IPPNW-Thema "Friedensarbeit in Zeiten der Coronakrise: Chancen und Risiken"

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Foto: © Bildwerk Rostock

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Juni 2020 internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Friedensarbeit in Zeiten der Coronakrise: Chancen und Risiken


CORONA-PANDEMIE

The Rich Man’s Disease Globalisierungsparadoxon und Coronavirus

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ie Coronavirus-Pandemie richtet weltweit verheerende Schäden an. Es ist nicht überraschend, dass sich ein Virus mit pandemischen Fähigkeiten so schnell über den Globus ausbreitet. Was ich nicht erwartet hatte, sind die plötzlichen und direkten Auswirkungen im Bereich der Wirtschaft und Sicherheit. Anfang April 2020 waren rund drei Milliarden Menschen in ihrer Mobilität eingeschränkt. Das Ausmaß der Maßnahmen ist beispiellos. Isolation, Rückverfolgung und Quarantäne sind jahrhunderte­ alte Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens, um die Übertragung von Infektionskrankheiten zu verhindern. Man kann nach der Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit und Legitimität aller getroffenen Maßnahmen fragen. Der ausgerufene Ausnahmezustand und die „kriegsähnliche Situation“ k önnen staatlich geführte Interventionen auf nationaler und internationaler Ebene rechtfertigen. Die Globalisierung ist kein neues Phänomen – genauso wenig wie die Epidemien, die sie begleiten. Schon im Mittelalter folgte dem ausgedehnten Handel mit Waren, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Menschen und Sklaven auf den Seidenstraßen von Ostasien bis zum Mittelmeer die Übertragung der Beulenpest in die neu entstehenden europäischen Städte. Die rasche Urbanisierung und die schmutzigen und beengten Wohnverhältnisse sorgten für einen perfekten Seuchensturm, der um 1350 seinen Höhepunkt erreichte.

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twa 50 Prozent der europäischen Bevölkerung starben. In den Stadtstaaten Venedig und Dubrovnik wurden die aus der islamischen Welt gelernten Prinzipien der Isolation und Quarantäne umgesetzt, um zu verhindern, dass infizierte Menschen und Schiffe in die Städte kamen. Diese Maßnahmen trugen in hohem Maße zur Entstehung der italienischen Handelsstaaten und zur Renaissance im 15. Jahrhundert bei.

Eine prominente Geschichte, die als Geburtsstunde der „modernen“ öffentlichen Gesundheit und Epidemiologie gilt, war 1854 zudem John Snows Entdeckung, dass sich die Einwohner*innen Londons über schmutziges Brunnenwasser mit Cholera infizierten. Die Stadt litt damals unter dem „Großen Gestank“. Die Themse war voller Exkremente, Schmutz und Cholerabakterien. Als die Elite sah, wie Armut und mangelnde Hygiene buchstäblich vor ihrer Haustür angespült wurden, beschloss sie, dass es so nicht weitergehen könne, und begann, massiv in den Bau einer städtischen (Ab-)Wasserversorgung zu investieren. Als „Armutskrankheiten“ gelten unter anderem HIV, Ebola, Zika und eine Reihe anderer Infektionskrankheiten – im globalen Gesundheitsjargon werden sie als „vernachlässigte Krankheiten“ bezeichnet. Ihnen ist gemeinsam, dass sie „andere“ betreffen und dass ihr Auftreten und ihre Auswirkungen aus den Medien ferngehalten werden. Covid-19 wiederum ist aus meiner Sicht eine Wohlstandskrankheit, die den Armen auf mittlere Sicht und durch die ergriffenen Maßnahmen schaden und die sozialen Ungleichheiten vertiefen kann. Diejenigen, die über die entsprechenden Fähigkeiten, das Kapital und die Mobilität verfügen, sind in der Lage, das Infektionsrisiko auf ein Minimum zu reduzieren. Die Menschen mit befristeten Arbeitsverhältnissen, beengten Lebensbedingungen und informellen wirtschaftlichen Aktivitäten haben viel weniger Möglichkeiten, sich vor einer Virusinfektion zu schützen. Es zeichnet sich der Trend ab, dass Covid-19 vor allem die Länder mit höherem Einkommen betrifft und über die mobilen, wohlhabenderen Mitglieder der Bevölkerung übertragen wird. So besteht beispielsweise ein positives Verhältnis zwischen der Gesamtzahl der bestätigten Fälle pro Million Menschen und dem Pro-Kopf-BIP. Die USA, Europa und Südostasien sind unverhältnismäßig stark betroffen. In West- und 2

Zentralafrika beispielsweise ist die Epidemie (noch) nicht explodiert. Das Virus hat sich hauptsächlich über Reisende verbreitet, die ihn von anderen Kontinenten mitbrachten. In Nigeria ist Covid-19 unter dem Namen „The Rich Man‘s Disease“ bekannt, in Kinshasa (Kongo) als „VIP-Krankheit“. Natürlich erfordern die komplexen Übertragungsmuster nuancierte Betrachtungen und Kontextualisierung. Nach dem es anfänglich um „Superspreaders“ und „Hotspots“ ging, hat sich Covid-19 zwischen den Ländern in den Risikogruppen und unteren Schichten der Gesellschaft ausgebreitet. Diese tragen ein unverhältnismäßig hohes Risiko. Zum Beispiel tötet Covid-19 in New York Schwarze und Latinos doppelt so häufig wie Weiße. Diese Tatsache spiegelt die seit langem bestehenden, anhaltenden wirtschaftlichen Ungleichheiten und Unterschiede beim Zugang zur Gesundheitsversorgung wider.

