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DIE VERGESSENE GENERATION

Kinder und Jugendliche in Coronazeiten DIE VERGESSENE GENERATION

Was ihnen abverlangt wird, ist immens. Auf das, was für Kinder und Jugendliche große Bedeutung hat, müssen junge Menschen seit über einem Jahr verzichten. Auf die Impfung, die ein normales Leben auch für diese Zielgruppe ermöglichen würde, auch. Wie geht es unseren Kindern? FRIZZ Das Magazin hat nachgefragt. ›› Interview: Heidi Zehentner

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Ein kleiner Junge läuft auf Mia zu, möchte mit ihr spielen. Mia zuckt zurück und läuft vor ihm weg. Mia ist drei Jahre alt. Seit knapp der Hälfte ihres Lebens befindet sie sich im Lockdown. Menschen außerhalb ihres engsten Familienkreises empfindet sie als Gefahr. Mia ist kein Einzelfall.

Kleine Menschen werden Hilfe brauchen, die Folgen von Corona aufzuarbeiten, da Essentielles wie der spielerische Kontakt zu anderen kleinen Menschen fehlt und damit vieles für einen gesunde Entwicklung Nötige derzeit nicht möglich ist.

Das gilt auch für die Altersgruppe der Schüler:innen. Jugendliche sehnen sich nach Normalität, nach dem, was Jugendlichen zusteht. Sich abzunabeln, neue

Freund:innen zu finden, miteinander zu feiern, sich zu fühlen. Das Treffen mit einer Freundin oder einem Freund endet derzeit um 22 Uhr. Danach? Nicht selten verbringen Jugendliche unverhältnismäßig viel Zeit vor dem Computer und mit dem Handy. Die digitale Welt hat an Bedeutung gewonnen. Gesund aber ist das nicht.

Die Impfungen schreiten voran, ältere Jahrgänge dürfen sich bald wieder auf den

Biergarten oder das Theater freuen. Viele Menschen der mittleren und älteren

Jahrgänge haben die erste Impfdosis bekommen, der zweite Piks folgt in Bälde.

Kinder und Jugendliche aber scheinen beim Bemühen um Rückkehr in die Normalität nicht wirklich von Belang zu sein.

Was Corona für junge Menschen bedeutet, darüber haben wir mit Kaleigh, Tilda und ihrer Mutter Suse gesprochen.

TILDA (11 JAHRE, IGS NORDEND) & KAYLEIGH (10 JAHRE, GOETHE GYMNASIUM)

Seit über einem Jahr ist das Leben bei uns wegen Corona ganz anders geworden. Erzähl uns, wie war und ist es aktuell bei dir? Wie sieht dein Tag aus? Tilda: Als der erste Lockdown kam, hatte ich Geburtstag und es war echt sehr traurig, weil niemand kommen durfte, außer meine beste Freundin Kayleigh. Damit es nicht langweilig wurde, ist Kayleigh gleich bei mir geblieben. Als ich dann im Sommer in die weiterführende Schule gekommen bin, war es auch ein bisschen doof, weil ich die Schule nicht wirklich richtig kennenlernen konnte. Ich war länger im Homeschooling und jetzt bin ich wieder im Wechselunterricht. Homeschooling fällt mir mal leichter und mal schwerer und ich will endlich wieder zum HipHop.

Präsenzunterricht, Homeschooling. Was findet bei dir gerade statt? Kayleigh: Seit kurzem bin ich wieder im Wechselunterricht, davor hatte ich die ganze Zeit Homeschooling. Das hat ganz gut ge-

klappt. Es ist nur manchmal schwer, alles rechtzeitig zu schaffen. Am Homeschooling finde ich gut, dass man nicht ganz so früh aufstehen muss, aber ich finde es eigentlich besser, wenn wir im Klassenraum sitzen und die Lehrer:innen mit uns direkt sprechen können.

