Pädagogische Intervention bei Kindern mit Legasthenie

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Magisterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magistra Artium (M. A.) im Fachbereich 04 Erziehungswissenschaften am Institut für Sonderpädagogik der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Pädagogische Intervention bei Kindern mit Legasthenie Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Prävention legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten und deren Implikation für kindliche Entwicklungsprozesse

1. Gutachter: Dr. Oliver Hechler 2. Gutachter: Michael Bourgeon

Vorgelegt von: Britta Dietrich Goerdelerstr. 23 63071 Offenbach am Main Einreichdatum: 23.12.2010


Inhaltsverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung gemäß §21 Abs. 1 StPO ...................................................... I Danksagung ...................................................................................................................... II Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................... III Abbildungsverzeichnis ..................................................................................................... IV Vorwort ....................................................................................................................... 1 1

Einleitung ............................................................................................................ 5

Teil I Multikausale Ursachenbereiche von Legasthenie und Grundlagen des Schriftspracherwerbs 2

Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge ......................... 10 2.1 Grundlegende Annahmen zum Schriftspracherwerb ...............................10 2.2 Wissenschaftstheoretische Überlegung zum Konzept der phonologischen Bewusstheit ..........................................................................18 2.3 Veränderte Schriftsprachentwicklung legasthener Kinder .......................24

3

Problemkreis Legasthenie ............................................................................... 29 3.1 Ursachen im Bereich der Wahrnehmung ......................................................29 3.1.1 Sinneswahrnehmungs- und Wahrnehmungsverarbeitungsstörung ...29 3.1.2 Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung ..................................30 3.1.3 Störung der zentralen visuellen Wahrnehmung ....................................31 3.2 Genetische Ursachen ......................................................................................32 3.3 Ursachen im prä-, peri- und postnatalen Bereich .......................................34 3.4 Erkennungsmerkmale für das Vorhandensein einer Legas-thenie ..........36


Teil II Das „Konstrukt“ Legasthenie 4

Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive ....................................................................................................... 40

5

Begrifflich-definitorische Aspekte ................................................................... 49 5.1 Historisch-definitorischer Entwurf des Legastheniebegriffs ........................49 5.2 Definitionsversuch der Begrifflichkeit „Legasthenie“ ..................................52 5.2.1 Primärlegasthenie .......................................................................................56 5.2.2 Sekundärlegasthenie .................................................................................57 5.3 Warum nicht jedes Kind mit Problemen beim Lesen- und Schreibenlernen Legasthenie hat … .............................................................58 5.4 Das legasthene Kind .........................................................................................62

Teil III Ansätze und Möglichkeiten pädagogischer Intervention bei legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten 6

Was ist eine pädagogische Intervention? ..................................................... 67

7

Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene ...................... 69 7.1 Die Bedeutung der Früherkennung von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten und präventiver Maßnahmen ...........................................69 7.1.1 Einbindung der Eltern in die frühkindliche Förderung ..........................73 7.1.2 Institutionelle Frühförderung und Prävention im Kindergarten ...........77 7.1.3 Vorschulische Förderung der phonologischen Bewusstheit ...............79 7.1.4 Frühkindliche Wahrnehmungsförderung zur Prävention legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten .........82


7.2 Lerntheoretische Überlegungen zur pädagogisch-präventiven Intervention ........................................................................................................84 8

Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller ....................... 85 8.1 Ansätze nach dem Konzept von Maria Montessori....................................85 8.1.1 Grundlagen des Montessori-Modells ......................................................88 8.1.2 Aktualität des Montessori-Modells .........................................................100 8.1.3 Pädagogisch orientiertes Legasthenietraining mit MontessoriMaterial ..................................................................................................104 8.2 Ansätze nach der AFS-Methode von Astrid Kopp-Duller.........................107 8.2.1 Grundlagen der AFS-Methode ..............................................................107 8.2.2 Pädagogisch orientiertes Legasthenietraining nach der AFSMethode ................................................................................................109

9

Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention ........................................ 114 9.1 Wie können Eltern die pädagogisch-didaktischen Erkenntnisse der Frühförderung legasthener Kinder einsetzen? ...........................................115 9.2 Wie können Eltern zur Prävention von legastheniebedingten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb beitragen? ..........................118

10 Abschließende Diskussion ............................................................................ 134 Literaturverzeichnis ................................................................................................138 Anhang ....................................................................................................................157


„Wir alle blicken auf das Kind, weil wir erkannt haben, daß bei ihm noch alles werden kann, daß in ihm alle Möglichkeiten vorhanden sind, während der Erwachsene wohl Gedanken und Grundsätze ausdrücken kann, sich aber mehr oder weniger auf sie festgelegt hat und sich schwer noch ändern kann.“ (Maria Montessori, 31.08.1870 - 6.05.1952, italienische Ärztin und Pädagogin)


Eidesstattliche Erklärung gemäß §21 Abs. 1 StPO

Hiermit erkläre ich, dass die vorliegende Arbeit von mir selbstständig erstellt und noch nicht anderweitig für Prüfungszwecke vorgelegt wurde. Es wurden keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel und Quellen benutzt. Soweit ich auf fremde Materialien, Texte oder Gedankengänge zurückgegriffen habe, enthalten meine Ausführungen vollständige und eindeutige Verweise auf die Quellen. Wörtliche und sinngemäße Zitate sind als solche gekennzeichnet. Alle weiteren Inhalte der vorgelegten Arbeit stammen im urheberrechtlichen Sinn von mir, soweit keine Verweise und Zitate erfolgen.

___________________________________ Ort, Datum

___________________________________ Unterschrift

I


Danksagung

Damit eine Abschlussarbeit zustande kommen kann, ist man auf viele andere Personen angewiesen, welchen ich auf diesem Wege danken möchte. An erster Stelle möchte ich mich bei Dr. Oliver Hechler und Michael Bourgeon bedanken, die mir diese Arbeit ermöglicht haben. Mein besonderer Dank gilt dabei Dr. Oliver Hechler, der mich bei der Erstellung der Arbeit unterstützt und mich mit sehr viel persönlichem Engagement betreut hat und bei wichtigen Fragen immer helfend zur Seite stand. Bei Herrn Michael Bourgeon möchte ich mich dafür bedanken, dass er sich als Zweitgutachter zur Verfügung gestellt hat.

Mein Dank gilt auch all denen, die mir des Weiteren bei der Erstellung der Arbeit behilflich waren. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang Herrn Prof. Dr. Henning Rosenkötter, Frau Prof. Dr. Renate Valtin und Frau Mag. Simone Enste. Insbesondere möchte ich an dieser Stelle Frau Dr. Astrid Kopp-Duller meinen Dank aussprechen, die sich geduldig meiner persönlichen Fragen annahm und mich immer mit besonderem Engagement und hoher Kompetenz unterstützte. Frau Mag. Margit Biernat danke ich für das Korrekturlesen, Peter Möller und Norbert Thust danke ich für den Technical Support bei der Fertigstellung der Arbeit.

Von unschätzbarer Bedeutung ist für mich der große Rückhalt, den ich bei all meinen Launen und über alle Phasen der Arbeit von meinen Eltern, meiner Familie und meinen Freunden erfahren habe und für den ich mich ganz herzlich bedanken möchte. Insbesondere möchte ich meiner Mutter danken, die mir immer zur Seite stand, mich unterstützte, wo sie konnte, und mir Kraft gab, wenn ich sie brauchte.

II


Abkürzungsverzeichnis

a.a.O.

am angegebenen Ort

bspw.

beispielsweise

bzw.

beziehungsweise

d.h.

das heißt

etc.

et cetera

etw.

etwas

ggf.

gegebenenfalls

ICD-10

International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Ziffer 10: zehnte Revision der Klassifikation

LRS

Lese-Rechtschreibschwäche

o.Ä.

oder Ähnliche/r/s

od.

oder

o.g.

oben genannt

s.

siehe

S.

Seite

s.o.

siehe oben

s.u.

siehe unten

sog.

so genannt

u.

und

u.a.

unter anderem

u.a.m.

und andere mehr

u.U.

unter Umständen

u.v.m.

und viele mehr

v.a.

vor allem

z.B.

zum Beispiel

z.T.

zum Teil

z.Z.

zur Zeit

zit. n.

zitiert nach

III


Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Verhältnis: Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung und Motorik zu Intelligenzleistungen im engeren Sinne ..................................................................... 28 Abb. 2: Bausteine der kindlichen Entwicklung ...................................................................... 157 Abb. 3: Das Logogenmodell nach Morton in überarbeiteter Version nach Ellis ................... 158 Abb. 4: Das Grundgerüst der Montessori-Pädagogik ............................................................. 159 Abb. 5: Das Drei-Phasen/Sechs-Stufen-Modell des Erwerbs von Lesen und Schreiben nach Frith .................................................................................................................. 159 Abb. 6: Persönlichkeitskonstitution ........................................................................................ 160 Abb. 7: AFS-Methode im visualisierten Überblick nach Kopp-Duller .................................. 161 Abb. 8: Verlauf des Wahrnehmungsprozesses ....................................................................... 162

IV


Vorwort

Johannes Gutenberg (um 1400-1468), Erfinder der Buchdruckkunst, Leonardo da Vinci (1452-1519), Maler/Bildhauer/Architekt, Napoleon Bonaparte (1769-1821), französischer Feldherr und Kaiser, Charles Darwin (1809-1882), britischer Naturwissenschaftler, Winston Churchill (1874-1965), ehem. Premierminister von Großbritannien und Nobelpreisträger, Albert Einstein (1879-1955), Physiker und Nobelpreisträger, Walt Disney (1901-1966), amerikanischer Filmproduzent, John F. Kennedy (1917-1963), 35. Präsident der Vereinigten Staaten, Reinhard Mey (geb 1942), deutscher Liedermacher … All diese berühmten Persönlichkeiten haben eines gemeinsam: Sie waren oder sind Legastheniker und hatten Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens. Das Phänomen der Lese-Rechtschreibschwäche ist eine weltweit schon lange diskutierte Problematik. Die Diskussionen darüber wollen die Ursachen dafür klären und eine Behandlung des häufig bei Schulkindern auftretenden Problems ermöglichen (vgl. Fischer 2003, S. 44f.). Eine der wichtigsten Kulturtechniken, die Kinder erlernen müssen, ist die Sprache in Schrift und Wort. Die Schule ist dafür verantwortlich, dies zu vermitteln und zu festigen. Einige Kinder haben jedoch große Schwierigkeiten, das Lesen zu erlernen, der Grund ist oft eine Lese-Rechtschreibschwäche. Das Ziel des Lesens ist das Leseverständnis. Doch für ein gutes Leseverständnis ist neben vielen Teilkomponenten wie Sprachverständnis, themenbezogenem Vorwissen und Motivation auch die Fähigkeit, genau und flüssig zu lesen, von großer Bedeutung. Bei Problemen in einem dieser grundlegenden Bereiche wird das Textverständnis beeinträchtigt. Kinder und Jugendliche mit Leseschwierigkeiten können in einem oder mehreren dieser Bereiche Defizite haben. Seit vielen Jahren gibt es im Bereich der Legasthenie heftige Kontroversen, zusätzlich sind Schwierigkeiten mit den Kulturtechniken immer noch ein Tabuthema; gesellschaftlich, im Bildungsbereich und viel zu oft in den Familien selbst. Partielle Lernschwierigkeiten im Bereich des Lesens und Rechtschreibens fanden in den letzten Jahrzehnten stärkere Beachtung als etwa Leistungsprobleme in Mathematik oder anderen Lerngebieten. Dies mag seinen Grund darin haben, dass Störungen im Lesen und Rechtschreiben einen Schüler in unserer Gesellschaft – trotz vieler integrativer Methodenansätze und Projekte in der Schule – im Wissenserwerb beeinträchtigen. Auch die Schullaufbahn wird mehr oder weniger massiv gestört, und damit wird in die Lebensmöglichkeiten eingegriffen. Der Umgang mit schriftsprachlichem Material ist heute wichtiger denn je. Eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Themen erfordert eine vielseitige Information, die nur durch die Nutzung verschiedener Medien möglich wird. Noch ist jedoch nicht gewährleistet, dass jeder Mensch 1


in demselben Umfang von der Informationsfülle profitieren kann. Trotz der Tatsache, dass die Fertigkeiten des Lesens und Schreibens immer wichtiger werden, bleibt das Faktum, dass noch immer ein Teil der Jugendlichen und Erwachsenen selbst am Ende der Pflichtschulzeit weder das Lesen noch das Schreiben in ausreichendem Maß beherrscht. Internationale Schulvergleiche wie PISA haben gezeigt, dass der Plan, allen Schülern diese Grundfertigkeiten zu vermitteln, nicht verwirklicht ist. Zudem steht es schlecht um die Chancengleichheit in den Schulen; gerade schwache Schüler können nicht ausreichend vom Unterricht profitieren, sodass die Diskrepanz zwischen guten und schlechten Schülern eher zunimmt, statt sich zu verringern. Diese Diskrepanz ist zusätzlich von der sozialen Lage der Familien abhängig, da Kinder sozial schwacher Familien offensichtlich weniger gefördert werden – meist, zumindest finanziell gesehen, nicht gefördert werden können – und somit nicht die gleichen Bildungschancen wie Schüler aus besser gestellten Familien erhalten. Angesichts solcher bedauerlichen Befunde hat eine intensive Ursachensuche begonnen. Ein Grund hierfür liegt unbestreitbar in der großen Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis. Gerade die Prozesse des Lesens und Schreibens stellen ein intensiv beforschtes Gebiet dar, zu dem verschiedene Disziplinen wie Psychologie, Linguistik, Phonetik, Medizin und Genetik in den letzten Jahren wesentliche Beiträge geleistet haben. Einerseits hat sich dadurch das Verständnis für die kognitiven Prozesse des Lesens und Schreibens erweitert, andererseits hat sich auch gezeigt, inwieweit genetische und soziale Faktoren auf das Erlernen des Lesens und Schreibens Einfluss nehmen. Aus diesen Erkenntnissen der Forschung ergeben sich aufschlussreiche Konsequenzen für die Praxis. Dies ist zum einen die Ermöglichung einer frühzeitigen Prävention von Lernstörungen mit Hilfe einer Förderung phonologischer Fertigkeiten, zum anderen aber auch die Verbesserung der Diagnostik von Teilfertigkeiten des Lesens und Schreibens, verbunden mit der Möglichkeit einer gezielten Förderung solcher Teilfertigkeiten. Die Einsicht der Relevanz der Forschungsgebiete für die Praxis ist allerdings oft nicht unmittelbar erreichbar. Abgesehen davon dauert es meist längere Zeit, bis die Forschungsergebnisse Eingang in die schulalltägliche Praxis finden. Mit Hinblick darauf befinden wir uns an einer Wende. Allmählich wird die traditionelle Sichtweise von Legasthenie durch umfangreiche Konzepte, die versuchen, dem Lesen- und Schreibenlernen und den dabei auftretenden Schwierigkeiten wirklich gerecht zu werden, abgelöst. Viele Psychologen und Pädagogen sehen Teilleistungsstörungen als Verursacher von Problemen beim Lese- und Rechtschreiberwerb an. Wie verlockend klingt da die Theorie, dass Legasthenie ein Zeichen für besondere Begabung sei (vgl. Davis 2006). Besonders in der heutigen Zeit, in der dem Schulerfolg ein maßgeblicher Anteil an späteren Berufs- und Karrierechancen zugerechnet wird, finden 2


solche Theorien natürlich positive Resonanz. Dieser Zusammenhang konnte jedoch nie bewiesen werden. Psychologische Tests oder Legasthenie-Tests können aufgrund ihrer Konstruktion legasthenische Besonderheiten hervorgerufen, sie sind somit kein sicherer Beleg für die tatsächliche Existenz derartiger Schwierigkeiten. Besonders im gesundheitlichen Bereich etablieren sich gerade in Zeiten eines Umbruchs sehr schnell esoterische und nicht wissenschaftlich fundierte „Therapie“-Möglichkeiten, wobei scheinbare Patentmethoden für teures Geld verkauft werden. Deshalb werden Hilfesuchende leider nur allzu oft enttäuscht. Es ist daher ratsam, Legastheniekonzepte, die oft fanatisch gefällige Theorien über vermeintliche Ursachen entwickeln und die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben nicht als gestörte Lernprozesse sehen, kritisch zu betrachten. Außerdem muss abschätzbar sein, wie lange eine seriöse Hilfe in etwa dauert. Etwas anders gestaltet sich bspw. die Sichtweise der Lerntherapie1, wie sie vom Fachverband für integrative Lerntherapie (FiL) e.V. vertreten wird (vgl. Fachverband für integrative Lerntherapie e.V. 2010). Trotz dieser Vielfalt an neuen Erkenntnissen und der Tatsache, dass sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen ausschließlich der Leseforschung verschrieben haben, ist z.Z. auf der Seite der Lehrerschaft eher Verdruss über die Forschung zu beobachten. Einerseits revidiert sie ständig ihre Erkenntnisse und andererseits gibt es keine Bemühungen, diese Erkenntnisse in verständlicher Form zusammenzufassen und mitzuteilen. Dass in der Fülle an neuen Befunden eine Orientierung schwerfällt und dies zu einer Irritation führt, mag kaum verwundern. Bis heute ist es weder gelungen, eine ausreichende und vor allem positive Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsgruppen zu erreichen noch eine klare Linie zu ziehen, wo die Interventionen durch den Pädagogen nicht mehr ausreichen und die des Psychologen oder Mediziners einsetzen müssen oder umgekehrt (vgl. Kopp-Duller/PailerDuller 2008a, S. 133). Es gibt nicht einmal eine Vereinheitlichung der Begriffe. Allein auf der Feststellungsebene kommt es schon zu Unstimmigkeiten, wobei der Psychologe und Mediziner die Legasthenie stets als Schwäche, Störung, Krankheit oder Behinderung ansieht, damit auch sein Einschreiten gerechtfertigt ist. Nicht selten werden Diagnosen von Psychologen durch den Mediziner in Zweifel gezogen oder Gutachten von Pädagogen durch den Psychologen oder Mediziner etc. Leidtragende sind die Kinder, die durch ein völlig uneinheitliches

Vorgehen

nicht

selten

ihr

gesamtes

Schulleben

um

wichtige

1

Bei der Arbeit in diesem Sinne wird zunächst nach den Stärken und Begabungen, also den Ressourcen eines lese-rechtschreibschwachen Kindes gesucht, da die Meinung vertreten wird, dass jeder Mensch die Welt anders sieht und wahrnimmt. Wer z.B. im konventionellen Unterricht nicht erfolgreich lernt, vermag dies möglicherweise durch den Einsatz von konkreten Bildern, durch Visualisierungen oder mit Hilfe von Materialien zum Anfassen und Hantieren. Dieses ressourcenorientierte Vorgehen bewirkt im betroffenen Kind eine verstärkte Leistungsmotivation.

3


Interventionsmaßnahmen gebracht werden. In der gegenwärtigen Diskussion streiten sich Mediziner und Pädagogen sowie Psychologen um die Zuständigkeit für Legasthenie bzw. LRS, die auch einen profitablen Diagnose- und Therapiebereich sichert. Eines ist sicher: Die Legasthenie ist eine eigene Wissenschaft mit multikausalen Ursachen in komplexen Zusammenhängen. Das wichtigste Faktum ist, dass Menschen, die eine Erbanlage für Legasthenie haben, weder krank und schon gar nicht behindert sind.

4


1

Einleitung Lese-Rechtschreibschwäche, Legasthenie… Wo immer diese Begriffe

Lernstörung,

auftauchen, entstehen Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und eine Fülle von Vorurteilen gegenüber dem betroffenen Kind und seiner Familie. Stigmatisierung, psychische und physische Folgen – das können schon vorhandene oder durch das Nichterkennen der Legasthenie und die unterlassene Hilfestellung erworbene sein – gehören zu den vielfältigen Nebeneffekten, die mit dieser Thematik einhergehen. Aufgrund der immer größer werdenden Zahl von lese- und rechtschreibschwachen Kindern fragt man sich, welche Präventionsmaßnahmen getroffen werden können. Sobald Kinder partielle Ausfälle im Bereich der gesprochenen und geschriebenen Sprache, die auch allgemeine Schulleistungen beeinträchtigen, aufweisen, wird in der psychologischen, neurologischen, psycholinguistischen wie auch pädagogischen Wissenschaft von einer Teilleistungsstörung oder Legasthenie ausgegangen (vgl. Milz 1997, S. 13). Bei guten Lesern erfolgt das Lesen mühelos und äußerst schnell. Die Kinder mit Legasthenie oder LRS haben jedoch bereits erhebliche Probleme mit den basalen Lesefertigkeiten, der Lesegenauigkeit und besonders mit der Lesegeschwindigkeit. Gerade Schwierigkeiten beim Lesen sind häufig mit erheblichen negativen Konsequenzen für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen verbunden. Die Zahl der Kinder mit vermuteten oder tatsächlichen Lernstörungen nimmt ständig zu. Verzögerungen in der Entwicklung von Bewegung, Wahrnehmung und Sprache, Klagen über Aufmerksamkeitsdefizite oder Hyperaktivität häufen sich. Im Lernbereich Schule werden immer öfter Lese- und Schreibschwierigkeiten sowie Rechenschwierigkeiten festgestellt. Auch im Umgang der Kinder untereinander ist vermehrt aggressives oder auch egozentrisches Verhalten zu beobachten. Viele Kinder haben darüber hinaus auch mit emotionalen Schwierigkeiten zu kämpfen. Bei LRS und Legasthenie können der schulische Erfolg, die Lernmotivation, das Selbstvertrauen sowie das allgemeine psychische Befinden nachhaltig beeinträchtigt werden. Auch im sozialen Bereich, z.B. in der Klasse, kann der Status

des

Kindes

durch

die

Miss-erfolge

leiden.

Neben allgemeinen sozialen

Anpassungsschwierigkeiten sind vor allem motorische Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten und Angst Begleiterscheinungen. Deshalb sind Kinder nicht weniger liebenswert. Seit vielen Jahren beschäftigt man sich mit den Symptomen, Ursachen und Fördermaßnahmen bei

Legasthenie

und

auch

LRS,

und

trotzdem

kommt

es

immer

wieder

zu

Widersprüchlichkeiten bei neuen Erkenntnissen; die Forschungsarbeiten sind noch lange nicht abgeschlossen.

5


1 Einleitung

Lewin sagte einmal, „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“ (Lewin/Cartwright 1951, S. 169). Die theoretischen Erkenntnisse, die in der Forschung in den letzten Jahren gewonnen wurden, können die praktische Arbeit mit Lese- und Rechtschreibstörungen entscheidend bereichern und erleichtern. Allerdings ist es dazu notwendig, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie die kognitiven Prozesse des Lesens und Schreibens ablaufen. Die vorliegende Arbeit soll einen einleitenden Überblick über die kognitiven Prozesse des Lesens und Schreibens verschaffen und damit verdeutlichen, welche Prozesse sich Kinder beim Erlernen des Lesens und Schreibens aneignen müssen. Dies soll Klarheit darüber schaffen, welche Schwierigkeiten bei legasthenen Kindern beobachtet werden und auf welche nachweisbaren Ursachen diese zurückgeführt werden können. Gerade im Bereich der Ursachen soll auf die markanten wissenschaftlichen Fortschritte hingewiesen werden, die auf dem Gebiet der genetischen Grundlagen gewonnen wurden. Da die Darstellung von fundiertem Wissen, Befunden und Folgerungen für die Praxis in diesem Rahmen jedoch nicht für alle Bereiche des Lesens und Schreibens möglich ist, soll der Fokus auf der pädagogischen Intervention sowie auf Ansätzen und Möglichkeiten elterlicher Prävention und auf deren Implikation für kindliche Entwicklungsprozesse bei legasthenen Kindern liegen. Diese Arbeit ist in drei größere Teile gegliedert. Der erste Teil ist den allgemeinen multikausalen Ursachenbereichen gewidmet. Es werden kognitive Prozesse sowie grundlegende Annahmen zur Sprachentwicklung und die Stufen der Sprachentwicklung bei normal entwickelten Kindern aufgezeigt, um den veränderten Schriftspracherwerb legasthener Kinder abzugrenzen und die Mannigfaltigkeit der Problematik nachzuweisen. Ein integraler Teil des Erlernens sprachlicher Kompetenzen, die sich aus dem Zusammenwirken vielfältiger Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen ergeben, ist das Erlernen der Schriftsprache. Dieses komplexe System ist ein kompliziertes Gefüge aus Funktionen auf psychischer, emotionaler, sozialer und körperlicher Ebene, das vom ersten Atemzug an richtig zusammengefügt werden muss, damit das Kind erfolgreich lesen und schreiben lernt. Der Abschnitt der Annahmen zu Schriftspracherwerb und Sprachentwicklung beinhaltet außerdem wissenschaftstheoretische Überlegungen zum Konzept der phonologischen Bewusstheit, welche in einer neuropsychologischen Therapie zum Einsatz kommen kann, falls pädagogisches Handeln allein nicht mehr ausreichend ist, um das Kind in seiner Entwicklung unterstützen zu können. Schließlich folgt ein Überblick von Anzeichen und möglichen, besonders genetisch bedingten prä-, peri- und postnatalen Ursachen, die einer Legasthenie zugrunde liegen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der eigentlichen Legasthenie-Thematik und widmet sich zunächst dem begrifflich-definitorischen Aspekt. Ein einleitender historisch-definitorischer 6


1 Einleitung

Entwurf des Legastheniebegriffs bildet die Einführung in die Thematik, welcher unterschiedliche Auffassungen und Kontroversen der vergangenen Jahrzehnte, von der Medizin über die Disziplin der Psychologie bis hin zum Handlungsfeld der Pädagogik, aufzeigt. Durch diese Kontroversen und Debatten entstanden unterschiedliche Auffassungen und Definitionen der Begrifflichkeit „Legasthenie“, die gegeneinander abgewogen werden. In diesem Kontext werden das Konstrukt Legasthenie und die Pathologisierung der Legasthenie aus pädagogischer Perspektive kritisch beleuchtet, was zu der Definition und dem Konzept, mit denen sich diese Arbeit primär auseinandersetzt, hinführen soll. Vor definitorischem Hintergrund werden weiterhin die Auswirkungen der Schwierigkeiten auf die Entwicklung der Kinder diskutiert, sowohl auf die Verhaltensebene als auch auf die emotionale Entwicklung, und auch die Rückwirkungen auf die Familien der Kinder. In diesem Kontext soll auch auf die biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren hingewiesen werden. Um die begrifflichdefinitorischen Aspekte abzurunden und Klarheit für die Diagnostik und Interventionsebene zu schaffen, werden die Begriffe Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) und Legasthenie zwecksetzend voneinander abgegrenzt. Diese kritische Auseinandersetzung hebt die pädagogische Definition, die der Arbeit als fundamentale Richtlinie dienen soll, hervor. Diese Definition ist die erste pädagogische Definition nach A. Kopp-Duller aus dem Jahre 1995, mit der vor allem erstmals klar und nachvollziehbar die Tatsache anerkannt wurde, dass es Menschen gibt, bei denen der Lese-, Schreib- oder Rechenlernprozess andersartig abläuft, womit Legasthenie als vorrangiges pädagogisches Interventionsgebiet etikettiert wurde. Somit wurde die Problematik nicht mehr, wie es durch die Gesundheitsberufe üblich war, als lediglich pathologisches Problem definiert. Trotz dieser Definitionen fällt die Begriffsbestimmung schwer, da Faktoren wie Intelligenz, entsprechender Unterricht oder Milieu in der Praxis nicht eindeutig feststellbar sind. Der dritte Teil, der den Hauptteil der vorliegenden Arbeit bildet, hat wohl die stärkste Praxisrelevanz, da der Fokus vor allem auf der Bedeutung von Ansätzen und Möglichkeiten pädagogischer Intervention bei Legasthenie liegt, wobei vorrangig die präventiven Möglichkeiten im Kontext pädagogischen Handelns erörtert werden. Zunächst wird mit einem Definitionsversuch der Begrifflichkeit der „pädagogischen Intervention“ eingeleitet. Darauffolgend steht die Wichtigkeit der präventiven Förderung sowie der bedeutsamen Funktion der Vorschulpädagogen und besonders der Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene beim Schriftspracherwerb im Fokus der Auseinandersetzung und der Arbeit mit legasthenen Kindern. Die Bedeutung der Früherkennung von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb und der Maßnahmen zu deren Prävention wird in Theorie und Praxis übereinstimmend betont. Woran und wann Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen erkannt werden und welche präventiven 7


