitsförderung wie das Angebot von Workshops zu Diabetes und spezielle Programme für Frauen und Säuglinge, außerdem Impf- und Vorsorgeprogramme in Schulen oder Zentren zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Wie lange Projekte aufrecht erhalten werden können, ist aber oft abhängig von externen Sponsoren und unterliegt Schwankungen, die nicht immer vorhersehbar und steuerbar sind.

„Herzlich Willkommen!“ Tariq* kommt auf uns zu, fragt, wie es uns geht. Er hat sich bereit erklärt, uns über dieses Gesundheitszentrum und seine Arbeit zu erzählen. Ich bin gespannt auf die Begegnung, möchte wissen, wie das hier möglich geworden ist. Im oberen Stockwerk schaffen der gesellige Stuhlkreis und der würzige Begrüßungskaffee in kleinen Einmalbechern eine angenehme Zuhör-Atmosphäre. Wir erfahren: Health Work Committees (HWC) in Palästina sind eine zivilgesellschaftliche Organisation, die sich 1985 mit dem Ziel gegründet hat, eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung für die palästinensischen Menschen unter israelischer Besatzung im Westjordanland und im Gaza-Streifen zu gewährleisten. Auf Grundlage internationaler Menschenrechtskonventionen beziehen sich die HWCs auf das Recht der palästinensischen Bevölkerung auf Gesundheit und ein interdisziplinäres Gesundheitssystem. Derzeit gebe es kein richtiges „Gesundheitssystem“, wird uns erklärt. Die von den palästinensischen Autonomiebehörden organisierte medizinische Versorgung reiche weder im stationären noch im ambulanten 22


BERICHT 2019

Bei mir ist eine tiefgreifende Bewunderung dieser Menschen entstanden, die sich trotz der täglichen Provokationen nicht von allgegenwärtigen Gefühlen wie Hass und Wut vereinnahmen lassen und stattdessen lebenswerte, friedliche Alternativen erschaffen. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, wie einfach und gängig es ist, auf Ungerechtigkeit mit Empörung und Wut zu reagieren. Aber daraus Energie zu schöpfen, um eigene, durch das bestehende System verletzte Rechte wiederherzustellen, ist ein Kunststück. Ein Kunststück, dessen schmaler Grat hier von vielen ausbalanciert wird und uns alle immer wieder inspiriert.

Das alles erzählt Tariq nicht einfach so sachlich. Er steht in einer Lücke des Stuhlkreises, gestikuliert immer wieder leidenschaftlich bei den Berichten über Projektideen. Eine Trennung zwischen persönlichem und politischem, zivilgesellschaftlichem Engagement ist hier kaum möglich. An Parallelstrukturen mitzuwirken und sich in den Diskurs einzubringen, ist ein Weg, sich den Einschränkungen und Diskriminierungen, die die Menschen hier im Rahmen der israelischen Besatzung erfahren, gewaltfrei zu widersetzen. Es setzt voraus, trotz der gegenwärtigen, oft ernüchternden Bedingungen, das bisher Erreichte in den Vordergrund zu stellen und an eine fairere Zukunft zu glauben, sie mitzugestalten, nicht aufzugeben. Dazu gehört auch, sich gegenseitig zu stützen und Mut zu machen.

Am selben Tag besuchen wir noch ein weiteres Beispiel, die Dun-ya Women's Cancer Clinic in Ramallah. Das Frauenkrebszentrum wurde 2011 in Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik Basel gegründet. Unter initialer Unterstützung der externen Kolleg*innen arbeitet das Zentrum inzwischen unabhängig nach internationalen Standards, um betroffene Frauen diagnostisch und auch therapeutisch angemessen begleiten zu können. Unter anderem werden Frühdiagnostik, psychosoziale Beratung, Follow-Up-Gespräche, und Behandlungsplätze für Chemotherapien angeboten. Allerdings ist das Spektrum von Chemotherapeutika eingeschränkt, weil es Auflagen bei der Lieferung durch die israelischen Behörden gibt. Ebenfalls aus „Sicherheitsgründen“ verboten ist die Verwendung von Strahlentherapie in den besetzten Gebieten. So müssen die Patientinnen, bei denen eine Bestrahlung indiziert ist, hierfür wiederum ins Ausland reisen. Die Finanzierung des Transports ist teuer und die Genehmigung, entsprechende Grenzen und Checkpoints zu passieren, unterliegt erneut dem Ermessen israelischer Behörden (siehe oben).

Immer wieder gibt es Herausforderungen. Tariq erzählt uns von einem jungen Kollegen, der vor wenigen Tagen bei einem Rettungseinsatz im Flüchtlingslager Dheischa starb, nachdem er von israelischen Soldaten angeschossen wurde. Der Redefluss stockt kurz, eigentlich möchte er weitersprechen, aber es geht nicht sofort. Er ringt mit den Tränen. Die Ohnmacht kommt auch bei uns an, sie ist mit uns unterwegs, sie ist nicht immer präsent, aber wenn sie auftaucht, wird es jedes Mal wieder schwer auszuhalten. Es ist wieder so ein Moment, wo die Tragweite dessen spürbar wird, was die Menschen hier aushalten, welche Widerstände und Frustrationen sie überwinden. Es gibt so viele Momente, in denen wir Zuhörenden bestürzt oder auch fasziniert sind, aber es gibt keinen einzigen, in dem wir uns wirklich vorstellen können, wie es wäre, hier zu leben. Egal wie viele Artikel und Geschichten wir zuvor gehört oder gelesen hatten: Wenn ein Mensch vor mir sitzt, der so alt ist wie ich und sich die gleichen Lebensfragen unter völlig anderen Bedingungen stellt, dann erreicht und berührt mich das Gesagte unmittelbar.

Zum Abschluss dürfen wir uns die modernen Räumlichkeiten anschauen, auch hier werden unsere Fragen offen und herzlich beantwortet. Als wir das Gebäude verlassen, kommt es mir vor, als würde damit wieder eine Schublade zugehen. Der Mikrokosmos verschwindet darin und wir sind zurück auf den Straßen Ramallahs: Warme Luft und viel Trubel. Es ist ermutigend zu wissen, dass es überall diese Schubladen gibt, die sich – selbst wenn man sie nicht immer sieht – hoffentlich eines Tages wie Mosaiksteine zu einer friedlichen Lebensumwelt zusammenfügen werden. * Name geändert Quellen: www.hwc-pal.org – https://phr.org

(Stand 19.09.2019)

Health Work Committees, Annual Report 2009 ippnw.de/bit/hwc2009 „Westjordanland: Medizin unter Besatzung“ (2012) www.aerzteblatt.de/archiv/133312/Westjordanland-Medizinunter-Besatzung

Ambulanz in Hebron, Foto: Förster/IPPNW

Svenja Langenberg 23


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Ramallah: Ibrahim Lada'a 4. April 2019 Bevor uns Ibrahim sein Buch „Arzt aus Jaffa – Geschichte eines palästinensischen Vertriebenen“ vorstellt, zitiert er aus der arabischen Zeitung Al-Quds, dass gestern zwei Jugendliche bei Auseinandersetzungen mit israelischen Soldaten nördlich von Ramallah tödlich verletzt worden sind. „So etwas passiert hier fast täglich,“ meint er, „und häufig erfährt man es gar nicht, oder erst viel später.“ Er erzählt aus seiner Kindheit und Jugend. Geboren in Jaffa, wurde er 1948 mit seiner Familie aus Jaffa vertrieben und lebte in Ramallah bei Verwandten, die wie er und seine Eltern palästinensische Christen waren. Sein Vater ermöglichte ihm eine gute Schulbildung – er machte sein Abitur in Kairo und studierte danach in Deutschland Medizin. Dort konnte er auch die Facharztausbildung zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt machen. Verheiratet mit einer Deutschen, kehrte er mit vier Kindern nach 16 Jahren in seine Heimat zurück. Er wollte hier seine Landsleute behandeln, die in ständigem Kriegszustand lebten und heute noch leben. Aufgrund seiner Kenntnis mikrochirurgischer Operationsverfahren wurde er Chefarzt im Auguste-Viktoria-Krankenhaus auf dem Ölberg in Jerusalem. Dieses Krankenhaus wurde vom Lutherischen Weltbund mitgetragen. Später musste er diese Funktion aufgeben – wegen der politischen Verhältnisse und wegen mangelnder Rückendeckung des Lutherischen Weltbundes. Nach verschiedenen Zwischenstationen wie Qalqiliya und Nablus fand er seine Bestimmung schließlich in Ramallah als niedergelassener Arzt. Seine Spezialkenntnisse im operativen Fach der Hals-Nasen-Ohren-Medizin hat er an viele junge Kollegen aus Palästina, Israel und Jordanien weitergeben können. Angesichts seiner vielen schlimmen Erfahrungen mit der israelischen Besatzung ist es bewundernswert, wie sich Ibrahim mit Optimismus und Zielstrebigkeit für die Verständigung und Versöhnung zwischen den beiden Volksgruppen einsetzt.