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ie Sicherheitskrise gibt den Regierungen den politischen Impuls, ihre Legitimität und ihr Wohlwollen für die Gesellschaft als Ganzes geltend zu machen. Hier liegt der blinde Fleck vieler nationaler und internationaler Reaktionen. Den bestehenden sozioökonomischen Ungerechtigkeiten wird zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auf mittlere Sicht werden die gesundheitspolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen zu ernsthaften Kollateralschäden führen und viele Menschen weiter verarmen lassen. Das Welternährungsprogramm gibt an, dass 265 Millionen Menschen in akute Nahrungsmittelunsicherheit geraten könnten, was fast einer Verdoppelung der Zahl von 2019 gleichkäme. Beispiellos ist, dass mehr als 80 Länder den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe gebeten haben, um die wirtschaftlichen Folgen aufzufangen. IWF und Weltbank sind bereit, die Schuldzinszahlungen auszusetzen. Der Schuldenerlass ist zu einer realistischen politischen Option geworden und sollte von


ROHINGYA-FRAUEN NÄHEN MASKEN. Foto: Nadira Islam/UN Women, CC BY-NC-ND 2.0

den europäischen Staats- und Regierungschefs in Betracht gezogen werden, da es auf dem afrikanischen Kontinent zu einer riesigen Schuldenkrise kommen wird. Das westlich geprägte Global-GovernanceRegime steht vor einem Wendepunkt. Staaten sind in Krisenzeiten in der Tat innovativ. Die Krise des öffentlichen Gesundheitswesens legitimiert weitreichende Überwachungseingriffe in den Alltag von Menschen auf der ganzen Welt. Die Frage ist, ob all diese Instrumente tatsächlich wirksam sind, um eine Pandemie einzudämmen. Es ist eine Frage der Verwaltung und des Eigentums an digitalen Daten, und ob diese letztendlich zur totalitären Überwachung oder zum Empowerment der Bürger*innen verwendet werden. Die Überwachung und Registrierung biometrischer und medizinischer Daten ist im Gesundheitswesen nichts Neues, sondern ein wesentliches Instrument, um politische Entscheidungen zu lenken und Gesundheitsförderungsprogramme zu gestalten. Doch die Überwachung der öffentlichen Gesundheit ist ein zweischneidiges Schwert: Immer wieder stellen wir fest, dass demokratische Kontrollmechanismen in Krisenzeiten umgangen werden. Die Forderung nach Sicherheitsmaßnahmen und dringenden Interventionen „legitimiert“ rasches Handeln und die Überwindung gesellschaftspolitischer Prozesse. Sie ermöglicht es den Staaten, eine Politik durchzusetzen, die sonst auf großen Widerstand stoßen würde. Solche Gesundheitskrisen sind nicht neu, wohl aber das gegenwärtige Ausmaß, die Geschwindigkeit und die digitalen Formen, die sie annehmen. Die Prinzipien von Auffinden, Testung, Isolierung, Behandlung und Rückverfolgung müssen kontextualisiert werden. Es muss eine politische Kontrolle stattfinden, damit staatliche und medizinische Befugnisse nicht missbraucht werden. Ein gutes Beispiel gibt es in Neuseeland, wo die Premierministerin die Bürger*innen aufgefordert hat, ein Tagebuch über ihre täglichen Bewegungen und die Personen, die sie getroffen haben, zu führen. Auch in Zeiten

einer Gesundheitskrise ist es möglich, Würde und persönliche Autonomie zu wahren. Das Coronavirus wird bleiben. Es ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren Ausbrüche von Covid-19 auftreten werden, vielleicht weniger schwerwiegend und lokalisiert. Wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben und können nicht im Krisenmodus weitermachen. Es ist auch wahrscheinlich, dass in den kommenden Jahren weitere Ausbrüche von Infektionskrankheiten mit globaler Reichweite auftreten werden. Diese Ausbrüche werden durch die Klimakrise und die Umweltzerstörung noch verstärkt werden und werfen zusammen existentielle Fragen auf, wie Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig organisiert werden können. Diese Perspektive muss in die Politikgestaltung und die internationale Zusammenarbeit einbezogen werden. Die bevorstehende wirtschaftliche Instabilität und weitere Verarmung in mehreren Teilen der Welt kann zu weiteren Konflikten führen.

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ir kommen in eine Phase, in der ein koordinierter und gemeinsamer europäischer und multilateraler Ansatz entscheidend ist, um die Gesundheitssysteme und Wirtschaft in Ländern zu unterstützen, die von Covid-19 und seinen Auswirkungen schwer betroffen sind. Dies sollte sofortige humanitäre und medizinische Hilfe umfassen und mittel- bis langfristig die Grundlage für einen Mechanismus zur Stärkung umfassender Gesundheitssysteme bilden. Die EU sollte ihre Werte in Bezug auf menschliche Sicherheit, nachhaltige Entwicklung, Men3

schenrechte und internationale Solidarität aufrechterhalten und gleichzeitig Institutionen wie die WHO, die UNO, regionale Organisationen wie die Afrikanische Union und den ASEAN unterstützen und mit ihnen zusammenarbeiten. Im Bereich der globalen finanziellen Nachhaltigkeit ist zu bedenken, dass die wirtschaftliche Stabilität Europas eng mit dem sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehen in anderen Teilen der Welt verbunden ist. Es bedarf einer politischen Führung sowie angemessener demokratischer Debatte und Kontrolle, was die schwierigen, aber notwendigen sozioökonomischen Entscheidungen und die Zusammenarbeit in der EU betrifft. Dies ist keine „Krise“, die vorübergehen wird. Es handelt sich um einen neuen Dauerzustand, der es nötig macht, den europäischen Sozialvertrag neu zu definieren und gleichzeitig unsere Verbundenheit mit dem Rest der Welt anzuerkennen. Dieser Text ist ein Auszug aus dem Artikel Globalization paradox and the coronavirus: www.clingendael.org/research-program/ coronavirus

Remco van de Pas forscht über globale Gesundheit und ist Dozent an der Universität Maastricht.