1 Einleitung

Interventionen eingeleitet werden, hängt nicht nur von den theoretischen Annahmen über den ungestörten Schriftspracherwerb und von seiner Gefährdung ab, sondern auch von den Vorstellungen darüber, welche Lern- und Verarbeitungsprozesse diagnostiziert und gefördert werden sollen. Diese Vorstellungen haben sich erheblich verändert, seit sich in der Schriftsprachforschung der Trend abzeichnet, den frühen Erwerbsprozess genauer zu untersuchen und Vorläufermerkmale zu identifizieren, die für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb wichtig sind. Mit der Konzeption von Entwicklungsmodellen des Schriftspracherwerbs, der Integration von Prozessmodellen des Lesens und Rechtschreibens in die Schriftspracherwerbsforschung und der Durchführung von theorieabgeleiteten Längsschnittstudien gelang es, die Bedeutung einiger im Vorschulalter erfasster individueller Voraussetzungen näher zu bestimmen. Überwiegend aus dem angloamerikanischen Schulsystem stammende Studien belegen, dass solche frühen Interventionen das Potential haben, dem Auftreten von Leseschwierigkeiten vorzubeugen oder sie noch in der ersten Klasse der Grundschule abzufangen. Solche Voraussetzungen sollten, falls sie vom Kind allein nicht ausreichend entwickelt werden können, vom familiären wie institutionellen Umfeld des legasthenen Kindes gefördert werden. An dieser Stelle wird sowohl die für die elterliche Prävention bedeutsame Aufklärung und Beratung der Eltern durch pädagogische Beratung und elternbildende Maßnahmen sowie deren Integration für die frühkindliche Förderung als auch die wichtige Funktion der Vorschulpädagogen und der Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene, besonders zu einem möglichst frühen Zeitpunkt des kindlichen und meist noch unbewussten Schriftspracherwerbs, für das Verständnis der Gesellschaft für die Problematik „Legasthenie“ betont. Im Folgenden wird auf die frühkindliche Förderung in weiteren Teilbereichen des Lesens und Schreibens eingegangen und die damit zusammenhängende Relevanz der Wahrnehmung sowie der Wahrnehmungsverarbeitung für den Schriftspracherwerb sowie lerntheoretische Überlegungen pädagogisch-präventiver Intervention diskutiert. Die weiteren Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf die Arbeit Maria Montessoris sowie auf die AFS-Methode nach A. Kopp-Duller im Kontext der pädagogischen Interventionsmöglichkeiten bei legasthenen Kindern, sie sollen einen Überblick über die Möglichkeiten einer frühzeitigen Intervention, besonders durch das von Montessori erarbeitete Sinnesmaterial sowie durch das pädagogische Konzept der AFS-Methode, geben. Neben einer theoretischen Darstellung der konzeptuellen Grundlagen der Montessori-Pädagogik soll hier versucht werden, das Konzept M. Montessoris auf Aktualität zu überprüfen und in den Kontext der elterlichen Präventionsmöglichkeiten einzubetten. Es soll auf alle wichtigen Problembereiche der Legasthenieprävention eingegangen werden, wobei die Förderung der Sinneswahrnehmung themenbedingt dominiert. Etwas ausführlicher werden verschiedene Möglichkeiten zur 8


1 Einleitung

präventiven Förderung und Intervention von Seiten der Eltern bei legasthenigefährdeten Kindern, besonders die Einbeziehung des Ansatzes, dass Eltern die Erkenntnisse Montessoris und Kopp-Dullers selbst in einer präventiven häuslichen Förderung anwenden können, diskutiert. Immer wieder wird in diesem Kontext besonders die Bedeutsamkeit, die eine Motivation betroffener Kinder mit sich bringt, sowie die Berücksichtigung ihrer Stärken und Schwächen bezüglich einer angemessenen Förderung betont. Schließlich wird versucht, die elterlichen Präventions- und Interventionsmöglichkeiten in den Prozess kindlicher Entwicklung einzubetten. Da die wichtige Funktion der Berufsgruppe der Vorschulpädagogen immer wieder unterschätzt wird, soll im Rahmen der vorliegenden Magisterarbeit und vor dem Hintergrund der angeführten Thematik versucht werden, Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Prävention legastheniebedingter

Schriftspracherwerbsschwierigkeiten

und

deren

Implikation

für

kindliche Entwicklungsprozesse bei legasthenen Kindern mit der Orientierung an pädagogischem Handeln zu bestimmen sowie das Missverständnis, dass Pädagogen nur spielen würden, auszuräumen. Folgende Thesen sollen im Besonderen als Basis der Arbeit fungieren:  Eine individuell an das Kind angepasste pädagogische Intervention ist kindgerechter und somit hilfreicher und erfolgversprechender für das legasthene Kind als eine therapeutische Hilfe.  Legasthene Kinder haben das Recht auf Bildung und individuelle Förderung, statt Selektion und Entmündigung durch Stigmatisierung zu erfahren. Der Gegenstand dieser Magisterarbeit im Studiengang Erziehungswissenschaft ist aus persönlicher Erfahrung im Umgang mit dem Phänomen Legasthenie und letztendlich aus den daraus resultierenden Fragen entstanden: Was genau ist Legasthenie? Wann wird sie zum Problem? Wie gehe ich als kompetenter Pädagoge mit diesem Thema um? Kann die Pädagogik in diesem Problemkreis professionelle Hilfe leisten? Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, hat sich die Autorin die Beantwortung dieser Fragen zum Ziel gesetzt.

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

Teil I Multikausale Ursachenbereiche von Legasthenie und Grundlagen des Schriftspracherwerbs 2

Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

Die Neuropsychologie ist ein interdisziplinärer Bereich, der Beziehungen zwischen Neurologie, Psychologie und Biologie erklärt und auch in den pädagogischen Bereich hineinwirkt, da er sich mit den Auswirkungen neurologischer Prozesse auf Lernen und Verhalten befasst. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit muss auf eine Einführung in dieses umfangreiche Thema verzichtet werden, daher sei diesbezüglich an dieser Stelle auf Milz (1996) verwiesen. Die Entwicklung jedes Lebewesens vollzieht sich in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt, wobei die wechselseitige Beeinflussung von Bewegung und Wahrnehmung2 eine wichtige Rolle spielt. Um aber Wahrnehmung und Bewegung sowie deren wechselseitige Beziehung zueinander zu ermöglichen, ist ein funktionierendes Nervensystem (vgl. Milz 1999, S. 29ff.) erforderlich. Ohne ein Mindestmaß an neuropsychologischen Kenntnissen werden manche Verhaltensweisen von Kindern nicht zu verstehen sein und man kann deshalb auch nicht angemessen auf sie eingehen. In besonderer Weise erschließen sich durch diese Kenntnisse auch die Sinnhaftigkeit und der Wert des Montessori-Materials im Rahmen der heilpädagogischen Anwendung sowie der Arbeit mit legasthenen Kindern.

2.1 Grundlegende Annahmen zum Schriftspracherwerb Dank Forschungen von Galaburda, Geschwind, Luria u.v.a. entstand im 20. Jahrhundert eine Vielzahl von Abbildungen des menschlichen Gehirns, die Verarbeitungsgebiete für Tätigkeiten, Fertigkeiten oder Handlungen offenbarten und eine Zusammenarbeit der verschiedenen Gehirnzentren bei komplexen Aufgaben darstellten (vgl. Hofmann/Sasse 2005). Inzwischen ist in zahlreichen Untersuchungen (u.a. Frackowaik et al. 1997; Mazziotta et al. 2000) sehr genau erforscht, in welchem Gehirnareal welche Informationen verarbeitet und daraus resultierende Reaktionen ausgelöst werden. Ist jedoch ein Areal aufgrund einer Läsion nicht fähig,

2

oder auf niedriger Stufe, auf der man noch nicht von Wahrnehmung sprechen kann, von Reizverarbeitung.

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

die entsprechende Informationsverarbeitung durchzuführen, so kann gegebenenfalls ein anderes Areal diese Funktion übernehmen, da das Gehirn bemerkenswerte Plastizität aufweist (vgl. Hofmann 2005, in: Hofmann/Sasse 2005, S. 92). Der Erwerb einer Schriftsprache ist ein bewusster und nicht angeborener Prozess, der erlernt werden muss und nur in Verbindung mit dem bewussten Umgang mit Schrift funktioniert. Das Erlernen der Schriftsprache ist ein kognitiver Prozess, bei dem die Kinder Regeln über das Verhältnis von Sprache und Schrift entwickeln sowie Strategien zum Erlesen neuer Wörter bilden. Dieser Prozess stellt für Kinder zumeist eine große Herausforderung dar. Beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens bedarf es, anders als bei der Aneignung mündlicher Sprache, die für die meisten Kinder relativ mühelos verläuft, einer gezielten Instruktion. Allerdings beginnt der Zugang zur Schrift in den meisten Kulturen nicht erst mit dem Schuleintritt, da Kinder unentwegt mit dem Phänomen graphischer Schriftzeichen konfrontiert sind und in vielen Familien das Vorlesen eine wichtige Rolle einnimmt. Folglich begegnen Kinder graphischen Schriftzeichen, die sie erkennen3 und auf diese Weise deuten können. Sie absolvieren einen Lernprozess, bei dem sie mehrere Stadien des Schrift- und Leseerwerbsprozesses durchlaufen müssen (vgl. Dehn 1977, S. 282; Scheerer-Neumann et al. 1986, S. 89). Beim Schriftspracherwerb steht ein Kind einigen grundlegenden Strukturmerkmalen gegenüber. Die deutsche Sprache gehört zu den phonographischen Schriften, das bedeutet, dass lautliche Eigenschaften der gesprochenen Sprache vorrangig notiert werden. Jedoch wird nicht jeder Laut von einem Buchstaben abgebildet. Die auf der Ebene der Phoneme und Grapheme bestehende Korrespondenz ist auch hier nicht eindeutig (vgl. Kirschhock 2004, S. 45). Zum einen wird die Beziehung zwischen Phonemen und Graphemen für einen Leseanfänger durch die phonetische Mehrdeutigkeit kompliziert4, zum anderen ergeben sich Probleme durch die graphemische Mehrdeutigkeit5. Diese unterschiedliche Schreibweise ist vor allem durch das für die deutsche Sprache konstituierende Prinzip der Stammerhaltung bedingt. Im Wesentlichen dient es der schnellen Wiedererkennung und damit der Leserfreundlichkeit. Rechtschreibprozesse hingegen, die eine genaue orthographische Reproduktion erfordern, unterliegen wesentlich langwierigeren Lernprozessen. Zunächst gab es in der Forschung zum Schriftspracherwerb relativ willkürliche Vermutungen über die beim Lesen und Schreiben ablaufenden Prozesse. Bis weit in die 70er Jahre hinein dominierte in der deutschsprachigen Forschung ein Ansatz, der nach den psychologischen Grundfaktoren vor allem des Lesens

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zuerst an sehr groben Merkmalen, z.B. dem Schriftzug etc. wenn also ein Graphem für mehrere Phoneme steht. 5 wenn ein Phonem mit unterschiedlichen Graphemen oder Graphemclustern abgebildet wird. 4

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suchte. Sowohl kognitive als auch nichtkognitive Merkmale des Lerners wurden zu Modellen zusammengefügt, um die Lesefähigkeit zu erklären (sog. „additive Komponentenmodelle“, vgl. hierzu Avramidou 2003, S. 33ff.). Bei Störungen war auch fraglich, dass die Ursachen aller „Defizite“, unabhängig von der spezifischen Aufgabe und von allen anderen Einflussfaktoren (z.B. Unterricht), beim Lehrer vermutet wurden. Es wird angenommen, dass Kinder als Vorstufe für die Leseentwicklung allmählich eine gewisse Sensibilität für die Merkmale schriftlicher Texte entwickeln. Zuerst scheint ihnen der Vorgang des Lesens, den sie etwa bei ihren Eltern beobachten, unklar und sie haben Mühe, ihn zu erklären. Erst langsam erkennen sie, dass die Schriftzeichen etwas mit den realen Objekten der Umwelt zu tun haben und Aspekte wiedergeben, die über das hinausgehen, was Zeichnungen oder Bilder vermitteln. Sie lernen, dass die Anordnung der Wörter nicht willkürlich ist und bestimmten Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Parallel zu diesem Vorgang entwickelt sich eine gewisse metalinguistische Bewusstheit6. Eine Gliederung der metalinguistischen Bewusstheit, bezogen auf unterschiedliche Verarbeitungseinheiten, in vier allgemeine Kategorien nehmen Tunmer et al. (1984) vor. Zur metalinguistischen Bewusstheit zählen demnach die phonologische Bewusstheit, die Wortbewusstheit, die syntaktische Bewusstheit und die pragmatische Bewusstheit. Die phonologische Bewusstheit beschreibt u.a. die Isolierung von Einzellauten. Diese Einzellaute, also Phoneme oder Silben, bilden das Fundament der Sprachverarbeitung. Normalerweise ist ihre Verarbeitung so weit automatisiert, dass die Aufmerksamkeit nicht auf diese Ebene gerichtet wird, wobei die Einsicht, dass unsere Sprache nach dem alphabetischen Prinzip funktioniert, oder zumindest, dass Wörter aus Phonemen bestehen, grundlegend ist. Während Kinder etwa ab dem fünften Lebensjahr damit beginnen, sprachliche Äußerungen selbst zu reflektieren, achten jüngere Kinder in ihren sprachlichen Äußerungen hauptsächlich auf den inhaltlichen Aspekt. Dies schließt die zunehmende Fähigkeit, die Aufnahme und Verarbeitung von sprachlicher Information gezielt steuern und hilfreiche Strategien anwenden zu können, ein. Die Wortbewusstheit beschreibt die Fähigkeit, Wörter als Grundeinheit der sprachlichen Mitteilung zu erkennen, sie also unabhängig von ihrem zugehörigen Referenten und damit mit ihren speziellen Eigenschaften zu betrachten7. Somit haben Kinder häufig ein implizites Wissen über die Gliederung der Sprache in Wörter, wobei sie dazu tendieren, Wörter mit ihren Referenten gleichzusetzen (vgl. Klicpera/

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Zu dem Begriff „metalinguistische Bewusstheit“ wird in der Literatur eine verwirrende terminologische Vielfalt als Erklärung angeboten (vgl. hierzu Andresen 1985; Augst 1978; Schöler 1987; Daneman et al. 1988; Wehr 1994). 7 z.B. die Länge der Wörter zu unterscheiden, Sätze in Wörter aufzugliedern, Synonyme und Antonyme zu finden.

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Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 20). Erst mit allmählich zunehmender Vertrautheit mit der Schrift bildet sich ein explizites Wissen über das Wort als solches heraus. Die syntaktische Bewusstheit ist das Erkennen und auch Korrigieren von Verletzungen der korrekten Satzbildung, womit sie auch das Erkennen eines fehlenden Wortes und einer falschen Satzstellung beinhaltet. Demzufolge geht sie über die Bildung grammatischer Strukturformen hinaus. Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Satzanalyse fallen Kindern Aufgaben zur Umstellung von Wörtern in Sätzen wie auch das Erfinden von Sätzen zu vorgegebenen Wörtern schwer. Zudem sind den Vorschulkindern Funktionswörter wie „für“ oder „jedoch“ noch wenig vertraut, was damit zusammenhängt, dass diese Wörter keine unmittelbare Bedeutung haben. Sie werden in dieser Entwicklungsphase häufig auch nicht als richtige Wörter erkannt (vgl. ebd.). Die pragmatische Bewusstheit schließlich umfasst die Fähigkeiten, auf die Verständlichkeit einer Mitteilung zu achten sowie Zusammenhänge zwischen mehreren Sätzen, also auch der gesamten Struktur eines Textes, zu erkennen. Es scheint, trotz des engen zeitlichen Zusammentreffens dieser Entwicklungen, eine phonologisch-syntaktisch-semantische Reihenfolge im Erreichen der bewussten Kontrolle des sprachlichen Ausdrucks zu geben. Da die phonologische Bewusstheit eine Form der Sprachrepräsentation voraussetzt, nämlich die systematische Verwendung von Phonemen, bereitet ihre Ausbildung Schwierigkeiten. Erste Prozessmodelle des Lesens und Schreibens wurden von Morton, der bereits 1969 eine erste Arbeit über den Vorgang der Worterkennung beim Lesen veröffentlichte, entwickelt (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 97). Dieser erste Entwurf wurde von ihm weiterentwickelt, und so veröffentlichte er 1979 sein „Logogen-Modell“ (Morton 1970, 1979, 1980; Graf 1994, S. 46), das auch Vorstellungen über die beim Schreiben ablaufenden Prozesse beinhaltet (s. Abb. 1). Viele darauffolgende Entwürfe basieren auf Mortons Modell oder wurden zumindest wesentlich davon beeinflusst (vgl. Graf 1994, S. 46). Die neuere Forschung griff zunehmend auf Modelle aus der Informationsverarbeitung8 zurück, wobei eines der am häufigsten rezipierten Modelle das von Coltheart (1978) stammende „Zwei-Wege-Modell“ war. Das Modell geht zum einen von einem regelgeleiteten, indirekten Weg über das phonologische Rekodieren zur Entschlüsselung der Wortbedeutung aus. Zum anderen führt ein direkter Weg von der gedruckten Wortvorlage zum Erkennen der Bedeutung im sog. inneren Lexikon. Neben lexikali-

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Traditionell sind diese Modelle nach der Informationsverarbeitungstheorie entworfen, weshalb ihre Grobstruktur dem Schema Input, Verarbeitung, Output folgt. Als Input können z.B. gesprochene Sprache oder Schrift dienen, die auf diverse Arten weiterverarbeitet werden. Der Output besteht beim Lesen aus Sprache oder Schrift beim Schreiben (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 97ff.). Dabei sind Logogene Spracheinheiten, die den mentalen Repräsentationen der Wortbedeutungen entsprechen.

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

schen Verarbeitungsmöglichkeiten von Wörtern sieht das Modell, ähnlich wie in der DualRoute-Theorie nach Coltheart (1978) auch die Umwandlung von Sprache in Schrift über die Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln vor, wobei dieser Strategie hier nach Klicpera und Gasteiger-Klicpera (1995, S. 99f.) nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Das Zwei-WegeModell wird in den letzten Jahren, u.a. aufgrund seines Charakters und der Betonung expliziter Regelanwendungen beim Erlesen, kritisiert. Lese-Rechtschreibvorgänge auf der Ebene der neuronalen Verbindungen, also konnektionistische Modelle (vgl. Klicpera/Schabmann/ Gasteiger-Klicpera 2007, S. 54f.), bilden Gegenentwürfe ab. Hierbei wird die Worterkennung allein als Funktion der Verknüpfungsstärken der im Gedächtnis gespeicherten orthographischen Einheiten sowie deren phonologischen Entsprechungen erklärt. Coltheart et al. beantworten dies mit der Weiterentwicklung des Zwei-Wege-Modells in einem „Kaskadenmodell“ (Coltheart et al. 1993, Coltheart et al. 2001), einer computertauglichen Version des ZweiWege-Modells, mit dem es gelang, lautes Lesen am Computer erfolgreich zu simulieren (vgl. ebd.), und das ihren Ausführungen nach mehr Erklärungswert für Lesevorgänge besitzt als konnektionistische Modelle. Schon relativ früh wurde versucht, das Erlernen des Lesens in unterscheidbare Stadien der Entwicklung zu gliedern. Meist wurden von den Autoren drei bis vier verschiedene Phasen unterschieden (vgl. Marsh et al. 1980). Explizit auf Informationsverarbeitungstheorien bezogene Stadienmodelle fanden besondere Beachtung (vgl. Ehri 1999)9. Bis das komplexe Regelwerk der Schriftsprache verinnerlicht ist und Lesen und Schreiben automatisiert gelingt, sobald ein Kind also die Verknüpfung beim Lesen begriffen hat 10 und ein gewisser Automatisierungsprozess beginnt, erfordert das Lesen- und Schreibenlernen die Kenntnis zahlreicher Regeln und ein jahrelanges Training. Zur Einteilung dieses Lernprozesses sei zur Verdeutlichung auf eine Untergliederung in drei wesentliche Stufen von Frith (1985), die in Anlehnung an Marshs Theorie ein Drei-Phasen-Modell entwickelte, verwiesen. Das Modell nach Frith (s. Abb. 5) ist ein Modell, auf das in der deutschsprachigen Leseforschung immer wieder Bezug genommen wird (vgl. hierzu auch Klicpera/Schabmann/ Gasteiger-Klicpera 2007, S. 25f.). Die Autorin unterscheidet drei Phasen: eine logographische, eine alphabetische und eine orthographische Phase. Sowohl Lesefertigkeiten als auch das Wissen über die Rechtschreibung von Wörtern werden in drei Phasen erworben, die sich

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Nach Ehri wird zwischen einer voralphabetischen Phase und drei alphabetischen Phasen unterschieden. Mit bestimmten Modifikationen lassen sich die wesentlichen Phasen im Rahmen von Zwei-Wege-Modellen (vgl. auch Coltheart 1978) mühelos als sukzessive Verbesserung lexikalischer und nicht-lexikalischer Subsysteme interpretieren. 10 also Grapheme in Laute übersetzen und koartikulieren kann.

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individuell unterschiedlich stark überlappen, doch das Lesen bildet dabei immer die Grundlage für bewusstes Schreiben11. In der logographischen Phase werden Wörter nur aufgrund globaler hervorstechender visueller Merkmale identifiziert (z.B. Anfangsbuchstaben), zunächst werden nur Teile der zur Verfügung stehenden Buchstaben-Informationen beim Lesen beachtet12. Beim Schreiben werden ebenso lediglich die für die Kinder hervorstechenden Wortmerkmale in Schrift umgesetzt. Die logographische Phase erscheint also als ein Anhäufen von Schreib- und Lesewörtern, auf die zurückgegriffen werden kann, während in der alphabetischen Phase die Lautstruktur des Wortes analysiert und umgesetzt wird. In dieser Phase werden die Wörter genauer und somit buchstabenweise erlesen, was allerdings nur dann funktioniert, wenn zwischen Buchstaben und entsprechenden Sprachlauten Beziehungen gebildet werden können. So kann das gelesene Wort durch das Aussprechen erkannt werden, was das selbstständige Lesen ermöglicht. Hier wird das Wissen über die Zuordnung von Buchstaben und Phonemen systematisch beim Erlesen der Wörter eingesetzt. Somit findet der Erwerb von Wissen über Phonem-Graphem- und Graphem-Phonem-Korrespondenz statt und es werden Wörter mit irregulärer Graphem-Phonem-Zuordnung regularisiert. Unbekannte Wörter und „Nonwords“ können gelesen werden, wobei die Silbenstruktur noch keine Rolle spielt. Oft werden in dieser Phase Wörter lautgetreu geschrieben, weil besondere Wortmerkmale noch nicht beachtet werden. Die orthographische Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass Kinder eine vollständige Repräsentation der Buchstabenfolge aufbauen. Dazu kommt eine Automatisierung des phonologischen Rekodierens mit einer deutlichen Erhöhung der Lesegeschwindigkeit. Die wortspezifischen Kenntnisse der einzelnen Wörter werden zunächst durch das Lesen gefestigt. Hierdurch kommt es zu einem unbewussten, dem orthographischen Lesen. In dieser Lesephase wird ein so genanntes orthographisches Lexikon aufgebaut, wodurch ein rascheres Worterkennen möglich wird. In diesem inneren Lexikon sind Buchstabenfolgen, Aussprache, ganze Wortstämme, Gemeinsamkeiten von Wortgruppen, die Bedeutung von Wörtern usw. gespeichert. Kann das Wort aus dem Lexikon abgerufen werden, muss es nicht mehr erlesen werden. Dieses innere Lexikon ist eine der Voraussetzungen für das Rechtschreiben. Das Kind baut sich also beim Erlernen des Schreibens weiter sein inneres Lexikon auf, was wiederum den Schreibvorgang automatisiert und beschleunigt. Aus pädagogischer Sicht sind die Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen nun als Störungen in diesem komplexen Lernprozess anzusehen und nicht mehr als Krankheitssymptome.

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Zur ausführlicheren Betrachtung der verschiedenen Stufen der Schriftsprachentwicklung wird exemplarisch auf Dehn (1994, 2006), Valtin (1993, 1997) und Spitta (1997) verwiesen. 12 wie bspw. Wortanfänge oder Wortlängen.

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

Ein weiteres Modell für die Entwicklung des Lesens ist bspw. das Kompetenzentwicklungsmodell (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 26). Beim Versuch, das Phasenmodell wie das von Frith (1985) auf den deutschen Sprachraum zu übertragen (z.B. Günther 1986), ist vor allem die Annahme eines längeren logographischen Stadiums nicht unbestritten geblieben. Pugh et al. (2001) beschreiben drei unterschiedliche Verarbeitungskreise: den dorsalen Zirkel (temporo-parietal), den ventralen Zirkel (occipito-temporal) und die anteriore Region (Ausführlicheres hierzu: vgl. Hofmann/Sasse 2005, S. 92). Auch hier wird angenommen, dass die Repräsentation eines Wortes in einer Art innerem Lexikon gespeichert wird. Anhand von Merkmalen kann das Wort zukünftig zunehmend automatisiert erkannt werden. Diese annähernd automatisierte Verarbeitung, wie sie bei geübten und erfahrenen Lesern beobachtet werden kann, erfolgt nicht mehr im dorsalen, sondern im ventralen Verarbeitungszirkel. Shaywitz et al. (2002) konnten den Bedeutungsgewinn der Verarbeitung im ventralen Zirkel, der Lesefähigkeit von Kindern mit normaler Leseentwicklung entsprechend, nachweisen. Im dorsalen Zirkel werden ungeläufige Wörter auf phonologischer Basis erlesen 13, während geläufige Wörter im ventralen Zirkel verarbeitet und erkannt werden. Für die zunehmende Automatisierung des Worterkennens wird also der ventrale Zirkel aktiviert. Somit verschiebt sich mit steigenden Lesefertigkeiten der Aktivierungsschwerpunkt vom dorsalen hin zum ventralen Zirkel. Grundlegende Dekodierungs- und Analysefähigkeiten scheinen auf einer intakten Organisation des dorsalen Verarbeitungszirkels aufzubauen wie auch davon abzuhängen (vgl. Shaywitz et al. 2002). Im Gegensatz zum dorsalen Zirkel, in dessen Zentrum die Lautverarbeitung steht, ist im ventralen Zirkel die visuelle Verarbeitung von zentraler Bedeutung. Diese wird als sehr schnelle, gedächtnisbasierte Wortidentifikation auf visueller Grundlage beschrieben, die das Aufmerksamkeitspotential nur gering belastet (vgl. Pugh et al. 2001, S. 482f.). Hierbei wird die Struktur eines visuell aufgenommenen Stimulus den im Gedächtnis verfügbaren Strukturen angeglichen; ein Verarbeitungsmechanismus, den der kompetente Leser nützt. Wie für das Lesen wurde auch für das Rechtschreiben von verschiedenen Autoren schwerpunktmäßig eine Entwicklung in unterscheidbaren Phasen angenommen (vgl. Marsh et al. 1980; Frith 1985; Dehn 1984). Jedoch blieb die Annahme von deutlich unterscheidbaren Phasen sowohl beim Lesen als auch beim Rechtschreiben nicht kritiklos, es stellen andere Autoren diese serielle Abfolge der Stufen in Frage und postulieren stattdessen eine parallele, sich

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Leseanfänger erlesen Wörter Buchstabe für Buchstabe und aktivieren dazu den dorsalen Zirkel.