Ibrahim Lada‘a. Foto: B. Lehmann/IPPNW

„Drei Identitäten haben mein Leben bis heute geprägt: Arzt, Palästinenser, Flüchtling. Über ihre Wirkung auf meinen Lebensweg will ich schreiben. Zugleich möchte ich über meine Heimat Palästina schreiben, jenes sonnenverwöhnte Land am Meer mit den duftenden Orangenhainen, den Feigenbäumen und den von Olivenbäumen bedeckten sanften Hügeln.“

Ulrike Lehmann

Ibrahim K. Lada‘a: Arzt aus Jaffa – Geschichte eines palästinensischen Vertriebenen, Verlag auf dem Ruffel, 2018, 303 Seiten, 18,80 Euro, ISBN 978-3-933847-52-2

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BERICHT 2019

Ramallah: Addameer Prisoner Support Association 4. April 2019

Mauer-Graffiti in Bethlehem. Foto: B. Janicke /IPPNWthl

„Die Verurteilungsquote liegt bei 99,49 Prozent“, erläutert uns Lana Ramadan, Mitarbeiterin von Addameer. Die meisten der Angeklagten erklärten sich für schuldig, weil sie für sich keine andere Möglichkeit sehen. Richter, Staatsanwalt, Zeugen: alle sind Militärangehörige. Und so kann der Angeklagte wenigstens die Zeit im Gefängnis etwas reduzieren. Etwa 800.000 Palästinenser wurden seit 1967 verhaftet. Aktuell sind 5.500 Menschen in Haft, davon 50 Frauen, 200 Kinder sowie 500 sogenannte Administrativ-Häftlinge – also Menschen, die ohne Anklage und ohne Zugang zu Anwält*innen bis zu einem halben Jahr (mit Verlängerungsmöglichkeit) hinter Gittern sind. In einem von 17 Gefängnissen, die – bis auf eines – alle auf israelischem Gebiet liegen. Womit Israel erneut internationales Recht bricht.

den. Zurück in der Zelle findet der Gefangene aber keinen Schlaf, Dauermusikbeschallung oder das Geräusch von tropfendem Wasser hindert ihn am Einschlafen. Kinder werden mit dem Hinweis, man werde das Haus der Eltern abreißen, unter Druck gesetzt. Innerhalb von vier Tagen soll er einem Richter vorgeführt werden. Das dauert dann oft nur wenige Minuten. Die Untersuchungshaft kann mal 20, mal 30 Tage dauern, auf den Prozess wartet ein Häftling bis zu 18 Monate. Folter und Misshandlungen werden oft nicht als solche wahrgenommen, diese Art der Behandlung gehört zum Gefängnisalltag. Addameer sorgt sich wegen der sich verschlechternden Haftbedingungen. Es gibt nicht nur Schläge, sondern auch Razzien in den Gefängnissen. Habseligkeiten der Gefangenen verschwinden. Addameer schätzt die Zahl der an den Folgen der Folter Gestorbenen auf 75 seit Beginn der Okkupation 1967.

Addameer, das ist das arabische Wort für „Gewissen“, wurde 1992 von Ex-Gefangenen und Anwält*innen gegründet. Addameer ist eine Organisation für die Unterstützung und die Menschenrechte von Gefangenen mit Sitz in Ramallah. Mit einer Reihe von Anwält*innenen sowie zahlreichen anderen Mitarbeiter*innen vertritt sie Häftlinge, betreibt Öffentlichkeitsarbeit und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen.

Es gibt zwar Übersetzer*innen im Gefängnis, alle Schriftstücke sind allerdings in Hebräisch aufgesetzt. Die Geständnisse sind oft vorformuliert, schildert Lana Ramadan. Die Gefangenen werden häufig unter Druck gesetzt. Schlafentzug und Schläge gelten als legal, als moderater Druck. Die Offiziere können die Methoden nach Gutdünken ausweiten, wenn sie glauben, es handele sich um einen ernsten Fall, um akute Gefahr. Das Gericht, so Ramadan, müsse nichts beweisen. Es reiche die Aussage eines Offiziers, dass es sich um eine potentielle Gefahr handelt. Der Offizier kann allein entscheiden, wie

Verhaftet werden kann man an festen oder auch an den vielen spontanen (flying) Checkpoints oder bei Protestveranstaltungen. Die meisten Palästinenser werden aber im Rahmen einer Razzia zu Hause verhaftet. Lana Ramadan beschreibt am Beispiel von Walid, 22, wie eine Verhaftung abläuft. Die Soldaten kommen meistens nachts. Sie stehen vor Walids Haus und in der Nachbarschaft. Exzessive Gewalt, Tränengas und Gummigeschosse gegen Menschen, die von den Soldaten vertrieben werden sollen. Zehn bis 15 Soldaten brechen Walids Haus auf, nehmen ihn gefesselt und mit verbundenen Augen mit. Walids Familie muss warten, bis die Soldaten das Haus gefilzt haben und Telefon, Rechner, USB-Sticks und Geld mitgenommen haben. Auch die Nachbarn bleiben nicht immer verschont, oft gibt es bis zu einem Dutzend Verletzte, Menschen, denen die Soldaten in die Knie oder Fußgelenke schießen.

er die Situation einschätzt. Steinewerfen, illegale Aktionen an der Universität, Mitglied einer politischen Partei (zum Beispiel der Fatah), Agitation, Anstiftung zur Agitation durch Facebook-Posts: Das sind häufige Anklagen, auf die bis zu fünf Jahre Haft stehen. Die meisten der Angeklagten geben den Vorwürfen nach und erkaufen sich so eine Verkürzung der Zeit im Gefängnis. Addameer hält nichts von Deals mit der Staatsanwaltschaft, sondern besteht darauf, das gesamte Verfahren zu durchlaufen, mit sämtlichen Zeugen. Am Schluss spricht der Richter ein Urteil. Es besteht aus der Dauer der Haft, der Höhe der Geldstrafe und der Bewährungszeit (häufig fünf Jahre). Die Geldstrafen liegen oft zwischen 800 und 1.600 Dollar. Der Gerichtsreport für 2017 weist Einnahmen von sechs Millionen US-Dollar aus, erläutert Ramadan. Und wer gegen seine Bewährung verstößt, kommt unmittelbar ins Gefängnis – ohne weiteren Prozess.

Weder Walid noch seine Familie wissen, wohin er gebracht wird. Wenn die Familie keine Anwält*in hat, bittet sie Addameer um Hilfe. Oft dauert es bis zu 24 Stunden, bis die Addameer-Jurist*innen wissen, wo der Gefangene ist. Walid kommt nach einem stundenlangen Transport in einem Untersuchungsgefängnis in Jerusalem an. Zuerst sieht Walid einen Militärarzt, dann kommt er in eine Zelle, meistens im Keller. Metalltür, kein Fenster, Toilette, Waschbecken. Zur Befragung wird er mit Handschellen und Augenbinde gebracht. Gefesselt an Armen und Beinen sitzt Walid mindestens zwei Befragern gegenüber. Die Befragungen gehen oft über zwölf, 18 oder 21 Stun-

(Siehe auch Militärgerichte, S. 34) Infos: www.addameer.org/ Ulrich Tatje 25


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Qalqiliya und Qalandia 4. April 2019 Gegenüber ein zweistöckiges, neues Haus im Landesstil mit Rundbogenfenstern, Balkonen, alles mit dem typischen hellockerfarbenen Kalkstein der Region gebaut. Ein gepflegter Garten. Eine verschleierte Frau und ihre Kinder winken uns zu. Auch sie ist von dem bevorstehenden Abriss ihres Hauses informiert worden. Was soll an Stelle der abgerissenen Hauser gebaut werden? Wo werden die vertriebenen Menschen leben?

Zerstörte palästinensische Häuser sahen wir während unserer ganzen Reise. Schon am zweiten Tag wurden wir von einem israelischen Aktivisten vom „Komitee gegen Hauszerstörungen“ (ICAHD) zwischen Jerusalem und der großen israelischen Siedlung Ma'ale Adumin auf Reste palästinensischer Häuser an Berghängen oder in der Nähe der acht Meter hohen Mauer aufmerksam gemacht. Am eindrücklichsten zeigte uns J. vom Kommitee „Stop the Wall“, was die Häuserzerstörung und der Bau der „Mauer“ für die dort lebenden Menschen bedeutet. Anhand einer Karte, die den Bau neuer Siedlungen und umgebender (schützender) Mauern darstellt, demonstriert er uns, dass die direkte Verbindung zwischen Ramallah und Jerusalem schon jetzt gekappt ist. Das Ziel sei, die neuen Siedlungen miteinander zu verbinden, so dass Jerusalem von den palästinensischen Gebieten völlig abgeschnitten sei. Ostjerusalem sei aber für die palästinensische Bevölkerung die Hauptstadt, die Stätte der religiösen Heiligtümer, die Stätte zum Beten. Ramallah habe diese Bedeutung für die Palästinenser*innen nicht.

Da unser Reiseführer die für israelischen Siedler*innen gebaute Straße nicht benutzen darf, geht unsere Fahrt unterhalb dieser Straße durch einen Tunnel zum ehemaligen Zentrum Bir Nabalas Wir wandern auf der ehemaligen Hauptstraße von Bir Nabala durch eine Geisterstadt. Die Hauptstraße ist verfallen, aber noch gut als solche erkennbar. Die Häuser rechts und links sind verschlossen, teils auch zerstört und menschenleer. Bir Nabala gehörte zu Jerusalem, bis es 2006 durch den Mauerbau abgeschnitten wurde. Die meisten Bewohner sind fortgezogen. Wovon sollten sie hier auch leben? Die Hauptstraße endet an der Mauer. Ich sehe mich in einer Szene eines Wildwestfilmes. Ein kleiner Laden, einem Kiosk ähnlich, hat noch geöffnet. Auch das Schreien eines Schafes zeigt uns, dass noch Menschen in der Stadt leben. Um einen Müllcontainer herum lungern circa acht Katzen, um noch etwas von den Nahrungsresten zu erhaschen. Sie verschwinden, als wir uns nähern. Ein junger Mann tritt auf die Straße, neugierig, was wir wohl dort wollen. Auf die Frage, ob auch er Bir Nabala verlassen werde, schüttelt er den Kopf.

Wir fahren mit J. nach Qalqiliya. Die Stadt liegt an der westlichen Grenze des Westjordangebietes, fast auf der „Green Line“. 1997 hatte die Stadt 22.168 Einwohner*innen, 2007 waren es nach Aufnahme der Flüchtlinge aus anderen Landesteilen 41.739. Das Umfeld von Qalqiliya ist sehr fruchtbar und wurde der „Obstgarten der Region“ genannt. Die Hauptstraße von Nablus zu den Städten am Mittelmeer führte durch Qalqiliya, was zur Prosperität der Stadt beitrug. Hier lagen die Geschäfte, Restaurants, alles, was einen Handelsplatz ausmacht.