CORONA-PANDEMIE

Im Zeichen der Ermächtigung Kosten oder Chancen der Corona-Krise?

„Eine Gesellschaft, die im ständigen Ausnahmezustand lebt, kann keine freie Gesellschaft sein“ schrieb der italienische Philosoph Giorgio Agamben am 18. März dieses Jahres. Ob im strengen oder gelockerten Modus – wir leben auch zwei Monate danach noch in einem Ausnahmezustand. Wer könnte es leugnen?

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ir wachen morgens auf mit den neuesten Zahlen der Corona-Toten und dem aktuellen Reproduktionswert R, die uns den ganzen Tag wie das Jesus-Kreuz in den bayrischen Amtsstuben an unsere Sterblichkeit gemahnen und noch in den letzten Nachrichten mit der Drohung einer zweiten Corona-Welle ins Bett entlassen. Wen könnte die ständige Todesdrohung unbeeindruckt lassen? Die Lage wird dadurch nicht entspannter, dass wir mit einem Tsunami an Daten, Fakten, Informationen, Meinungen, Einschätzungen und Prognosen überschwemmt werden, die mit der Zeit immer kontroverser übereinander herfallen und selbst die Deutungshoheit der letzten Instanz der Regierung, das RKI, in Frage stellen. Die Unsicherheit und Desorientierung über das, was da abläuft und was uns noch erwartet, haben zugenommen. Und dennoch sollen immer noch über 85 Prozent der Bevölkerung den Kurs der Regierung angemessen finden und ihm zustimmen. Wie ist das zu erklären? Ist der Ausnahmezustand allmählich akzeptiert und zum Normalzustand geworden? Das Forsa-Institut hat Ende April mit einer Umfrage herausgefunden, dass nur 12 % sich daran stören, dass Demonstrationsverbote gelten, die Gewerbefreiheit limitiert ist und überall im Bundesgebiet die Bewegungsfreiheit

reduziert wurde. Der Chef des Instituts Prof. Manfred Günther erklärt das mit der Angst vor der Pandemie: „Diese Mischung aus Angst und Gehorsam führt dazu, dass man im Augenblick fast alles akzeptiert. Das ist vielleicht ein Gen der Deutschen.“ An der genetischen Disposition habe ich Zweifel, selbst wenn man in der deutschen Geschichte bestimmt einige Beispiele finden kann. Denn in den von der Pandemie betroffenen Nachbarstaaten finden wir ein ähnliches Maß an Gehorsam. Wer unter der ständigen Drohung in Unsicherheit und Orientierungslosigkeit lebt, bekommt Angst. Er kann sich zurückziehen und alles akzeptieren, was ihm Sicherheit verspricht, oder revoltieren und protestieren. Die Medien widmen sich derzeit mehr den abartigen Erscheinungen des Protestes, die immer wieder in Krisen auftauchen und sogar Bischöfe und Kardinäle zu seltsamen Weltregierungs-Verschwörungen treiben. Weniger beachten sie die legitimen Gründe des Protests, die sich gegen wirklich massive Einschränkungen unserer Grundrechte richten. Am 25. März, kurz nach der Warnung Agambens, beschloss der Deutsche Bundestag mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes einen besonderen Ausnahmezustand – die sogenannte „epidemische Lage von nationaler Tragweite“. Sie 4

übertrug dem Bundesgesundheitsminister nicht nur Entscheidungskompetenzen der Länder, sondern erteilte ihm auch bis dahin nicht bekannte Vollmachten. In dem Gesetz wird der Bundesgesundheitsminister „ermächtigt“ (Art. 5 Abs. 2), mit seinen Rechtsverordnungen von gesetzlichen Regelungen anderer Gesetze des Gesundheitswesens, z.B. des Arzneimittelgesetzes, des Apothekengesetzes oder des Betäubungsmittelgesetzes, abzuweichen. Ein echtes Notverordnungsrecht, wie es das Grundgesetz (Art. 80) auf Grund der verheerenden Erfahrungen mit dem Notverordnungsrecht der letzten Reichskanzler 1933 in dieser Form nicht zulässt. Der Bundestag hat sich mit diesem Gesetz praktisch aus der Regelung der Pandemie verabschiedet, sein Gesetzgebungsrecht auf das Bundesgesundheitsministerium übertragen und die Kontrolle der Exekutive aufgegeben. Bis März 2021 soll dieser Ausnahmezustand dauern, der schon bisher die Grundrechte wie mit einem Rasenmäher beschnitten hat. Dass sich dies alles gegen Geist und Substanz des Grundgesetzes richtet, wird allmählich auch von den Gerichten erkannt. Die Proteste gegen die Auswirkungen dieser Missachtung der Verfassung sollten daher ernst genommen werden. Doch es gibt weitere Fragen, die offen sind. Warum hat diese Epidemie eine der-