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

wechselseitig beeinflussende Entwicklung der alphabetischen und orthographischen Strategien (vgl. hierzu Lennox/Siegel 1998; Martinet/Valdois/Fayol 2004). Martinet et al. (2004) schließen aus ihrer Untersuchung, dass auch schon in diesem frühen Stadium des Schriftspracherwerbs zumindest Spuren orthographischer Repräsentationen eingespeichert werden und

sich

somit

lexikalisches

Wissen

und

Wissen

über

die

Graphem-Phonem-

Korrespondenzen simultan entwickeln. Die Annahme von deutlich unterscheidbaren Phasen ist allerdings auch beim Rechtschreiben nicht unwidersprochen geblieben (z.B. Lennox/Siegel 1998). Speziell im deutschsprachigen Raum widersprechen die Ergebnisse z.T. den Erwartungen, die im Rahmen von Phasenmodellen über die Entwicklung des Rechtschreibens formuliert wurden. Im Vergleich zum Lesenlernen wird das Rechtschreiben durch zwei Sachverhalte erschwert: Für ein gehörtes Phonem ist die Auswahl an Graphemverbindungen größer als die Auswahl der Phoneme für ein Graphem beim Lesen. Zudem ist das zweite tragende Prinzip unserer Sprache, das Stammerhaltungsprinzip, zwar durch die erleichterte Wiedererkennung von Wörtern ähnlicher Bedeutung leserfreundlich, jedoch ist es nicht rechtschreibfreundlich, da es keine durchgängig gleiche Schreibung bei gleich klingenden Lauten erlaubt. Daher verwundert es nicht, dass Kinder normalerweise schneller kompetent lesen als sie vergleichsweise rechtschreiben14. Im Laufe der theoretischen Diskussion wurde eine differenziertere Ansicht der Entwicklungsmodelle gewonnen, der auch in der Praxis Bedeutung zukommt. Zum einen ist davon auszugehen, dass die genannten Stadien nicht in sich abgeschlossen und aufeinander aufbauend durchlaufen werden, da – wie trotz zeitlicher Vorordnung der alphabetischen Strategie15 anzunehmen ist – doch je nach Situation und je nach Schwierigkeit des Wortmaterials auch bei primär orthographisch orientierter Zugriffsform die alphabetische Zugriffweise die grundlegende und jederzeit verfügbare bleibt. Zum anderen hat sich mittlerweile das Missverständnis, dass sich die schriftsprachliche Entwicklung beim einzelnen Kind völlig selbstständig vollziehen würde, relativiert. Die Erkenntnis, dass jede Art von Lernen ein spezifischer Prozess ist, bedeutet nicht, dass ein anregungsreicher und leistungsstimulierender Unterricht sowie die Konfrontation mit der normgerechten Schriftsprache nicht ebenso wichtig wäre, um die kindliche Entwicklung anzuregen und voranzutreiben. „Pädagogik ist derzeit so konzipiert, dass Kinder und Jugendliche auf Anforderungen und gesellschaftliche Bedingungen vorbereitet werden sollen, die sich heute erst in Ansätzen ab-

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An dieser Stelle sei auf weiterführende Literatur verwiesen (vgl. hierzu u.a. Kirschhock 2004; Richards/Berninger et al. 2005). Hier werden auch die für das Lesen- und Schreibenlernen so wichtigen Voraussetzungen der visuellen, sprachlichen sowie auditiv-artikulatorischen Wahrnehmung dargestellt. 15 bei Scheerer-Neumann: phonemische Strategie.

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

zeichnen.“ (Hofmann/Sasse 2005, S. 90). Die Öffnung der Pädagogik für Erkenntnisse aus der Neurologie und Gehirnforschung scheint angesichts dieses Bewusstseins unabdingbar zu sein. Eine solche Öffnung kündigt die Beobachtung der neurowissenschaftlichen Forschung mit ihren Fortschritten und Ergebnissen an. Hier anknüpfend wird die neurowissenschaftliche Forschung auf ihren möglichen Beitrag zur Unterstützung schulischen Lernens überprüft. Die Kompetenz für kindliches Lernen ohne Einschränkung verbleibt jedoch bei Pädagogen und Didaktikern (vgl. a.a.O., S. 91). Pädagogen ist seit Jahren bekannt, dass eine gut ausgebildete phonologische Bewusstheit eine unabdingbare Prämisse für kompetenten Schriftspracherwerb ist. In mehreren Untersuchungen zur Identifikation von sog. Risikokindern konnte belegt werden, dass phonologische Bewusstheit im Verlauf des ersten Schuljahres von Kindern erworben werden muss, wenn sie nicht schon bei Schuleintritt vorhanden ist. Aus neurologischer Sicht ist phonologische Bewusstheit das Verarbeitungsergebnis eines intakten dorsalen Zirkels, was aus pädagogischer Sicht eine erworbene Sprachkompetenz bedeutet. Verbindet man Erkenntnisse aus Gehirnforschung und Pädagogik, so entsprechen die für ausgeprägte phonologische Bewusstheit erforderlichen Fähigkeiten den Mechanismen eines intakten dorsalen Verarbeitungszirkels.

2.2 Wissenschaftstheoretische Überlegung phonologischen Bewusstheit

zum

Konzept

der

Zu Beginn des Schriftspracherwerbs können Kinder lediglich mit groben lautlichen Strukturen unserer Sprache umgehen16. Erst mit dem systematischen Schriftspracherwerb bilden sich die Möglichkeiten aus, mit einzelnen Lauten der gesprochenen Sprache umzugehen, sie zu verbinden bzw. voneinander zu trennen. Der Begriff „Phonologie“ stammt aus der Sprachwissenschaft und beschreibt ein Teilgebiet, das sich mit der Lehre von der Funktion der Sprachlaute beschäftigt (vgl. hierzu Duden 2007, S. 1283). In der Literatur wird die phonologische Bewusstheit nicht einheitlich definiert und gebraucht. „Je nach Art der inhaltlichen Ausrichtung und Schwerpunktsetzung lassen sich bei verschiedenen Autoren unterschiedliche Definitionen des Konstruktes […] finden“ (Jansen 1992, S. 11). Von einigen Forschern wird der Begriff mit Phonembewusstheit gleichgesetzt, synonym wird auch von phonemischer Bewusstheit gesprochen (vgl. hierzu z.B. Tunmer/Rohl 1991). In diesem Fall wird phonologische Bewusstheit als die Einsicht in die phonematische Sprachstruktur und die Fähigkeit, Phoneme zu erkennen und kontrolliert mit ihnen zu arbeiten, angesehen. Die Mehrzahl der

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Silben, Anlaute und Reime.

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Autoren definiert das Konstrukt breiter. Häufiger wird der Begriff als Sammelbegriff verwendet, unter dem verschiedene Komponenten oder Levels der phonologischen Bewusstheit subsumiert werden (vgl. hierzu z.B. Goswami/Bryant 1990; Jansen 1992 u.a.). Gombert (1992) definiert metaphonological ability als die Fähigkeit, verschiedene phonologische Einheiten und Sprachäußerungen zu erkennen und diese Einheiten intentional zu manipulieren. Er betont, dass dieser Bereich der Sprachbewusstheit17 heterogen ist. Bentin (1991) unterscheidet zwischen früher phonologischer Bewusstheit und später phonemischer Bewusstheit. Auch Morais (1991) differenziert zwei Formen von phonologischer Bewusstheit, die holistische und die analytische18. Dieser kurze Überblick über die phonologische Bewusstheit macht deutlich, dass es sich um kein einheitliches Konstrukt handelt, sondern dass darunter vielmehr unterschiedliche metaphonologische Fähigkeiten bzw. Leistungen in Bezug auf größere und kleinere Spracheinheiten verstanden und gefasst werden. In Übereinstimmung mit anderen Forschern (Goswami/ Bryant 1990; Jansen 1992; Küspert 1998) wird hier eine weitere Definition zugrunde gelegt. Phonologische Bewusstheit umfasst demnach die grundlegende Fähigkeit, vom Inhalt sprachlicher Äußerungen abzusehen und sich den formalen Merkmalen zuzuwenden, weiters die kognitive Einsicht, dass Wörter aus unterschiedlichen phonologischen Einheiten aufgebaut sind, sowie die Fähigkeit, lautstrukturelle Einheiten unterhalb der Bedeutungsebene zu erkennen und damit intentional und kontrolliert zu operieren. Einfach ausgedrückt ist der Begriff phonologische Bewusstheit als die Fähigkeit, die einzelnen Segmente der Sprache zu erkennen und wahrzunehmen, also den Einblick in die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu haben, zu bezeichnen. Bereits in den 1990er Jahren wurde das Konzept der phonologischen Bewusstheit präsentiert (Skowronek/Marx 1989), als zentrales Konstrukt der Schriftspracherwerbsforschung in nahezu allen Studien im Zusammenhang mit LRS und Legasthenie untersucht und in verschiedenen Varianten erfasst. Es wurde festgestellt, dass selbst bei den Prozessen des Lesens und Schreibens, die der Nutzung des Langzeit- und Kurzzeitgedächtnisses bedürfen, phonologische bzw. phonetische Aspekte von Bedeutung sind. Deutlich wurde aber auch, dass Lesen und Schreiben einerseits gewisse Qualitäten in der phonologischen und phonetischen Verarbeitung der gesprochenen Sprache erfordert, andererseits, dass Schriftsprachnutzung in hohem

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Sprachbewusstheit wird unterschiedlich definiert und je nach Forschungsschwerpunkt unter verschiedenen Aspekten betrachtet. Da eine tiefergehende Auslegung den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde, wird u.a. auf Januschek (1981), Gombert (1992), Blässer (1994), Nickel (2006) verwiesen. 18 Holistische Bewusstheit bezeichnet u.a. die Beurteilung von Wortbetonungen. Analytische Bewusstheit umfasst die Fähigkeit, lautstrukturelle Einheiten wie Silben als konstituierende Elemente sprachlicher Äußerung zu isolieren und zu analysieren.

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

Maße diese Prozesse erst entwickelt und dann verfeinert und optimiert. Damit bietet sich das Konstrukt der phonologischen Bewusstheit als ideale Basis für die Prädiktion und Prävention von Problemen im frühen Schriftspracherwerb an. Phonologische Bewusstheit kann darüber hinaus hervorragend genutzt werden, um den Übergang von der Vorschriftlichkeit zur Schriftlichkeit konzeptionell zu fassen (Marx 1997; Scheerer-Neumann 1997; Schneider 1997). In den letzten Jahren wurde das Thema Lesen- und Schreibenlernen in vielen Ländern wissenschaftlich intensiv erforscht. Zusätzlich zur Erkenntnis, dass beim Lesen- und Schreibenlernen auf auditive, visuelle, motorische und sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückgegriffen werden muss, identifizierte die neuere Forschung weit spezifischere Vorhersagemerkmale, die unter dem Oberbegriff phonologische Informationsverarbeitung zusammengefasst wurden. Dabei wurden neben der phonologischen Bewusstheit weiterhin die Komponenten des sprachgebundenen Arbeitsgedächtnisses und der verbalen Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit als theoretisch und praktisch bedeutsam angenommen (vgl. Marx 1997; Schneider 1989, 2004; Wagner/Torgesen 1987). Inzwischen hat sich in einer Reihe von Langzeitstudien bestätigen lassen, dass Merkmale der im Kindergartenalter erfassten phonologischen (sprachlichen) Bewusstheit im engeren und weiteren Sinne die späteren Lese- und Rechtschreibleistungen in der Grundschule bedeutsam vorhersagten (z.B. Landerl/Wimmer 1994; Schneider/Näslund 1993). Die beeindruckendsten Ergebnisse beziehen sich auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für erfolgreiches Lesen- und Schreibenlernen Voraussetzungen sind, die so genannten Vorläufermerkmale des Schriftspracherwerbs. Die phonologische Bewusstheit hat sich als wichtigstes spezifisches Vorläufermerkmal des Schriftspracherwerbs erwiesen. Die Vorläuferhypothese hat durch Längsschnittstudien (vgl. hierzu aus dem englischsprachigen Raum z.B. Wagner/Torgesen 1987; Tunmer/Rohl 1991; aus dem deutschsprachigen Raum z.B. Landerl/Wimmer 1994), aufschlussreichere Trainingsstudien (vgl. hierzu z.B. Blachman 1997) sowie vergleichende Studien (vgl. hierzu z.B. Landerl 1996) mit leseschwachen und leseunauffälligen Kindern empirische Unterstützung bekommen. Die Studie von Wimmer und Hartl (1991) ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass auch bei leserechtschreibschwachen Kindern der zweiten Klasse die basalen Fähigkeiten der phonologischen Bewusstheit so weit ausgebildet sind, dass deren Förderung keine positive Wirkung mehr zeigt. An dieser Stelle sei ergänzend die Konsequenzhypothese erwähnt, wonach phonologische Bewusstheit erst durch die Einführung des Kindes in ein alphabetisches Schriftsystem entsteht und als bloßes Fehlerprodukt des schulisch gesteuerten Schriftspracherwerbs angesehen wird (vgl. hierzu Günther 1998). Laut Interaktionshypothese lässt sich der Zusam-

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

menhang zwischen phonologischer Bewusstheit und Schriftspracherwerb am besten als reziproke Ursächlichkeit beschreiben (vgl. hierzu Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995)19. Insbesondere im deutschsprachigen Raum wurden zahlreiche Studien durchgeführt, mit denen die Beeinflussbarkeit der phonologischen Bewusstheit in Vorschule und Schule geprüft wurde. Schneider et al. konnten mit der Würzburger Längsschnittstudie beeindruckende Belege für die Wirksamkeit vorschulischer Prävention, die die Verbesserung der phonologischen Bewusstheit zum Ziel hat, liefern (Schneider et al. 1994, 1997, 1998, 2000). Darüber hinaus zeigen die Studien von Blumenstock (1979) und Mannhaupt (1992), dass die Unterstützung phonologischer Bewusstheit zu Beginn des Schriftspracherwerbs zu positiven Effekten für das kindliche Lernen führt. Allerdings sollten die Inhalte dieser schulischen Förderung bereits den Umgang mit Schriftsprache beinhalten und höhere Formen phonologischer Bewusstheit20 in den Vordergrund stellen. Die phonologische Bewusstheit stellt nur einen wesentlichen Bereich der sprachlich-kommunikativen Entwicklung sowie des Lesen- und Schreibenlernens dar, als eine unabhängige Komponente hat sie aber in der Spracherwerbsforschung besondere Beachtung gefunden. Nach engem Begriffsverständnis kann die phonologische Entwicklung als die Aneignung des nicht direkt beobachtbaren, abstrakten phonologischen Systems der Muttersprache angesehen werden. Wenn es um das Lesen- und Schreibenlernen geht, stellt die phonologische Bewusstheit hohe Anforderungen. „Im Rahmen des Schriftspracherwerbs müssen aus der gesprochenen Sprache linguistische Einheiten ausgebildet werden, die aus dem kontinuierlichen Verlauf des akustischen Ereignisses nicht direkt gewonnen werden können“ (Trossbach-Neuner 1992, S. 98). Beim Erwerb von alphabetischen Schriftsystemen kommt der Ausgliederung von Phonemen und ihrer Zuordnung zu Graphemen eine zentrale Bedeutung zu. Für das erfolgreiche Lesen- und Schreibenlernen ist es aber auch wichtig, dass die Kinder Beziehungen zwischen größeren Einheiten der gesprochenen Sprache und der geschriebenen Sprache erkennen lernen. Hierbei handelt es sich um die formale Struktur, um den lautlichen Aufbau, den Klang eines Wortes. Wörter können in Silben und einzelne Phoneme zergliedert werden, was für den geübten Leser eine mehr oder weniger triviale Einsicht ist, ist für beginnende Leser keineswegs selbstverständlich. Das höchste Ziel der phonologischen Bewusstheit ist das Heraushören einzelner Laute aus einem Wort. Ein Kind verfügt über phonologische Bewusstheit, wenn

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Die vorliegende Arbeit schließt sich der Vorläuferhypothese an. Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn (Reimpaare erkennen, Silben zusammensetzen, Silben segmentieren) besteht demnach schon vor dem Einführen des Kindes in ein alphabetisches Schriftsystem, während phonologische Bewusstheit im engeren Sinn (An-/ Endlaute vergleichen, Phonemsegmentierung, Laute verbinden/Synthese) durch das Einführen in ein alphabetisches Schriftsystem entwickelt, vertieft und optimiert wird. 20 Lautanalyse und Lautsynthese.

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es ein Gespür für den Klang der gesprochenen Sprache entwickelt hat. Dabei geht es nicht nur darum, dass es entdeckt, dass einer Gruppe gesprochener Laute ein bestimmtes Phonem zuzuordnen ist. Das Kind muss auch lernen, mit Phonemen als abstrakte Spracheinheiten analytisch und synthetisch umzugehen. Es muss also das Verständnis und die Anwendung des alphabetischen Prinzips implizieren und sich der Phoneme bewusst werden. Es zeigt sich, dass es sich dabei um eine relativ schwierige Entwicklungsaufgabe handelt, die von manchen Kindern nur mit Mühe zu bewältigen ist. Allerdings scheint das Rechtschreiben stärker von der phonologischen Bewusstheit abhängig zu sein als das Lesen. Sogar in höheren Klassen konnte bei schwachen Rechtschreibern ein Defizit in den phonologischen Kompetenzen nachgewiesen werden (Marx et al. 2001). Für das Ausbilden einer adäquaten phonologischen Bewusstheit ist neben dem Aspekt der Entwicklung auch die Regelmäßigkeit des jeweiligen schriftsprachlichen Systems von wesentlicher Bedeutung. Dies gilt vor allem für die erst spät herausgebildeten Fertigkeiten. Phonologische Bewusstheit besteht also aus vielen Teilfertigkeiten und ist keineswegs eindimensional, sodass man heute wohl davon ausgehen muss, dass manche dieser Teilfertigkeiten bei vielen Kindern schon vor dem Erstleseunterricht recht gut entwickelt sind, andere sich erst mit dem Erlernen der Schriftsprache herausbilden. So fällt es jüngeren Kindern im Allgemeinen leichter, in Silben zu segmentieren als in Phoneme (vgl. dazu Goswami 2000a). Im Gegensatz hierzu steht das Sprachverständnis, das keinesfalls mit der phonologischen Bewusstheit gleichgesetzt werden darf, da sich dies auf die Bedeutung eines Wortes oder einer Aussage, und nicht auf dessen formale Struktur, bezieht. In der kindlichen Sprachentwicklung geht es darum, die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen zu kennen, um verstehen und sich mitteilen zu können. Die phonologische Bewusstheit eines Kindes kann man bereits im Vorschulalter testen lassen und dabei feststellen, ob für dieses Kind eine positive Entwicklung für das spätere Lesen- und Schreibenlernen zu prognostizieren ist oder ob etwa das Risiko einer späteren Legasthenie besteht. Sollte dieser vorschulische Test ergeben, dass für das Kind das Risiko einer Legasthenie besteht, sollte es durch eine gezielte spielerische Förderung vor der Einschulung vor diesem Schicksal bewahrt werden. Innerhalb der phonologischen Bewusstheit gibt es die alphabetische Stufe des Lesen- und Schreibenlernens, bei der das Kind bereits festgestellt hat, dass jeder Laut einen zugehörigen Buchstaben hat und umgekehrt. Auf dieser Stufe schreibt das Kind, indem es das Gehörte in die einzelnen Laute zerlegt und dann jedem Laut den passenden Buchstaben zuordnet. Diese Fähigkeiten sind für das spätere Lesen- und Schreibenlernen von höchster Bedeutung. Schon ab dem Alter von etwa drei Jahren setzen sich Kinder mit dem Klang der gesprochenen Sprache auseinander. So können sie bspw. reimen bzw. Reime erkennen (Mutter – Butter) 22


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

und bald darauf Wörter in Silben zerlegen – z.B. beim Singen die Silben der Wörter mitklaschen (E-le-fant) – und schließlich sogar die einzelnen Laute innerhalb eines Wortes erkennen. Im Kindergarten wird ganz nebenbei spielerisch die Fähigkeit, mit Reimen und Silben umzugehen, geübt, bspw. durch Nachsprechen und Einüben von Liedertexten und kleinen Gedichten sowie durch Singen und rhythmisches Mitklatschen. Die Kinder kennen einzelne Kinderreime und können oft auch schon feststellen, ob zwei Wörter am Ende gleich klingen, sich also reimen. Dieses Verständnis von Silben und Reimen bildet die grundlegende Eigenschaft, das Fundament für das spätere Erkennen der einzelnen Laute eines Wortes. Jedoch wird im Vorschulalter nicht nur das Hören sowie das Analysieren des Gehörten, also der auditive Kanal, geübt, sondern auch im visuellen und motorischen Bereich, das Sehen und Bewegen betreffend, entwickelt sich in dieser Phase vieles, was für das spätere Lesen- und Schreibenlernen grundlegend ist (vgl. Küspert 2005, S. 43f.). Kindergartenkinder bilden ihre visuelle Wahrnehmung durch das Betrachten von Bildern aus, während sie sich auf bestimmte Details konzentrieren und mit den Augen Linien und Formen nachfahren. Durch Malen und Basteln wird unbewusst die Feinmotorik geübt. Außerdem haben Kinder großes Interesse daran, ihren eigenen Namen schreiben zu können, sie ahmen das Schreiben von Erwachsenen nach, indem sie Nachrichten und „Botschaften“ auf Papiere kritzeln. In der Schule wird phonologische Bewusstheit beim Lesen- und Schreibenlernen vermittelt. Für etliche Kinder ist jedoch die dafür aufgewendete Zeit nicht lang genug und die Übungen sind nicht intensiv genug, um stabile Erkenntnisse über das Zerlegen der Sprache und das Zuordnen der entsprechenden Buchstaben erwerben zu können. Somit sind Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen vorprogrammiert. Die deutsche Schriftsprache ist eine alphabetische Sprache, d.h., Laute werden beim Schreiben in entsprechende Buchstaben transkribiert und auch umgekehrt. Die deutsche Schriftsprache ist sehr lautgetreu, es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen den Lauten und den zugehörigen Buchstaben. Demzufolge werden Wörter, die ähnlich geschrieben werden, auch ähnlich ausgesprochen. Neben den alphabetischen Schriftsystemen gibt es noch andere Schriftsysteme, z.B. die logographische Schrift. Ein Beispiel hierfür ist das Chinesische. Hier werden ganze Wörter oder Ausdrücke durch Bildzeichen repräsentiert, eine Legasthenie ist in diesem Schriftsystem nicht bekannt (vgl. Küspert 2005, S. 84). Kinder mit phonologischen Schwächen und nicht altersgemäßen metaphonologischen Fähigkeiten zeigen in der Schule frühe Probleme bei der alphabetischen Erwerbsphase, die der entscheidende Schritt auf dem Weg zum erfolgreichen Lesen- und Schreibenlernen ist. Phonologische und metaphonologische Defizite erschweren nicht nur die Aneignung von Wissen über Graphem-Phonem-Korrespondenzen, sondern sie haben auch ungünstige Auswirkungen auf 23


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

die Anwendung dieses Wissens beim Lesen- und Schreibenlernen im Sinne der alphabetischen Strategie. Leseschwache Kinder haben schon im Vorschulalter relevante metaphonologische Schwierigkeiten und sind dadurch nur unzureichend auf den Schriftspracherwerb in der Schule vorbereitet. Eine weitere Dimension, die oft betroffen ist, ist das Leseverständnis. Eine effiziente Worterkennung ist wesentliche Voraussetzung für das Satz- und Textverständnis. Eine mühsame und ineffiziente Worterkennung aufgrund von phonologischen und metaphonologischen Schwierigkeiten wird aber gerade als das zentrale Problem von vielen lese-rechtschreibschwachen Kindern gesehen. Die mühsame Worterkennung hat negative Effekte auf das Textverständnis, welches durch anderweitige Sprachverarbeitungsschwächen zusätzlich beeinträchtigt werden kann (vgl. Catts 1989). Diese Kinder können durch die Auseinandersetzung mit der Schrift allein – d.h. ohne spezielle Förderung – ihren Rückstand in der phonologischen Bewusstheit nicht aufholen. In einem Erstleseunterricht, in dem phonemanalytischen Übungen ausreichend Raum gewidmet wird und Graphem-Phonem-Korrespondenzen systematisch eingeführt werden, können lese-rechtschreibschwache Kinder zwar beachtliche metaphonologische Fortschritte verzeichnen, ihre phonemanalytischen Leistungen aber bleiben von Anfang an deutlich hinter jenen von durchschnittlich und gut lesenden Kindern zurück. Ohne spezifische Förderung hält der Rückstand von schriftsprachgestörten Kindern bis in die höheren Klassen an. Aus einem Risikokind für Legasthenie muss kein Schulversager werden. Ein wissenschaftlich überprüftes Trainingsprogramm für den Vorschulbereich hilft, die Defizite aufzuholen, und es gibt dem Kind die Chance zu erfolgreichem Lesen- und Schreibenlernen. Küspert und Schneider (1999) konnten in Langzeitstudien nachweisen, dass ein bereits im Vorschulalter durchgeführtes, gezieltes Training auditiver Teilfunktionen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer LRS bei Risikokindern um bis zu 80% mindern kann. Daher sollte eine entsprechende Störung möglichst rasch behandelt werden.

2.3 Veränderte Schriftsprachentwicklung legasthener Kinder Aus pädagogischer Sicht ist es üblicherweise belanglos, welche Funktion in welcher Gehirnregion angesiedelt ist, doch sind für Pädagogen jene Untersuchungen, die Gehirnaktivitäten beim Schriftspracherwerb aufklären, interessant. So zeigen verschiedene Untersuchungen (vgl. u.a. Shaywitz et al. 2002; Pugh et al. 2000; Rumsey et al. 1997a), dass der Lesevorgang aus mehreren komplexen Verarbeitungsbereichen besteht, „die visuelle Stimuli, BuchstabenLaut-Beziehung, Worterkennung, Wortbedeutung und weitere für den Lesevorgang bedeutsa24


2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

me Funktionen umfassen“ (Hofmann/Sasse 2005, S. 92), und dass beim Lesevorgang verschiedene Verarbeitungskreise für verschiedene Arten der Verarbeitung aktiviert werden (vgl. Eden/Zeffiro 1998). Die Aktivitäten bestimmter Gehirnareale während des Lesens können mit bildgebenden Verfahren gemessen werden, wobei bei Kindern, bei denen Legasthenie bzw. LRS diagnostiziert worden war, ein verändertes Gehirnaktivitätsmuster beim Lesen festgestellt wurde. Jedoch betonen amerikanische Forscher, dass Legasthenie kein neurobiologisches Schicksal ist, sondern Umweltfaktoren eine entscheidende Bedeutung zukommt und sich neuronale Aktivierungsauffälligkeiten bei einem Teil der Kinder nach angemessener Förderung sogar wieder normalisieren können, was mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen ist (vgl. Berninger/Richards 2002). Das Phänomen des gestörten Schriftspracherwerbs wird seit mehr als 100 Jahren wissenschaftlich untersucht, wobei der Ertrag erst in den letzten drei Jahrzehnten bedeutsam scheint. Bis in die 70er Jahre hinein dominierte in der Lese-Rechtschreibforschung die Vorstellung, dass psychologische Grundfaktoren die schriftsprachlichen Fertigkeiten steuern würden (vgl. Kirschhock 2004, S. 24). Das Lesen und Schreiben wurde als „eine Hierarchie von Teilleistungen gesehen, die additiv aufeinander aufbauen“ (ebd.). Somit wurde ein Versagen im Lesen bzw. Rechtschreiben auf eine Funktionsschwäche, also auf schriftsprachunabhängige Bereiche im kognitiven Bereich21 zurückgeführt. Ein entscheidender Fortschritt der Forschung bestand darin, die frühe Phase des normalen Schriftspracherwerbs genauer zu untersuchen und dabei nicht länger von der Annahme, der Schuleintritt stelle erst den Beginn des Schriftspracherwerbs dar, auszugehen. Daraufhin konzentrierte sich die psychologische Forschung insbesondere auf die Identifizierung so genannter Vorläufermerkmale oder Teilfertigkeiten, die für den Erfolg eines Kindes beim Lesen- und Schreibenlernen von spezifischer Relevanz sind und sich offensichtlich schon im Vorschulalter ausbilden (vgl. Blässer 1994). Nachdem in den letzten Jahren verschiedene psychologische Modelle über den Prozess des Worterkennens, des verständnisvollen Lesens und des Schreibens entwickelt und daraus Vorstellungen abgeleitet wurden, wie sich das Lesen bei Kindern ohne bzw. mit Schwierigkeiten entwickelt, wurde zunächst versucht, einen kurzen Überblick über die wichtigsten Entwicklungslinien beim Erlernen des Lesens und Schreibens zu geben. Dies betrifft im Zusammenhang dieser Arbeit vor allem die phonologische Bewusstheit. Besonders hervorzuheben ist die im Regelfall in mehreren Linien und auf mehreren Ebenen pa-

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z.B. auditive oder visuelle Wahrnehmungsschwächen und visuomotorische Koordinationsstörungen wie bspw. Raumorientierungsschwierigkeiten, aber auch Störungen im Arbeitsverhalten (mangelnde Motivation und Konzentration).