Homeschooling mit Mama oder Papa. Wie hat das geklappt? Das war doch sicherlich manchmal ganz schön stressig, oder? Tilda: Meine Mama arbeitet im Homeoffice. Sie hat so viele Konferenzen, dass ich fast nie was fragen kann. Aber ich komme klar. Ich rufe dann eine Freundin aus der Klasse an und wir erledigen die Aufgaben zusammen. ›››› Die weiterführende Schule konnte ich nicht richtig kennenlernen. ‹‹ (Tilda)

Konntest du genauso gut lernen oder haben sich deine Leistungen verändert? Kayleigh: Meine Leistungen haben sich ein bisschen verändert. Es ist schwer, sich zuhause immer zu konzentrieren, das klappt in der Schule besser. Da ist klar, dass ich jetzt Unterricht habe. Kayleigh: Am meisten freue ich mich darauf, wenn ich keine Maske mehr tragen muss und ich möchte schwimmen gehen, Freunde treffen, in den Urlaub fahren und shoppen.

SUSE (MUTTER VON TILDA, 48 JAHRE, REDAKTEURIN)

Du bist Mama von zwei Töchtern und berufstätig. Das ist ja an sich schon eine ordentliche Herausforderung. Aber in Corona-Zeiten ...! Wie sieht dein Alltag derzeit aus? Ich bin seit fast einem Jahr überwiegend im Homeoffice. Als die Zahlen letzten Sommer runtergingen, war ich auch mal wieder regelmäßiger im Büro, was mir gutgetan hat. Jetzt versuche ich seit Monaten die Balance zwischen konzentriertem Arbeiten, Videokonferenzen, Homeschooling und die Herausforderungen, die sonst im Coronaalltag anstehen, zu finden. Mein Mann kann in seinem Job kein Homeoffice machen, sodass meine Töchter und ich versuchen, den Tag organisiert zu bekommen. Struktur ist mir wichtig, aber das bekom-

Treffen mit allen Freund:innen ist nicht erlaubt, nur noch mit einer Freundin bzw. einem Freund. Wird es da nicht manchmal einsam? Tilda: Ich bin froh, dass ich eine Freundin habe, mit der ich immer telefonieren kann und wir treffen uns, wenn es klappt. Manchmal ist mir total langweilig. Als das Wetter so kalt war, hatte ich richtig schlechte Laune. Jetzt kann man draußen auf dem Spielplatz auch mal andere Freunde treffen.

Wie geht es dir mit der Kontaktsperre? Fühlst du dich seit Corona anders, schlechter? Kayleigh: Das letzte Jahr hat sich so komisch angefühlt. Ich wünsche mir, dass es wieder so wird wie vorher. Ich vermisse die großen Feste, die wir mit der Familie oder mit Freunden feiern. Ich hoffe, dass das bald wieder geht.

Kennst du jemanden, der an Corona erkrankt ist? Tilda: Ja, ich kenne mittlerweile Kinder und Erwachsene, die Covid hatten. Manchen geht es immer noch nicht richtig gut und ich möchte kein Corona bekommen.

Kayleigh, Tilda & Suse

men wir nur bedingt hin. Ich gehe viel zu selten raus und wenn ich ehrlich bin, kann ich Job und gleichzeitig Mutter sowie Lehrerin nicht wirklich erfüllen.

Mal ehrlich, wie machst du dich als Lehrerin? Wenn ich nicht gerade einen Tag mit mehreren Videokonferenzen habe und unter Druck bin, bin ich als Lehrerin nicht schlecht. Das ist aber sehr selten. Ich bin meistens zu ungeduldig und auf die Schnelle auch nicht wirklich direkt in Mathe- oder Grammatikfragen einsatzbereit. Sorry, aber das ist mindestens 35 Jahre her ... Ich habe immer ein schlechtes Gewissen und am Wochenende, wenn ich Zeit habe, kostet es viel Motivation für alle, sich an den Schreibtisch zu setzen.