artige Gewalt exekutiver Eingriffe in das gesamte politische, ökonomische und kulturelle Leben der Gesellschaft gebracht? Man braucht nicht weit in die Geschichte der Epidemien zurückzugehen, um noch ratloser zu werden. Die Asiatische Grippe 1957-58 tötete weltweit über eine Million Menschen, in der Bundesrepublik an die 30 000. In der Presse galt sie als „harmlos“, als „saisonbedingte Erscheinung“. Es gab zwar etliche Engpässe in der Gesundheitsversorgung, aber das Bundesinnenministerium gab die Parole aus, die Epidemie sei „teilweise in der Öffentlichkeit dramatisiert worden“. Zehn Jahre später folgte die Honkong-Grippe 1968-69 mit weltweit an die zwei Millionen Toten und etwa 40.000 in der Bundesrepublik. Die Auswirkungen waren sehr viel gravierender, aber sie wurden von Politik und Medien heruntergespielt, die Studentenbewegung beherrschte die Medien. Und schließlich die Grippewelle 2017-18. Sie war heftig, geschätzte 25.000 Menschen starben in Deutschland. Aber Grundrechte und Verfassung blieben unangetastet, um die Grippe zu überwinden. Waren vielleicht diese horrenden Todeszahlen der Grund dafür, nun alles herunterzufahren und stillzulegen, um Menschenleben zu retten? Das scheint zu gelingen, aber um welchen Preis? Was zählt das Schicksal von prognostizierten drei Millionen Arbeitslosen, über zehn Millionen in Kurzarbeit, die noch ungezählten Pleiten, das Leid zerbrochener Existenzen und die Sterberate auf Grund verschobener Operationen und mangelhafter Pflege? In den Supermärkten werden Telefonnummern

„Mit dem neuen Notverordnungsrecht hat sich der Bundestag praktisch aus der Regelung der Pandemie verabschiedet, sein Gesetzgebungsrecht auf das Bundesgesundheitsministerium übertragen und die Kontrolle der Exekutive aufgegeben.“ ausgehängt für Kinder zum Schutz gegen häusliche Gewalt. Gab es keine Alternative, wie etwa doch in Schweden, von dem man hier nicht viel wissen will?

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enn es darum geht, die zerbrochenen Produktionsketten wieder aufzubauen, „systemrelevante“ Unternehmen aus dem totalen Bankerott zu ziehen und die Opfer des Shutdown vor dem sozialen Elend zu retten, werden gigantische Finanzmittel benötigt. Und es wird sich die Frage stellen, wer diesen wochenlangen Stillstand zu bezahlen hat, wenn jetzt schon klar ist, dass die Steuereinnahmen auf ein Rekordtief fallen werden. Die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe werden sehr viel härter werden als zuvor, und die vielgepriesene Solidarität im Kleinen wird sich in eine gnadenlose Konkurrenz um die verbliebenen Mittel verwandeln. Wird Hand angelegt an den Sozialhaushalt und die beschlossene Grundrente verschoben, oder gibt es eine Vermögens- und Reichensteuer? Wird endlich Abstand genommen von dem unsinnigen Zwei-Prozent-Ziel für den Rüstungshaushalt und eine Umverteilung zu den chronisch unterversorgten Haushalten des Bildungs- und Gesundheitssystems eingeleitet? Es wird viel von den positiven Chancen aus der Krise geredet. 5

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s geht nicht um den an sich fälligen Abschied vom Kapitalismus, sondern zum Beispiel um den Umbau und die Herauslösung der Krankenhäuser aus den Fesseln des Renditesystems. Sie haben sich der Krise nicht gewachsen gezeigt. Obwohl dem Bundestag 2013 eine Risikoanalyse für eine Pandemie wie eine Blaupause zur jetzigen vorlag, wurde nichts unternommen. Stattdessen wurden die harten Restriktionen mit dem Schutz vor der Überforderung der Kliniken begründet. Schutzmasken und Atemgeräte sind die kleineren Probleme. Die Verstärkung des Personals, statt Helden-Boni anständige Gehälter und Arbeitsbedingungen, darum geht es. Bildung und Gesundheit gehören als Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand. Wäre nur das zu erreichen, könnte man von Chancen der Krise reden.

Norman Paech ist Professor (em.) für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der IPPNW.

Foto: Tim Lüddemann / CC BY-NC-SA 2.0

TROTZ CORONA – PROTESTE FÜR SOZIALE RECHTE UND MENSCHENWÜRDIGE UNTERBRINGUNG – BERLIN-KREUZBERG, 28. MÄRZ 2020


An der Grenze der Verfassung – und darüber hinaus Bundeswehr mobilisiert 15.000 Soldat*innen für Corona-Einsatz im Inland