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

rallel ablaufende Entwicklung des Worterkennens und des Rechtschreibens und der ständige Austausch zwischen diesen Entwicklungen. Die Annahme der auf einer bewussteren Erfassung der Strukturen der Sprache beruhenden Entwicklungslinien beim Erlernen des Lesens und Schreibens ist ein wesentlicher Bestandteil der neueren Modelle. Die phonologische Bewusstheit bildet sich im Zusammenhang mit der Entwicklung des phonologischen Rekodierens beim Lesen und Schreiben und in gewisser Weise auf diesem aufbauend heraus. Bei legasthenen Kindern sind Auffälligkeiten beim Schriftspracherwerb zu beobachten, Kinder im frühen Stadium der Legasthenie benötigen bereits für die alphabetische Stufe erheblich mehr Zeit. Im logographischen Stadium wären Fehler durch Nichtbeachtung der orthographischen Konventionen beim Schreiben und geringe Lauttreue zu charakterisieren. Im alphabetischen Stadium hingegen verringern sich Fehler, bei denen die Entsprechung der Schreibweise mit der Phonemfolge der Wörter nicht gewahrt ist, deutlich. Gegen die orthographische Konvention verstoßende Fehler hingegen22 bilden den mehrheitlichen Teil der Rechtschreibfehler und sind weiterhin in größerer Zahl vorhanden (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 32). Im orthographischen Stadium schließlich werden zunehmend nicht nur die Phonem-Graphem-Zuordnungsregeln, sondern auch orthographische Regeln und Ableitungsregeln von Stammmorphemen beachtet. Bei Schülern mit Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen sind von Beginn des Schriftspracherwerbs an Schwächen in mehreren Entwicklungslinien, die zum reifen und selbstständigen Lesen und Schreiben führen sollen, festzustellen. Vor allem ist, neben Schwierigkeiten beim Behalten bereits gelernter Wörter und damit beim Einspeichern und Abrufen von Wörtern im schriftsprachlichen Lexikon, das phonologische Rekodieren gestört. Dies zeigt sich besonders in Anfangsschwierigkeiten beim Lesen von unbekannten Wörtern. Obgleich sich diese Probleme im Lauf der Zeit bessern, verbleiben Schwierigkeiten insbesondere in der Geläufigkeit, mit der wenig vertraute Wörter gelesen werden können (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, 2010). Bei der Mehrzahl der Kinder sind auch in höheren Klassen, neben der Geläufigkeit des Lesens, Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechtschreibens festzustellen, auch wenn ihre Schreibweise lautgetreu und damit verstehbar wird, sind doch viele Fehler im Bereich der orthographischen Konventionen auffallend. Ebenso hat ein Teil der Kinder auch Probleme in den Grundfertigkeiten des Worterkennens23 sowie beim Leseverständnis und beim freien Schreiben, d.h. beim selbstständigen schriftlichen Ausdruck. Nebst Abstufungen im Schweregrad (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 17f.) sind auch unter-

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bei Erkennbarkeit der Lautfolge. bzw. des mündlichen Lesens und Rechtschreibens.

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schiedliche Ausprägungen der Schwierigkeiten in den einzelnen Teilbereichen zu beobachten. Demnach sind die Schwierigkeiten der Kinder im schriftsprachlichen Bereich enorm. Vermutlich hängt diese Heterogenität auch mit der Vielzahl der an der Entstehung der Schwierigkeiten beteiligten Faktoren zusammen (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, 2010). Ein nach der Meinung vieler Wissenschaftler besonders hervorzuhebender Faktor ist die differenzierte Wahrnehmung, die als grundlegende Voraussetzung des Lese- und Schreiblernprozesses gesehen wird (vgl. u.a. Affolter 1975; Firnhaber 2005). Ob man von Funktionsschwäche, Teilleistungsschwäche oder von Schwächen der zentralen Verarbeitung von Wahrnehmungen24 spricht – es ist immer der gleiche Sachverhalt gemeint (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 53f.). Trotz Intaktheit des äußeren Gehörs und des Sehens können „in allen Wahrnehmungsbereichen Schwächen der zentralen Verarbeitung liegen, nicht nur in der Seh- und Hörverarbeitung“ (a.a.O., S. 43). Legasthene Menschen haben eine besondere Informationsverarbeitung und dadurch bedingt eine besondere Lernfähigkeit. Hinzukommend erschweren Störungen der Grob- und Feinmotorik das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmungen und Bewegungen. Beim Lese- und Schreibprozess kommt es nicht nur auf die genaue Unterscheidung von teils sehr ähnlichen Lauten, sondern auch auf das Zusammenspiel zwischen Sprachwahrnehmung und Artikulationsmotorik an (vgl. a.a.O., S. 43f.). Verarbeitungsschwächen sind generell mit undeutlicher Aufnahme über die Wahrnehmung und entsprechend unsicherer Speicherung verbunden25. Infolgedessen kommt es gewöhnlich auch zur Verlangsamung aller mit dem Lesen und Schreiben verbundenen Teilschritte26. Ein Verfahren, mit dem man fünf Teilleistungen, die für das Lesenlernen von großer Bedeutung sind, bereits im Vorschulalter und auch noch während des ersten Schuljahres überprüfen kann, haben Breuer und Weuffen (1993) entwickelt. Diese Teilleistungen sind die Fähigkeit zur optisch-graphomotorischen Differenzierung, die Fähigkeit zur phonematisch-akustischen Differenzierung, die Fähigkeit zur kinästhetisch-artikulatorischen Differenzierung, die Fähigkeit zur melodischen Differenzierung sowie die Fähigkeit zur rhythmischen Differenzierung (vgl. Breuer/Weuffen 1993, S. 23). Breuer und Weuffen meinen dazu: „Die exakte und schließlich automatisierte Wahrnehmung und graphomotorische Realisierung der optischen Modalitäten von Schriftzeichen ist eine der Voraussetzungen, um den Schreib- und Lesevor-

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seit den Ergebnissen von Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren. Z.B. kann sich das betroffene Kind infolgedessen nicht gut an die Buchstabenformen oder an den richtigen Buchstaben für einen unsicher wahrgenommenen Laut erinnern. 26 Dies gilt vor allem für die visuelle und auditive Wahrnehmung sowie für die intakte bzw. ausreichend funktionierende Motorik. 25

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2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge

gang von Lernbeginn an als eine Einheit von Fähigkeiten und Verstehen zu sichern“ (Breuer/Weuffen 2000, S. 28). Beim einzelnen Kind können eine oder mehrere dieser Verarbeitungsschwächen vorhanden sein. Durch ein bewährtes Training der schwachen Differenzierungsfähigkeiten konnte der Schweregrad von Leselernschwächen nachweislich vermindert werden (vgl. Breuer/Weuffen 1993)27. Dies bestätigt wiederum, dass auch die Fein- und Grobmotorik eng mit der Wahrnehmung verbunden sind, infolgedessen sollte bei einem Training legasthener Kinder nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern das gesamte sensorische Spektrum berücksichtigt werden. Bei einem solchen mehrkanaligen Training geht es wie auch beim Entwicklungskonzept nach Piaget (1969) insbesondere um die Herstellung von Verknüpfungen zwischen taktilen, visuellen, kinästhetischen und auditiven Sinneseindrücken.

Abb. 1: Verhältnis: Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung und Motorik zu Intelligenzleistungen im engeren Sinne Quelle: Dummer-Smoch 2002, S. 46

In diesem stark vereinfachten Modell wird die Informationsaufnahme und -verarbeitung dargestellt. Von Seiten der Wahrnehmungskanäle wird die Information aus der Umwelt aufgenommen, sie gelangt über die verschiedenen Wahrnehmungskanäle in das Gehirn. Das Gehirn kann die aufgenommenen und verarbeiteten Informationen abspeichern und abrufen, wenn es für die Verarbeitung der neuen Informationen benötigt wird. Auf der Seite der Motorik gelangen die gespeicherten Informationen wieder nach außen, vor allem in mündlicher oder schriftlicher Form. Im Falle einer Wahrnehmungsstörung kann der gestörte Wahrnehmungskanal die

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Bei Maria Montessori liest man in diesem Zusammenhang über das „globale Absorbieren“ (Montessori 1984, S. 78).

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3 Problemkreis Legasthenie

Informationen nicht richtig aufnehmen und somit auch nur mangelhaft an das Gehirn weiterleiten28. Bei einer geeigneten Förderung sollte darauf geachtet werden, dass ein und dieselbe Information über nicht nur einen Wahrnehmungskanal aufgenommen wird, sodass eine parallele Kopplung neben dem jeweils gestörten Wahrnehmungskanal entstehen kann, die die Informationen unbeschädigt an das Gehirn weiterleiten kann.

Vertiefende Ausführungen der Ursachenbereiche würden den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Deshalb sei an dieser Stelle für weiterführende Literatur und breitere Darstellungen u.a. auf die Autoren Dummer-Smoch (2002), Milz (2001, 1989) und Rosenkötter (2007) verwiesen.

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Problemkreis Legasthenie

3.1 Ursachen im Bereich der Wahrnehmung Die Ursachen und Anzeichen für eine Legasthenie und damit verbundene bevorstehende bzw. bereits vorhandene Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen sind vielfältig. Unterschiedlichste Leistungen unserer Sinne sind notwendig, um den komplexen Vorgang des Schreibens und Lesens zu bewerkstelligen. Sobald eine oder mehrere dieser Teilleistungen nicht oder nur partiell erbracht werden können, kommt es zu Problemen in den entsprechenden Bereichen. 3.1.1

Sinneswahrnehmungs- und Wahrnehmungsverarbeitungsstörung

Durch genetische Faktoren bedingte Schriftspracherwerbsschwierigkeiten entstehen aufgrund einer Reifungsverzögerung der für das Lesen und Schreiben wichtigen Gehirnareale, die sich in unterschiedliche Gebiete einteilen lassen. Sobald auch nur eines dieser Gebiete betroffen ist, ergeben sich bereits Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Diese kooperative Integration der einzelnen Sinnesorgane des frühkindlichen Entwicklungsprozesses nennt die amerikanische Hirnforscherin A. Jean Ayres „sensorische Integration“ (Ayres 2002, S. 7). Ayres stellt fest, dass dem Lesen und Schreiben, das ein großes Maß an sensorischer Integration

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Bspw. kann ein Kind mit einer auditiven Wahrnehmungsstörung die Laute <e> und <i> oder <o> und <u> nicht unterscheiden. Bei legasthenen Kindern kommt dies besonders häufig bei kurzen Vokalen vor (vgl. Dummer-Smoch 2002).

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3 Problemkreis Legasthenie

fordert und sehr komplexe Anforderungen an das Gehirn stellt, ein langer Prozess von Erfahrungen und Verarbeitung der Sinneseindrücke vorangegangen sein muss (vgl. Ayres 2002). Teilgebiete der sensorischen Wahrnehmung (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 34f.) sind das visuelle bzw. optische System, das auditive bzw. akustische System, das vestibuläre System, das propriozeptive System sowie das taktile System. Einige Kinder haben jedoch Störungen in dieser Entwicklung. Dadurch verläuft die Wahrnehmungsverarbeitung29 bei legasthenen Kindern anders. Infolge einer Störung der Wahrnehmungsverarbeitung ist meist ein für das unbewusste Wissen über die Funktion und die Eigenschaften der einzelnen Laute der Wörter unserer Sprache sowie über die Fähigkeit zur Aufgliederung der Wörter in diese Laute verantwortlicher Bereich, als phonologische Bewusstheit designiert, betroffen. Die Ursachen für eine Legasthenie sind demnach in den differenzierten Teilleistungen bzw. Sinneswahrnehmungen zu finden. Die Betroffenen machen im Gegensatz zu Rechtschreibfehlern aufgrund ihrer differenten Wahrnehmung immer unterschiedliche Fehler; teils werden im gleichen Text dieselben Wörter unterschiedlich geschrieben. Nach Raapke kommen sensorische Integrationen, die vor der Schule stattfinden, durch die Eigenwahrnehmung des ganzen Körpers und weniger durch das Hören und Sehen zustande (vgl. Raapke 2001, S. 39). Wie bereits dargestellt, können vielfältige Ursachen zur Entstehung einer Legasthenie beitragen, wobei stets verschiedene Faktoren zusammenwirken. Die neurobiologisch orientierte Forschung der letzten Jahre hat zu einem deutlichen Erkenntnisgewinn bezüglich der zentralnervösen Verarbeitung auditiver und visueller Informationen (vgl. u.a. Tallal 2000; Falcoetti et al. 2003; Rosenkötter 2003) bei der Lese-Rechtschreibstörung geführt. 3.1.2

Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung

Von Legasthenie betroffene Kinder fallen zuerst durch ihre Unaufmerksamkeit auf, sobald sie auf Symbole, also Buchstaben oder Zahlen, treffen. Die Folge ist eine Fehlersymptomatik, so genannte Wahrnehmungsfehler. Im Moment des Produzierens solcher Wahrnehmungsfehler nimmt das Kind die unkorrekte Schreibweise nicht wahr (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 25). Zu den Störungen der zentralen auditiven Wahrnehmung (vgl. hierzu Rosenkötter 2003) gehört die unzureichende Wahrnehmung von sprachlichen sowie nichtsprachlichen Reizen. Sind die Sinneswahrnehmungen different, so muss entsprechend dem diagnostischen Testergebnis30 die Förderung, d.h. das Training an den Fehlern, der Symptomatik, einsetzen. Die

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Ausführliches zum Begriff Wahrnehmung in Kapitel 6.1.5. Eine Diagnostik sollte auf pädagogisch-didaktischer Ebene stattfinden, erst wenn Sekundärproblematiken hinzukommen, sollten weitere Ebenen (wie die psychische oder medizinische) herangezogen werden. 30

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3 Problemkreis Legasthenie

sog. „Phonologie-Defizit-Hypothese“, die besagt, dass die Fähigkeit, lautliche Segmente der Sprache zu unterscheiden und im Gedächtnis zu speichern, bei der Lese-Rechtschreibstörung gestört ist (vgl. Schulte-Körne 2001b), weshalb Betroffene Schwierigkeiten bei der Zuordnung von einzelnen Buchstaben zu entsprechenden Lauten und umgekehrt haben, stand im Vordergrund der Forschung der letzten Jahre. Neurobiologische Untersuchungen (z.B. Rumsey et al. 1997a,b; Georgiewa et al. 2002) konnten zeigen, dass Regionen des Großhirns, die bei der Wahrnehmung und Unterscheidung von Sprachreizen und Lauten hauptsächlich aktiviert werden, bei legasthenen Menschen signifikant geringer aktiviert werden, das bedeutet, dass für die gestörte Sprachwahrnehmung hirnorganische Korrelate vorliegen. Da dieses Sprachwahrnehmungsdefizit bereits in den ersten Lebensjahren vorhanden ist, könnte es ein wesentlicher Prädiktor für einen gestörten Schriftspracherwerb sein. Möglicherweise stellen diese Befunde eine Grundlage für eine Frühdiagnostik und Frühförderung dar. 3.1.3

Störung der zentralen visuellen Wahrnehmung

Die Befunde neurobiologischer Forschungen (Salmelin et al. 1996) zeigen, dass Wort- bzw. Buchstabeninformationen bei Lese-Rechschreibgestörten in spezifischen Hirnarealen deutlich verzögert und ineffektiver wahrgenommen werden. Die Bedeutung solcher visuellen Wahrnehmungsdefizite für die Legasthenie ist zurzeit noch nicht vollständig aufgeklärt. Nach Breuer und Weuffen sind mit dem Lesen und Schreiben „wahrnehmungsmäßig zwei optische Differenzierungsleistungen verbunden. Erstens sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Buschstaben präzise zu erfassen. Diese Leistung vollzieht sich in der Ebene und in den Einzelheiten des Buchstabens selbst. Zweitens sind die einzelnen Buchstaben in ihrer Abfolge innerhalb der Wortstruktur zu erkennen. Diese Leistung vollzieht sich beim Lesen und Schreiben in einer räumlichen Gliederung, orientiert durch Lautklangfolgen im Wort und Sinnentnahme aus Wortfolgen“ (Breuer/Weuffen 2000, S. 26). Damit sind die kindlichen Wahrnehmungsfähigkeiten im Bereich der optischen Differenzierung und der optischen Serialität angesprochen. Kinder mit einer gestörten optischen Differenzierung können die ähnlich aussehenden Buchstaben nicht voneinander unterschieden, da sie sich nur in minimalen Einzelheiten ihrer optischen Struktur unterscheiden. Legastheniker haben ebenso Probleme bei der Erkennung der Buchstabenreihenfolge innerhalb des einzelnen Wortes, die Buchstabenverbindungen werden falsch erkannt. Bei Kindern mit geringer visueller Merkfähigkeit treten besonders oft Fehler bei mehrdeutigen Laut-Buchstabenzuordnungen auf. Die wichtigste Teilleistung innerhalb der optischen Differenzierungsfähigkeit auf dem Wege zur Buchstabenkenntnis ist die Erfassung räumlicher Beziehungen. Dabei müssen einzelne optische Modali31


3 Problemkreis Legasthenie

täten in ihren Beziehungen innerhalb des Buchstabens und in ihrer strukturellen Ganzheit als Buchstabe erkannt werden, was sowohl für die Buchstaben- als auch für die Wortstrukturen zutrifft. Die Qualität und Anzahl der eingeprägten optischen Buchstaben- und Wortbilder sind eine Voraussetzung dafür, dass das Lesen und die Rechtschreibung gelingen. Ohne die Fähigkeit, optische Einzelheiten genau und automatisiert zu erfassen, gibt es keine verlässliche Speicherung im Gedächtnis, die für die Lösung von wiederkehrenden Aufgaben beim Schreiben- und Lesenlernen erforderlich ist (vgl. ebd.). F. Affolter stellte fest, dass leserechtschreibschwache Kinder in der Nachahmung und in Manipulationstätigkeiten, beide sind die Grundlage für den Erwerb begrifflicher Inhalte und für das Bilderkennen, stark eingeschränkt sind (vgl. Affolter 1975, S. 205). Neuropsychologische Forschungsergebnisse belegen, dass in der Verbindung der Bildpunkte der Schlüssel zum Verständnis der visuellen Wahrnehmung liegt. Durch das Trainieren des visuellen Bereiches können neue Verbindungen nachentwickelt werden (vgl. a.a.O., S. 232).

3.2 Genetische Ursachen Durch die neuen Methoden der genetischen Forschung sind mögliche Genorte, die wahrscheinlich für die Entstehung der Legasthenie relevant sind, entdeckt worden. Das Zusammenwirken verschiedener Faktoren scheint zurzeit ein plausibles Erklärungsmodell für Legasthenie zu sein. Jedoch führen einzelne Einflüsse, wie bspw. eine Vulnerabilität 31, nicht zwangsläufig zur Herausbildung einer schicksalsbestimmenden Lernstörung, sondern sie können durch präventive Maßnahmen im Vorschulalter und weitere intensive Betreuung während der gesamten Schulzeit kompensiert werden. Unter anderem wird derzeit in der Genetik verstärkt eine genetische Komponente diskutiert, da Legasthenie in bestimmten Familien gehäuft auftritt. Bei eineiigen Zwillingen beträgt die Konkordanz für Legasthenie 68%, bei zweieiigen Zwillingen hingegen nur 38%, daher ist ein substantieller genetischer Einfluss nicht zu negieren (vgl. Fischer/DeFries 2002). SchulteKörne (2001a) konnte durch Familienuntersuchungen u.a. in den USA zeigen, dass die Leseund Rechtschreibstörung familiär gehäuft auftritt (vgl. hierzu auch Guttorm et al. 2001), jedoch würde dies allein nicht ausreichen, um von einer genetischen Disposition sprechen zu können. Zusätzlich erscheint es problematisch, in diesem Kontext von einem Gendefekt zu sprechen, da in den meisten Fällen mit der erblichen Legasthenie hohe mathematisch-

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Im Kontext eines sehr allgemeinen Definitionsansatzes kann unter Vulnerabilität eine in der Person verankerte, genetisch, biochemisch oder auch durch Geburtstrauma bedingte Disposition, Anfälligkeit oder Sensibilität verstanden werden.

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3 Problemkreis Legasthenie

naturwissenschaftliche Begabungen zusammenhängen. Deshalb scheint es, wie bei der Linkshändigkeit, eher angemessen, von einer „Normvariante menschlicher Begabung“ (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 52) zu sprechen. Eine solche Normvariante fällt immer dann nicht negativ auf, wenn sie in der Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern auch akzeptiert wird. Die Suche nach relevanten Genen hat zu verschiedenen Gen-Regionen geführt. Vermutet wird eine polygenetische Ursache (vgl. u.a. Fischer/DeFries 2002; Aylward et al. 2004; Richards/ Berninger 2005) mit Bezug zu den Chromosomen 2, 3, 6, 18 und vor allem 15. Vermutlich beeinflussen diese nicht direkt die Lese- und Rechtschreibfähigkeit, sondern sie steuern neurophysiologische und neuropsychologische Funktionen, deren Störung z.B. bei der Sprachverarbeitung den Schriftspracherwerb entscheidend beeinflusst. Forschungen belegen, dass die Ursache für eine Legasthenie hauptsächlich durch die Gene bestimmt ist, wobei das 15. und 6. Chromosom maßgeblich an der erblichen Weitergabe beteiligt sind (vgl. Klasen 1999, S. 15, 178; Kopp-Duller 2008a, S. 25; Kopp-Duller 2008b, S. 16). In diesen Regionen werden Gene vermutet, denen eine bedeutsame Funktion bei der Regulation von zentralnervösen Prozessen zukommt. Durch diese biogenetischen Anlagen entstehen differente Sinneswahrnehmungen32, welche zu Wahrnehmungsfehlern führen, die die Probleme von legasthenen Menschen beim Erlernen des Schreibens, Lesens und Rechnens (Dyskalkulie) verursachen. Die ursächliche Verantwortung eines einzelnen Gens ist hingegen sehr fraglich. Ein genetischer Einfluss ist bei einem Teil der Kinder mit Legasthenie nachgewiesen. Doch dies sollte nicht entmutigend sein, da sich nicht nur die Gene, sondern auch die Umwelt, also Kindergarten, Schule und Elternhaus, entscheidend auf die kindliche Entwicklung und somit auch auf die Lese-Rechtschreibentwicklung auswirken. Dies bedeutet zugleich, dass eine angemessene und professionelle frühkindliche Förderung in Kindergarten und Schule, v.a. im Anfangsunterricht, aber auch im Elternhaus von enormer Bedeutung ist, sodass die LeseSchreiblern-entwicklung betroffener Kinder nicht zu sehr in Verzögerung gerät. Im neurologischen Bereich zeigen bereits Neugeborene aus Risikofamilien veränderte Gehirnstrommuster bei der Darbietung sprachlicher und nichtsprachlicher akustischer Stimuli. Mit Hilfe bildgebender Verfahren können auch bei Schülern und Erwachsenen mit Legasthenie Veränderungen der Aktivierungsmuster in der Großhirnrinde beim Lesen nachgewiesen werden (vgl. Berninger/Richards 2002). Diese betreffen vorwiegend die sprachverarbeitenden Zentren im Schläfen- und Stirnlappen der linken Hirnhälfte, in der im Vergleich zu nicht legasthenen Personen unterschiedliche Aktivierungszentren und -lokalisationen zu finden sind

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Von Ayres wurde die Bedeutung der Verarbeitung der einzelnen Sinnesmodalitäten in besonderer Weise berücksichtigt, da bei manchen Kindern hier der Schlüssel zu ihrem Problem liegt (vgl. Ayres 1992, 2002).

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3 Problemkreis Legasthenie

(vgl. ebd.). Dies zeigt, dass die zuständigen Hirnzentren nicht ausreichend synchron arbeiten oder nicht ausreichend vernetzt sind. Ferner belegen Hinweise auf eine defizitäre Verarbeitung schneller Folgen von Stimuli eine weniger effiziente Reizweiterleitung in der Hör- und Sehbahn. In diesem Kontext konnte auch eine Deregulierung der Blicksteuerung beobachtet werden. Die Sakkaden (vgl. hierzu u.a. Fischer et al. 1998; Fischer/Hartneggm 2008) von legasthenen Kindern sind weniger präzise als diejenigen gleichaltriger nicht legasthener Kinder. Weiters kann eine Sprachentwicklungsverzögerung (vgl. Grimm 1995) ein Risikofaktor für Legasthenie sein. Das Gehirn wird noch lange Gegenstand biologischer, medizinischer wie auch neurologischer Forschungen sein und in seiner Komplexität und Kompliziertheit wahrscheinlich nie zur Gänze erforscht werden können. Dank moderner Medizintechnologie kann die relative Minderleistung der linkshemisphärischen Sprachgebiete der Legastheniker definitiv auf Bildschirmen sichtbar gemacht werden (vgl. u.a. Rosenkötter 1997; Firnhaber 2005). Normalerweise sind die Lese- und Rechtschreibleistungen durch die Vernetzung einer Reihe von Gehirnarealen gewährleistet. Hinweise auf Funktionsdefizite bzw. Teilleistungsschwächen sind übereinstimmend in den zitierten Untersuchungen für eine Reihe von Hirnregionen, die sich mit Sprache, Sprachwahrnehmung sowie mit Prozessen zwischen äußerer Aufnahme und zentraler Wahrnehmungsverarbeitung beschäftigen, belegt. Aus den Ergebnissen lassen sich mindestens drei Aussagen als gesichert ableiten: Legasthenie hat neuropsychologische Ursachen. Selbst bei erwachsenen Legasthenikern sind diese Ursachen immer noch nachweisbar. Bereits vor der Geburt sind diese neurobiologischen Ursachen vorhanden. Milieubedingungen, d.h. Einflüsse aus Elternhaus und Schule, wirken sich erst sekundär aus. Vor allem entscheiden sie darüber, ob das betroffene Kind trotz seiner Schwächen ausreichend Motivation erhält, um den Mut zum Lernen nicht zu verlieren. Die pränatalen Ursachen sind nicht behebbar. Es besteht die Möglichkeit zur Verhinderung der später in Erscheinung tretenden Teilleistungsschwächen, indem Schwierigkeiten vor allem beim Lesen und Schreiben durch angemessene Übungs-/Trainingsmethoden kompensiert werden. Je mehr das Gehirn erforscht wird, desto deutlicher wird, dass bis dato nur Teilkenntnisse existieren, welche keine vereinfachenden Theorien über die Entstehung der Legasthenie erlauben (vgl. Dummer-Smoch 2002).