An einer anderen Stelle des Ortes können wir die durch Kameras geschützte Mauer direkt erreichen. Auch hier finden sich an der Mauer beeindruckende Gemälde. Aus einem landestypischen, schönen Haus, umgeben von einem schönen Garten treten mehrere Frauen, die sich für unsere Anwesenheit interessieren. Die Älteste bietet uns an, für uns Kaffee zu kochen. 2012 sei ihr Familienhaus errichtet worden, 2013 in zehn Meter Entfernung die Wand. Nein, einen Abrissbescheid habe sie nicht erhalten.

Östlich der Green Line, also auf palästinensischem Gebiet, verläuft die Mauer. Sie quert die Hauptstraße und trennt den Ort von dem landwirtschaftlich genutzten Hinterland, das für seine Eigentümer nun nicht mehr erreichbar ist. Die Mauer umschließt die Stadt von drei Seiten völlig und lässt nur im Osten einen schmalen Korridor zu kleineren Gemeinden. Sechzig Kilometer südlich, am Ortseingang von Qalandia, führt uns J. zu einer kleineren Straße. Eine Trümmerlandschaft! Hier standen neuere Häuser – angeblich illegal von Palästinensern auf palästinensischem Land gebaut und deshalb zerstört. Es sieht dort wie nach einem Bombeneinschlag aus, Trümmerhalden, dazwischen geschmiedete Türen, Rosen, die in den Gärten blühen.

Ursula Haun-Jünger

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Bir Nabala, einst eine quirlige Stadt. Jetzt hat die Mauer der Stadt das Leben genommen. 27 Foto: U. Tatje


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

„Wir müssen ihnen zeigen, dass nicht jeder Israeli mit Waffen kommt, um Häuser zu zerstören. Dass es Israelis gibt, die kommen, um Häuser wieder aufzubauen (...) Lasst uns eine Kerze anzünden, statt die Dunkelheit zu verfluchen.“ Rabbi Arik Ashermann, aktiv gegen Hauszerstörungen

Elf Wohnhäuser zerstörte das israelische Militär im Juli 2016 in Qalandia. Foto: R. Ratke/IPPNW

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BERICHT 2019

Hauszerstörungen: Israels stiller Krieg gegen Palästinenser Laut aktuellen Berichten zerstörte Israel im Juli 2019 weitere 70 palästinensische Wohnungen in Ostjerusalem (Quelle: The Real News Network – 24.07.19, Jeff Halper, einer der Leiter der Bewegung gegen Hauszerstörungen) Etwa fünf- oder sechshundert Palästinenser*innen haben ihr Zuhause verloren. Am 22. Juli 2019 marschierten hunderte von israelischen Soldat*innen im Dorf Wadi Hummus am Rande von Ostjerusalem ein. Sie führten ein Team von Abbruchexpert*innen mit schweren Planierraupen an und rissen die Menschen um vier Uhr morgens aus ihren Betten, damit sie mit der Zerstörung von dreizehn Gebäuden mit etwa 70 Wohnungen beginnen konnten. Die Familien, die in diesen Wohnungen lebten, durften nur wenige Sachen mitnehmen, während sie gezwungen wurden, am frühen Morgen aus ihren Wohnungen zu hetzen, um zuzusehen, wie ihre Häuser vor ihren Augen zerstört wurden. Der israelische Oberste Gerichtshof ließ zu, dass die Zerstörungen stattfanden, nachdem die Bewohner*innen ihren Prozess verloren hatten, obwohl sich die Wohnungen auf palästinensischem Land befinden. Die israelische Regierung sagt, sie befänden sich zu nahe an der Mauer, die aber illegal auf palästinensischem Land errichtet wurde.

Israel hat seit 2002 eine teilweise acht Meter hohe Mauer errichtet, die oft kilometerweit ins Westjordanland eindringt. Dies ist völkerrechtlich illegal. Oft schützt die Mauer israelische, nur für Jüd*innen errichtete Städte („Siedlungen“) im besetzten Westjordanland oder deren Zufahrtswege quer durch palästinensische Orte. Die Errichtung von „Siedlungen“ ist Teil einer Strategie, die Demographie in den ländlichen Gebieten zu ändern und den palästinensischen Bevölkerungsanteil immer weiter zu verringern – auch das ist völkerrechtlich illegal. Ein Mittel, um die Palästinenser*innen aus ihrer Heimat zu vertreiben, ist die Politik der Hauszerstörungen. (Quelle: www.btselem.org/topic/settlements) Mit eigenen Augen konnte sich unsere Reisegruppe im April von der Brutalität dieser Strategie überzeugen: Jamal Juma’a von der Kampagne „Stop the Wall“, ein alter Freund der IPPNW, führte uns von Ramallah aus nach Qalandia. Es ist ein Dorf, das nach israelischer Definition zu „Groß-Jerusalem“ gehört und ringsum fast vollständig von der Mauer eingeschlossen ist. Unser palästinensischer Bus darf auf den „Siedlerstraßen“ nicht fahren. Deshalb ging es über holprige Schleichwege dorthin, um die israelischen Checkpoints zu umgehen. Am Ortsrand hielt der Bus und bedrückt standen wir zwischen einigen erst vor kurzem zerstörten Häusern. Hier war die Begründung die „Sicherheit“ – ein 200 Meter breiter Streifen entlang der Mauer (dahinter eine Straße, die eine israelische Siedlung mit Jerusalem verbindet) soll geräumt werden. Israels oberstes Gericht hat der israelischen Militärverwaltung des besetzten Westjordanlands erlaubt, Häuser in einem „Sicherheitsbereich“ von 100 bis 200 Metern zur Sperranlage zu zerstören. 32 Häuser waren schon abgerissen, einige standen noch und die Familien, die dort wohnten, winkten uns zu. Wir bewunderten ihren Mut. Auch sie hatten schon die Abrissverfügung, hatten beim Militärgericht Einspruch eingelegt, der in der Regel mit dem Verweis auf „Sicherheit“ abgelehnt wird. Dann kommt, meist in der Nacht zwischen 2 und 4 Uhr, aus einem sonst verrammelten Tor in der Mauer das israelische Militär mit Planierraupen und Baggern und reißt alles nieder. Die Bewohner*innen können gerade noch mitnehmen, was ins Auto passt und müssen zu Verwandten fliehen.

Am Vortag versammelten sich die Menschen, um gegen diesen Abriss zu protestieren. Israelische Streitkräfte griffen die Demonstrant*innen an und verletzten einen Journalisten. Die Protestierenden konnten sich nicht vorstellen, dass die Häuser in weniger als 24 Stunden verschwunden sein würden. Das betrifft aktuell noch weitere 15 Häuser – teilweise sechsstöckige Gebäude – in Sur Bahir, einer Kleinstadt am Ostrand Jerusalems. Solidarisch mit den Bewohner*innen hatten sich an die vierzig internationale Aktivist*innen in den vom Abriss bedrohten Häusern versammelt, mehrheitlich junge US-amerikanische Jüd*innen der Gruppe „All That’s Left“. Aber auch sie konnten den Abriss nicht verhindern. Auch das israelische Komitee gegen Hauszerstörungen, das uns am Tag nach unserer Anreise eine Tour in und um Jerusalem zu einigen Siedlungen gibt, setzt sich lokal und international gegen den Ausbau israelischer Siedlungen im besetzten Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, ein. Auch die relativ neu gegründete israelische Gruppe „Thora Zador“ („Die Thora steht für Gerechtigkeit“), deren Mitglied Arik Asherman wir trafen, stellt sich immer wieder mutig den Bulldozern entgegen. Der Jerusalemer Rabbi sagte uns: „Ich mache diese Arbeit, damit der 13-jährige palästinensische Junge sagt: Es war ein großer Mann mit Kippa, der mich vor der Verhaftung gerettet hat…“

Die zweite „Begründung“ für Hauszerstörungen ist die angeblich oder tatsächlich fehlende Baugenehmigung – manche Häuser stehen dort seit Generationen. Die „Israeli Civil Military Administration Authority“, die Besatzungsbehörde, erteilt Palästinenser*innen prinzipiell keine Baugenehmigungen. (Ausnahmen bestätigen die Regel, aber z.B. 2014 eine Baugenehmigung gegenüber 493 Abrissverfügungen / Quelle: „Life Restricted“ – Society of St. Yves) Wegen fehlender Baugenehmigungen oder aus anderen Gründen hat Israel seit 1967 ca. 55.000 von Palästinenser*innen gebaute Häuser zerstört (Quelle: Interview mit Jeff Halper, dem Gründer des Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen). Das betrifft hunderttausende von Menschen.

Dass solche Hauszerstörungen den berechtigten Zorn der Palästinenser*innen auf den Staat Israel weiter anstacheln, ist naheliegend. Dies wird Israels Sicherheit nicht erhöhen. Über den gegenwärtigen Fall hinaus schafft dies einen Präzedenzfall für die Räumung hunderter palästinensischer Häuser entlang der Sperranlage, die oftmals durch dicht besiedeltes Gebiet verläuft, und ist damit ein Freibrief für die weitere Entwurzelung und Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung. Mehr Infos: https://www.stopthewall.org 29

Matthias Rücker


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Jordan/Mount of Temptation/Totes Meer 7. April 2019