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m März 2020 liefen die Vorbereitungen für einen großen Inlandseinsatz der Bundeswehr in kleinen Schritten. Am 14. März forderte Bayerns Ministerpräsident Söder einen flächendeckenden Inlandseinsatz der Bundeswehr. Wenige Tage später präsentierte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in der Bundespressekonferenz die Strategie der Bundeswehr für ihren Einsatz gegen die Corona-Pandemie. Dabei brachte sie auch den Einsatz von Soldat*innen für den Objektschutz von Kritischer Infrastruktur ins Gespräch. Durch einen Bericht der Stuttgarter Zeitung am 26. März wurde bekannt, dass das Innenministerium von Baden-Württemberg mit der Bundeswehr im Gespräch war, ob nicht Soldat*innen die wegen hohen Krankenstands geschwächte Polizei unterstützen könnten. Am 27. März berichtete dann der Spiegel: Die Bundeswehr macht mobil. Auf welcher Rechtsgrundlage die geplanten Einsätze stehen sollen, ist bisher unklar. Zu dieser elementaren Frage findet sich auch in Statements aus Verteidigungsministerium und Bundesregierung nichts. Die zentrale Frage, was die auch für „Absicherung“, „Schutz“, „Ordnungs-“ und „Verkehrsdienst“ in Bereitschaft stehenden Soldat*innen, mit welchen Rechten gegenüber der Bevölkerung allerdings tun sollen, wurde nicht gestellt. Laut Spiegel sollten bis zum 3. April – über die Strukturen des Sanitätsdiensts der Bundeswehr hinaus – 15.000 Soldat*innen für den Einsatz im Inland bereitstehen – für die nicht weiter definierte „Unterstützung der Bevölkerung“, für „Lagerung, Transport, Umschlag“ und für Desinfektionsaufgaben. Darüber hinaus sollen allerdings auch über 6.000 Soldat*innen für „Absicherung/Schutz“ und „Ordnungs-/Verkehrsdienst“ einsatzbereit gemacht werden. Um diesen bisher nicht

gekannten Großeinsatz der Bundeswehr zu führen, werden dem Nationalen Territorialen Befehlshaber der Bundeswehr vier regionale Stäbe unterstellt. Dabei handelt es sich allerdings nicht um die bisher erprobten Strukturen der Zivil-MilitärischenZusammenarbeit. Stattdessen werden die Führungsstrukturen der Kampftruppen der Bundeswehr aktuell als regionale militärische Führungsstrukturen vorbereitet. Die Bereitschaft von knapp 9.000 Soldat*innen für „Unterstützung der Bevölkerung“, Logistik und ABC-Abwehr lässt sich mit dem Artikel 35 des Grundgesetzes (Amtsund Katastrophenhilfe) juristisch rechtfertigen. An die Grenzen des Grundgesetzes und darüber hinaus geht der geplante Einsatz von über 6.000 Soldat*innen und Feldjäger*innen für polizeiähnliche exekutive Aufgaben im Inland.

Mit welchem Recht? Seit den Notstandsgesetzen von 1968, die den Inlandseinsatz der Bundeswehr juristisch überhaupt erst ermöglichten, galt die gängige politische und juristische Interpretation, dass nur zwei Paragraphen im Grundgesetz den Einsatz von Soldat*innen für polizeiliche Aufgaben innerhalb Deutschlands ermöglichen würden. Es handelt sich dabei um den Artikel 87a, Abs. 4 GG, den sogenannten Inneren Notstand. Dieser greift ausschließlich, wenn der Bund, ein Land oder die Verfassungsordnung als solche, durch militärisch organisierte und bewaffnete Aufstände bedroht wären. Erst wenn in einem solchen Fall die Polizeikräfte nicht ausreichen würden, dürfte die Bundeswehr „beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ eingesetzt werden. 6

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ie zweite Option wäre der Spannungsund Verteidigungsfall nach Artikel 115a GG, also der Moment, in dem die Bundesregierung die Kriegsvorbereitung oder den Kriegseintritt Deutschlands erklärt. Erst dann wäre nach Art. 87a, Abs. 3 GG ein Einsatz der Bundeswehr möglich, um im Inland „zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen“, wenn diese dem Verteidigungsauftrag dienen. Darüber hinaus wäre es möglich, in Kooperation mit zivilen Behörden, „zivile Objekte [zu] schützen“, um damit polizeiliche Maßnahmen zu unterstützen. Beide Optionen sind damit für den aktuellen Fall einer Pandemie ausgeschlossen. Lange galt es als gesetzt, dass die im Grundgesetzartikel 35, Abs. 1 geregelte Option der Amtshilfe ausschließlich für technische und logistische Unterstützung gilt. In aktuellen Veröffentlichungen vertritt die Bundeswehr selbst diesen Standpunkt. Ähnliches galt nahezu uneingeschränkt bis 2012 auch für die Katastrophenhilfe (bzw. Katastrophennotstand) in Artikel 35, Abs. 2 und 3. Danach kann die Bundeswehr bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen in der Form Hilfe leisten, wie sie der zivile Katastrophenschutz leisten würde. Damit schien klar, dass polizeiliche Aufgaben für die Bundeswehr in diesem Rahmen inakzeptabel wären. Nimmt man den Text der Verfassung beim Wort, wird nicht ohne Grund der Schutz ziviler Objekte durch die Bundeswehr in Artikel 87a GG explizit erwähnt, in Artikel 35 GG allerdings nicht. Auf Grundlage dieser gängigen Auslegung des Grundgesetzes drängen einige Akteure in der CDU/ CSU seit 1993/94 auf eine Änderung des Grundgesetzes, um den Spielraum der Bundeswehr im Inneren zu erweitern. Neuen Aufwind bekam diese Debatte seit dem