3.3 Ursachen im prä-, peri- und postnatalen Bereich Auch schädliche Einflüsse im prä-, peri- und postnatalen Bereich werden diskutiert. Insbesondere zählen dazu Komplikationen während der Geburt sowie im Kopfbereich befindliche 34


3 Problemkreis Legasthenie

Läsionen, die Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCD), ein leichter frühkindlicher Hirnschaden mit verschiedenen Ursachen, oder Unfälle des Säuglings. Diese können im peri- und postnatalen Bereich begründet sein. Auch Krankheiten im Bereich des zentralen Nervensystems eines Säuglings können als Ursache für die Ausprägung einer Legasthenie in Erwägung gezogen werden. Bereits in den 80er Jahren hatte Galaburda mit seiner Forschungsgruppe33 aufgrund anatomischer Befunde darauf hingewiesen, dass bereits vor der Geburt die Weichen für die spezielle Entwicklung im legasthenen Gehirn gestellt werden (vgl. Galaburda 1989; Galaburda et al. 1992 zit. nach Dummer-Smoch 1986). Als schädliche Einflüsse im pränatalen Bereich gelten beispielsweise Infektionskrankheiten der Mutter, Schwangerschaftsblutungen, vorgeburtliche Hirnhautentzündung oder erhöhter Alkohol- und/oder Nikotinkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Hinzukommen können hirnfunktionelle Ursachen sowie Infektionskrankheiten oder Blutungen. Galaburda untersuchte Gehirne verstorbener Legastheniker und erschloss minimale Veränderungen. Da man heute sehr genau über die embryonale Hirnreifung informiert ist, konnte er feststellen, dass Zellen, die überwiegend in den Sprachzentren der linken Hemisphäre liegen, im 4. Schwangerschaftsmonat u.a. nicht weitergereift waren. Daraus ergibt sich offensichtlich die bereichsspezifische Abschwächung bzw. das Fehlen der führenden Rolle der linken Hemisphäre (vgl. Firnhaber 2005). Es zeigt sich, dass sich das Gehirn eines Legasthenikers von einem Nicht-Legastheniker unterscheidet. Durch das Mikroskop kann die Feinstruktur der Hirnrinde im Bereich des sensomotorischen Sprachzentrums sichtbar gemacht werden. Die Zellstruktur in einem dysplastischen Zellbereich im Gehirn eines Legasthenikers ist desorganisiert und hat den säulenförmigen Charakter der Zellanordnung verloren (vgl. Rosenkötter 1997, S. 80). Ferner kann es durch Probleme im perinatalen Bereich, also während der Geburt, zu kleinsten Hirnfunktionsstörungen kommen, etwa durch Quetschung des Kopfes, Verlängerung des Geburtsvorganges aufgrund von Lageanaomalien etc., die dazu führen, dass die Verarbeitung von Sprachreizen im Gehirn über Umwege verläuft. Aktuell werden auch Wahrnehmungsstörungen immer häufiger untersucht. Die Aktivitäten bestimmter Gehirnregionen während des Lesens können mit bildgebenden Verfahren (vgl. hierzu u.a. Dummer-Smoch 2002) gemessen werden, wobei festgestellt wurde, dass legasthene Kinder ein verändertes Gehirnaktivitätsmuster beim Lesen aufweisen. Amerikanische Forscher (vgl. Berninger/Richards 2002) jedoch akzentuieren, dass die Entwicklung ei-

33

Galaburda et al. untersuchten das Planum temporale. Dies ist ein Gehirnareal, das bei Rechtshändern und guten Lesern in etwa 70% der Fälle in der linken Hemisphäre größer ist als in der rechten. Sie fanden bei Legasthenikern nahezu umgekehrte Verhältnisse.

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3 Problemkreis Legasthenie

ner Legasthenie entscheidend von Umweltfaktoren beeinflusst wird, dass sie kein neurobiologisches Schicksal ist, sodass sich neuronale Aktivierungsauffälligkeiten bei einem Teil der Kinder nach angemessener Förderung sogar wieder normalisieren können. Als mögliche Ursachen im postnatalen Bereich sind Unfälle, infektiöse oder fieberhafte Erkrankungen, Hirnhautentzündung, Krampfanfälle etc. sowie Stoffwechselkrankheiten des Kindes im Säuglingsund Kleinkindalter zu vermuten. Es ist davon auszugehen, dass es nicht nur „die eine Lese-Rechtschreibstörung“ mit ausschließlich „nur eindeutiger Symptomatik“ und „nur einer einzigen Ursache“ gibt, sondern dass Legasthenien unterschiedlicher Ätiologie und Ausprägung bestehen, wobei unterschiedlichen Subgruppen unterschiedliche Ursachenfaktoren zugrunde liegen können.

3.4 Erkennungsmerkmale für das Vorhandensein einer Legasthenie Dem Vorschulkind bereiten das Binden von Schuhbändern, das Fangen von Bällen, das Seilspringen usw. fortlaufende Probleme? Demnach machen sich Anzeichen für mögliche differente Sinneswahrnehmungen besonders in der motorischen Entwicklung bemerkbar. Außerdem ist es unaufmerksam und erfährt Frustration, die zu Verhaltensproblemen führen kann. Anzeichen für Legasthenie im Vorschulalter können etwa folgende sein (vgl. Kopp-Duller 2008, S. 39f.): Das Kind erlebt eine verkürzte oder gar keine Krabbelphase. Dadurch kommt es zu verspätetem Gehen, schlechter Körperkoordination, Schwierigkeiten beim Binden von Maschen oder beim Knöpfen, zu Problemen beim Umgang mit der Schere, beim Umgang mit Messer und Gabel, beim Erlernen des Radfahrens, Skifahrens oder Schwimmens, zu Koordinationsschwierigkeiten beim Malen oder etwa zur Schiefhaltung des Kopfes34. Im sprachlichen Bereich kommt es zu verspätetem Sprechen, das Kind erlernt später als erwartet das Klarsprechen35 oder es spricht schneller, als es handelt. Zusätzlich fällt die Verwendung von ähnlichen Wörtern oder Ersatzwörtern sowie von falschen Beziehungen (z.B. Lampenschirm für Laternenpfahl) auf. Ebenso werden richtungsweisende Wörter (hinauf/hinunter, innen/ außen) durcheinandergebracht. Probleme treten beim Erlernen von Kinderliedern, beim Reimen von Wörtern, beim Herausfinden eines nicht passenden Wortes sowie mit Reihungen auf. Das Kind kann durch besonders „gute“ und „schlechte“ Tage auffallen, ist oft überhastet, oft extrem langsam und zeigt andererseits eine hohe Merkfähigkeit. Treten eben genannte Auffäl-

34 35

bei einseitigen Hör- oder Sehproblemen. Phrasen werden vermischt bzw. verwechselt.

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3 Problemkreis Legasthenie

ligkeiten auf, sollte das Kind, sobald es in die Schule kommt, sehr genau bei seinen Fortschritten beobachtet werden. Auch eine Frühförderung ist an dieser Stelle ratsam. Anzeichen einer Legasthenie nach Schuleintritt können etwa auffällige Wachheit und Interesse in Alltagssituationen, leichte Ablenkbarkeit und Abwesenheit bzw. Tagträume sein. Das Kind hört bzw. sieht alles und kann nicht immer Unwichtiges von Wichtigem unterscheiden. Es reibt sich wahrscheinlich oft die Augen, muss öfter blinzeln als seine Mitschüler und klagt über Sehprobleme36. Zusätzlich zeigt sich verzögertes Merkvermögen bei Buchstaben, Wörtern und Zahlen sowie beim Auswendiglernen, z.B. des Einmaleins. Hinzu kommen scheinbare Hörprobleme37, eine herabgesetzte Körperkoordination, mangelnde Raum- und/oder Zeitkoordination. Diese allgemeinen Anzeichen beziehen sich auf Persönlichkeitsmerkmale, die Legasthenikern eigen sind. Ein Zusammentreffen von mehreren Merkmalen lässt darauf schließen, dass es sich um einen legasthenen Menschen handelt. In der ersten Klasse hat ein Teil der Kinder Probleme beim Lernen der Buchstaben-LautVerbindungen, was auf fehlende oder mangelhafte phonologische Bewusstheit und mangelhafte phonematische Fähigkeiten zurückzuführen ist. Auch eine phonologische Informationsverarbeitungsstörung kann auf das Vorhandensein einer Legasthenie hinweisen. Doch können Kinder, bei denen später eine Lese-Rechtschreibstörung diagnostiziert werden würde, anhand von Schwächen in der phonologischen Bewusstheit bereits im Vorschulalter oder zum Zeitpunkt der Einschulung erkannt werden (vgl. Jansen et al. 2002). Selbst in höheren Klassen verwechselt ein Teil von ihnen noch das <b> und <d> und die Buchstabenverbindungen <ei> und <ie>. Das Zusammenlesen fällt ihnen schwer. Dabei stellen Konsonantenhäufungen wie <bl> (wie in Blatt) oder <schm> (wie in Schmuck) eine besondere Schwierigkeit dar38. Diese kann im artikulatorischen wie auch im phonematischen Bereich begründet sein und individuell abweichen. In den weiteren Schuljahren bleibt das Lesen der Schüler, die von Legasthenie betroffen sind, oft beschwerlich und langsam. Neue Wörter, besonders wenn sie komplexer sind, werden nur schwer erlesen. Auch der Sichtwortschatz, also die Wörter, die bereits gespeichert sind und sofort gelesen werden können, ist beschränkt. Das anstrengende und verlangsamte Lesen hat häufig ungünstige Auswirkungen auf das Leseinteresse und kann auf die verlangsamte Sprachwahrnehmung zurückgeführt werden. Die Zunahme des Lesewortschatzes ist gegenüber anderen Kindern reduziert. Allein aufgrund der geringen Lesetüchtigkeit kann das Leseverständnis deutlich eingeschränkt sein. Es ist offensichtlich, dass ein Text gar

36

bspw. über Verschwimmen der Buchstaben und Zahlen. Diese äußern sich bspw. darin, dass das Kind schlecht versteht, in verwaschener Sprache spricht und sprachliche Mängel aufweist. S. hierzu auch Rosenkötter 2003. 38 Vgl. hierzu Samuel T. Ortons Theorie (1927) eines Defizits im visuellen Gedächtnis. 37

37


3 Problemkreis Legasthenie

nicht oder nur höchst erschwert verstanden werden kann, wenn der Leser bereits Schwierigkeiten beim Dekodieren der einzelnen Wörter hat. Gerade aus der Beobachtung schwacher Leser kommt die Evidenz dafür, dass das Leseverständnis einen eigenen Bereich möglicher Schwierigkeiten im Umgang mit der Schriftsprache offenbart 39 (vgl. Klicpera/Schabmann/ Klicpera-Gasteiger 2007, S. 61f.). Gewiss wirkt sich diese Einschränkung demotivierend aus; viele betroffene Kinder und Jugendliche lesen deshalb nur sehr wenig und ungern. Die LeseRechtschreibentwicklung ist jedoch in der ersten Klasse noch relativ variabel. Anzeichen für Legasthenie bei Kindern unter oder mit 9 Jahren sind weiterhin große Schwierigkeiten beim Lernen des Lesens und Schreibens sowie ständiges und fortlaufendes Vertauschen von Zahlen und Buchstaben (z.B. 15 für 51, <b> für <d>). Das Kind hat Seitigkeitsanomalien40 und Schwierigkeiten beim Behalten des Alphabets, beim Multiplizieren von Tabellen und im Erinnern von Reihenfolgen (wie z.B. der Tage, der Wochen, der Monate des Jahres und der Jahreszeiten). Kinder, die leicht auswendig lernen, kompensieren u.U. die Lese- und Rechtschreibstörung; sie versagen erst in der 3. Klasse oder erst nach dem Wechsel in eine weiterführende Schule, sofern geübte Schriftsprachleistungen und Aufsätze gefordert werden oder ein höheres Leistungs- und Temponiveau bei schriftlichen Arbeiten abverlangt wird. Schwerer betroffene Kinder sind meist nicht fähig, die Fehler beim Lesen und Rechtschreiben selbst zu erkennen und zu korrigieren. Bei 9- bis 12-jährigen Kindern ist die Legasthenie an fortlaufenden Fehlern beim Lesen und bezüglich des Leseverständnisses zu erkennen. Überdies fallen kontinuierliche Fehler durch eine sonderbare Aussprache auf, Buchstaben oder ganze Wörter werden bspw. ausgelassen oder in der falschen Reihenfolge ausgesprochen. Hinzu kommt, dass das Kind zu Hause wie auch in der Schule desorganisiert ist, Probleme beim genauen Abschreiben von der Tafel oder vom Lehrbuch und beim Aufschreiben von mündlichen Anweisungen hat und für Schreibarbeiten eine überdurchschnittlich lange Zeit benötigt. In der Folge aufkommender, wachsender Mangel an Selbstvertrauen und wachsende Frustration verkompliziert die Situation zusätzlich. Bei Schülern mit 12 Jahren und älteren sind Anzeichen für Legasthenie die Neigung zu falschem, ungenauem oder nicht zusammenhängendem Lesen und dazu, mündliche Anweisungen und Telefonnummern durcheinanderzubringen, inkonsequentes Buchstabieren, Probleme beim Entwerfen und Schreiben von Aufsätzen sowie ernsthafte Probleme mit fremden Sprachen. Leistungsdefizite aufgrund von eingeschränktem, d.h. verlangsamtem oder fehlerhaftem

39

Aufgrund dieser Tatsache muss Leseverständnis als mehrdimensionales und von vielen Faktoren abhängiges Konstrukt begriffen werden, wobei die basale Lesefähigkeit nur eine Einflussgröße neben vielen anderen ist. 40 Schwierigkeiten beim Unterscheiden von rechts und links.

38


3 Problemkreis Legasthenie

Lesevermögen und mangelhafter Rechtschreibung machen sich auch in anderen Fächern bemerkbar, so treten ebenfalls Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben in den Fremdsprachen auf. Schwierigkeiten beim Lesen und vor allem die Verlangsamung können eine eingeschränkte Wissensaufnahme in den übrigen Lernfächern verursachen, zumal z.B. im vorgegebenen Zeitrahmen das Wissen nicht aufgenommen bzw. niedergeschrieben werden kann. Legasthenie kann somit schnell zur erheblichen Beeinträchtigung der gesamten schulischen Leistung führen. Obwohl sich Eltern und Kinder sehr bemühen, durch häufiges Üben die Leistung zu verbessern, macht das Kind nur geringe, teilweise sogar keine Fortschritte, da bloßes Üben am Symptom nicht erfolgsfördernd ist. Rechtschreibfehler treten hauptsächlich beim Diktat und bei spontanem Schreiben (von einem Aufsatz z.B.) auf, während das Abschreiben von Anfang an oder in späteren Klassenstufen weitgehend fehlerlos sein kann. Die Kinder können die Worte in aller Regel korrekt artikulieren und dennoch das Wort fehlerhaft schreiben. Oft wird zu Unrecht schuldhaftes Versagen vermutet. Die Legasthenie betreffend kann trotz der Tatsache, dass die Medizin, inklusive ihrer Teilwissenschaften wie auch der Genforschung, in Zukunft im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten noch viele offene Fragen wird beantworten müssen, zumindest das Kriterium aufgeworfen werden, dass Zusammenhänge zwischen dem sozialen Milieu (vgl. hierzu z.B. Nave-Herz 2007) und einer Legasthenie bei einem Kind zwar vermutet und durch unqualifizierte Gruppentests bestätigt wurden, aber dennoch definitiv ausgeschlossen werden kann, dass ein Unterschichtsmilieu als Auslöser für Legasthenie angesehen werden kann (vgl. Sommer-Stumpenhorst 2006).

39


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

Teil II Das „Konstrukt“ Legasthenie 4

Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

Konstrukte sind in der reinen Beobachtungssprache nicht definierbar und werden aus einem theoretischen Zusammenhang heraus sowie mit Hilfe von beobachtbaren Ereignissen erschlossen (vgl. Dorsch/Becker-Carus 1994, S. 400). Ein hypothetisches Konstrukt bzw. eine hypothetische Konstruktion ist daher eine Annahme über einen nicht unmittelbar zu beobachtenden Prozess, der als intervenierende Variable mit zusätzlicher Bedeutung Bedingung für das Verhalten sein soll. Aus dem theoretischen Zusammenhang heraus wird abgeleitet, mit welchen messbaren Größen die Bedingung kovariiert. Die Prüfung dieser Bedingung nennt man auch Konstrukt-Validierung (vgl. a.a.O., S. 400f.). Vom Ende der 60er Jahre an wurden zahlreiche größere empirische Untersuchungen durchgeführt, die zeigten, dass – wenn überhaupt – nur ein verschwindend geringer Anteil von Legasthenikern die postulierten Charakteristika aufweist. Legasthenie wurde deshalb als deskriptiver Begriff, zur Beschreibung unterschiedlicher Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben und als Synonym für Lese-Rechtschreibschwäche, verwendet. Andere Autoren führen zum einen eine medizinisch orientierte und zum anderen eine pädagogischpsychologisch orientierte Begriffsbestimmung durch. Auch hier wird ausdrücklich von durchschnittlicher bis guter Intelligenz der betroffenen Kinder gesprochen. Die Legasthenie ist eine organische und nicht psychogene, eine genetische und nicht durch Umwelteinflüsse determinierte Störung (vgl. Angermaier 1970, S. 24ff.). Weiters wird, wie bereits bei SchenkDanzinger, zwischen zwei Formen der Legasthenie unterschieden, der literalen41 und der verbalen Legasthenie42. Die literale Legasthenie „besteht darin, dass das Kind die Beziehung zwischen dem Grundelement der Schrift, die ja geschriebene Sprache ist, dem Buchstaben

41

Die literale Legasthenie ist eine sehr seltene Schwerstform der Legasthenie. Kinder, die davon betroffen sind, können meist Buchstaben überhaupt nicht erlernen oder die Laute nicht bestimmten Buchstaben zuordnen. Bei der literalen Legasthenie handelt es sich also um das Grundelement der geschriebenen Sprache. Zwischen Laut und Lautzeichen kann keine Beziehung hergestellt werden. 42 Die verbale Legasthenie ist die Form, von der nach neuesten Studien der International Dyslexia Association zwischen 10 und 15% der Gesamtpopulation betroffenen sind. Sie wird in die relativ kurzfristige Entwicklungslegasthenie (siehe Kapitel 4.2.1 und 4.2.2) ohne sekundäre allgemeine Leistungsstörung und jene mit sekundärer allgemeiner Leistungsstörung gegliedert.

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4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

und dem Laut nicht herstellen kann“ (Hartmann 1975, S. 10ff.). Im Falle einer verbalen Legasthenie hingegen bereitet das Wort dem Kind Schwierigkeiten (vgl. a.a.O., S. 11ff.). Wie Hartmann unterscheiden auch Hägi, Bürli und Mathis zwischen den beiden Erscheinungsformen der Legasthenie. Bei der literalen Legasthenie handelt es sich laut deren Ausführung um Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Einzelbuchstaben (vgl. Hägi/Bürli/Mathis 1970, S. 12ff.). Außerdem sind, nach Hägi, Bürli und Mathis, bei der Legasthenie die akustische und die optische Wahrnehmung gestört (vgl. a.a.O., S. 21ff.). Wurde Legasthenie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als „klassisches Legastheniekonzept“ mit charakteristischen visuellen Fehlern und einer Intelligenzdiskrepanz propagiert, so wird in den 70er Jahren zunächst zwischen „Legasthenie“ als Schwäche im Lesen und Rechtschreiben bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz und LeseRechtschreibschwäche als Schwäche im Lesen und Rechtschreiben bei insgesamt unterdurchschnittlicher Intelligenz unterschieden und schließlich als „Unfug mit der Legasthenie“ gescholten und ad acta gelegt. Die Phänomenologie der Legasthenie wurde in den 70er Jahren um den Terminus „Lernstörung“, zusätzlich zum von Linder eingeführten Terminus Teilleistungsstörung, erweitert. Schenk-Danzinger, die dieser Problematik ein umfassendes „Handbuch der Legasthenie im Kindesalter“ (1975) widmete, prägte den Begriff Legasthenie im deutschen Sprachraum. Sie differenziert zwischen zwei Arten der Legasthenie, der literalen Legasthenie (einer sehr seltenen Schwerstform der Legasthenie) und der verbalen Legasthenie, von der gemäß neuesten Studien etwa 15% der Gesamtbevölkerung betroffen sind. Eine Einbindung der Ergebnisse von Diplompsychologin Dr. E. Klasen, die gemeinsam mit anderen Autoren Therapiefälle näher untersuchte, war ihr ein wichtiges Anliegen. Der Hauptschwerpunkt ihrer Forschungsarbeiten kann als vorwiegend symptomorientiert angesehen werden. Ferner setzte sie sich mit der von Valtin (1970b) aufgeworfenen Frage nach der Milieuabhängigkeit auseinander. Dies ist ein wesentlich zu beachtender Aspekt, da durch die Reihenuntersuchungen von unqualifizierten Personen um 1970 der Trugschluss gezogen wurde, dass Probleme im Erlernen der Rechtschreibung milieuabhängig seien und Legasthenie folglich ein Problem der Unterschicht sei. Die Einteilung in Legasthenie (auch spezielle LRS/Lese-Rechtschreibstörung43) und LRS geht auf Grissemann zurück, der Legasthenie gegen Ende der 60er Jahre als eine „global-gnostische Störung“ deutete und somit einen neuen Beitrag zur Ätiologie leistete. In seinem Buch „Legasthenie und Rechenleistungen“

43

Die meisten Autoren empfehlen in diesem Zusammenhang eine Trennung von „Störung“ und „Schwäche“, da davon ausgegangen wird, dass beide unterschiedliche Gruppen mit verschiedener Genese sind (vgl. hierzu auch Schulte-Körne 2001a).

41


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

lieferte Grissemann 1974 eine graphische Darstellung der Arten und Formen der Legasthenie, die er sehr übersichtlich definierte. Aus verschiedenen Studien können die Merkmale Milieu (vgl. Valtin 1970b, 1974; Niemeyer 1974; auch Schneider 1980), stärkere emotionale Labilität, z.B. Ängstlichkeit der Kinder (vgl. Angermaier 1974), Geschlecht (vgl. ebd.; auch Schneider 1980), die Bedeutung von Lehrer und Unterricht (vgl. ebd.; Sirch 1975), akustische Wahrnehmungsschwächen, Mängel der Artikulation und der visuell-auditiven Integration (vgl. Niemeyer 1971; Angermaier 1973), visuelle Wahrnehmungsschwächen (vgl. Valtin 1972), Intelligenz (Angermaier 1973; auch Schneider 1980) sowie Gedächtnisfaktoren (Angermaier 1973; auch Schneider 1980) als Determinanten einer Legasthenie identifiziert werden. Vertreter des Legastheniekonzepts sahen die Legasthenie, bei sonst intakter oder im Verhältnis zur Lese- und Rechtschreibfähigkeit relativ guter Intelligenz, als partielle Lernstörung, weshalb darauf aufbauende Therapiekonzepte fehlertypisch orientiert sind. Sehr bald ließ jedoch die Vielzahl der Störungsbilder und Schwächen Kritik am Konstrukt der Legasthenie entstehen. Hierbei sind die vom Diagnoseinstrumentarium abhängigen unterschiedlichen Definitionen für Legasthenie das eigentliche, immer wiederkehrende Problem, das wiederum auf das zugrunde liegende Theoriekonzept44 ausgerichtet ist. Mitte der 70er Jahre lösten Sirch (1975) und Schlee (1976) eine Anti-Legasthenie-Bewegung aus, wodurch es zu einem bis heute nicht wieder gutzumachenden Schaden in der Erforschung und der gesellschaftlichen Aufarbeitung hinsichtlich des Verständnisses für das Legastheniephänomen kam. Es wurde zunehmend Kritik sowohl gegen methodische als auch inhaltliche Aspekte des Legastheniekonzeptes erhoben. Das Fehlen theoretischer Grundlagen und Modellvorstellungen wurde bemängelt, da die empirischen Untersuchungen zur Genese der Legasthenie und die Vergleichbarkeit der wissenschaftlichen Beiträge an der unpräzisen Terminologie, die verschiedene Autoren verwendeten (vgl. Warnke 1990), litten. Sirch sah als Ursache der Legasthenie nur eine fehlende didaktische Grundlage der Methode des Lesenund Schreibenerlenens, während Schlee (1976) wesentlich schärfer kritisierte, indem er die Legasthenie

schlichtweg als

Erfindung abtat

und

das

ersatzlose

Streichen

des

Legastheniebegriffs sowie das Einstellen der darauf basierenden Forschungen forderte (vgl. Schlee 1976; Klasen 1999, S. 19). Die Störungen liegen nach Schlee nicht in den betroffenen Kindern, sondern in der Unzulänglichkeit schulischer Lehr- und Lernverhältnisse45. Vor allem

44

Ausführliche Literatur zu einem konzeptuellen Überblick bietet z.B. Torgesen 2008. Nicht selten wird das Verhalten des Kindes falsch gedeutet und man glaubt, dass sich Lese- oder Rechtschreibprobleme des Kindes durch dessen Verhalten ergeben. Schnell wird die Hilfe bei diversen Gesundheitsberufen gesucht und nicht bei Pädagogen. Doch nur Pädagogen haben die Befähigung, Kindern das 45

42


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

bezog sich Schlee auf die willkürliche Etikettierung eines „Legasthenikers“, da die Auswahlbzw.

Testverfahren

sowie

die

Festlegung

der

kritischen

Grenzwerte

für

eine

Legastheniediagnose nicht festgelegt sind. Außerdem bezieht er sich auf das Bestehen einer Korrelation zwischen Intelligenzquotienten und Rechtschreibleistung und die operationale Definition von Legasthenie, die deshalb als Diskrepanzkriterium zwischen beiden Merkmalen nicht aufrechtzuerhalten ist. Schließlich kritisiert er, dass die Legasthenieforschung selbst kaum theoriegeleitet ist, sondern durch eine naiv empiristische Vorgehensweise46 gekennzeichnet ist, dass die Definition des Begriffs Legasthenie die Testintelligenz als Maßstab für den Schulerfolg zum wesentlichen Kriterium erhebt und dass aus der Forschung Vorstellungen und Materialien zur Legastheniebehandlung, deren Effizienz sich experimentell nicht nachweisen lässt, unsystematisch und wahllos entwickelt wurden. In den darauffolgenden Jahren hat die massive Kritik von Schlee, insbesondere für den schulischen Alltag lese-rechtschreibschwacher Kinder, zu weitreichenden Konsequenzen geführt47. Ebenso wurde das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung von Störungen der Schriftsprachentwicklung durch diese Kritik erheblich beeinflusst. Eine umfassende Kritik der Forschungsaktivitäten zur Legasthenie legt Scheerer-Neumann (1997) vor. Auch von Seiten der Legasthenieforscher selbst (z.B. Valtin 1974, 1975) häuft sich die Kritik an den angewandten Forschungsmethoden und den der Legasthenie zugrunde liegenden Theorien. In der

Willkür

der

Stichprobenzusammenstellung

sowie

in

der

Verwendung

des

Intelligenzquotienten als Parallelisierungsmerkmal wird ein weiterer Schwachpunkt gesehen. Auch die Annahme eines kausalen Funktionsmodells des Lesens, demzufolge das Lesen von der Intaktheit verschiedener kognitiver Funktionen wie der visuellen Unterscheidungs- und Gliederungsfähigkeit, von auditiven, sprechmotorischen und sprachlichen Fähigkeiten sowie von Gedächtnis und Symbolverständnis abhängt, wird von ihr in Frage gestellt. Die korrelationsstatistisch als legasthenietypisch ermittelten Minderleistungen würden vorschnell als kausal interpretiert und als Ansatz für therapeutische Förderung herangezogen. Weinert kritisiert

die

Legasthenieforschung

1977

als

„defizitäre

Erforschung

defizitärer

Lernprozesse“. Als Reaktion auf die Anti-Legasthenie-Bewegung und auf die Kritik am Lese- und Rechtschreibunterricht wurde eine bessere Erfassung des Lesevorganges und der Lernprozesse ge-

Lesen und Schreiben beizubringen. Manche Kinder benötigen über das Standardschulangebot hinausgehende Methoden zum Schriftspracherwerb (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 66f.). 46 bei der die abhängigen Variablen eher willkürlich ausgewählt werden und durch die Parallelisierung von Gruppen die Generalisierbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt wird. 47 z.B. die Aufhebung des LRS-Erlasses durch die Kultusbehörden.