Taufstelle Jesu am Jordan, Fotos: B. Janicke/IPPNW

30 Taufstelle Jesu am Jordan

Foto: B. Janicke / IPPNW

Foto: B. Janicke / IPPNW


BERICHT 2019

Totes Meer. Foto: B. Janicke/IPPNW

Mount of Temptation Foto: A. Wilmen

Foto: IPPNW

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BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Die Checkpoints / EAPPI 8. April 2019 Ob man das Ungetüm nun Sperranlage nennt oder schlicht Mauer – auf langen Strecken verläuft die Sperranlage als Zaun, begleitet von Stacheldrahtrollen zu beiden Seiten, einer extra Straße für Militärpatrouillen, Sandstreifen, die Fußabdrücke sofort sichtbar machen, und alle paar hundert Meter erhebt sich ein Wachturm. Diese Sperranlage, so der Internationale Gerichtshof im Jahr 2004, verstößt gegen das Völkerrecht. Die Anlage sei zurückzubauen und das enteignete Land müsse zurückgegeben werden. Die Mauer verläuft vielfach auf dem Gebiet des Westjordanlands. 63.000 Hektar palästinensisches Land sind durch die Mauer abgetrennt worden. Beispiel Qalqiliya: Hier führte uns Mohamad Qubaa von der Organisation „Stop the Wall“ durch den Ort. Einst wegen seiner großen Gemüsefelder und Obstplantagen als Garten Palästinas bezeichnet, ist Qalqiliya heute nur noch eine Geisterstadt. Die Stadt ist fast vollständig von der Mauer eingekesselt. Den 51.000 Menschen bleibt nur noch eine einzige Zufahrt und ein Tunnel (der von Israel in wenigen Minuten geschlossen werden kann, die Schranken sind bereits installiert). Einige Ackerflächen sind gar nicht mehr zu erreichen: kalt enteignet. Anders ist die Situation für Israelis. Wer in einer der (ebenfalls völkerrechtlich illegalen) Siedlungen im Westjordanland lebt, hat eine eigene Straße, oft mit hohem Sichtschutz versehen. Auf diesen Straßen, die nur von Israelis benutzt werden dürfen, gelangen die Siedler*innen von ihren Büros und Fabriken in nur wenigen Minuten in ihre gut bewachten Siedlungen. Ohne lästige und zeitraubende Grenzkontrollen. Die Gegend um Qalqiliya ist reich an Grundwasser. 30 Brunnen gab es einst für die Landwirtschaft, nach dem Bau der Mauer 2002 haben die Bauern nur noch Zugriff auf die Hälfte der Quellen. Der Rest

liegt jenseits der Mauer, dort pumpt Israel rund um die Uhr Wasser, so Qubaa, während die israelischen Behörden penibel darauf achten, dass die Palästinenser*innen die Obergrenze der Wasserentnahme einhalten. Sonst ist eine Strafzahlung fällig. In Qalqiliya gibt es einen Grenzübergang. Ab vier Uhr morgens ist das für etwa 7.000 Palästinenser*innen der Zugang nach Israel, zur Arbeit. 30 Minuten dauert es inzwischen, nachdem Automaten am Checkpoint installiert sind. Die Grenze darf nur passieren, wer mindestens 26 Jahre alt, verheiratet ist und Kinder hat, erklärt Qubaa. Wer diese Anforderungen erfüllt, kann eine Clear Card beantragen, die für vier Jahre gültig ist. Diese Karte ist die Voraussetzung für die Arbeitserlaubnis für einen, drei oder sechs Monate. Wie in Qalqiliya stehen auch an der Zufahrtsstraße zum Checkpoint in Bethlehem die Händler*innen und versorgen die Arbeitsmigrant*innen mit Essen und Trinken. Etwa 500.000 Palästinenser*innen passieren täglich die Grenze, um auf israelischer Seite zu arbeiten. Palästinenser*innen ist nicht erlaubt, mit einem Auto nach Israel zu fahren. Der Grenzübertritt geht nur zu Fuß. Diese Straße in Bethlehem ist übrigens eine ehemals vierspurige Straße, die Jerusalem mit Hebron verbunden hat. Viele der Geschäfte und Restaurants an der einst lebhaften Straße sind verwaist oder öffnen nur, wenn sie mal wieder von einem Touristenbus angesteuert werden. Damit wir einmal selber die Erfahrung eines Grenzübertritts machen können, haben wir uns mit einem Mitglied von EAPPI („Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel“) verabredet. Morgens um 4:45 Uhr. Wir haben die vorausgegangene Nacht in einem Hotel nahe des Checkpoints verbracht, damit wir unsere Gastfamilien nicht mit unserem frühen Aufstehen und Transport be-

32 israelische Siedler, Foto: U. Tatje Bir Nabala: Unten Palästina, oben Straße für


BERICHT 2019

lasten. EAPPI ist ein Projekt des Weltkirchenrates und existiert seit 2002. Die freiwilligen Helfer*innen kontrollieren und beobachten an den Checkpoints unter anderem das Verhalten der Grenzsoldaten. Menschenrechtsverstöße werden gemeldet. In Deutschland unterstützen beispielsweise pax christi, das Berliner Missionswerk und das Evangelische Missionswerk das Programm. Die Freiwilligen verbringen jeweils drei Monate in internationalen Teams in Palästina. An jenem Morgen herrscht reger Betrieb. Autos, Kleinbusse und Taxen fahren heran, Menschen steigen aus. Die Parkplätze in Checkpoint-Nähe füllen sich. Trauben von Menschen bewegen sich auf den Grenzübergang zu, Händler*innen bieten ihre Waren an. Wir beobachten die Lage, reden mit unserem EAPPI-Begleiter. Früher, als noch nicht die elektronische Grenzkontrolle eingeführt war, konnte ein Grenzübertritt schon mal Stunden dauern. Stunden des Anstehens in der Schlange. Und weil man nicht sicher sein konnte, ob es diesmal reibungslos geht oder nicht, ob man pünktlich auf der anderen Seite ist, wo die Busse warten, die die Arbeiter zu ihren Baustellen und Fabriken bringen, sind die meisten schon früh an der Grenze. Der Arbeitstag eines Palästinensers beginnt nicht selten um drei Uhr früh mit dem Aufstehen und endet spät in der Nacht mit der Heimkehr zu seiner Familie. Mir ist ein wenig mulmig zumute, als wir endlich losgehen. Wir sollen keine Fotos machen, wir werden beobachtet. Damit die Menge der Menschen abgefertigt werden kann, gibt es parallel mehrere Zugänge. Der Inhalt der Taschen ist auf ein Förderband zu legen, das unter einem Scanner hindurchführt. Dann weiter zum Grenzbeamten, der den Pass sehen will. Alles ganz einfach. Einige Meter über uns gibt es einen Laufgang auf einem Gitterboden, auf dem Soldaten patrouillieren, wie immer mit dem Gewehr im Anschlag. Das Gefühl, dass

Checkpoint Bethlehem (2014). Foto: IPPNWthlehem, Foto: U. Tatje

plötzlich hinten und vorne die Türen geschlossen werden könnten und man in dem fensterlosen Niemandsland steckt, der Willkür der Soldat*innen ausgesetzt, ist ein wenig beklemmend. Aber nach ungefähr zwei Minuten ist alles vorbei, wir sind auf der israelischen Seite, wo die Busse auf die Arbeiter warten. Die Anspannung löst sich. Auf der israelischen Seite sieht auch alles viel schöner aus. Die Straßen sind ordentlich, Blumenbeete machen einen freundlichen Eindruck. Wer aber glaubt, in Israel zu sein, wird getäuscht: Die Green Line verläuft einige Kilometer weiter nördlich, Richtung Jerusalem. Infos zur Arbeit von EAPPI: www.eappi-netzwerk.de – eappi org Ulrich Tatje

Auf drei Seiten von der Mauer umschlossen: Haus in Bethlehem, 33 Foto: U. Tatje


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Military Court Watch 9. April 2019 vor Gericht stehen. Rechtsanwalt Gerard Horton beschrieb sehr gut nachvollziehbar, warum die meisten dieser Jugendlichen nicht weiter als 800 Meter von den betroffenen israelischen Siedlungen leben. Das Militär sei für die Sicherheit der Siedler*innen zuständig. Sobald jemand bei der Militärstation anruft, weil jemand einen Steinewerfer beobachtet hat, startet die Maschinerie. Der Militärkommandant muss etwas unternehmen. Die Steinewerfer wird er nicht auf frischer Tat ertappen. Also schaut er sich an, wer im benachbarten palästinensischen Dorf schon mal wegen ähnlicher Vorwürfe aufgefallen ist. Mitten in der Nacht stehen die hochbewaffneten Soldat*innen in den Schlafzimmern mehrerer Häuser im palästinensischen Dorf. Jugendliche werden mit auf dem Rücken gefesselten Händen und mit verbundenen Augen in langen Fahrten im Jeep zum Untersuchungsraum gefahren. Bereits jetzt stehen die Jugendlichen unter starkem Stress, der mit dem Verhör noch zunimmt. In der Regel knicken sie schnell ein und sind bereit, einem Deal zwischen Ankläger und Richter zuzustimmen. Dann kommen sie schon nach vier bis sechs Monaten frei, andernfalls sitzen sie noch ein paar Monate länger. Wenn der Jugendliche wieder zu Hause ist, ist die Sache noch nicht erledigt. Was hat er gesagt?, fragt man sich im Dorf. Wen hat er verraten? Ist er ein Kollaborateur? Er ist verdächtig schnell wieder freigekommen: hat er dafür mit den Israelis kooperiert? Das wäre das Schlimmste für den jungen Mann.

Einschüchterung, Bedrohung und Angst gehören zum Alltag der Palästinenser, die im Westjordanland leben. Sehr anschaulich haben uns Gerard Horton und Sala Daibis geschildert, wie es in den Militärgerichten zugeht. Der Besuch der beiden Vertreter der Gruppe Military Court Watch (MCW) war eine besonders eindrucksvolle Begegnung auf unserer Reise durch Palästina und Israel. Seit dem Sechstagekrieg hält Israels Armee das Westjordanland besetzt. Das heißt: 52 Jahre Militärgerichtsbarkeit für die Palästinenser*innen – während die in den dortigen Siedlungen lebenden Israel*innen vor zivilen Richtern stehen. Wenngleich viele der Palästinenser*innen nichts anderes kennen als das Leben unter der Besatzung, ist es doch immer wieder ein erschütterndes Ereignis, wenn die Soldat*innen nachts an die Tür klopfen und nach Verdächtigen suchen. 1.400 solcher nächtlichen „Besuche“ registriert das Militär jedes Jahr, erzählte uns Sala Daibis. Und somit dürfte in den vergangenen mehr als fünf Jahrzehnten vermutlich bereits jedes palästinensische Haus betroffen gewesen sein.