Wie erlebst du Schule derzeit? Digitale Kompetenz, Chancengleichheit oder aber Überforderung von Schulsystem und Lehrkräften? Eine schwierige Frage. Die Modelle in den Schulen sind sehr unterschiedlich. Ich sehe es an unserer Schule und höre es von Freundinnen aus anderen Schulen. Es gibt Lehrer:innen, die sehr viel leisten und versuchen, das Beste aus allem zu machen. Dass einige Lehrer:innen mit dieser Situation aber überfordert sind, ist auch klar. Das sind wir ja auch alle irgendwie. Wir dürfen nicht vergessen, dass Lehrer:innen ja unter Umständen auch Kinder zu Hause haben, die beschult und bespaßt werden wollen. Klar gibt es auch Lehrer:innen, die in der Versenkung verschwinden, aber die gab es auch schon vor Corona, und solche Mitarbeiter:innen gibt es in jedem Arbeitsfeld. Was die digitale Ausstattung der Schulen betrifft? Hier muss dringend aufgeholt werden. Wenn ich sehe, wie mein Unternehmen in wenigen Tagen Tausende von Mitarbeiter:innen im Homeoffice versorgen konnte und wir von einem auf den anderen Tag Videokonferenzen, ohne rauszufliegen, durchführen konnten und dann im Vergleich die Schulen betrachte ... da frage ich mich schon, was in Deutschland schiefläuft. Hier fehlt es eindeutig an kreativen Konzepten, Flexibilität und Geld. Warum schaffen wir es nicht, wie zum Beispiel die Finnen? Sie investieren mehr Geld in Bildung, es wird auf Chancengleichheit geachtet, die Digitalisierung ist weit fortgeschritten und es werden insbesondere die Bildungsbenachteiligten individuell gefördert. Apropos Chancengleichheit: Die Krise macht es ganz deutlich und wir werden die Folgen erst nach Corona richtig zu spüren bekommen. Hier muss unbedingt was passieren. Schulen und Familien brauchen viel mehr unbürokratische und schnelle Hilfe. Es fehlt an sozialem Fachpersonal in den Schulen und sozialen Einrichtungen. Diese Jobs sind so wichtig und müssten ausgebaut und vor allem besser bezahlt werden.

Siehst du an Deinen Kindern Veränderungen, schulisch aber auch mental? Klar sehe ich das. Die Krise macht ja auch was mit mir und wenn ich das kurze Leben meiner beiden Kinder betrachte, die jetzt über ein Jahr lang aus ihrer gewohnten Welt geworfen wurden. Das macht vor allem Angst. Es gibt Phasen, da läuft es ganz gut im schulischen Bereich und es geht ihnen soweit gut, aber es gibt auch Wochen, in denen es für beide schwer war und ist. Immer, wenn neue Coronaregeln veröffentlicht wurden und noch weniger erlaubt wurde, sank auch ihre Stimmung.

‹‹ ›› Das letzte Jahr hat sich so komisch angefühlt. ‹‹ (Kayleigh)

Fachleute sprechen von psychischen Auffälligkeiten bei jungen Menschen, die sich so ganz und gar nicht altersgerecht ausleben können. Glaubst du, dass das Spätfolgen für Kinder und Jugendliche hat? Ich glaube, dass wir Menschen so strukturiert sind, dass wir uns mental schnell erholen können. Wenn wir aber schon vor der Krise seelisch angekratzt sind, ist die Krise ein Katalysator. Vielen jungen Menschen geht es nicht gut und es werden jeden Tag mehr. Hier muss die ganze Gesellschaft helfen, dass die Kinder und Jugendlichen wieder in ihren lebensfrohen Alltag zurückfinden und wir irgendwie die verlorenen Feste und Erlebnisse nachholen. Es ist wichtig, dass sie wieder ein Gefühl der Sicherheit bekommen. ›››› Schulen und Familien brauchen viel mehr unbürokratische und schnelle Hilfe. ‹‹ (Suse)

Was müsste nun passieren, um den Kindern und Jugendlichen zu helfen? Schon heute sind die Therapieplätze knapp und viele junge Menschen warten auf dringende Hilfe. Die Politik muss unbedingt ihr Augenmerk mehr auf die Jugend richten. Sie sind schließlich die Generation, die uns als Gesellschaft weiterträgt. Sie müssen nicht nur mit Corona klarkommen, auch der Klimawandel wird uns mehr abverlangen. Hier wünsche ich mir, dass endlich mehr Geld und Kraft in die Hand genommen wird, um den nachfolgenden Generationen eine sichere Zukunft zu bieten.

Kinder sollen frühestens im Sommer geimpft werden. Erst nachdem alle Risikogruppen durchgeimpft sind. Was hältst du von dieser Priorität? Auch diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Ich finde Impfen wichtig und auch für die Jüngeren in unserer Gesellschaft. Wenn ich mich impfen lasse, bin ich, was Nebenwirkungen oder Spätfolgen betrifft, recht entspannt. Bei jungen Menschen habe ich gemischte Gefühle, da sie ihr komplettes Leben mit vielen Plänen noch vor sich haben. Trotzdem scheint die Impfung zum jetzigen Zeitpunkt die einzige Chance, um unserer Jugend wieder ihr Leben zurückzugeben.