43


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

fordert. Hierbei sollten linguistische Gesichtspunkte im Bereich der Grundlagenforschung sowie im Bereich der praxisorientierten Unterrichtsforschung berücksichtigt werden (vgl. Schenk-Danziger 1991, S. 29). Defizitorientiert sucht die medizinische Forschung nach den Ursachen in der biologischen Konstitution der Kinder. Auch die pädagogische Forschung ist von der Suche nach Entwicklungsdefiziten geprägt. Zum Themenbereich Legasthenie gibt es bereits umfangreiche Literatur, doch trotzdem besteht noch immer Uneinheitlichkeit sowohl in den Forschungsergebnissen als auch darüber, was man unter Legasthenie zu verstehen hat. „Wir wissen heute, dass Legasthenie lediglich ein Konstrukt ist, das bedeutet, dass Legasthenie ausschließlich durch theoretische Vorannahmen definiert wird und nicht unabhängig von der Definition existiert“ (Weinschenk 1981, zit. nach Schenk-Danzinger 1991, S. 28). Aus dieser Konstruktdefinition kann geschlossen werden, dass Legasthenie ausschließlich durch theoretische Vorannahmen definiert wird und nicht unabhängig von der Definition existiert (vgl. ebd.). Demnach handelt es sich bei der Legasthenie um ein Konstrukt im Sinne der vorangegangenen Definition, ja sogar um ein länder- bzw. bundesländerspezifisches Konstrukt, da unterschiedliche Länder bzw. Bundesländer den Begriff „Legasthenie“ unterschiedlich definieren und unterschiedliche Messgrößen in der Diagnostik verwenden. In den 80er Jahren setzte die Legasthenie-Therapeutin E.-M. Soremba Schwerpunkte in einem „Früherkennen und Frühbehandeln von unzureichenden Lesevoraussetzungen im Anfangsunterricht“ (1986). Sie fordert eine genaueste Beobachtung sämtlicher Kinder während des gesamten Erstunterrichts, da sich ihrer Meinung nach sehr früh in den entsprechenden Beobachtungsrubriken

optisch

Häufungen

abzeichnen,

die

auf

eine

spezielle

Lese-

Rechtschreibschwäche hinweisen, sie bedient sich bei der Beschreibung der Legasthenie überwiegend der Terminologie „Spezielle Lese-Rechtschreibschwäche“ (vgl. Soremba 1995, S. 41). Im Laufe ihrer Erörterungen erwähnt Soremba auch die nicht zu unterschätzende Tatsache, dass sich manche Kinder bei Schuleintritt in einem Entwicklungsstadium befinden, in dem die Voraussetzungen für das Erlernen des Lesens und Schreibens noch nicht vollends gegeben sind. Bezüglich Forschungsarbeiten der 80er Jahre kommt man nicht umhin, den Namen der Grundschullehrerin und Diplompsychologin Ch. Mann (1987) zu erwähnen. Sie legte ihren Schwerpunkt vor allem auf eine effiziente Arbeit im Unterricht im ersten Schuljahr, da im Anfangsunterricht des Lesens und Schreibens für viele Kinder die Weichen für Erfolg oder Misserfolg gestellt werden. Ihre Devise ist demnach die Verhinderung von Legasthenie, indem das Einsetzen von Maßnahmen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erfolgt. Dies sieht sie als ein probates und effizientes Mittel, um vor allem dem gefürchteten Einset-

44


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

zen der Sekundärproblematik48 entgegenzuwirken. Entscheidend für den Verlauf einer Legasthenie sind die Einstellung des Umfelds gegenüber dem betroffenen Kind und, wie schon erwähnt, ein rechtzeitiges und effizientes Einsetzen von professioneller frühkindlicher Hilfe. Bei der Diagnose „Legasthenie“ muss jedoch eine klare Abgrenzung gegenüber vorwiegend emotional bzw. motivational bedingten Störungen, intellektuellen Minderbegabungen (Kognitive LRS) und Störungen, die durch ein nicht adäquates Lernangebot bedingt sind, vorgenommen werden. Nach jahrzehntelangen Forschungsarbeiten, die sich mit einem stetigen Wechsel bezüglich der Terminologie und der Interpretation dieses Phänomens hinzogen, kann Legasthenie definitiv als eine entwicklungs- oder anlagebedingte Teilleistungsstörung des Gehirns angesehen werden. Dies bedeutet, dass die für das Lernen wichtigen Funktionen beeinträchtigt sind. Unter diesen Funktionen sind die sog. Sinneswahrnehmungen als das Bewusstwerden eines den Organismus treffenden Reizes zu verstehen49. Schließlich erlebte die Legasthenieforschung in den Neunzigern eine ungeahnte Renaissance. Die 90er Jahre brachten in Amerika dank moderner Apparate und Methoden aufschlussreiche Ergebnisse hinsichtlich der hirnorganischen Lernfunktionen. Als einer der bedeutendsten Hirnforscher dieser Zeit ist Dr. A. M. Galaburda (1989) zu nennen, der den genetischen Ursachenbereich von Legasthenie aufzeigen konnte. Bis heute gilt Legasthenie als ungemein lebendiges, interdisziplinäres Forschungsgebiet, dem eine ganze Reihe von internationalen Zeitschriften, von Reading Research Qualities bis zu den Annals of Dyslexia, gewidmet ist. Das große Verdienst der medizinischen Sichtweise war, dass sie eine Alternative zur pädagogischen Sichtweise bot, in der die Kinder, die das Lesen und Schreiben nicht zufriedenstellend erlernten, einfach als dumm abgestempelt und ausgesondert wurden. Während das pädagogische Aussonderungskonzept dem biologischen Denken verhaftet war („Wer nicht stark genug ist, geht unter“), entsprach das medizinische Konzept einer kulturellen, dem Menschen gemäßen Weiterentwicklung („Wer krank und schwach ist, braucht unsere besondere Fürsorge“). Legasthenie und LRS gelten als Erklärungskonzepte für das partielle Versagen von Kindern und Jugendlichen beim Erlernen der Schriftsprache. Die Kritik am medizinischen Modell ist vielfältig (s. auch Scheerer-Neumann 2003, Valtin 2001). Das Konstrukt Legasthenie ist theoretisch nicht sinnvoll, da es von der Annahme ausgeht, dass die Intelligenz ein wesentlicher Faktor für den Erfolg im Lesen- und Schreibenlernen sei, weshalb Legasthenie eine erwartungswidrige Störung sei. Das medizinische Konstrukt ist außerdem methodisch nicht sinnvoll, da eingehende Messfehlerschwankungen bei der Feststellung einer Diskrepanz zwischen

48 49

z.B. psychische Probleme aufgrund permanenter Misserfolge. bspw. wird der Gehörsinn durch Schallwellen gereizt.

45


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

Intelligenzquotient und Leistungen im Lese- und im Rechtschreibtest zu unzuverlässigen Resultaten führen (vgl. Valtin et al. 1981) und zudem, je nach Verwendung unterschiedlicher Intelligenztests, unterschiedliche Kinder als Legastheniker diagnostiziert werden (vgl. ebd.). Zusätzlich ist das Konstrukt diagnostisch nicht sinnvoll, da sich die so definierten Legastheniker weder in ihren Schwierigkeiten im Lesen und in der Rechtschreibung (vgl. Klicpera/ Gasteiger-Klicpera 1993) noch in anderen Funktionsbereichen (vgl. Valtin 1981; Weber/ Marx/Schneider 2002) von anderen Kindern mit LRS unterscheiden. Es ist also diagnostisch nutzlos, weil die Tests nicht trennscharf sind und verschiedene Tests zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Darauffolgend zielte die Forschung in eine andere Richtung, um den betroffenen Kindern helfen zu können. Man erkannte, dass Sprache mehr als bloßes Auswendiglernen von Buchstaben und das Umsetzen von Buchstaben in Laute und umgekehrt ist. Jedes Kind konstruiert sich Sprache in einem individuellen Lern- und Entwicklungsprozess. Der Fortschritt diesbezüglich hängt von der Berücksichtigung des individuellen Erkenntnisstandes der Kinder im Unterricht ab. Werden Fähigkeiten vorausgesetzt, die das Kind noch nicht hat, kommt es mit größter Wahrscheinlichkeit zu Lernstörungen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die individuellen Voraussetzungen zu diagnostizieren und folglich individuellen Schriftspracherwerb zuzulassen und zu fördern. In der Öffentlichkeit wie auch bei vielen Lehrern und bei Eltern setzte sich diese Einsicht nicht durch, sodass ein sich ständig weiter ausbreitender Nachmittags-Nachhilfe- und Legasthenie-Markt entstanden ist. Demzufolge war und ist das klassische Legastheniekonzept eine profitable Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Ärzte, Therapeuten und Psychologen. Dieser pädagogische Irrtum hat zur Folge, dass dem Schriftspracherwerb eine nur untergeordnete Bedeutung beimessen wird. Schließlich ist das Konstrukt Legasthenie wissenschaftlich nicht haltbar, da ihm die Annahme, das Kind könne aufgrund einer krankhaften Eigenschaft nicht Lesen und Schreiben lernen, zugrunde liegt. So verweisen vor allem Mediziner auf Teilleistungsschwächen bzw. Funktionsschwächen im kognitiven Bereich, z.B. Schwierigkeiten in der visuellen Wahrnehmung, in der visomotorischen Koordination und in der auditiven Differenzierung. Die Annahme, dass Funktions- oder Teilleistungsschwächen wesentlich zur Legasthenie beitragen, gilt jedoch als falsifiziert

und

ist

empirisch

widerlegt

(vgl.

auch

Bühler-Niederberger

1991;

Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995; Valtin 2001). Nur ein geringer Prozentsatz der von Legasthenie betroffenen Kinder weist überhaupt derartige Defizite auf (vgl. Valtin 1981; Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1993), jedoch gibt es viele Kinder mit Teilleistungsschwächen, die keinerlei Probleme beim Schriftspracherwerb haben (vgl. Schenk-Danzinger 1991). Hieraus ergibt sich die Frage, warum solche Teilleistungsschwächen in einigen Fällen zu Legasthenie führen sollten und in anderen nicht und warum es Legastheniker ohne derartige Schwä46


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

chen gibt. Das Modell der Teilleistungsschwächen gibt darauf keine Antwort, eine detaillierte Auseinandersetzung mit empirischen Befunden zu Teilleistungsstörungen bietet Valtin 2001. Letztlich ist das klassische Legastheniekonzept therapeutisch nicht brauchbar, weil eben so definierte Legastheniker keine anderen Therapiemaßnahmen als andere Kinder mit LRS brauchen und der Therapieerfolg auch nicht von der Intelligenz der Kinder abhängig ist (Weber/Marx/Schneider 2001). Dieses Ergebnis spricht für die Empfehlungen der KMK von 1978, alle Kinder mit Lese-Recht-schreibschwierigkeiten unabhängig von ihrem Intelligenzniveau zu fördern. Die fehlenden therapeutischen Erfolge von Programmen im visuellen oder visuomotorischen Bereich (Scheerer-Neumann 1979) sind daher nicht überraschend. Dies gilt auch für auditive Trainings nach Warnke (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1996). Innerhalb des medizinischen Modells werden Kinder mit vermuteter Legasthenie vor allem einer umfangreichen Diagnose hinsichtlich ihrer Hirnfunktionen und verschiedener Wahrnehmungsbereiche unterzogen. Demnach kann das medizinische Modell therapeutisch schädlich sein, wenn aufgrund falscher Fördermaßnahmen verhindert wird, dass Legastheniker gezielt am Versagen beim Lesen und Schreiben und an ihrer Einstellung zur Schule und zur Schriftsprache ansetzende Hilfen erhalten. Der am klassischen Legastheniekonzept orientierte Förderunterricht in der Grundschule hat keinerlei Effektivität (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 2001). Ursprünglich als Entlastung für betroffene Kinder gedacht, kann die Diagnose „Legasthenie“ ferner negative Auswirkungen auf deren Selbstbild haben (Naegele/Valtin 2001). Weil das medizinische Legastheniekonzept die Ursachen für Defizite beim Lesen und Schreiben in das Kind verlegt und damit den Blick auf die notwendigen Verbesserungen im Unterricht und bei der Lehrerbildung verlegt, ist es schädlich für die kindliche Entwicklung. Die KMK stellte 1978 in den Grundsätzen zur Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens fest: „Das Lesen und Schreiben zu lehren gehört zu den Hauptaufgaben der Grundschule, und es ist ihre pädagogische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass möglichst wenige Schüler gegenüber diesen Grundanforderungen versagen“ (Naegele/Valtin 2003). Nach wie vor findet das medizinische Legastheniekonzept viel Anerkennung in der Öffentlichkeit. Zahlreiche ursächlich im Kind begründete Funktionen fallen in den Rahmen der Symptomatik. Innerhalb des medizinischen Ansatzes finden sich ungeachtet dessen, dass alle Annahmen des „klassischen“ kausalen Legastheniekonzepts als falsifiziert gelten, immer noch Anhänger dieses Konzepts, die in der Öffentlichkeit viel Resonanz finden. Sie definieren Legasthenie als eine krankhafte Erscheinung und im Kind begründete Störung mit den Kennzeichen einer guten Intelligenz und dennoch schwacher Lese-Rechtschreibleistung, weshalb Betroffene allzu oft als krank, gestört oder gar behindert bezeichnet werden. Das medizinische 47


4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive

Modell ist insbesondere unbefriedigend, da es Defizite beim Lesen und Schreiben in das Kind verlegt und deshalb der Blick auf die notwendigen Verbesserungen in Schule, Unterricht und Lehrerbildung verstellt ist. Schließlich stellt sich die Frage, warum sich das Modell der Teilleistungsstörungen und das klassische Legastheniekonzept nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen und sich viele Gruppen darauf berufen50. Weil dieses Konzept eine entlastende Funktion für betroffene Kinder und alle Beteiligten hat51, bietet sich als eine mögliche Antwort an. Auch für Eltern ist dieses Konzept nützlich, da Krankenkassen eher für eine Therapie von Wahrnehmungsstörungen als für ein Lese- und Rechtschreibtraining zahlen. Indem es bestimmten Berufsgruppen eine zahlungswillige Klientel beschert, dient dieses Konzept ferner als vortreffliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme standespolitischer Interessen. Schlussfolgernd sind also Uneinheitlichkeit in den Förderkonzepten, unterschiedliche Forschungsansätze, kritische Analysen und Evaluationsberichte zur Wirksamkeit schulischer Legasthenikerbetreuung keine Irrwege der Pädagogik, da die Forschung auf dem Gebiet der Pädagogik und Psychologie einen wichtigen, sogar unentbehrlichen Stellenwert in der Schule einnimmt. Verbesserungen in Didaktik und Methodik des Unterrichts sollen daraus abgeleitet werden können, wodurch wiederum auch eine Möglichkeit zur Förderung der Flexibilität und Kreativität im Unterricht gegeben ist. Bezüglich dieses Prozesses besteht auch für die wissenschaftliche Forschung eine permanente Herausforderung. Um genauestens jene Förderinhalte, die den Kindern im Unterricht vermittelt werden, erfassen zu können, müssen stets die diagnostischen Instrumentarien aktualisiert werden, wodurch die Effektivität von Fördermaßnahmen richtig beurteilt und entsprechende Erkenntnisse für den Unterricht abgeleitet werden können. Die Antwort auf die Frage, wie nun auf die besondere und immer wiederkehrende Kritik in Evaluationsberichten zur Förderung von Legasthenikern reagiert werden kann, die besagen, dass je nach Theoriekonzept und Diagnoseinstrumentarium unterschiedliche und unterschiedlich viele Kinder legastheniespezifische Förderung erhalten und unterschiedlich hohe Fördereffekte erzielt werden, kann nur wie folgt lauten: Individualisierung sowohl in Diagnose und Frühförderung als auch später im Unterricht. Eine solche Individualisierung fordert sowohl Vorschulpädagogen als auch Eltern und später Lehrer in ihren fachlichen und menschlichen Kompetenzen. Die resultierende Konsequenz wird die dem jeweiligen Kind individuell ange-

50

so zum Beispiel der „Bundesverband Legasthenie“, eine Interessensvertretung von Eltern legasthener Kinder, aber auch eine Reihe von Lehrpersonen und Therapeuten. 51 Wenn es sich um eine Teilleistungsschwäche handelt, ist keiner schuld und niemanden trifft Verantwortung. Lehrpersonen können sich von Schuldgefühlen befreien, wenn sie die Ursachen für schulische Leistungsprobleme in Defekten des Kindes sehen (z.B. in der neu erfundenen Dyskalkulie) und ihre Verantwortung für das Lesen- und Schreibenlernen des Kindes an außerschulische Instanzen delegieren können.

48


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

messene, den gerade aktuellen emotionalen, sozialen und leistungsmäßigen Bedürfnissen entsprechende und das Kind als ganzheitliche Persönlichkeit erfassende Förderung sein.

5

Begrifflich-definitorische Aspekte

5.1 Historisch-definitorischer Entwurf des Legastheniebegriffs Legasthenie ist einer jener Begriffe, der in der Pädagogik und Psychologie durch eine sehr wechselvolle Geschichte aufgefallen ist. Als ein an Legasthenie Interessierter stößt man in Fachkreisen oft auf verschiedene Auslegungen von Legasthenie. Dazu trägt vor allem die historische Entwicklung bei. Die ersten Publikationen über Legasthenie wurden im vorigen Jahrhundert registriert. Immer wieder wurde es deutlich, dass es zuerst Ärzte waren, die sich um 1900 mit der merkwürdigen Erscheinung beschäftigten, dass im sonstigen geistigen Leistungsbereich unauffällige Kinder nicht imstande sind, mehrsilbige Wörter zu lesen und nach Diktat richtig zu schreiben. Aufgrund der genbedingt andersartigen Verarbeitung von Eindrücken im Gehirn legasthener Menschen, wodurch es beim Erlernen des Lesens und Schreibens mit den in Schulen üblichen Methoden zu Problemen kommen kann, haben Ärzte dies vor über 100 Jahren als pathologisch eingeordnet und bis heute ist es unserer Gesellschaft nicht gelungen, sich von dieser eklatanten Fehleinschätzung gänzlich zu befreien. Nur weil Betroffene Eindrücke anders verarbeiten, sind sie nicht schwach, gestört, krank oder behindert. An dieser Stelle soll ein historischer Einblick zu einem besseres Verständnis der gesamten Problematik beitragen. Unsere genormte Rechtschreibung wurde u.a. von Duden sowie von den humanistischen Aufklärern Kant, Herder, Goethe und Lessing in die Gesellschaft getragen. Man muss sagen, dass das 17. Jahrhundert letzte wichtige Grundlagen zur Normierung der Rechtschreibung legte und unsere heutige Sprachkultur mehr prägte, als man wahrscheinlich vermuten möchte. Daher ist eine gute Lese- und Rechtschreibkompetenz sehr stark abhängig von der gesellschaftlichen Akzeptanz des Intellekts sowie von der gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe. Die Forschung geht etwa auf das Jahr 1861 zurück, in dem der Pariser Arzt Broca erstmals den Verlust der Sprache bei Erkrankten sowie bei Unfallopfern untersuchte und so seine erste Studie herausbrachte. So waren die Mediziner die ersten, die sich für die Thematik zu interessieren begannen. Der Neurologe Kussmaul (vgl. Müller 1964) bezeichnete 1877 das Phänomen der Schriftsprach- bzw. Schriftspracherwerbsschwierigkeiten als erworbene Wortblindheit bzw. „kognitive Alexie“. Er testete Erwachsene und die Erkenntnis, dass diese 49


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

erwachsenen „Alektiker“ Bilder, die man ihnen vorlegte, eindeutig bezeichnen konnten, während die Benennung von Buchstaben und einfachen Wörtern große Schwierigkeiten bereitete, versetzte viele Ärzte in Erstaunen. 1899 spricht Dr. O. Berkhan sogar von einer partiellen Idiotie52. Diese Definition bestätigten J. Kerr und der Augenarzt W. P. Morgan 1896, sie beschrieben das Phänomen des gestörten Lesens und Schreibens genauer, sprachen in diesem Zusammenhang jedoch von „angeborener Wortblindheit“. Diese Bezeichnung beschreibt ein Defizit im Lesezentrum, das damals auch als mangelnde Entwicklung des Lesezentrums bezeichnet wurde. Die „angeborene Wortblindheit“ ist jedoch von der „erworbenen Wortblindheit“53 abzugrenzen. Morgan (1896) fand einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer Störung und einer pathologischen Veränderung eines exakt definierten Bereiches des menschlichen Hirns. Er führte die gleichen Symptome auf die gleichen Ursachen zurück; im Falle einer Schädigung dieses bestimmten Bereichs im Gehirn verliert der Betroffene die Fähigkeit zu lesen. Folglich ging Morgan von einer Hirnschädigung in diesem Bereich des Gehirns aus. Dies war damals ein verständliches Erklärungsmodell, um dieses Phänomen als Krankheit zu bezeichnen. Durch seine Forschungen gab Morgan einen weltweiten Forschungsanstoß. Der ungarische Psychologe und Psychiater P. Ranschburg studierte umschriebene Ausfallserscheinungen erstmals an Kindern, bei denen jedoch kein neurologischer Befund erhoben werden konnte. Er führte 1916 die heute noch gebräuchlichen Bezeichnungen „Legasthenie“54 und Arithmasthenie (Rechenschwäche) ein. Er verstand darunter die Unfähigkeit von Schulkindern, sich das Lesen innerhalb der ersten Schuljahre anzueignen, obwohl sie normale Sinnesorgane besitzen. Auch eine ganze Reihe weiterer bedeutender Studien (u.a. Orton 1927) wurden nur in einem relativ kleinen, vorwiegend psychiatrisch-neurologischen Kreis von Fachleuten bekannt. Die Lehrerschaft, welcher die LRS-Problematik eigentlich zuerst und vor allem hätte auffallen müssen, leistete jahrzehntelang praktisch keinen Beitrag zur Erforschung der Lese-Rechtschreibschwäche (vgl. hierzu Schenk 1968). Ranschburg widmet 1928 als einer der Ersten dem Phänomen der „Lese- und Schreibstörungen des Kindesalters“ eine umfassende Arbeit. Im Zuge seiner Forschungen kam er allerdings zu der Erkenntnis, dass diese „Störung“ auf einen Mangel an Intelligenz für höhere geistige Leistungen, die Lesen und Schreiben seiner Meinung nach darstellen, zurückzuführen sei. Man sprach noch immer von

52

Dieser Begriff bezeichnet bereits eine Vorstufe der geistigen Behinderung. Noch heute findet man den Begriff der kongenitalen Wortblindheit in der Medizin vor. In Dänemark findet der Begriff „Wortblindheit“ noch bis heute Anwendung. 54 zunächst als „Leseschwäche“ bezeichnet. Für eine kurze Darstellung historischer Aspekte vgl. bspw. auch Warnke 1990, S. 17ff. 53

50


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

partieller Idiotie oder partiellem Intelligenzdefekt55. In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts einigte man sich bezüglich der Terminologie auf die Bezeichnung „Dyslexie“ als eine Störung des Lesens und Schreibens. Bedingt durch die Isolation und die historischen Gegebenheiten zwischen 1930 und 1945 wurden andere Forschungsergebnisse in Deutschland bzw. Österreich nicht bekannt. Das deutsche Bildungssystem wurde im Dritten Reich in Mitleidenschaft gezogen. In der Kriegszeit war Deutschland von der regen Erforschung der Legasthenie der USA abgeschottet. Im deutschsprachigen Raum beschäftigte man sich mit der allgemeinen Erforschung des Lesens, in Amerika dagegen stand die Legasthenie bereits stärker im Blickpunkt der psychologischen und pädagogischen Forschungen. Während sich in Amerika vorwiegend Pädagogen und Psychologen mit „reading disabilities“ beschäftigten, setzte gleichzeitig eine intensive Arbeit in empirischen Forschungen ein, die auf Untersuchungen von etwaigen Zusammenhängen der legasthenen Störung mit anderen psychischen Besonderheiten erweitert wurde. M. Monroe lässt 1932 in einem Standardwerk ein Motiv für den Einsatz der Psychologen und Pädagogen in der Legasthenieforschung anklingen (vgl. Monroe 1932), womit die pädagogisch-psychologischen Forschungen einsetzten. In Deutschland kannte man außer der alten Definition Ranschburgs keine anderen Sichtweisen. Im Jahr 1937 verglich die Psychologin L. Mach die Fehler Leseschwacher mit denen „normaler“ Leser, hierbei führte sie die Schwierigkeiten beim Lesevorgang auf ein geringes optisches Unterscheidungsvermögen für bestimmte Materialien und ein geringes Gedächtnis für optische Gebilde zurück und brachte sowohl eine Aufzählung der Fehlermöglichkeiten als auch einen Erklärungsversuch in ihre Forschungen ein (vgl. Mach 1937). Aufgrund der Tatsache, dass die von Monroe erstellten Methoden und Ergebnisse für die Behandlung leseschwacher Kinder durchwegs erfolgreich waren, bezüglich der Symptomatologie und Diagnose als auch der Therapie, entwickelte sich ein Umdenken hin zu einer optimistisch-pädagogischen Haltung und weg von einer einseitig theoretischen Zielsetzung. Erst nach den Psychologen rückte die Problematik demnach auch für Pädagogen in den Mittelpunkt, da man in dieser Zeit die Relevanz der Intervention auf pädagogisch-didaktischer Ebene erkannte. Es gab einen Forschungsschub in Sachen Legasthenie. Die Isolierung Deutschlands zwischen 1930 und 1945 sorgte dafür, dass in Deutschland erst in den fünfziger Jahren eine breitere Diskussion über das Phänomen der Legasthenie begann. In den 50er und 60er Jahren gab es für viele bessere Chancen im Bildungssystem in den alten Bundesländern. Zahlreiche Autoren der 50er und

55

Dies war eine falsche Diagnose, die jahrzehntelang bis zum heutigen Zeitpunkt nachhaltige Auswirkungen für betroffene Schüler zur Folge hatte und noch haben kann. Ein Schicksal in Sonderschulen war besiegelt, obwohl diese Schüler aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihrer durchschnittlichen, sehr oft auch überdurchschnittlichen Intelligenz in einem anderen schulischen System besser aufgehoben gewesen wären.

51


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

60er Jahre verwiesen darauf, dass Lese-Rechtschreibschwäche bzw. Lese- und Buchstabierunfähigkeit Symptome ganz verschiedener Syndrome sein können. Die Verschiedenheit von Typen, Ursachen und Formen wurde mit zunehmenden Forschungsergebnissen immer deutlicher (vgl. Schenk-Danzinger 1991, S. 20f.). Die klassische Definition der Züricher Psychologin M. Linder aus dem Jahre 1951, sie definierte Legasthenie im Sinne eines kausalen Begriffs als spezifische Lesestörung mit Krankheitscharakter bei Kindern mit mindestens durchschnittlicher Intelligenz, geht von der Diskrepanz der Intelligenz und der LeseRechtschreibleistungen aus und lautet wörtlich: „Unter Legasthenie versteht man eine spezielle, aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des selbstständigen orthographischen Schreibens) bei sonst intakter oder (im Verhältnis zur Lesefertigkeit) relativ guter Intelligenz“ (Schenk-Danzinger 1975, S. 71; vgl. auch Linder zit. nach Angermaier 1970, S. 21ff.). Diese Definition ist deshalb gut, weil sie einen wichtigen Hinweis darauf gibt, dass Legasthenie nicht auf einer Intelligenzminderung basiert. Die Schweizer Psychologin gab mit ihrer Veröffentlichung „Über Legasthenie“ (1951) einen wichtigen Anstoß für Psychologen und Heilpädagogen. Die Legasthenie wird von der Psychologin eindeutig als Teilleistungsschwäche identifiziert, wodurch das gängige Vorurteil, dass Schüler mit Leseschwierigkeiten an einem Intelligenzdefizit leiden, widerlegt wird. Ihr gelang es mit ihrer Diskrepanzdefinition, die Legastheniker aus ihrer Isolierung hervorzuholen. Neben Linder waren es vor allem L. Schenk-Danzinger, H. Kirchhoff und A. Busemann, die die ersten bahnbrechenden Forschungsarbeiten hervorbrachten und die Probleme des leserechtschreibschwachen

Kindes

einem

größeren

Erzieher-

und

Lehrerkreis

im

deutschsprachigen Raum bekannt machten. Man war nicht mehr der Meinung, dass Legastheniker auf eine Sonderschule für Lernbehinderte müssten, sondern dass Betroffene einen besonderen pädagogischen Ansatz benötigen, um die Kulturtechniken zu erlernen. Zu dieser Zeit kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, die in den verschiedenen Forschungsbereichen bis heute andauern. Die Literatur über das Problem der Legasthenie ist seit 1950 enorm angewachsen, sodass sie vom Einzelnen kaum mehr überblickt werden kann.