Während die Siedler*innen weiterhin ruhig schlafen und von einer guten Zukunft träumen, leben die Palästinenser*innen in der ständigen Angst und Sorge, sie könnten die nächsten sein, die nachts von den Soldat*innen heimgesucht werden. Die betroffenen Jugendlichen leiden oft unter Konzentrations- und Schlafstörungen, sind misstrauisch oder brechen die Schule ab. Die Soldat*innen haben einen guten Job gemacht, wenn es ihnen gelingt, dass die jungen Palästinenser gar nicht denken, sie könnten einen Stein werfen. Aber es gibt ja immer wieder neue Generationen und Jungen, die sich mit ihrer Situation nicht abfinden und wieder zum Stein greifen. Dann dreht sich das Karussell aus Macht und Ohnmacht weiter. Mehr Informationen: www.militarycourtwatch.org U. Tatje

Military Court Watch kümmert sich seit der Gründung der Vereinigung um Kinder und Jugendliche vor Militärgerichten. Meistens sind es Jungen zwischen 15 und 18 Jahren, die wegen Steinewerfens

Militärgerichte Im besetzten Westjordanland gelten – abgesehen von Ostjerusalem – für unterschiedliche Bevölkerungen unterschiedliche Gerichtsbarkeiten. So gilt für israelische Siedler*innen sowie Menschen aus anderen Ländern israelisches Zivilrecht, für die palästinensische Bevölkerung jedoch weitgehend israelisches Militärrecht. Das bedeutet, dass Palästinenser*innen vor Militärgerichten stehen, also einem Gericht, in denen Mitglieder des Militärs die Strafgerichtsbarkeit ausüben und das Recht von Militärrichter*innen gesprochen wird. Nach israelischem Mililtärrecht werden Menschen unter 16 Jahren als minderjährig eingestuft, nach israelischem Zivilrecht unter 18 Jahren.

Festgenommene Palästinenser*innen bekommen oft erst nach einigen Tagen einen Grund für ihre Verhaftung mitgeteilt. Sie können monatelang verhört werden, ohne dass sie Zugang zu einer*m Anwält*in bekommen. Auch können sie in die sogenannte Administrativhaft genommen werden. Dies bedeutet, dass sie sechs Monate lang ohne Anklage und Urteil und oft ohne Zugang zu Anwält*innen in Haft sind. Die Administrativhaft kann nach Ablauf der sechs Monate beliebig oft wieder verhängt werden. Gefangene und Anwält*innen bekommen dabei meist keine Akteneinsicht, da die Informationen in den Akten oder ihre Quellen vom Militärgericht als geheim eingestuft werden.

Mauermalerei im Aida-Camp, Foto: A. Wilmen

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Kommt es zu einer Anklage und zu einem Gerichtsprozess, können sie sehr unterschiedlich lang sein. Die durchschnittliche Verhandlungsdauer beträgt wenige Minuten, die Verurteilungsrate mit Schuldspruch liegt laut der israelischen Menschenrechtsorganisation B‘Tselem bei mehr als 99%. Abgesehen von Ofer in der Nähe von Ramallah und Salem sind alle israelischen Militärgerichte und -gefängnisse sowie Verhörzentren auf israelischem Staatsgebiet. Dies ist illegal nach internationalem Recht, nach dem Verhaftete aus einer besetzten Bevölkerung nicht in das Staatsgebiet der Besatzungsmacht gebracht werden dürfen. S. Bethke


BERICHT 2019

„Jerusalem ist das Herzstück unserer Realität. Es ist Symbol des Friedens und Zeichen des Konflikts zugleich. Während die Trennmauer palästinensische Wohngebiete teilt, werden palästinensische Bürger, Christen und Muslime weiterhin aus Jerusalem hinausgedrängt. Ihre Personalausweise werden beschlagnahmt und dadurch verlieren sie ihr Bleiberecht in Jerusalem. Ihre Häuser werden zerstört oder enteignet. Jerusalem, die Stadt der Versöhnung, ist zu einer Stadt der Diskriminierung und Ausgrenzung, zu einer Quelle des Streites anstatt des Friedens geworden.“ Kairos-Palästina-Dokument, 1.1.8 Jerusalem, Damaskustor. Foto: Förster / IPPNW

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BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Jerusalem: Society of St. Yves, Kairos Palästina 9. April 2019 wie im obigen Beispiel gemeinsam in Jerusalem leben kann. In den erfolgreichen Fällen kann es Jahrzehnte dauern, bis dies möglich ist. St. Yves hat im Fall „Cremisan“ die katholische Kirche vertreten, als diese gegen den Bau der Mauer durch die Ländereien – und auch vorbei an ihrer Grundschule – in der Nähe von Bethlehem geklagt hat. Auch wenn in dem mehrjährigen Rechtsstreit vor Gericht Teilerfolge errungen wurden, ist mittlerweile ein Teil der Mauer gebaut worden – zahlreiche Olivenbäume wurden gerodet.

Nach etwas freier Zeit in der Altstadt von Jerusalem treffen wir uns am Jaffator. In den altehrwürdigen Gemäuern des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem treffen wir uns mit dem Direktor der „Society of St. Yves“, Raffoul Rofa. Benannt nach dem heiligen Ivo Hélory von Kermartin und nach dessen Motto „I am my brother‘s keeper“ verschreibt sich die katholische Menschenrechtsorganisation unter der Schirmherrschaft des Lateinischen Patriarchats der rechtlichen Hilfe für Arme und Unterdrückte. Ihr erster Fall war dabei der Rechtsstreit über die Ausgabe von Gasmasken an die palästinensische Bevölkerung Jerusalems. Wo in Vorbereitung auf Chemieangriffe des Irak Gasmasken an israelische Staatsbürger*innen einschließlich der Siedler*innen in Ostjerusalem verteilt wurde, bekam die palästinensische Bevölkerung davon nichts ab. Nach dem erfolgreichen Rechtsstreit und der Ausgabe von Gasmasken auch an palästinensische Menschen hat sich die Menschenrechtsorganisation in mittlerweile zahlreichen Fällen den Menschen- und Bürger*innenrechten verschrieben. Dabei klären sie Palästinenser*innen, insbesondere Jerusalemit*innen, über ihre rechtliche Situation in Israel und dem besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalems, auf und vertreten sie vor israelischen Zivil- und Militärgerichten. Die Fälle reichen dabei von der Vertretung beduinischer Gemeinschaften, die zugunsten einer illegalen Siedlung umgesiedelt werden sollten, über rechtliche Vertretung bei Häuserabrissen und Landenteignung und gewaltsamen Übergriffen von Siedler*innen und Soldat*innen, bis zu Familienzusammenführungen zwischen Palästinenser*innen mit unterschiedlichem rechtlichem Status.

Nachdenklich verlassen wir die Organisation, mit vielen weiteren Informationen zum Status der heiligen Stadt, die so umkämpft kaum zur Ruhe kommt.

Kairos Palästina Kairos – die Stunde der Wahrheit. Diese haben die palästinensischen Christ*innen 2009 ausgerufen, in Anlehnung an Kairos Südafrika von 1985. Wie sich damals insbesondere schwarze südafrikanische Theolog*innen an die weltweite christliche Gemeinschaft gerichtet und sie zum Boykott von Apartheid-Südafrika aufgerufen hatten, so richten sich die palästinensischen Theolog*innen an ihre Schwestern und Brüder in der Welt. Wir treffen uns mit Nidal Abu Zuluf, der davon erzählt, wie in dem von allen Kirchen Palästinas mitgetragenen Appell mit dem Titel „Kairos Palestine – A moment of truth: A word of faith, hope, and love from the heart of Palestinian suffering“ die israelische Militärbesatzung des palästinensischen Gebiets als Sünde bezeichnet wird, und sie Christ*innen der ganzen Welt zu Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel aufrufen. Anders als im Dritten Reich, wo mit dem Slogan „Kauft nicht bei Juden“ zum Boykott jüdischer Waren in Deutschland aufgerufen wurde, richte sich BDS nicht gegen jüdische Menschen oder eine verfolgte Minderheit. BDS prangere vielmehr Verletzungen internationalen Rechts und der Menschenrechte durch den Staat Israel an und solle weitergeführt werden, bis drei Forderungen erfüllt sind:

Letztere Fälle seien beispielhaft für eine „Teile-und-Herrsche“-Politik Israels, so Rofa. So gebe es fünf unterschiedliche Arten rechtlichen Status‘ für palästinensische Menschen. Diejenigen, die 1947- 49 bei der „Nakba“ („Katastrophe“, s. S. 33) vertrieben wurden, besitzen UN-Flüchtlingsstatus nach der United Nations Work and Relief Agency und leben insbesondere in den Nachbarländern. Palästinenser*innen, die nach der israelischen Staatsgründung weiter in dem neuen Staat Israel lebten – wenn auch oft von ihren Herkunftsorten vertrieben – bekamen seit 1966 die israelische Staatsbürgerschaft und stellen derzeit 20 Prozent der israelischen Bürger*innen. Palästinenser*innen aus und in Jerusalem haben einen eigenen Jerusalemitenstatus ohne Bürger*innenrechte in Israel. Palästinensische Menschen im besetzten Westjordanland und Gazastreifen haben eine Westbank- bzw. Gaza-ID. Manche der zwischen 1947-1949 und 1967 Vertriebenen sind mittlerweile Staatsbürger*innen anderer Staaten. Wenn palästinensische Menschen mit unterschiedlichem Status heiraten, kann dies zu rechtlichen Schwierigkeiten führen. So kann z.B. eine Westbank-Palästinenserin, die einen Jerusalemiten heiratet, meist nicht in Jerusalem leben, weil sie keine Aufenthaltsberechtigung bekommt. Dasselbe kann für ihre Kinder gelten. So werden Familien getrennt und die Anregung für palästinensische Jerusalemit*innen geschaffen, Jerusalem zu verlassen. Können sie ihr tagtägliches Leben in Jerusalem nicht nachweisen – z.B. durch volle Kühlschränke wenn ein unangekündigter Besuch des israelischen Militärs kommt – verlieren sie ihren Jerusalemitenstatus und dürfen nicht mehr in Jerusalem, ihrer Heimatstadt, leben. St. Yves setzt sich für Familienzusammenführungen ein, so dass eine Familie