CORONA-PANDEMIE

11. September 2001. Zuletzt scheiterte Verteidigungsministerin Von der Leyen an den Gegenstimmen der SPD, die Option auf eine Verfassungsänderung zur Erweiterung der Befugnisse der Bundeswehr im Inland im Weißbuch von 2016 zu platzieren. Weil sich in den letzten gut 25 Jahren keine parlamentarischen Mehrheiten für eine Änderung des Grundgesetzes gefunden haben, wurde die politische Frage über den Einsatz der Bundeswehr zunehmend in das Feld der juristischen Interpretationen verlagert. Im Fokus dieser Auseinandersetzungen steht der Grundgesetzartikel 35 (Amts- und Katastrophenhilfe). Seit der Aufstellung der Strukturen für Zivil-Militärische-Zusammenarbeit innerhalb der Bundeswehr 2006/07 stieg die Nutzung des Amtshilfeparagraphen für Aktivitäten der Bundeswehr im Inland massiv an. Neben der Bereitstellung von Zelten bis hin zu Schwimmbrücken bei zivilen Großveranstaltung oder der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten sowie der Bearbeitung von Asylanträgen 2015, gehören seit Jahren auch Unterstützungsleistungen für die Polizei dazu. Dabei handelt es sich um die Bereitstellung von Überwachungstechnik und weiterem Material, samt Personal, für die Polizei im Rahmen von Gipfelereignissen – nicht aber um den Einsatz von Soldat*innen für polizeiliche Aufgaben.

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in elementarer Bruch in der Auslegung des Artikels 35 GG fand 2012 statt: Das Verfassungsgericht urteilte über das 2005 geänderte Luftsicherheitsgesetz. Darin war vorgesehen, von Terrorist*innen entführte zivile Flugzeuge abschießen zu dürfen. Zwar wurde der Abschuss von Flugzeugen als klar verfassungswidrig eingestuft, in der Urteilsbegründung aber eine Hintertür für bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Inland geöffnet. So entschieden die Richter*innen, dass bei Terroranschlägen „katastrophischen Ausmaßes“, unter weiteren Einschränkungen, auch militärisch bewaffnete Soldat*innen gegen Terrorist*innen – als Ursache der Katastrophe – eingesetzt werden dürften. Verfassungsrichter Reinhard Gaier lehnt dies ab. Er argumentiert, dass er diese Auslegung als Verfassungsänderung per Gerichtsbeschluss sehe, die dem Wortlaut und dem historisch begründeten Sinngehalt des Grundgesetzes widersprächen.

Nach Informationen des Journalisten Thomas Wiegold scheint sich die Bundeswehr diese Option auch für die aktuellen Ereignisse offenzuhalten, im Sinne des 2012er Urteils, in besonderen Ausnahmefällen und nach Freigabe der Verteidigungsministerin auch „spezifisch militärische Waffen“ einzusetzen. Noch einfacher als das Verfassungsgericht machte es sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages 2016 mit seiner Stellungnahme zur „Übernahme von hoheitlichen Aufgaben der Polizei durch die Bundeswehr im Rahmen der Amtshilfe“. Darin wird die einfache Gleichung aufgestellt, dass bei einer rechtlich zulässigen Amtshilfe der Bundeswehr für die Polizei auch die Armee als staatliche Behörde alle Mittel einsetzen dürfe, die der Polizei rechtlich zur Verfügung stehen. Militärische Mittel dürfe sie allerdings nicht einsetzen. (...) An diesem Beispiel wird deutlich, dass in den letzten zehn Jahren eine massive Auseinandersetzung um die Auslegung von Paragraph 35 GG stattfindet, in der immer wieder eine Uminterpretation zugunsten eines erweiterten Inlandseinsatzes der Bundeswehr vorgenommen wird.

Im „Notfall“ auch gegen die Verfassung Mit Blick auf die aktuellen Änderungen im Infektionsschutzgesetz warnen Prof. Klaus Ferdinand Gärditz und Prof. Florian Meinel vor grundlegenden Brüchen der Verfassungsordnung – so würde der Gesundheitsminister befähigt, per Rechtsverordnung Gesetze und Grundrechte außer Kraft zu setzen. Innenminister Seehofer geht längst einen Schritt weiter: Dass die Grenzen des Gesetzes für ihn in der Corona-Pandemie nicht von Bedeutung sind, machte er am 15. März 2020 deutlich. Auf die Frage nach der Rechtsgrundlage der Grenzschließungen antwortete er: „Da gibts den Artikel 28 des Schengener Grenzkodex. Aber jetzt muss ich Ihnen ganz ehrlich mal sagen; Es ist schön, wenn man so eine Grundlage hat, aber im Moment geht mir der Gesundheitsschutz der Bevölkerung über alles. Es gibt auch Notsituationen, wo ein Staat, selbst wenn so ein Artikel nicht vorhanden wäre, handeln müsste.“ Seehofer spielte mit der Rechtsfigur des „übergesetzlichen Notstands“ und damit mit der Option, die Verfassung angesichts der aktuellen Lage bewusst und offensiv zu brechen. 7