5.2 Definitionsversuch der Begrifflichkeit „Legasthenie“ Vereinfacht gesagt bedeutet Legasthenie „Lernschwierigkeiten mit Worten und der Sprache“. Ausgehend von dieser Definition ergaben sich in der Historie verschiedene Ansatzpunkte

52


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

sowie sich ändernde Bezeichnungen56 und Sichtweisen, die die Ursache und den Umgang mit dieser Problematik zu regeln versuchten. Das Phänomen der Lese-Rechtschreibstörung ist schon im letzten Jahrhundert beschrieben worden, seither wurden, wie in den vorigen Kapiteln gezeigt wurde, zahlreiche aber meist mäßig befriedigende Versuche unternommen, den Begriff Legasthenie zu definieren. Dass Legasthenie eine nicht durch die Umwelt verursachte, sondern angeborene Entwicklungsbeeinträchtigung ist, wurde u.a. auch durch die Forschungsergebnisse des amerikanischen Neuropsychologen A. Galaburda bestätigt (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1998, S. 289). Die amerikanische International Dyslexia Association definiert Legasthenie als „eine von mehreren umschriebenen Lernstörungen“ (zit. nach Klasen 1999, S. 17) 57. Daher ist sie keine „Krankheit“, die man „hat“, sondern eine Art und Weise, wie jemand funktioniert. 1995 lieferte Dr. A. Kopp-Duller die erste pädagogische Definition von Legasthenie, die dazu beitragen möge, dass die noch immer vorherrschenden Vorurteile bezüglich der Begrifflichkeit allmählich aus unserer Gesellschaft verdrängt werden. Die erfolgreichen Forschungsarbeiten von Dr. A. Kopp-Duller in Amerika ermöglichen es im Besonderen legasthenen Kindern, die Hindernisse des Lesens, Schreibens oder Rechnens leichter zu bewältigen. Sie prägt und bestätigt damit eine pädagogisch-didaktische Definition von Legasthenie, die Maria Linder schon in den 50er Jahren erkannte. Diese pädagogische Definition von Legasthenie impliziert auch eine Definition von Dyskalkulie und lautet wie folgt: „Ein legasthener Mensch, bei guter oder durchschnittlicher Intelligenz, nimmt seine Umwelt differenziert anders wahr, seine Aufmerksamkeit lässt, wenn er auf Symbole trifft, nach, da er sie durch seine differenten Teilleistungen (Sinneswahrnehmungen) anders empfindet als nicht legasthene Menschen. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens oder Rechnens“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 23). Sie hat sehr erfolgreiche pädagogische Arbeitsprogramme für legasthene Menschen erstellt, die in ihren Büchern (z.B. „Der legasthene Mensch“) ausführlich erläutert werden. Sie verlangt erstmals die Förderung von legasthenen Kindern in drei Teilbereichen, diese sind die Aufmerksamkeit in Zusammenhang mit dem Schreiben, Lesen und Rechnen, das Training an den differenzierten Sinneswahrnehmungen, die man zum Schreiben, Lesen und Rechnen benötigt, und das individuelle und spezielle Training am Symptom, an den Fehlern, die das legasthene Kind macht. Besondere Bedeutung misst die Pädagogin dem Zeitfaktor bei, da jedes legasthene

56

isolierte oder umschriebene Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibstörung, Legasthenie, LRS, LeseRechtschreibschwäche … 57 Die so genannte Dekodierung wird auch von Fachleuten übereinstimmend als das Kernproblem gesehen. Auf ihr basiert das phonologische Verarbeitungsproblem.

53


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

Kind, das Lesen, Schreiben und Rechnen erlernt, hierfür seinen Bedürfnissen angepasste Lernmethoden und wesentlich mehr Zeit benötigt als nicht legasthene Kinder. Außerdem bestätigt sie, dass sich Legasthenie unabhängig von der Intelligenz entwickelt und dass die Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen mit der sehr differenzierten Sinnes- und Teilleistungswahrnehmung konfrontiert sind. Im Zusammenhang mit Legasthenie von Schwächen und Störungen zu sprechen, vermeidet sie. Weiters hat sie die Begriffe Primärlegasthenie und Sekundärlegasthenie geprägt (s. Kopp-Duller 2008a, S. 25f.). Mit ihrer pädagogischen Definition wird vor allem erstmals klar und nachvollziehbar die Tatsache anerkannt, dass es Menschen gibt, bei denen der Lese-, Schreib- oder Rechenlernprozess andersartig

abläuft,

womit

Legasthenie

als

vorrangig

pädagogisch-didaktisches

Interventionsgebiet etikettiert wird. Somit wurde die Problematik nicht mehr, wie es durch die Gesundheitsberufe üblich war, als lediglich pathologisches Problem definiert (vgl. KoppDuller/Pailer-Duller 2008a, S. 24). Der amerikanischen Legastheniewissenschaftlerin Dr. S. Shaywitz gelang es 1998, die Legasthenie funktionell zu belegen, wobei sie feststellen konnte, dass die Gehirnmuster legasthener Menschen signifikant anders sind als die nicht legasthener Menschen. In der Folge wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends von der amerikanischen Wissenschaftlerin Dr. P. Tallal das reibungslose Funktionieren der optischen und akustischen Sinneswahrnehmungen als unumgängliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Erlernen des Schreibens und Lesens beschrieben (vgl. Tallal 2000). Tallal zeigte, dass Kinder mit Defiziten der Laut- und Schriftsprache auch Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung der zeitlichen Reihenfolge von rasch aufeinander folgenden akustischen Signalen haben und deshalb bestimmte Konsonanten und Phoneme nur schwer wahrnehmen können. Neben den Effekten der auditiven zeitlichen Wahrnehmung und der Entwicklung eines funktionierenden phonologischen Systems spielt nach derzeitigem Forschungsstand auch die visuelle zeitliche Wahrnehmung eine große Rolle beim Erwerb des Lesens und Schreibens (vgl. auch Livingstone et al. 1991). In einer Legasthenie-Definition von führenden amerikanischen Wissenschaftlern ist das Intelligenz-Diskrepanz-Kriterium nicht mehr enthalten, da es sich aufgrund

der

aktuellen

wissenschaftlichen

Erkenntnislage

zwar

als

historisch

nachvollziehbare, aber falsche Hypothese erwiesen hat (vgl. Lyon et al. 2003, S. 1-14). In den USA wurden 2004 entsprechende rechtliche Änderungen für die Diagnostik vorgenommen, womit ein Intelligenztest nicht mehr vorgeschrieben ist (vgl. U.S. Individuals with Disabilities Education Act [IDEA] 2004, S. 118; Silverstein 2005). Erforderlich ist eine kenntnisreiche und genaue Förderdiagnostik des Lesens sowie lese- und schreibbezogener Fähigkeiten von Anfang an. Dabei sollen auch standardisierte Tests zum Einsatz kommen. Eine bloße Ermittlung von Prozenträngen in standardisierten Tests genügt allerdings nicht. 54


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

Das Phänomen Legasthenie ist als eine „umschriebene Beeinträchtigung der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch unkorrigierte optische oder akustische Beeinträchtigungen oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Sie ist nicht Folge anderer Störungen (wie z.B. Intelligenzminderung, grober neurologischer Defizite, unkorrigierter Seh- und Hörstörungen oder emotionaler Störungen), aber sie kann zusammen mit diesen auftreten. […] Häufiger treten andere klinische Symptome (wie z.B. Aufmerksamkeitsstörung

oder

Störungen

des

Sozialverhaltens)

oder

andere

Entwicklungsstörungen (wie umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen oder des Sprechens und der Sprache) gemeinsam auf. Sie gilt also als entwicklungsbiologisch und zentralnervös bedingte Störung des Erlernens des Lesens und Schreibens alphabetischer Schriftsprache“ (Warnke/Wewetzer/Grimm 1998 zit. nach Schulte-Körne 2001b, S. 32) zu definieren. Eines der wichtigsten und fundamentalsten Kriterien ist die sich in der Norm befindliche Intelligenz. Kinder mit Leseschwierigkeiten, die sich aufgrund einer allgemeinen Intelligenzschwäche ergeben, sind also nicht als legasthen zu bezeichnen, womit Legasthenie „eine ganz spezifische Schwäche beim Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz“ (Küspert 2005, S. 50) zu verstehen ist. Diese Einsicht verhalf legasthenen Kindern zur Chance auf eine spezielle Förderung, ohne generell als wenig intelligent eingestuft zu werden. Somit kann die Legasthenie als eine Lernschwierigkeit beim Schriftspracherwerb bezeichnet werden, die Defizite bzw. Teilleistungsstörungen58 im Bereich des Lesens und Rechtschreibens zur Folge hat, die bei jedem Intelligenzgrad vorkommen kann und unabhängig von sonstigen schulischen Leistungsfähigkeiten des Betroffenen auftritt. Von einer Legasthenie kann man sprechen, wenn bei dem Betroffenen prä-, peri- und/oder postnatal genbedingte Wahrnehmungs- bzw. Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen feststellbar sind, also die Sinneswahrnehmungen differenziert

sind,

und

eine

entsprechende

Fehlersymptomatik

trotz

mindestens

durchschnittlicher Intelligenz vorliegt. Im Falle der Legasthenie handelt es sich also um eine anlagebedingte Hirnfunktionsschwierigkeit, durch die der Schriftspracherwerb trotz mindestens durchschnittlicher Intelligenz und Beschulung außerordentlich und langfristig erschwert wird, wodurch Schulkinder nicht die für ihre Altersgruppe zu erwartenden Lese-

58

Die legastheniebedingten Defizite im Bereich des Lesens und Rechtschreibens werden als Teilleistungsstörungen definiert, weil das legasthene Kind, obwohl es über eine mindestens durchschnittliche Allgemeinintelligenz verfügt, in einem bestimmten Teilbereich auffällige, schwer zu mildernde Schwierigkeiten hat. Diese können im Lesen und/oder in der Rechtschreibung (Legasthenie), allein in der Rechtschreibung (isolierte Rechtschreibstörung) sowie allein im Lesen (umschriebene Lesestörung) liegen. Teilleistungsstörung wird als Oberbegriff verwendet.

55


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

und Schreibfähigkeiten erlangen. Diese Definition soll der vorliegenden Arbeit als Grundlage dienen. Heute weiß man, dass Legasthenie in einem multikausalen Zusammenhang gesehen werden muss, wobei es sich um eine sehr individuelle Diagnostik sowie einen individuellen Förderbedarf handelt. Legasthenie wird nicht als Lernbehinderung oder als Beeinträchtigung der Lernfähigkeit, sondern als Problem einer fehlenden Passung (vgl. auch Holtstiege 2009, S. 7, 86, 120) zwischen Lernvoraussetzungen und Lernangeboten verstanden. Hinsichtlich der Legasthenie-Symptomatik sowie der Diagnostik gilt es, zwischen Primärsymptomen, Begleitsymptomen und Sekundärsymptomen zu unterscheiden. Zur den Primärsymptomen59 werden all jene Auffälligkeiten gerechnet, die direkt auf der Leistungsebene des Lesens und Rechtschreibens zu beobachten sind. Unter Begleitsymptomen sind Beeinträchtigungen und Störungen auf anderen Leistungsgebieten zu verstehen, die jedoch gehäuft bei leserechtschreibschwachen und -gestörten Kindern auftreten. Sekundärsymptome60 sind solche, welche sich indirekt auf der Leistungsebene des Lesens und Rechtschreibens auswirken, ihrerseits dann auch wiederum Rückwirkungen auf die schulische Leistungsfähigkeit haben. 5.2.1

Primärlegasthenie

Allgemein wird die grundsätzliche Ausprägung von Lese- und Schreibproblemen, die einen biologischen Ursprung haben, als Primärlegasthenie bezeichnet, womit eine Legasthenie ohne sekundäre allgemeine Lesitungsstörungen gemeint ist. Es kann beobachtet werden, dass das Kind bei diesen Tätigkeiten zeitweise überhaupt nicht bei der Sache ist und deshalb vermehrt Fehler (Wahrnehmungsfehler) produziert, ohne sich dessen im Moment des Schreibens bewusst zu sein. Hervorgerufen werden diese Unaufmerksamkeit und die daraus folgenden Wahrnehmungsfehler dadurch, dass der legasthene Mensch über eine abweichende Ausprägung der für das Lesen und Schreiben benötigten Sinneswahrnehmungen verfügt. Hier treten Schwierigkeiten lediglich durch unzureichende Methoden und biogenetische Anlagen auf (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 55). Es müssen spezielle Förderungen im pädagogisch didaktischen Bereich erfolgen. Hat ein Kind eine zeitweise Unaufmerksamkeit beim Lesen, Schreiben oder Rechnen61, differente Sinneswahrnehmungen und weist es eine entsprechende Fehlersymptomatik auf, ist sonst aber nicht auffällig geworden (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 25), und ergeben sich beim

59

s. Primärlegasthenie, Kapitel 5.2.1. s. Sekundärlegasthenie, Kapitel 5.2.2. 61 Es kann auch nur ein Bereich betroffen sein. 60

56


5 Begrifflich-definitorische Aspekte

Erlernen des Schreibens oder Lesens Schwierigkeiten, die eine biogenetisch bedingte Ursache haben, ist von einer Primärlegasthenie zu sprechen. Die Betroffenen haben Probleme beim Erlernen des Schreibens und Lesens „mit standardisierten, in den Schulen angebotenen Methoden […], weil die Informationsverarbeitung anders erfolgt“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 55). Falls diese Form von Legasthenie gleich als solche erkannt wird, kann dem Betroffenen direkt geholfen werden, so verbleibt er in der Primärlegasthenie, wobei bei dieser Ausprägung der Legasthenie keinerlei psychische, physische oder andere Verursachungen mitwirken, die die Anlage negativ beeinflussen könnten. Wenn die eigentliche Primärlegasthenie unerkannt und unbehandelt bleibt, kann durch die Frustration oder andere begleitende Umstände eine Sekundärlegasthenie entstehen. Die dann notwendigen Maßnahmen sind umso umfangreicher und schwieriger. Gegenmaßnahmen zur Prävention des Auftretens von Sekundärproblematiken sind das Training der Aufmerksamkeitsfokussierung, die Schärfung der Sinneswahrnehmung sowie das Training an den Fehlersymptomen. Treten Sekundärprobleme auf, so sind Interventionen in den Bereichen, die eine Sekundärlegasthenie kennzeichnen, anzustreben. 5.2.2

Sekundärlegasthenie

Von einer Sekundärlegasthenie spricht man, wenn sich zu den Schwierigkeiten der Primärlegasthenie psychische oder physische Probleme – das können schon vorhandene oder durch das Nichterkennen der Legasthenie und die unterlassene entsprechende Förderung erworbene sein – hinzugesellen. Die Entwicklung einer Sekundärlegasthenie basiert also auf denselben Gründen wie eine erworbene Lese-Rechtschreibschwäche oder Rechenschwäche.62 Demzufolge wird das Kind ständig Misserfolge haben und in den Teufelskreis der Lernstörungen hineingezogen werden, die Begleit- oder Folgeerscheinungen einer unbeachteten Legasthenie sind. Vor allem das Unverständnis der Umgebung, ein Mangel an Ermutigung, Lob und Zuspruch63, das Fehlen von Erfolgserlebnissen, die ständige Überforderung, aber auch der ständige Vergleich mit den Klassenkameraden, Zeitdruck, Bloßstellungen u.Ä. führen leicht zu einer Sekundärlegasthenie mit den typischen Anzeichen. Folglich können sich zusätzlich zu den Lese-, Schreib- oder Rechenproblemen auch im psychischen Bereich Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Zu diesen zählen Aggressionen durch ständige Selbstverteidigung des Kindes,

62

etwa Verursachungen im physischen Bereich und Verursachung im psychischen Bereich. Die Funktion des Lobes ist es, das Kind dazu zu motivieren an einer Sache weiterzuarbeiten, es zu unterstützen und nicht nachzulassen und damit seine Lernbereitschaft zu bekräftigen (vgl. Prange/ Strobel-Eisele 2009, S. 88). 63

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

Depressionen, Destruktivität und Verleugnen der Misserfolge, Abwehrverhalten vor allem gegen Schulbelange, mangelnde Frustrationstoleranz (dem Kind mangelt es durch die ständigen Misserfolge an Selbstvertrauen und Leistungsbereitschaft), Impulsivität bzw. unerwartetes plötzliches Handeln (das Kind gibt voreilige Antworten, hat Schwierigkeiten Aufträge ganz zu erfassen, es hat generell Schwierigkeiten mit dem Zuhören, unterbricht andere) sowie Unruhe (diese tritt nur im direkten Zusammenhang mit den Tätigkeiten des Schreibens und Lesens auf und unterscheidet sich dadurch von krankhafter Unruhe, sog. Hyperaktivität) 64 u.v.m. Die Ausbildung einer Sekundärlegasthenie ist als Prozess aufzufassen. Besonders beim Vorhandensein von psychischen Auffälligkeiten durchwandert der Betroffene verschiedene Stufen, da die nötige Anerkennung, die jeder Mensch braucht, um gesund zu bleiben, fehlt. Die auftretenden Leistungsdefizite werden für die Betroffenen deutlich spürbar und in dieser Phase suchen viele Kinder die Begründung dafür bei sich selbst (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 56). Die mit den Leistungsdefiziten zusammenhängende ständige Kritik von Seiten der Schule (Lehrer sowie Schüler) als auch von Seiten des näheren privaten Umfeldes zu Hause (Eltern, Geschwister) schädigt das Selbstwertgefühl schwer, was eine Blockade der Lernbereitschaft zur Folge hat. Somit kommt es zu einem scheinbar ausweglosen Zustand. Zu den speziellen Förderungen im pädagogisch-didaktischen Bereich, die bei einer Primärlegasthenie für einen Erfolg ausreichen, müssen in diesem Fall individuelle Interventionen und somit fachlich gezielte Hilfe durch die Gesundheitsberufe, Psychologen, Mediziner, Ergotherapeuten, Logopäden etc., erfolgen.

5.3 Warum nicht jedes Kind mit Problemen beim Lesen- und Schreibenlernen Legasthenie hat … Kinder mit erheblichen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten werden in der medizinischpsychiatrischen Diagnostik in zwei Gruppen eingeteilt. Die Diagnose „Legasthenie“ wird vergeben, wenn zwischen der gemessenen Intelligenz eines Kindes und seinem Abschneiden in normierten Lese- und Rechtschreibtests eine starke Diskrepanz vorliegt. Ist der Unterschied zwischen den Werten im Intelligenztest und im Lese-Rechtschreibtest nicht so groß und

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Die echte Hyperaktivität ist eine hirnbiologisch bedingte Krankheit, die auch als ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom) bezeichnet wird. Sie kann von der genannten Unruhe nur schwer unterschieden werden, weil die Symptomatik sehr ähnlich bis gleich ist.

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

kommen komorbide Störungen 65 hinzu, wird die Diagnose „LRS“ gestellt. Diese Vorgehensweise ist international längst höchst umstritten66, da diese Diagnostik meist nur zu sehr generellen Empfehlungen führt und keine Bedeutung für die Förderung hat. Außerdem gibt es (psychometrische) Schwierigkeiten bei der Diagnostik67 und die beiden Kindergruppen unterscheiden sich in ihren Leseleistungen und leserelevanten kognitiven Fähigkeiten nicht oder nur äußerst schwach voneinander. Es wird den Kindern – wenn überhaupt – viel zu spät geholfen, da die Diagnose „Legasthenie“ oder „LRS“ meist frühestens am Ende der zweiten Klasse gestellt werden kann. Es wird im Allgemeinen zwischen der biogenetischen Problematik (Legasthenie) und der erworbenen Problematik (LRS) unterschieden (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 42). LRS ist eine Problematik, die durch besondere Umstände im Leben des Kindes bedingt und erworben werden kann, sie ist die Bezeichnung für alle Störungen, die dazu führen, dass Lesen und/oder Rechtschreiben nicht bzw. nur schlecht erlernt werden kann. Hierbei ist selbstverständlich die Verursachung zu beachten, eine gezielte Förderung im Fehlerbereich ist dringend erforderlich. Zum einen können diese Verursachungen im physischen Bereich68 und zum anderen im psychischen Bereich69 liegen. Im psychischen Bereich können sich außerdem Verhaltensstörungen wie Unruhe (besonders beim Lesen oder Rechnen), Abwehrhaltung hauptsächlich auf Schulbelange bezogen, Aggressionen durch andauernde Selbstverteidigung von Seiten des Kindes, Depressionen, Impulsivität sowie Destruktivität entwickeln (vgl. a.a.O., S. 47f.). Um das Jahr 1970 brachte R. Valtin die Bedeutung des Milieus für die Entstehung der Legasthenie ins Gespräch und fand als Ursache für eine LRS Merkmale einer sozialen Grundschicht vor, die dazu zu neigen scheint, ihre Kinder zu vernachlässigen (vgl. Valtin 1970a). Als solche Merkmale bezeichnete sie schlechte Wohnverhältnisse, hohe Geschwisterzahl, allgemeine sprachliche Schwäche, geringes Bildungsniveau der Eltern sowie wenig Zeit und Interesse für das Kind. Hieraus schloss Vatlin, dass LRS neben endogener Disposition auch durch die Zugehörigkeit zur sozialen Grundschicht begünstigt würde. Da legasthene

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Als Komorbidität wird in der Medizin ein zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegendes, diagnostisch abgrenzbares Krankheits- oder Störungsbild bezeichnet. Komorbiditäten können, müssen aber nicht – im Sinne einer Folgeerkrankung – ursächlich mit der Grunderkrankung zusammenhängen. 66 Arbeiten zur Fragwürdigkeit der Diskrepanz-Definition der Legasthenie aus Deutschland sind bspw. Marx/ Weber/Schneider 2001, aus den USA bspw. Lyon/Fletcher 2001. 67 So kann ein Kind z.B. bei wiederholter Testung die Gruppe wechseln, weil ein anderer IQ-Wert und/oder Lese-Rechtschreibtestwert gemessen wird. 68 Das sind beispielsweise Störungen in der motorischen Entwicklung, der Seh- oder Hörfunktion, in der Sprachentwicklung, kognitiven Entwicklung etc. Hierzu gehören auch die durch Sehfehler bedingten Lesestörungen, die durch Korrektur z.B. mittels einer Sehhilfe schnell und nachhaltig verbessert werden können. 69 Hierzu zählen etwa der Wechsel im sozialen Umfeld, Krankheit bzw. längeres Fehlen im Unterricht, der Tod eines dem Kind nahestehenden Menschen, die Scheidung der Eltern, sexueller Missbrauch, Geschwisterrivalität, Überforderung und Frustration.

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

Kinder aus der Oberschicht wesentlich mehr Förderangebote bspw. in Form von Privatkursen erfahren als Kinder aus der Mittel- und Unterschicht70, darf die Rolle des Milieus nicht unterschätzt werden. Erkennungsmerkmale sind Augenprobleme wie etwa Schielen oder unerkannte Fehlsichtigkeit, Entwicklungsstörungen des sensorisch-integrativen Bewegungssystems, aber auch sozio-ökonomische oder kulturelle Deprivation71 und emotionale Probleme72 beim Lesen- und Schreibenlernen sowie viele Rechtschreibfehler, die sich jedoch nicht in Kategorien einteilen lassen, vielmehr liegt die schwache Lese- und Rechtschreibleistung in der Unkenntnis des Wortes, in Flüchtigkeitsfehlern und in lückenhaftem Regelwissen begründet. So wird z.B. ein Wort in einem Text immer gleich falsch geschrieben. Durch ein gezieltes Training an den Fehlern und durch Verbesserung des Regelwissens werden gute Erfolge erzielt. Bei der LRS sind keine differenten Sinneswahrnehmungen vorhanden, sie kann durch intensives und gezieltes Üben an den Fehlern und eine eventuell notwendige psychologische und/oder medizinische Betreuung korrigiert werden. Wurde in einer pädagogischen Förderdiagnostik festgestellt, dass es sich um eine erworbene LRS handelt, so ist eine multiaxiale Diagnostik73 sowie eine Hilfe durch entsprechende Gesundheitsberufe anzustreben, da sich andernfalls eine Behebung oder Verbesserung und damit der gewünschte Erfolg nicht einstellen wird (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 47, 77). Da auch mehrere Ursachen parallel wirken können, ist für die Erstellung eines Förderplans eine genaue Diagnostik notwendig. Die Legasthenie sowie die LRS umfassen den gesamten Problembereich im Lesen und Rechtschreiben. Bei manchen Kindern besteht ein erhöhtes Risiko für die Entstehung bzw. das Vorhandensein einer Legasthenie, wenn z.B. deren Sprachentwicklung im Vorschulalter ge-

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Studien zeigen, dass der schulische Erfolg durch Legasthenie stark beeinträchtigt wird. Bei großer Unterstützung durch finanziell gut situierte Eltern können betroffene Kinder und Jugendliche, die häufiger auch über einen überdurchschnittlichen IQ verfügen, höhere Schulabschlüsse erreichen. Tritt die Legasthenie mit weiteren Störungen, z.B. Verhaltensstörungen und ADHS auf und kommt das Kind zusätzlich aus einem Elternhaus mit geringeren/geringen Ressourcen, verschlechtern sich seine Chancen deutlich (vgl. Strehlow 2004). 71 z.B. das Aufwachsen in einem schriftfernen Elternhaus. Das bedeutet, dass es dort wenig Bildungsgüter – also anregende und kindgerechte Bücher und Zeitschriften, Computer und Software, Rückzugsmöglichkeiten zum Lesen etc. – gibt und das Kind wenig literalitätsfördernde Interaktionen erlebt. Möglicherweise besteht im Elternhaus eine Intoleranz gegenüber dem Lesen oder den Lesestoffen, sodass das Kind keine Lesevorbilder hat. 72 Scheidung, Todesfall in der Familie, aber auch Überbehütet-Sein. 73 Die multiaxiale Diagnostik besteht aus drei Ebenen, und zwar aus der pädagogischen, der psychologischen und der medizinischen Diagnose. Diese Form der Diagnostik dient dazu, weitere mögliche Ursachen von Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens und/oder Rechnens aufzudecken. Der erste Ansprechpartner ist zunächst natürlich der Klassenlehrer sowie eine pädagogische Institution. Bei den folgenden Schritten kommt es auf der externen Ebene zur Untersuchung von seelischen Erkrankungen, zum Überprüfen der Intelligenzentwicklung, der Entwicklung der Sprache, der Motorik, des Lebensumfeldes des Kindes sowie der familiären und schulischen Gegebenheiten (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 77f.).

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

stört oder verzögert verläuft oder eine einschlägige familiäre Vorbelastung vorliegt74 (vgl. Fischer/DeFries 2002; Schulte-Körne 2001a). Der Begriff Legasthenie wird für Schwächen beim Erlernen von Lesen, Schreiben oder Rechtschreibung, die nicht durch Verursachungen im physischen und psychischen Bereich oder durch allgemeine geistige Minderbegabung verursacht sind, verwendet. Im Gegensatz zur LRS wird die Legasthenie durch differente Sinneswahrnehmung und dadurch entstehende Desorientierung hervorgerufen. Sofern keine weiteren körperlichen Ursachen festgestellt werden, können vereinzelt vorschulisch Auffälligkeiten im akustischen Bereich, wie verzögerter Sprechbeginn, eingeschränktes Sprachverständnis, Sprechschwierigkeiten, beobachtet werden. Eine relativ gute Vorhersage erlauben standardisierte Verfahren, die in den letzten Jahren publiziert wurden, z.B. das „Bielefelder Screening zur Früherkennung von LeseRechtschreibfähigkeit“ (BISC), das im Kindergarten eingesetzt wird. Faktoren, die infolge einer Legasthenie auffallen, sind im Wesentlichen Einschränkungen im phonematischen Bereich, in der Wahrnehmung und der Unterscheidung von Reimen, Silben und Lauten. Probleme in anderen schulischen Teilgebieten sind darüber hinaus möglich. Legasthenie-Betroffene weisen trotz mindestens durchschnittlicher Intelligenz einen deutlichen Rückstand in ihrer Lese- und Rechtschreibfähigkeit gegenüber Mitschülern auf. Die multikausal verursachte Legasthenie wird oft vererbt und ist als biogenetische Anlage vorhanden. Das bedeutet, dass Legasthenie ein Leben lang besteht und nicht „heilbar“ ist. Nur durch ein spezielles Training können Erfolge im Aufmerksamkeits- und Sinneswahrnehmungsbereich und schließlich im Symptombereich erzielt werden. Linder grenzte Legastheniker ab: nicht nur von den unterdurchschnittlich intelligenten Kindern, sondern auch von solchen mit manifesten Störungen oder sonstigen körperlichen Behinderungen. Legasthenie sei erkennbar an typischen Fehlern, den Reversionen75, sowie an typischen Erscheinungsformen wie Raumlagelabilität bzw. Rechts-Links-Unsicherheit, visuellen Gliederungsschwächen und Linksdominanz (vgl. Linder 1951). Sehr typisch ist, dass in einem Text unterschiedliche Schreibweisen eines Wortes zu finden sind. Hier führt das Üben an den Fehlern nur zu Frustration und Blockaden, bei ausbleibender Hilfe sogar zu psychischen Störungen. Es muss ein individuelles, speziell auf das Kind abgestimmtes Trainingsprogramm erstellt werden, indem besonders die differenzierten Sinneswahrnehmungen des Kindes geschult werden. Die Vorstellung von Verarbeitungsschwächen in verschiedenen Wahrnehmungsbereichen, in der Motorik und im Zusammen-

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Dies sind Kinder, deren nahe Familienangehörige (Eltern, Großeltern, Geschwister) während der Schulzeit mit gravierenden Lese-Rechtschreibproblemen zu kämpfen hatten. 75 Verwechslungen spiegelbildlicher Buchstaben oder Vertauschungen der Reihenfolge von Buchstaben.