– das Ende der militärischen Besatzung des Westjordanlandes, Gazas, und der Golanhöhen. – gleiche Rechte für alle Menschen in Israel – die Anerkennung internationalen Rechts, einschließlich des Rechts auf Rückkehr der palästinensischen Geflüchteten, wie es in der UN-Resolution 194 festgeschrieben ist. (siehe auch: bds-kampagne.de) So laden palästinensische Christ*innen genauso wie die muslimische Zivilbevölkerung Menschen aus aller Welt und aller Religionen ein, Palästina und Israel zu besuchen, nach dem Motto „Come and see – go and tell.“ Kommt und seht, was hier passiert. Geht und erzählt weiter davon. Mehr Infos: www.saintyves.org – www.kairospalestine.ps

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Solvejg Bethke


BERICHT 2019

Jaffa: Zochrot 10. April 2019

„Ohne Erinnerung keine Zukunft.“

Wir besuchen die NGO Zochrot in Tel Aviv. „Zochrot“ ist Hebräisch und heißt „Erinnerung“. Die Vereinigung, die 2002 gegründet wurde, hat sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an die Nakba („Katastrophe“) von 1947-49 – die Flucht und Vertreibung der Palästinenser*innen – wachzuhalten und bei Israelis, die mit diesem Begriff nichts anfangen können, grundlegende Aufklärungsarbeit zu leisten. Seit dem jüdisch-arabischen Bürgerkrieg wurden 1947-49 über 750.000 Palästinenser*innen aus ihren angestammten Dörfern vertrieben und zur Flucht gezwungen. Sie suchten Zuflucht in Flüchtlingscamps im Norden sowie im angrenzenden Ausland wie Syrien, Jordanien und Libanon. Gleichzeitig wurden sie ihrer basalen Menschenrechte beraubt: des Rechtes auf ihre eigene Kultur, auf Arbeit in ihren meist bäuerlichen Betrieben und auf Ausübung ihrer Religion. Der Begriff der Nakba, in Israel lange Zeit ein Tabu, hat durch die Arbeit von Zochrot und anderen NGOs inzwischen Eingang ins Bewusstsein jüdischer Israelis gefunden, auch wenn den Wenigsten bewusst ist, dass damals hunderte Dörfer zerstört wurden und hunderttausende Menschen flohen. Mit Zeitzeug*innen gehen die Mitarbeiter*innen von Zochrot über Land und suchen die Dörfer auf, die teils als Ruinen noch vorhanden, teils ganz verschwunden sind. Meist gibt es noch den Schlüssel des ehemaligen Hauses, der als Symbol der Rückkehr von der Familie verwahrt wird – Ausdruck des Dream of return.

Frauen auf der Flucht, 1948 Foto: Israelisches Pressebüro / CC BY-SA 3.0

Zochrot dokumentiert alte Flurbezeichnungen und Dorfnamen, die nach der israelischen Staatsgründung geändert wurden oder verschwanden. Zochrot-Aktivist*innen lassen sich Fotos zeigen und zeichnen Dorferzählungen auf. Diese veröffentlichen sie in kleinen Broschüren in arabischer und hebräischer Sprache. Zochrot hat auch die iNakba-App herausgebracht, eine interaktive GPS-Karte in drei Sprachen, die Text-, Bild- und Videoinformationen zu zerstörten Dörfern enthält. Die Nutzer können vor Ort Informationen abrufen, hinzufügen oder kommentieren. Rachel, die Direktorin von Zochrot, erzählte, sie sei in Jaffa geboren und aufgewachsen und habe als Jüdin in ihrer Schulzeit nichts von der Nakba erfahren. Später kam sie mit den Zielen von Zochrot in Kontakt und habe beschlossen, bei der Aufklärungsarbeit mitzumachen. Ihr zur Seite steht Najwan aus Nazareth, die durch ihre Muttersprache Arabisch Wesentliches zu der oft recht mühsamen Arbeit beisteuern kann. Zu Zochrots Friedens- und Versöhnungsarbeit gehört die Vision eines multikulturellen, gleichberechtigten Zusammenlebens aller Bevölkerungsgruppen. Zusammen mit Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen erarbeitet die Organisation Ideen und Konzepte für eine Rückkehr (arabisch: „Awda“) geflüchteter Palästinenser*innen bzw. ihrer Nachkommen nach Israel, wie sie von der UN vorgesehen ist. Kernelement von Zochrots Vision ist ein Aussöhnungsprozess, der echte Demokratie und Verbesserungen für alle Einwohner*innen der Region bringt. Mehr Infos: https://zochrot.org U. Lehmann / R. Ratke

Tor mit Schlüssel, Aida-Camp, Foto: IPPNW

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BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Jaffa: Physicians for Human Rights „We are not here to make the occupation easier, we are here to transform the situation.“ Auf unserer Reise durch Israel/Palästina sprachen wir mit Vertreter*innen der Physicians for Human Rights (PHR) in Jaffa. Die Mitglieder von PHR setzen sich für das Recht auf medizinische Versorgung ein. Die Mediziner*innen bieten humanitäre Hilfe, Beratung und Rechtsbeistand an, meist ehrenamtlich. Sie halten samstags eine Tagesklinik im Westjordanland ab. Auf israelischer Seite kommen Geflüchtete und Asylsuchende, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben, nach Jaffa in die Klinik von PHR.

ins Land. Die israelische Regierung versucht, Migrant*innen und Geflüchtete aus Afrika zum „freiwilligen Verlassen“ des Landes zu bewegen, indem sie Geld erhalten, um nach Ruanda oder Uganda auszureisen. Ein neues Druckmittel ist es, arbeitenden Migrant*innen 16 Prozent ihres Gehaltes nicht auszubezahlen. Dieses Geld erhalten sie erst bei der Ausreise aus Israel. Das führt dazu, dass viele Migrant*innen schwarz arbeiten.

Humanitäre Krise in Gaza Kampagnenarbeit für Menschenrechte

Fotos: Anne Paq Activestills / CC BY-NC-ND 2.0

Ein wichtiger Teil der Arbeit von PHR ist es, innerhalb des medizinischen Sektors ein besseres Bewusstsein für die Menschenrechtssituation zu schaffen. Erfolgreich war etwa die Kampagne von PHR gegen die Zwangsernährung hungerstreikender palästinensischer Gefangener, zu der Ärztinnen und Ärzte oft angewiesen werden. Dank erfolgreicher Arbeit auf nationaler und internationaler Ebene hat die Israel Medical Association diese Praxis als unethisch gebrandmarkt und den Ausschluss von Ärzt*innen angekündigt, die sich an solchen Maßnahmen beteiligen.

Versorgung von Migrant*innen in Jaffa Migrant*innen und Geflüchtete erhalten in israelischen Krankenhäusern oft nur eine Notfallversorgung. Das heißt, eine gebrochene Hand etwa wird versorgt, der Verband wird aber später nicht abgenommen, eine Reha ist nicht möglich. Aus diesem Grund ist die PHR-Klinik offen für alle. In Israel gibt es derzeit insgesamt etwa 30.000 Migrant*innen und Geflüchtete, vorwiegend aus afrikanischen Ländern – die Politik bezeichnet sie als „Infiltratoren“. Seitdem Israel einen Zaun an der Grenze zu Ägypten gebaut hat, kommen kaum noch Menschen

Die Gesundheitsversorgung in Gaza steht vor dem Kollaps. „Die Menschen leiden, der Bedarf ist riesig,“ meint Ran Yaron. „Das ist ein politisches Spiel auf Kosten der Menschen.“ Patienteninteressen würden sowohl von israelischer als auch palästinensischer Seite immer wieder als Druckmittel in Verhandlungen missbraucht. So hatte die Palästinensische Autonomiebehörde, die für die Kosten solcher Behandlungen in Israel aufkommt, kürzlich angekündigt, die Zahlungen einzustellen – aus Protest gegen die ungerechte Verwendung der palästinensischen Steuern in Israel. Die angedachten Alternativen, Patient*innen in Gaza oder in Jordanien zu behandeln, sind derzeit nicht vorhanden. Die Verhandlungen mit den militärischen und zivilen Akteuren beider Seite stellen PHR immer wieder vor große Herausforderungen. PHR bildet Ärzt*innen aus Gaza fort und ist auch die einzige Organisation, die israelische Ärztedelegationen nach Gaza schickt. Israelische Mediziner*innen assistieren bei komplexen Operationen und bringen dringend benötigte Medikamente wie Insulin mit. „Wegen des anhaltenden Krieges gibt es zu viele Notfälle. Die Patient*innen können oftmals nicht richtig behandelt werden, weil es an der nötigsten Ausstattung fehlt,“ erklärt Ran Yaron von PHR. Etwa 150 Ärzt*innen haben Gaza bereits verlassen. Protestierende Jugendliche werden von den Soldat*innen oftmals in die Beine bzw. Knie ge-

Mobile Klinik von PHR in Gaza (2013)


Bei PHR in Jaffa Foto: R. Ratke/IPPNW

Foto: Förster/IPPNW

ist bei vielen Anwohner*innen Gazas gegeben – schließlich ist die Hamas regierende Partei und somit können alle Angestellten des öffentlichen Dienstes als „Hamas-nah“ bezeichnet werden. Nach einer Klage durch PHR und andere NGOs hat der israelische High Court of Justice diese Argumentation für rechtswidrig erklärt. Demnach ist es unverhältnismäßig, Patient*innen wegen ihrer Familienbeziehungen kollektiv zu bestrafen und von einer lebensrettenden Behandlung fernzuhalten.

schossen, um sie bewegungsunfähig zu machen. Da den Ärzt*innen oft das Know-How fehlt, um die Gelenke zu retten, wurden allein im Jahr 2018 94 Amputationen vorgenommen, 82 davon Amputationen der Beine. Die angeschossenen Jugendlichen können nicht in ein Krankenhaus nach Israel überwiesen werden, da sie an der Grenze durch das Militär festgenommen würden.