Mit der Corona-Pandemie scheint jetzt der Punkt gekommen, an dem eine Interpretation des Grundgesetzes durchgesetzt werden soll, nach der die Bundeswehr problemlos als Hilfspolizei im Inland eingesetzt werden könnte. Damit wird eine alte Gewissheit in der Bevölkerung, dass die Bundeswehr im Inland zwar als vermeintliche „Hilfsorganisation“ bei Naturkatastrophen, nicht aber als bewaffnetes Repressionsorgan mit exekutiven Polizeibefugnissen eingesetzt werden darf, massiv angegriffen. Gegen diese Angriffe müssen wir uns aus bürgerrechtlicher, antimilitaristischer, friedenspolitischer und antifaschistischer Perspektive deutlich zur Wehr setzen. Das Grundgesetz wurde 1949, vier Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur, geschrieben. Die damals auch unter Parlamentariern durchaus gängige Lehre aus der Geschichte „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“, die einen Einsatz einer Armee als Machtfaktor im Inland undenkbar machte, wurde über die Wiederbewaffnung 1955 und die Notstandsgesetze 1968 schrittweise zurückgedrängt. Seit Deutschland im Laufe der 1990er wieder begonnen hat, Soldat*innen in Auslandseinsätze zu schicken und Kriege zu führen, wird auch der Einsatz der Bundeswehr im Inland in kleinen Schritten normalisiert. Dabei ist jetzt der Punkt gekommen, an dem die Option, Soldat*innen als Hilfspolizei einzusetzen, durchgesetzt werden soll. Die letzte elementare Begrenzung, die Bundeswehr als innenpolitisches Machtinstrument einzusetzen, soll gebrochen werden. Dafür wird sowohl der Wortlaut als auch der Sinngehalt der Verfassung bewusst übergangen. Ist dieser Geist einmal aus der Flasche, wird er dahin so schnell nicht zurückkehren. Damit ist auch der Punkt gekommen, wo sich Zivilgesellschaft, Friedens-, Bürgerrechts- und antifaschistische Bewegung aktiv gegen diese autoritäre Gefahr wehren müssen. Ausführliche Originalfassung vom 30.03. sowie weitere aktuelle Analysen unter: www.imi-online.de

Martin Kirsch ist Referent bei der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.


CORONA-PANDEMIE

Hilfe statt Strafe! Sanktionen in Zeiten der Corona-Pandemie

UN-Sprecher*innen warnen vor den gravierenden Folgen einseitiger Sanktionen in Zeiten der Pandemie. Die faktische Blockade lebenswichtiger Medikamente und medizinischer Hilfsmittel stellt eine massive Gefährdung dar, vor allem für Staaten mit vulnerablen Gesundheitssystemen.

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N-Generalsekretär António Guterres hat neben einem weltweiten Waffenstillstand eine Aufhebung von Sanktionen gefordert. Eine Forderung, der sich Papst Franziskus in seiner Osterbotschaft anschloss. Auch die UNSonderbeauftragte für die negativen Folgen von Sanktionen Alena Douhan plädierte eindringlich für eine Aufhebung oder zumindest Aussetzung „einseitiger Zwangsmaßnahmen“. Sie rief dazu auf, die Gesundheitssysteme sanktionierter Staaten in die Lage zu versetzen, auf die Corona-Pandemie angemessen reagieren zu können. Alle Regierungen, die Sanktionen als Mittel der Außenpolitik nutzen, sollten sofort alle Maßnahmen beenden, die den Handel und die Finanzierung von medizinischen Maßnahmen und Materialien, von Nahrung und lebensnotwendigen Gütern behindern.

Derzeit werden Länder wie Iran, Syrien, Venezuela und Kuba, aber auch Russland und China mit Sanktionen belastet. Allein die EU betreibt Sanktionsmaßnahmen gegen 33 Staaten und Entitäten. Die Sanktionen treffen direkt und indirekt auch lebensnotwendige Güter wie Medikamente, medizinische Geräte und Hilfsmittel und bedrohen damit die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen. Durch „sekundäre Sanktionsdrohungen“ gegen Drittstaatsangehörige, die mit dem sanktionierten Staat in Geschäftsbeziehung stehen, werden weitere Versorgungsmöglichkeiten behindert. Zudem führt die Rechtsunsicherheit zu einer sogenannten „Over-Compliance“ von Finanzinstituten und Firmen aufgrund der befürchteten Folgen. Das verschärft die negativen Folgen für den sanktionierten Staat weiter.

Die Covid-19-Pandemie hat sich inzwischen weltweit ausgebreitet. Wenn auch die Zahlen der Infektionen und Toten in den Ländern unterschiedlich sind, so steigen sie zum Teil drastisch an und bedrohen die Gesundheit der Menschen ebenso wie ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Grundlagen. Besonders gefährlich sind die Auswirkungen der Infektionen, aber auch der politischen Maßnahmen zur Eindämmung wie Shutdown und Lockdown, für diejenigen Länder, deren medizinischen und finanziellen Ressourcen begrenzt sind. Ihre Bevölkerung leidet oft unter Kriegen, Armut, den Folgen des Klimawandels und der Ausbeutung durch ein zutiefst unfaires Wirtschaftssystem. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass medizinische Fachkräfte und Gesundheitsarbeiter*innen in großen Zahlen die betroffenen Länder verlassen haben. Wenn einseitige Sanktionen hinzukommen, steigern sich die Leiden der Zivilbevölkerung spätestens durch eine Pandemie und die radikalen Eindämmungsmaßnahmen zu einer humanitären Katastrophe. Davon sind laut Alena Douhan besonders vulnerable Personen in den ärmsten Sektoren der Gesellschaft betroffen: Frauen, Ältere, Jugendliche und Kinder.

uch angesichts der Corona-Pandemie scheinen die USA und die Staaten der EU, die mit diesen einseitigen Sanktionen versuchen, ihre außenpolitischen Ziele zu verfolgen, vor den absehbaren Folgen für die Menschenrechte auf Gesundheit und Leben nicht zurückzuschrecken. Es gibt einzelne Hilfsangebote. Jedoch stellt die derzeitige faktische Blockade von lebenswichtigen Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln während der Pandemie nicht nur eine massive Gefährdung der betroffenen Bevölkerungen dar, sondern gefährdet auch die gesamte Menschheit, da die Ausbreitung des Virus nicht an Ländergrenzen Halt macht. Zudem behindern die sanktionierenden Staaten die Möglichkeiten und Chancen eines wissenschaftlichen Austauschs und eines abgestimmten Vorgehens gegen die Pandemie, die nach ihren eigenen Worten nur mit vereinten gesellschaftlichen Kräften besiegt werden kann.