Und auch an dich die Frage: Was machst du als erstes, wenn der Albtraum vorbei ist? Was vermisst du am meisten? Ich werde als erstes mit all meinen Freundinnen und Freunden zu lauter Musik tanzen und wir werden nicht aufhören, uns ständig in den Armen zu liegen.

KINDERBEAUFTRAGTE KIRA SCHULER UND DANIELA WEHRSTEIN ABHOLEN, NICHT AUFHOLEN

Daniela Wehrstein Kira Schuler

Wird über den Alltag von Kindern und Jugendlichen gesprochen, dann geschieht dies aktuell verstärkt unter dem Aspekt des aufzuholenden Lernstoffs oder der noch ausstehenden fristgerechten Entwicklungsschritte. Natürlich ist es wichtig und sinnvoll, die Heranwachsenden hierbei zu unterstützen. Gleichzeitig sollte nicht vergessen werden, dass sie mehr sind als zu beschulende und zu betreuende Wesen. Sie haben individuelle Bedürfnisse und sie haben Rechte. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Für sie müssen angemessene Lösungen gefunden werden. Wenn Lockerungen diskutiert werden, für Geimpfte erste Beschränkungen wegfallen, müssen nun auch die Heranwachsenden besonders in den Blick genommen werden. Sie haben das letzte Jahr und die Einschränkungen durch die Pandemie unterschiedlich erlebt. Wir Erwachsenen müssen ihre Empfindungen und Anliegen ernst nehmen und sie dort abholen, wo sie stehen. Dafür braucht es Aufmerksamkeit und Empathie.

Wichtig sind außerdem Aktivitäten in der Peergroup. So könnten sich Kinder aus denselben Betreuungsgruppen in ihrer Freizeit verabreden. Wer vormittags getestet wird, sollte nachmittags in seinen Verein gehen oder offene Angebote besuchen können. Und mit dem wärmer werdenden Wetter lässt sich so manche Aktivität nach draußen verlagern. Freizeit ist für die Persönlichkeitsentwicklung Heranwachsender elementar wichtig. Für die anstehende Ferienzeit sollten jetzt die Weichen gestellt, Räume zugänglich gemacht und Aktivitäten vorbereitet werden. Dies könnte der ausgefallene Schwimmkurs oder eine geöffnete Kletterhalle sein. Ein Konzert im Park, ein Kreativworkshop auf dem Schulhof. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, um Begegnung und Bewegung anzuregen und zu fördern. Orte anzubieten, an denen Jugendliche gemeinsam chillen können, gehört ebenfalls dazu. Dies alles schließt passende Hygienekonzepte und angemessene Maßnahmen keineswegs aus. Aber die Perspektive muss sich ändern: Entscheidungen müssen für und vor allen mit den Kindern und Jugendlichen getroffen werden.

Kira Schuler hat Grundschullehramt und Soziale Arbeit studiert. Sie arbeitet als staatlich anerkannte Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin an einer Frankfurter Grundschule. Darüber hinaus bietet sie verschiedene kreative Projekte für Kinder und Jugendliche an. Seit 2015 engagiert sie sich als Kinderbeauftragte für den Frankfurter Stadtteil Eckenheim. Daniela Wehrstein hat Deutsch und Französisch studiert und in Romanischer Philologie promoviert. Sie arbeitet in der Erwachsenenbildung, ihre Schwerpunkte sind Diversität und Resilienz. Wehrstein hat zwei Kinder und ist seit Jahren ehrenamtlich als Vertreterin in städtischen und hessenweiten Elterngremien aktiv. Seit Mai 2021 ist sie Kinderbeauftragte des Stadtteils Ostend. Die Frankfurter Kinderbeauftragten werden auf Zeit vom Magistrat berufen und üben ein politisches Amt aus. Sie arbeiten vor Ort im Stadtteil und sind zugleich stadtweit auch darüber hinaus vernetzt. Kinderbeauftragte sind Streiter:innen für die Kinderrechte. Sie informieren über Kinderrechte, nehmen die Kinderperspektive ein und sind Anwalt/Anwältin der Kinder. Dies können sie bei der Spielplatzerhaltung und -gestaltung sein oder einen sicheren Schulweg betreffen.