Blockade der Überweisungen nach Israel

Eine weitere schwere Menschenrechtsverletzung ist die Verweigerung von Behandlungen wegen „illegaler Verwandter im Westjordanland“. Insbesondere Männer aus Gaza suchen dort Arbeit, um die Familie ernähren zu können. Laut einer Vereinbarung in den Osloer Verträgen hat aber Israel ein Vetorecht, was den Umzug von Einwohner*innen Gazas ins Westjordanland betrifft. So erklären die israelischen Behörden migrierende Palästinenser*innen zu „illegalen Anwohner*innen“, was Deportation oder Gefängnis nach sich ziehen kann. Die weiblichen Familienmitglieder zahlen einen hohen Preis für diese extreme Familiensituation. PHR ist auch hier vor Gericht gegangen, um die Verweigerung der Behandlungen anzufechten. Die Organisation leistet Lobbyarbeit bei den israelischen Institutionen und bei der UN, um das Recht insbesondere von Frauen auf medizinische Versorgung einzufordern. Nachdem verschiedene Ländersektionen der World Medical Association sowie die International Federation of Medical Students‘ Associations in dieser Sache Stellungnahmen abgegeben haben, hofft PHR auch hier, eine Behandlung der Patientinnen durchsetzen zu können.

Für viele Behandlungen wie etwa Chemotherapien müssten die Patient*innen in ein Krankenhaus außerhalb Gazas gebracht werden. Dafür vereinbart PHR in der Regel einen Termin in einer Klinik in Israel, in Ostjerusalem oder im Westjordanland. Dann wird bei den israelischen Behörden ein Antrag gestellt, damit die Patientin/der Patient Gaza verlassen darf. Viele Patient*innen nehmen dieses Angebot leider nicht wahr, aus Angst, ihnen könnte von palästinensischer Seite aus vorgeworfen werden, mit Israel zu kooperieren. Ein großes Problem ist zudem die Blockade von Krankentransfers. Im Jahr 2012 hatten noch 92,5 Prozent der Patient*innen eine Ausreisegenehmigung zu Behandlungszwecken erhalten, im Jahr 2017 waren es nur noch 54 Prozent. PHR startete eine Kampagne für die Krebspatientinnen aus Gaza, da die Organisation viele Anfragen von Frauen dort erhielt. 2017 und 2018 hatte PHR mit 129 krebskranken Frauen zu tun, deren Behandlung abgelehnt wurde. Bei Ablehnung versucht PHR mit Öffentlichkeitsarbeit Druck zu erzeugen, dennoch warten die Frauen bis zu einem Jahr auf den Beginn der Behandlung. Ein Argument, mit dem die israelischen Behörden die Einreise verweigerten, war oft die „Familiennähe zur Hamas“. 2018 wurde 833 Patient*innen aus diesem Grund die Einreise verweigert. Eine solche „Familiennähe“

Mehr Infos: https://www.phr.org.il/en Broschüre „Women’s Right to Health in the Gaza Strip“: kurzlink.de/women-gazastrip Regine Ratke 39


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Jerusalem: Yad Vashem 11. April

Name der Gedenkstätte deutlich. „Yad Vashem“ bedeutet „Name und Denkmal,“ nach einem Versprechen Gottes im Tanach, der „hebräischen Bibel“ (siehe auch Altes Testament, Jesaja 56,5)

Am 10. April 2019 ist es sonnig und angenehm warm in Jerusalem, als wir mit dem Bus in Richtung Herzlberg fahren. Dort, am südwestlichen Ende der Stadt, liegt Yad Vashem, die Gedenkstätte, die an den Holocaust erinnert. Durch das Museum führt uns Tamar Avraham, eine Historikerin und Theologin, die in Yad Vashem lange zum Holocaust geforscht hat. Dann hat sie angefangen, sich mit der Nakba zu beschäftigen und herausgefunden, dass ein Teil des Gebiets von Yad Vashem auf den Ländereien eines 1948 zerstörten palästinensischen Dorfes gebaut ist. Mit Sensibilität und Einfühlungsvermögen, gepaart mit historischer Klarheit und Pragmatismus setzt sie sich sowohl mit dem Holocaust als auch mit der Nakba auseinander.

Aus der Ausstellung heraus laufen wir wieder eine leicht ansteigende Rampe hinauf auf eine Terrasse, von der aus man direkt auf das grüne, bewohnte Land hinausblickt. Eine starke Symbolik für den Aufstieg aus dem Grab und neues Leben im „heiligen Land“ – was Tamar Avraham auch kritisch als zionistische Rechtfertigung für die Einnahme des Landes von der dort zuvor lebenden Bevölkerung betrachtet. Anschließend besuchen wir die Gedenkhalle, in der symbolisch ein Teil der Asche aus den Vernichtungslagern bestattet wurde und die Namen der Lager in den Boden eingelassen wurden. Die Namen klingen in meinem Kopf fast schon vertraut, immer wieder gehört und in Gesprächen immer wieder fallen gelassen.

Das Museum zur Geschichte des Holocaust ist ein zeltartiges Betongebäude, zu dem eine Rampe hinunter führt. Gebaut von dem Architekten Mosche Safdie, symbolisiert die Rampe den Weg ins Grab. Wendet man sich am Eingang nach links, sieht man eine Filmcollage, auf eine dreieckige Außenwand projiziert, die das Leben der Juden in Europa vor der Shoa darstellt. Eine Aufnahme zeigt einen Kinderchor, der das Lied „Die Hoffnung“ singt, das einmal die israelische Nationalhymne sein wird.

Etwas weiter unten am Berg gehen wir in das Tal der Gemeinden. Hier wird jeder der über 5.000 zerstörten jüdischen Gemeinden gedacht. Die Namen sind geografisch sortiert in den Stein gemeißelt. Jeder von uns findet bekannte Namen und seine Heimatstädte. Wir setzen uns in den Schatten und sprechen mit Tamar Avraham über die Geschichte des Holocausts, ihre Forschungen zur Nakba, aktuelle israelische Politik und die Zukunft. Wie bei vielen unser Gesprächspartner herrscht auch hier am Tag nach der Knessetwahl nicht unbedingt Optimismus.

Diesen lebendigen Szenen müssen wir den Rücken kehren, als wir uns auf den Weg durch die Ausstellung machen. Hier wird mit vielen Fotos und Videos, Zeitzeugenberichten und Modellen versucht, ein Eindruck von den Schrecken der Judenverfolgung in Europa, dem Leben und den Aufständen in den Ghettos und den Transporten in die Arbeits- und Vernichtungslager zu geben. Die wenigsten Dinge sind für mich neu, aber die Dichte der Eindrücke nimmt mich mit. Die Ausstellung verschwimmt in meinen Kopf mit den Bildern von meinen Besuch in der Gedenkstätte in Auschwitz und dem, was wir in den letzten Tagen immer wieder gesehen haben. Was mir vorher nicht so deutlich klar war, waren die Ablehnung, der Antisemitismus und die Gewalt, die den überlebenden Juden entgegenschlugen, als sie nach der Befreiung der Konzentrationslager zum Teil versuchten, in ihre alte Heimat in Osteuropa zurück zu kehren.

Ich versuche einen Umgang damit zu finden, wie ich mich als Deutsche, und vor allem als Mensch zur Geschichte und zu Israel verhalten soll. Und letztendlich unterscheidet sich das nicht. Als Deutsche haben „wir“ gesagt: „Nie wieder“. Es geht in meiner Generation weniger um Schuld, sondern vor allem um Verantwortung. Verantwortung für das Gedenken und das Wachhalten der Erinnerung und vor allem Verantwortung für das „Nie wieder“. Ich sehe dabei meine Verantwortung nicht nur meinen jüdischen Mitmenschen gegenüber, sondern gegenüber jedem Menschen, der unter Krieg, Verfolgung und Unrecht leidet.

Tamar Avraham ist sehr gut darin, die Besonderheiten der Ausstellung aufzuzeigen und weist immer wieder darauf hin, wo manche Aspekte stärker betont und andere eher nicht gezeigt werden. So ist die Ausstellung sehr deutlich auf die Verfolgung der jüdischen Menschen fokussiert. Andere verfolgte Bevölkerungsgruppen werden eher am Rande erwähnt. Viele Widerstandskämpfer werden mit kurzen Lebensläufen dargestellt. Falls sie später den Staat Israel kritisiert haben, erfahren wir das aber nur von Tamar Avraham. Die chronologische Ausstellung endet mit der Darstellung der Gründung des Staates Israel und auch hier wird wieder das Lied „Die Hoffnung“ gezeigt, das so eine Klammer um die Ausstellung schließt und illustriert, wie Israel seine Gründungsgeschichte erzählt. Als letztes betreten wir die „Halle der Namen“, ein runder Raum mit einem tiefen Brunnen in der Mitte, in dem in schwarzen Ordnern die Namen der Getöteten aufgeschrieben werden. Hier wird auch noch einmal der

Später im Bus fragen wir Tamar Avraham, wie sie es schafft, das alles in sich zu vereinen, ihre deutsche Herkunft, die Forschungen zum Holocaust und den Versuch, der israelischen Gesellschaft, die palästinensische Nakba (Katastrophe) in Erinnerung zu rufen. Sie lacht und sagt, sie sei noch nie für den unkomplizierten Weg gewesen. Mehr Infos zu Yad Vashem: www.yadvashem.org

Sarah Wichert

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Tal der Gemeinden, Foto: A. Wilmen 41


BEGEGNUNGSFAHRT PALÄSTINA-ISRAEL

Einer muss den Frieden beginnen Vorweg einige Sätze zu meiner Unfähigkeit, eine sichere Position für oder gegen eine der zahlreichen Konfliktparteien einzunehmen. Alles, was ich als Mitreisender – welch ein Sprachwirrwarr – in der Westbank, im Westjordanland, in Palästina, in den Zonen A, B, C, in Ostjerusalem, in Israel und im Jüdischen Museum in Berlin gehört und gesehen habe, alles, was ich nach der Rückkehr in Büchern, Tagespresse und Zeitschriften gelesen oder auf Youtube gesehen habe, verwirrt mich. Je intensiver meine Beschäftigung mit dem Problem, desto größer wird es. Mein Problembündel besteht aus Zwiespalt, Fassungslosigkeit, Trauer, Wut, Mit-Leid, Déjà-vu-Trauma, Resignation und Hoffnungslosigkeit.