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Nach wie vor setzen die USA ihre Sanktionen gegen den Iran fort und haben sie nach Ausbruch der Pandemie sogar noch verschärft. Sie missachten selbst eine Anordnung des Internationalen Gerichts8


CHAN YUNIS, GAZA: PALÄSTINENSER BETEN AM ZUCKEREST, NACHDEM DIE MOSCHEE UNTER HYGIENEAUFLAGEN WIEDER GEÖFFNET HAT, 24.05.2020 Foto: © imago images / ZUMA Wire

Ein weiteres Beispiel für die negativen Auswirkungen auf das Gesundheitssystem ist die jahrelange Blockade des Gaza-Streifens durch Israel, die von den USA und Ägypten unterstützt wird und der die EU nicht entschlossen genug entgegentritt. Die desolate Situation der Gesundheitsversorgung und das enge Zusammenleben können dort bei einem Corona-Ausbruch zu einer hochgefährlichen Lage führen. Daher warnen Expert*innen wie die Sprecherin des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA), Tamara Alrifai, oder die Völker- und Menschenrechtsanwältin Shannon Maree Torrens vor einer Katastrophe. Bei inzwischen festgestellten Covid-19 Fällen besteht trotz der Bemühungen der Verwaltung des Gazastreifens und der WHO Grund zu großer Besorgnis.

hofs vom Oktober 2018, die die USA ausdrücklich verpflichtete, die Sanktionen gegen die Ausfuhr von Medikamenten, medizinischen Geräten, Lebensmitteln und Agrarerzeugnissen aufzuheben. Die Staaten der EU haben es bisher nicht geschafft, die Folgen der US-Sanktionspolitik abzumildern. Über die von Deutschland, Frankreich und Großbritannien gegründete Gesellschaft Instex zur Aufrechterhaltung des Handels mit dem Iran wurde im März 2020 ein einziges Geschäft abgewickelt. Die Sanktionen gegen die Regierung des kriegszerstörten Syriens, die unter anderem die USA und die EU verhängt haben, erschweren nicht nur den Wiederaufbau, sondern auch die Eindämmung der Pandemie. Laut einer aktuellen Publikation der Stiftung „Wissenschaft und Politik“ tragen sie dazu bei, dass Geldüberweisungen aus dem Ausland und der Import von Nahrungs- und Lebensmitteln erschwert werden, Produktionskosten sich erhöhen und die Herstellung medizinischer Güter negativ beeinflusst wird. Das UNWelternährungsprogramm schätzt, dass 9,3 Millionen Syrer*innen nicht mehr genug zu essen haben. Die UNO geht davon aus, dass nur zwei Drittel der syrischen Krankenhäuser noch funktionieren. Zudem seien bis zu 70 Prozent der Syrer*innen, die im Gesundheitswesen gearbeitet hatten, inzwischen geflohen.

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ie Pandemie zeigt uns eindringlich, dass wir in einer vernetzten Welt leben. Wir sind alle voneinander abhängig und werden die Ausbreitung nur gemeinsam meistern können. Insofern müssen Sanktionen gegen Staaten mit vulnerablen Gesundheitssystemen aufgehoben werden. Der Einwand, dass viele der in der Pandemie hervorgetretenen Probleme von den Staaten selbst verschuldet sind, ist kein Argument gegen die Aufhebung und keine Entschuldigung für Untätigkeit.

Am 15. März 2020 erklärten die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands, die syrische Regierung allein trage die Schuld an der jetzigen Lage und den verheerenden humanitären Folgen. Bisher wird den von Assad kontrollierten Gebieten in Syrien jegliche EU-Hilfe mit Lebensmitteln und Medizingütern verweigert. Die Aufarbeitung von Verbrechen aller Konfliktbeteiligten ist eine legitime Forderung, kann aber in der derzeitigen Situation keine Begründung für die Verweigerung und Behinderung solcher Hilfsmaßnahmen sein.

Norman Paech ist Professor (em.) für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht. Susanne Grabenhorst ist Co-Vorsitzende der deutschen IPPNW. 9


Weiterführende Informationen: • ippnw.de/bit/corona • ippnw.de/frieden • friedenskooperative.de/uebersicht-gesundheitstatt-ruestung • clingendael.org/research-program/coronavirus • drohnen.frieden-und-zukunft.de • weact.campact.de/petitions/ atombomber-nein-danke

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Die Artikel und Fotos dieses Heftes stammen aus unserem Magazin „IPPNW-Forum“, Ausgabe Nr. 162, Juni 2020. Im Mittelpunkt der Berichterstattung des IPPNW-Forums stehen „unsere“ Themen: Atomenergie, Erneuerbare Energien, Atomwaffen, Friedenspolitik und soziale Verantwortung in der Medizin. In jedem Heft behandeln wir ein Schwerpunktthema und beleuchten es von verschiedenen Seiten. Darüber hinaus gibt es Berichte über aktuelle Entwicklungen in unseren Themenbereichen, einen Gastkommentar, Nachrichten, Kurzinterviews, Veranstaltungshinweise und Buchbesprechungen. Das IPPNW-Forum erscheint vier Mal im Jahr. Sie können es abonnieren oder einzelene Ausgaben in unserem Online-Shop bestellen.

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