tärlastwagen steigen und wurde – ohne jegliche Erklärung – durchsucht und befragt nach meinem Wohin und Woher. (Meinem Ticket war der Weiterflug am nächsten Tag nach Asien zu entnehmen.) Ich empfand diese kommentarlose „Visitation“ demütigend, aber auch meine bisherige Naivität infrage stellend. In diesem Jahr bot sich mir endlich die Gelegenheit, „die fünftmächtigste, gewalttätigste Macht“, so einer unserer therapeutischen Gesprächspartner in einer NGO, von einer anderen, der palästinensischen Seite kennenzulernen. Während der gesamten Reise, als ich Muslime, Juden und Christen Zeugnis von Willkür, Erschießungen, Folter, Hausdurchsuchungen, medizinischen Notlagen, Arbeitslosigkeit, Lagern, Apartheid, Kontrollen, Bulldozern in Obstplantagen, juristischen Odysseen, Vertragsverletzungen, dem Gefängnis unter freiem Himmel und endlosen Inhaftierungen ablegen hörte, spürte ich zwar zwei Seelen in meiner Brust, die beide wollten, dass ich mich auf eine der beiden Konfliktseiten schlüge, zugleich aber ein ständiges Bemühen um eine dritte Position.

Ich sehe mich selbst als überlebendes Kriegskind an. Geboren und christlich getauft im Jahre des Holocaust 1941, bleiben Bilder und Töne von nächtlichem Sirenen-Geheul, Bombeneinschlägen, eingestürzten Nachbar-Häusern, Stalin-Orgel, zitternden Erwachsenen in Luftschutzbunkern, ausgebrannten Panzern, weinenden Frauen, toten Pferden und verletzten Menschen nicht löschbar in mir eingeprägt.

Ich erinnerte mich an die große Mailänder Familientherapeutin Mara Selvini Palazzoli mit ihrer Feststellung, sinngemäß, dass die Suche nach dem Schuldigen nicht einer Lösung näher bringe, sondern dass die von allen mehr oder weniger unwillkürlich eingehaltenen Regeln schuld seien. Die, so Gregory Bateson, „patterns which connect“, die Muster, die verbinden.

Wir Deutschen, zumal wir Berliner, galten als die Opfer. Opfer des Nazi-Systems. So auch im westdeutschen Geschichtsunterricht – bis weit in die fünfziger Jahre hinein. Etwa zwei Jahre vor meinem Abitur bekam ich von meinen Eltern das von Walther Hofer herausgegebene und kommentierte Buch „Der Nationalsozialismus – Dokumente 1933-1945“ geschenkt, mit der Aufforderung „Lies das mal!“ Auch das Kapitel „Judenverfolgung und Judenausrottung“. Ich hatte es zu lesen begonnen, als Tags darauf in der Deutschstunde die Interpretation von Wallensteins Fenstersituation fortgesetzt werden sollte. Meine Trauer nicht beherrschen könnend, brach ich in Tränen aus, wurde vom Deutschlehrer sanft befragt und ließ meiner ganzen Empörung freien Lauf. Empörung gegen einen Lehrplan, der mir jahrelang diese entsetzlichen Geschehnisse, Morde, Folterungen, Willkürakte, Hetze und die Verführbarkeit meiner Mitbürger vorenthalten hatte.

„Einer muss den Frieden beginnen wie einer den Krieg“. Stefan Zweigs Imperativ finde ich wieder in seiner Umsetzung an einem Beispiel, welches Stéphane Hessel in seiner Streitschrift „Empört euch!“ gibt:

„Für einen Aufstand in Friedfertigkeit“ Ich habe – nicht als Einziger – bemerkt, wie die israelische Regierung reagiert, wenn die Bürger von Bil’in jeden Freitag gewaltlos, ohne Steine zu werfen, an die Mauer gehen, die der Gegenstand ihres Protestes ist. Die israelischen Behörden haben diesen Marsch als „gewaltlosen Terrorismus“ charakterisiert. Nicht schlecht… Um Gewaltlosigkeit terroristisch zu nennen, muss man schon in der Lage der Israelis sein. Und vor allem muss einen die Wirksamkeit von Gewaltlosigkeit irritieren, die darauf setzt, von allen Gegnern von Unterdrückung in der Welt verstanden und unterstützt zu werden.“

Seither waren „Juden“ für mich besonders schützenswerte Mitmenschen. Als jener arabische Taxifahrer auf meine Frage, warum er die Deutschen besonders möge, zur Antwort gab „weil ihr auch gegen die Juden seid“, da wurde ich zu einem Juden und sagte es ihm; mit dem Zusatz, das dürfe er niemals mehr sagen. Er erwiderte, es lebten doch keine Juden mehr in Deutschland. Ich zeigte auf mich, als lebenden Beweis, dass er sich da irre. Dann unterstellte er mir, ich mache einen Witz. Ich sagte ihm, ich meine es todernst. Da fasste er sich an den Kopf und zweifelte an seinem Verstand. Dass er also bei mir, dem ehemaligen Psychiater richtig liegen könnte, verschwieg ich ihm lieber.

Gibt es ein Problem, dann löse es, indem du etwas anderes machst oder etwas anders machst! Dieses kurzzeittherapeutische Prinzip, finde ich, sollte auch in der Politik angewendet werden.

Christian Michelsen

1972, auf dem Rollfeld des Flughafens Tel Aviv, begann ich anlässlich einer beängstigenden Situation einen Unterschied zu machen zwischen Israelis und Juden. Als einziger Passagier wurde ich nach der Landung aus dem Flugzeug geführt, in einen vorgefahrenen Militärwagen gesetzt, musste in einen entfernt bereit stehenden Mili-

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BERICHT 2019

Jerusalem: Weitere Palestine-Israel Journal Lesetipps 11. April Bergman, Ronen. 2018. Rise and Kill First. The Secret History of Israel’s Targeted Assassinations. New York: Random House

Am Tag vor unserer Abreise besuchte die Gruppe das Palestine-Israel Journal in Jerusalem. 1994 während der ersten Phase der Osloer Friedensprozesse von einem palästinensischen Journalisten, Ziad Abu-Zayyad und einem israelischen Journalisten, Victor Cygielman, gemeinsam gegründet, ringt das Journal seither darum, Stimmen der palästinensischen und der israelischen Seite in einer gemeinsamen Publikation hörbar zu machen. Eine gemeinsame Sprache zu finden ist schwierig, die jeweiligen Perspektiven zu hören möglich.

Fiedler, Lutz. 2017. Matzpen. Eine andere israelische Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Gendzier, Irene L. 2015. Dying to Forget. Oil, Power, Palestine and the Foundations of U.S. Policy in the Middle East. New York: Columbia University Press. Harkabi, Yehoshafat. 1988. Israel’s Fateful Decisions. London: Tauris

Als Organisation sind sie paritätisch aufgestellt, sowohl in Büro als auch im Vorstand sind immer die gleiche Anzahl palästinensischer und israelischer Mitarbeitender und Engagierter. Das Journal von 128 Seiten wird vierteljährlich auf Englisch veröffentlicht und hat jedes Mal ein bestimmtes konfliktbezogenes Thema im Fokus. Bisher wurden Themen behandelt wie etwa Wasser, Friedensbildung, Menschenrechte, die Rolle der Medien, das Recht auf Rückkehr, regionale Sicherheit, oder die Rolle der internationalen Gemeinschaft.

Hever, Shir. 2017. Privatization of Israeli Security. London: Pluto Press IPPNW Deutschland. Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit. Bericht der Delegationsreise Palästina/Israel, Berlin 2014 Krämer, Gudrun. 2002. Geschichte Palästinas. München: Beck Le More, Anne. 2005. „Killing with Kindness: Funding the Demise of a Palestinian State”, in: International Affairs 81.5: 981999. Lüders, Michael. 2015. Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet. München: C. H. Beck – 2019. Die den Sturm ernten: Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte. München: C. H. Beck

In der aktuellen Ausgabe „The Israeli-Palestinian Conflict at a Crossroads“ geht es um die Frage, ob und wenn ja wie die Zweistaatenlösung gerettet werden kann, und ob es realistische Alternativen dazu gibt.

Pappe, Ilan. 2019. Die ethnische Säuberung Palästinas. Frankfurt: Westend. Segev, Tom. 1998. 1949: The First Israelis – 2000: One Palestine, Complete: Jews and Arabs Under the British Mandate – 2018/2019: A State at all Costs. The Story of David Ben-Gurion

Informationen und Bestellung unter: www.pij.org

Thrall, Nathan. 2017. The Only Language they understand. Forcing Compromise in Israel and Palestine. New York: Metropolitan Books

SB / RR

Zuckermann, Moshe. 2018. Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit. Frankfurt: Westend Verlag – 2014: Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt. Wien: Promedia Verlag Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung. 2017 & 2018-19 ISRAEL – Ein Blick von innen heraus. Debattenbeiträge zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – Bd. 1 und 2

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„We know too well that our freedom is incomplete without the freedom of the Palestinians.“ (Nelson Mandela)

Reisegruppe an der Mauer, Foto: B. Lehmann/IPPNW

V.i.S.d.P. Dr. Sabine Farrouh, IPPNW Deutschland, Körtestraße 10, 10967 Berlin, www.ippnw.de

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Eine Publikation der: IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. Körtestraße 10 · 10967 Berlin Tel.: +49 / (0) 30 – 69 80 74 – 0 Fax:  +49 / (0) 30 – 693 81 66 ippnw@ippnw.de · www.ippnw.de Layout: IPPNW e.V. / Regine Ratke

Begegnungsfahrt Palästina-Israel, © IPPNW e.V. / Oktober 2019


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