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

spiel zwischen Wahrnehmungsbereichen und Motorik, macht zugleich einsichtig, warum die Lernprobleme legasthener Kinder nichts mit zu geringer Intelligenz zu tun haben (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 45). Neben einer mindestens durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Intelligenz ist für die Diagnostizierbarkeit einer Legasthenie wichtig, dass keine erkennbaren Gründe für das Versagen beim Lesen- und Schreibenlernen, wie bspw. ein Seh- oder Hörfehler, vorliegen. In Deutschland unterscheidet man die Begriffe Legasthenie und Lese-Rechtschreibschwäche meist überhaupt nicht. Dies bedeutet für legasthene Kinder oft schwere Nachteile, da die Förderung meist ausschließlich ein Üben am Symptom mit sich bringt. Die Münchner Psychologin Dr. E. Klasen betont, dass Lese-Rechtschreibschwäche nicht gleichzusetzen ist mit LeseRechtschreibstörung, da Schwächen auch bei Kindern, die zweisprachig sind oder die die Schule versäumt bzw. gewechselt haben, vorliegen können. Sie sind vorübergehender Art und können mit entsprechender Hilfe meist bald überwunden werden. Eine Legasthenie, die hier synonym mit einer Lese-Rechtschreibstörung verwendet wird, ist dagegen eine neuropsychologische Teilleistungsstörung im Bereich der Schriftsprache (vgl. Klasen 2003), die den Schriftspracherwerb erheblich beeinträchtigt. Betroffen sind wichtige höhere Funktionen des Gehirns, sodass die Verarbeitung des Wahrgenommenen im Gehirn nicht fehlerfrei funktioniert. Wie wichtig eine mehrdimensionale Unterstützung von legasthenen Kindern ist, zeigen die beträchtlichen Erfolge, die man mit einem umfassenden Training erzielen kann. Die Unterscheidung der biogenetisch bedingten Legasthenie und der erworbenen LeseRechtschreibschwäche ist deshalb von größter Wichtigkeit, weil die Förderungen und Interventionen, die in beiden Fällen stattfinden sollten, unterschiedlich sein müssen. Voraussetzungen für den angestrebten Erfolg sind nicht nur das rechtzeitige Erkennen der Legasthenie und die individuelle Förderung, sondern auch das weitreichende Verständnis, das dem legasthenen Kind von seiner Umgebung sowie von der Gesellschaft entgegengebracht werden sollte.

5.4 Das legasthene Kind Die Prävalenzrate für die von Legasthenie Betroffenen divergiert nach Aussage verschiedener Wissenschaftler von 2 bis 20% der Bevölkerung, wobei eine Prävalenz von 4-5% im internationalen Vergleich konvenabel ist (vgl. hierzu Scheerer-Neumann 1996; Schulte-Körne 2001a; auch Eichler 2002). Den Anforderungen des Unterrichts zu genügen, gelingt Legasthenikern trotz großer Anstrengungen nur mühsam oder gar nicht. Obwohl es

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

inzwischen zahlreiche Untersuchungen über die LRS und Legasthenie gibt, sind diese Beeinträchtigungen noch lange nicht vollständig erforscht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Legasthenie, im Sinne der zehnten Internationalen Klassifikation für psychische Störungen (ICD-10), als Entwicklungsstörung anerkannt, jedoch unterstützt dies eine medizinisch definierte Auffassung der Problematik. Da die Ebenen der Gesundheitsberufe und des pädagogisch-didaktischen Bereichs auseinanderzuhalten sind und die Relevanz der Pädagogen und ihrer Arbeit betont werden sollte, wird die Pathologisierung von Legasthenie, wie sie vor allem durch die ICD-10 gerechtfertigt scheint, da Probleme beim Schriftspracherwerb in diesem Fall als Krankheit bezeichnet werden, abgelehnt. Dies ist eine Definition der Gesundheitsebene, womit eine Feststellung und auch eine Intervention auf pädagogischer Ebene völlig ausgeblendet werden, sodass diese Definition aus pädagogischer Sicht als völlig unzureichend anzusehen ist. Da sich die Legasthenie nur im Zusammenhang mit Symbolen (Buchstaben und Zahlen) negativ auswirkt, ist es leider nur begrenzt möglich, im Kleinkindalter Erkenntnisse über das Vorhandensein einer Legasthenie zu erlangen. Legasthenie wird meist erst ab Beginn der Schriftsprachaneignung diagnostiziert, da sie sich definitionsgemäß als Schriftsprachproblem zeigt. Allerdings können bereits im Kindergartenalter im Bereich der für den LeseRechtschreiberwerb notwendigen Vorläuferleistungen Risikofaktoren festgestellt werden76. Generell spricht man die Legasthenie betreffend von einer völlig natürlichen Veranlagung, da das legasthene Gehirn lediglich genbedingt anders gesteuert wird. Je jünger der Betroffene ist, umso wandlungsfähiger und flexibler ist auch sein Gehirn, daher ist ein frühes Training der Basissinne erstrebenswert und notwendig, um die reibungslose Wahrnehmungsverarbeitung zu ermöglichen. Da legasthene Menschen eine genbedingt andersartige Wahrnehmung haben, muss diese mit gezielter Förderung trainiert werden. Im Bereich der Sinneswahrnehmungen kann und sollte daher schon sehr früh im Bereich des Tastsinnes (taktil), des Gleichgewichtssinns (vestibulär), der Raumlage (propriozeptiv) in Kombination mit den auditiven und optischen Sinnen mit einem individuellen Training begonnen werden. Gerade die kompetente Frühförderung der Vorläuferfähigkeiten bzw. die Beseitigung von organischen Beeinträchtigungen wie Augen- und Ohrenproblemen ist von größter Wichtigkeit, da sich legastheniebedingte Schriftspracherwerbsprobleme so bei Schulantritt weniger drastisch auswirken. Das Erlernen schriftsprachlicher Kompetenzen ergibt sich aus dem Zusammenwirken vielfältiger Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen. Störungen in diesem komplexen System können

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Näheres hierzu s. Kapitel 3.1.

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

ein Anzeichen für Legasthenie sein. Dieses komplexe System ist ein kompliziertes Gefüge aus Funktionen auf psychischer, emotionaler, sozialer und körperlicher Ebene, das vom ersten Atemzug an richtig zusammengefügt werden muss, um dem Kind erfolgreiches Lesen- und Schreibenlernen sichern zu können. Dieser sensible Prozess kann von vielerlei Störfaktoren beeinträchtigt werden (Klein/Träbert 2009, S. 26ff.). Angesichts der Tatsache, dass legasthene Kinder aufgrund ihrer differenten Teilleistungen durch enorme Leistungsschwankungen auf sich aufmerksam machen, kann dem hyperkinetischen Syndrom77 in Zusammenhang mit Legasthenie nicht genug Beachtung geschenkt werden. Doch ist dringend zwischen einer Unruhe, ausgelöst durch die nicht zu bewältigende Anforderung des Umgangs mit der Schriftsprache, und einer krankhaften Hyperaktivität zu unterscheiden. Bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz nimmt ein legasthener Mensch seine Umwelt anders wahr, weshalb oft Probleme mit der Umsetzung der gesprochenen Sprache in die geschriebene Sprache auftreten. Sobald ein legasthenes Kind auf Buchstaben oder Zahlen trifft, lässt seine Aufmerksamkeit nach, da die Basissinne ungleichmäßig zusammenarbeiten und es die Buchstaben und Zahlen durch seine differenten Sinneswahrnehmungen anders verarbeitet als nicht legasthene Menschen. Somit verläuft auch die Verarbeitung der Sprache und vor allem der Vorgänge beim Sprechen anders. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens oder auch Rechnens, was das Üben auch in diesem Bereich unabdinglich für ein ganzheitliches Training78 macht. Legasthene Kinder benötigen beim Schreiben und Lesen mehr Zeit und werden oft noch ausgelacht, wenn sie laut vorlesen müssen. Unwissende Lehrer ermahnen das Kind oft, es solle mehr zu Hause üben, doch dies ist hier fehl am Platz. Auch haben die Eltern oft den Eindruck, dass das Kind nur nicht lernen will und bockt. In dieser Situation ist das Kind völlig überfordert und dadurch an seine physischen sowie psychischen Grenzen gestoßen. Es verliert den Anschluss an den Leistungsstand der Klasse und fühlt sich dumm, missverstanden und ausgegrenzt. Das Selbstbewusstsein leidet stark, die intrinsische Lernmotivation79 geht verloren. Das macht legasthene Kinder zu einer Randgruppe, da in unserem Kulturkreis fälschlicher-

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Wird vom hyperkinetischen Syndrom gesprochen, sind Kinder gemeint, die hauptsächlich durch motorische Unruhe, Impulsivität mit spontanen Aktionen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, Störungen der Aufmerksamkeit und Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, leichte Erregbarkeit im Gefühlsbereich und erhebliche Stimmungsschwankungen auffallen. Je nach Störungsbild steht die Hyperaktivität (also das ständige Zappeln, die exzessive Ruhelosigkeit) oder die Aufmerksamkeitsstörung im Vordergrund. 78 Ein solches ganzheitliches Training umfasst summarisch den Bereich der Aufmerksamkeit, der Sinneswahrnehmungen (Funktionen) sowie den der Symptome (den Bereich des Lesens und Rechtschreibens). Diese drei Bereiche sind im Training mit der AFS-Methode impliziert. 79 Diese intrinsische Motivation entspringt dem „anfänglichen Lernen“ (Prange/ Strobel-Eisele 2009, S. 52), das offenbar einer „einer inneren, biophysisch angelegten Zielstrebigkeit, die für die Übungsbereitschaft sorgt“ folgt (ebd.).

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

weise von einer mangelnden Rechtschreibfähigkeit auf mangelnde Intelligenz geschlossen wird. Da legasthene Kinder in der Regel über einen mindestens durchschnittlichen Intelligenzquotienten verfügen, sind sie sich ihrer Defizite sehr häufig bewusst und merken schnell, dass sie mehr Probleme als ihre Mitschüler haben. Um zu verhindern, dass ihre Schwächen bemerkt werden, setzen sie oft Vermeidungsstrategien in Gang, was zu Verhaltensstörungen sozialer und emotionaler Art führen kann. Der schulische Erfolg wird durch Legasthenie stark beeinträchtigt, und obwohl sie sich gerade in den ersten beiden Schuljahren sehr bemühen, gute Leistungen zu erbringen, sind ihre Anstrengungen ohne die richtige, im besten Fall frühkindliche Förderung nicht von Erfolg gekrönt. Bei großer Unterstützung der Eltern können betroffene Kinder höhere Schulabschlüsse erreichen. Tritt die Legasthenie mit sekundären Störungen auf und kommt das Kind zusätzlich aus einem Elternhaus mit geringeren Ressourcen, verschlechtern sich seine Chancen deutlich. Sind Auffälligkeiten aufgetreten, so sollte das Kind schnellstmöglich von einem speziell ausgebildeten Lehrer oder Legasthenietrainer80 getestet werden. Ein Legasthenietrainer ist dazu berechtigt, das pädagogische AFSTestverfahren (vgl. hierzu Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a) zur Feststellung einer eventuell vorliegenden Legasthenie bzw. Dyskalkulie durchzuführen und kann damit sehr schnell Aufschluss geben81, wo die Förderung einsetzen muss. Durch dieses Testverfahren wird die individuelle Legasthenie eines Kindes festgestellt und kategorisiert. Durch testtheoretische Grundkenntnisse und Wissen über Diagnostik der Intelligenz, Lese- und Rechtschreibfertigkeiten, Wahrnehmungsstörungen, Sprech- und Sprachstörungen, motorische Störungen sowie psychopathologische oder neurologische Gutachten ist es dem Legasthenietrainer auch möglich, anderweitig erstellte Diagnosen zu erfassen und sie in seiner Arbeit zu berücksichtigen. Wird ein betroffenes Kind auch in psychologischer oder medizinischer Hinsicht auffällig, so sollte der Legasthenietrainer Hilfe durch Psychologen, Ärzte, Ergotherapeuten, Logopäden etc. implementieren.

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Der Beruf des Legasthenietrainers ist ein Berufsstand, der sich 1996 im deutschsprachigen Raum etablierte. Der Erste Österreichische Dachverband Legasthenie (EÖDL) bildet diplomierte Legasthenietrainer aus, die durch ständige Fortbildung stets auf dem neuesten Stand der Wissenschaft sind. Durch ihre umfassende Ausbildung verfügen diplomierte Legasthenietrainer über Kenntnisse der Sprachentwicklung, der motorischen Entwicklung, der emotionalen Entwicklung und auch über die in diesen Bereichen auftretenden Störbilder. Sie haben ein umfassendes Wissen über neurobiologische Grundlagen, insbesondere hinsichtlich des Schriftspracherwerbs, der Bedeutung der Sinneswahrnehmungen und der Relevanz des Aufmerksamkeitsbereiches für den intakten Lese-, Schreib- und Rechenprozess sowie lernpsychologische und lerntheoretische Kenntnisse. Sie arbeiten mit den Betroffenen in einer systematischen Vorgehensweise mittels wissenschaftlich fundierter Methoden. 81 Das pädagogische Testverfahren überprüft die Aufmerksamkeit sowie die Sinneswahrnehmungen/Funktionen/ Teilleistungen (Optik, Akustik, Raumwahrnehmung, Serialität, Intermodalität). Das pädagogische Testverfahren trifft keine Aussagen über etwaige Entwicklungsverzögerungen, medizinische oder psychologische, psychosomatische oder psychopathologische, grob- bzw. feinmotorische Probleme, Sprech- oder Sprachprobleme oder den Lebensbereich des Testkandidaten.

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5 Begrifflich-definitorische Aspekte

Je eher mit einem angemessenen individuellen Training begonnen wird, desto besser funktionieren auch die für das Lesen und Schreiben erforderlichen Basissinne. Das Training dieser Sinne, sowohl die gezielte Förderung der Motorik, des Gleichgewichts als auch der Körperund Raumwahrnehmung, sollte bereits in der frühkindlichen Förderung stattfinden, die grundsätzlich für alle Kinder wichtig ist, um späteren Schwierigkeiten in den Bereichen der Sinneswahrnehmungen vorzubeugen. Setzt man früh genug in diesen Bereichen an und begreift das Kind all seine Sinne zur Benutzung und Erfassung der Welt, werden auch die ersten Schritte im Schriftspracherwerb weniger beschwerlich. Demnach ist eine frühe sensorische Förderung der Sinnesorgane auf jeden Fall richtig und wichtig. Dabei sollte vor allem die Bezeichnung „Therapie“ vermieden und statt dessen von „Training“ gesprochen werden. Zentral ist hierbei das Einbeziehen aller für das Lesen- und Schreibenlernen erforderlichen Sinne, um das Denken und Handeln zusammenzuführen. Lernen durch Handeln statt stupidem Lernen, wie es in spielerischer Form geboten werden kann, ist für ein legasthenes Kind sehr wichtig. Dies zeigt, dass die frühkindliche Förderung die wichtigste Basis überhaupt ist. Die Andersartigkeit der von Legasthenie betroffenen Kinder muss in das Bewusstsein der Gesellschaft vorrücken, um den von Legasthenie betroffenen Kindern die verdiente gesellschaftliche Akzeptanz zu gewährleisten. Einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung dieser Vision leistet Dr. A. Kopp-Duller.

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6 Was ist eine pädagogische Intervention?

Teil III Ansätze und Möglichkeiten pädagogischer Intervention bei legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten 6

Was ist eine pädagogische Intervention?

Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist unter „pädagogischem“ Handeln jene fachspezifische, also auf die richtige Erziehung ausgerichtete Handlungsrichtung zu verstehen, die nicht therapeutisch, psychologisch oder medizinisch orientiert ist. Eine „Intervention“ ist das Eingreifen in ein Geschehen (vgl. Duden 2007, S. 893). Oft wird die Pädagogik, ebenso wie pädagogische Interventionsmöglichkeiten, im Gegensatz zu neurobiologischen und genetischbiologisch orientierten Forschungsergebnissen degradiert, da sie aufgrund der mangelnden messbaren Effizienz weniger plakative und praxisgemäße Behandlungsmöglichkeiten aufweist. Ein Erfolg pädagogischen Handelns ist nicht vorhersagbar, da nicht alle Tätigkeiten im pädagogisch-professionellen Kontext auf beschreibbare Bestimmungen und Prämissen zurückzuführen sind, sodass pädagogisches Handeln vor allem nicht nur situationsabhängig ist, sondern auch angestrebte Effekte nicht konform und mit zureichender Sicherheit kontrollieren kann (vgl. Koring 1992a). Der Terminus der pädagogischen Tätigkeit nimmt in Korings Argumentation eine wichtige Stellung ein. Zunächst lässt sich eine Annäherung an diesen Begriff über die allgemeine Bedeutung des Wortes „Tätigkeit“ finden, das für die „Gesamtheit derjenigen Verrichtungen, mit denen jmd. in Ausübung seines Berufs zu tun hat“ steht (Duden 2007, S. 1664). Dabei handelt es sich, bezogen auf die pädagogische Tätigkeit, um alle Verrichtungen, die ein professioneller Pädagoge im Rahmen seiner beruflichen Ausübung vollzieht. Dementsprechend fasst Koring unter der pädagogischen Tätigkeit jene menschlichen Aktivitäten zusammen, „die darauf zielen, anderen Menschen Lernangebote zu machen, sie zum Lernen zu bringen, Lernsituationen herzustellen und ihnen Beratung, Kontrolle und Hilfe beim Lernen zu geben“ (Koring 1999, S. 127)82. Dieses Verständnis des Begriffes umfasst sowohl alle zwischen dem pädagogisch Tätigen und seinem Klienten ablaufenden Aktivitäten

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Daher umfasst der Begriff der pädagogischen Tätigkeit auch den Begriff der Erziehung, jedoch bleibt unklar, warum Koring dennoch beide stets explizit getrennt nennt, wenn er von der pädagogischen Tätigkeit spricht.

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6 Was ist eine pädagogische Intervention?

als auch jene Prozesse, welche im Rahmen dieser zwischenmenschlichen Aktivitäten vom pädagogisch Tätigen durchgeführt werden. Von Koring wird der Begriff der pädagogischen Tätigkeit in das pädagogische Handeln und das pädagogische Deuten unterteilt, welche er beide als „die grundlegenden Operationen, die jeder Pädagoge lernen und beherrschen muß“ bezeichnet (Koring 1992a, S. 61)83. „Beim Handeln werden Wissenselemente aus Wissenschaft, konkreter Praxis und Profession verknüpft, um gemeinsam mit den Adressaten in bestimmten Formen deren Lebensprobleme und Lerninteressen zu bearbeiten“ (Koring 1992b, S. 299). Nach Koring wird das pädagogische Handeln als die aktiv-gestaltende Komponente der pädagogischen Tätigkeit, die sich durch die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis zur Bearbeitung von Lernproblemen kennzeichnet, bestimmt. 2007 entwickelte er seine 1992 getroffene Untergliederung des pädagogischen Handelns in die drei Grundformen Unterrichten, Beraten und Arrangieren, weiter und benennt nun Unterrichten, Beraten und Erziehen als die Grundformen der pädagogischen Tätigkeit. Demnach wird nun das Arrangieren nicht mehr den Grundformen, sondern den Grundoperationen zugeordnet und bezieht sich auf „das Gestalten von Lernsituationen in sachlicher, zeitlicher und sozialer und organisatorischer Hinsicht“ (Koring 2007, S. 135). Summarisch betrachtet geht es um das Lernen des Menschen, sodass jedem einzelnen die sinnvolle Partizipation an der Gesellschaft möglich wird, womit die pädagogische Tätigkeit letztendlich auf Partizipationsfähigkeit, verstanden als Teilnehmen am gesellschaftlichen Leben, zielt. Grundlegend bezieht sich professionelles pädagogisches Handeln auf die Ermöglichung von Lernvorgängen. Das professionelle pädagogische Handeln kann folglich als bewusste, planvolle, zielgerichtete Aktivität, die auf einem systematischen und in der Regel wissenschaftlichen, durch eine spezielle Ausbildung erworbenen Wissen basiert und darauf abzielt, Lernen zu ermöglichen, um damit die Option der individuellen Weiterentwicklung und der selbstständigen Lebensgestaltung zu eröffnen, definiert werden. Pädagogisches Handeln ist speziell auf die Bedürfnisse eines Kindes abgestimmt. Die Übungen sind spielerisch und somit besonders kinderfreundlich gestaltet. Es gab und gibt keine Methode, die in jedem Fall hilfreich ist, da Legasthenie in ihrer Ausprägung immer individuell ist (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 135). In diesem Kontext sind die AFSMethode und die Materialien Montessoris geeignete vorschulische Mittel zur Prävention späterer legastheniebedingter Schulprobleme. Erst wenn man mit pädagogisch-didaktischer In-

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Da Koring den Operationsbegriff später in ähnlicher Weise wie Prange verwendet, kann die offenbar nicht ausschlaggebende terminologische Differenz bezüglich der Verwendung des Operationsbegriffs an dieser Stelle vernachlässigt werden.

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

tervention an die Grenze gelangt, z.B. bei Begleitsymptomatik wie psychischen oder physischen Problemen, sollte eine medizinische, neuropsychologische, ergotherapeutische oder psychologische Interventionsebene herangezogen werden und als zusätzliche Unterstützung für das legasthene Kind und seine Familie fungieren.

7

Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

7.1 Die Bedeutung der Früherkennung von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten und präventiver Maßnahmen Die Bedeutung der Früherkennung84 (vgl. Dummer-Smoch 2001; Rosenkötter 2004) von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb und der Maßnahmen zu deren Prävention wird in Theorie und Praxis übereinstimmend betont. Mit der Konzeption von Entwicklungsmodellen des

Schriftspracherwerbs,

der

Integration

von

Prozessmodellen

des

Lesens

und

Rechtschreibens in die Schriftspracherwerbsforschung und der Durchführung von theorieabgeleiteten Längsschnittstudien gelang es, die Bedeutung einiger im Vorschulalter erfasster individueller Voraussetzungen näher zu bestimmen (vgl. hierzu Schneider et al. 1994; Küspert 1998, Snow et al. 1998, Jansen et al. 2002). Einen zentralen Punkt bei der Förderung legasthener Kinder nimmt die Motivation ein. Hierdurch können enorme und nachhaltige Erfolge erzielt werden (vgl. Kopp-Duller/PailerDuller 2008a, S. 147ff.). Die Rechtschreibung kann viel ungestörter aufgebaut werden, wenn das legasthene Kind in kleineren Schritten voranschreitet als andere Schüler, dabei aber Erfolg erlebt (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 37). Sofern Legasthenie frühzeitig erkannt wird, kann sie sehr effektiv behandelt werden. Präventive Maßnahmen vor dem eigentlichen Schriftspracherwerb oder innerhalb der ersten Schulklasse sind am erfolgreichsten. Solche präventiven Maßnahmen basieren meist auf der Förderung der phonologischen Bewusstheit, da diese, wie bereits gezeigt wurde, das wichtigste spezifische Vorläufermerkmal des Schriftspracherwerbs ist (vgl. Ehri et al. 2001; Schwenck/Schneider 2003; Alloway et al. 2005). Potentielle Schwierigkeiten sollten idealerweise erkannt und gegengesteuert werden, bevor überhaupt Probleme beim Schriftspracherwerb auftreten. Bleiben dauerhafte Probleme bestehen, so ist ein möglichst frühzeitiger Beginn der Förderung zu empfehlen, da

84

Vgl. dazu Prof. Dr. Henning Rosenkötter (2010), der sich mit der Früherkennung von LRS und Legasthenie beschäftigt.

69


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

Interventionsmaßnahmen ihre größte Wirkung in den beiden ersten Grundschulklassen entfalten (vgl. Landerl/Wimmer 1994; Küspert 1998). Danach besteht die Möglichkeit einer raschen Chronifizierung der Probleme. Aus diesem Grund scheint eine Forderung nach Früherkennung von Leselernproblemen

möglichst vor dem Schuleintritt , nach einer

möglichst frühen Feststellung von Legasthenie inklusive Diagnose von Stärken und Schwächen in den allgemeinen Lernvoraussetzungen, nach einer speziellen Förderung mit kompensatorischen Hilfen85 sowie nach Information und Beratung der Eltern über die Stärken und Schwächen ihres Kindes und über Hilfen, die sie zu Hause geben können, angemessen. Woran und wann Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen erkannt werden und welche präventiven Interventionen eingeleitet werden, hängt nicht nur von den theoretischen Annahmen über den ungestörten Schriftspracherwerb und seiner Gefährdung ab, sondern auch von den Vorstellungen darüber, welche Lern- und Verarbeitungsprozesse gefördert werden sollen.

Diese

Vorstellungen

haben

sich

erheblich

verändert,

seit

sich

in

der

Schriftsprachforschung der Trend abzeichnet, den frühen Erwerbsprozess genauer zu untersuchen und Voraussetzungen zu identifizieren, die für den Erfolg von Kindern beim Lesen- und Schreibenlernen wichtig sind. Die

internationale

metaphonologischen

Forschung

hat

Fähigkeiten

als

die

phonologische

wichtige

Bewusstheit

Voraussetzung

des

bzw.

die

alphabetischen

Schriftspracherwerbs dokumentiert und diskutiert. Ob metaphonologische Fähigkeiten durch eine gezielte Förderung schon vor dem Schuleintritt deutlich verbessert werden können und ob eine solche vorschulische Intervention dazu führen würde, dass das Lesen- und Rechtschreibenlernen in der Schule besser gelingt, wurde in verschiedenen aktuellen Interventionsstudien untersucht (vgl. u.a. Wehr 1994; Breuer/Weuffen 1993, 2000, 2002; Georgiewa et al. 2002; Weber et al. 2002; Rosenkötter 2004). Hinter diesen Forschungsarbeiten stehen wissenschaftliche und praxisbezogene Ziele. Zum einen soll der Stellenwert der phonologischen Bewusstheit für den Schriftspracherwerb besser geklärt werden. Zum anderen ist mit solchen Studien die Intention verknüpft, theoriegeleitete Interventionen zu entwickeln und zu evaluieren, die darauf abzielen, den Anteil der Kinder, die Lese-Rechtschreibschwächen ausbilden, zu vermindern (vgl. Schneider et al. 1998, 2000; Catts et al 2001; Jansen et al. 2002). Bisherige Interventionsstudien mit unausgelesenen Stichproben sprechen dafür, dass die phonologische Bewusstheit von Vorschulkindern durch ein systematisches Training erfolgreich gefördert werden kann. Noch wichtiger ist es, dass ein

85

Mit Hilfe der kompensatorischen Entwicklungsförderung sollen Entwicklungs- und Lerndefizite von Kindern ausgeglichen und Versäumtes nachgeholt werden.

70


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

solches Training über kurzfristige Effekte hinaus erleichternde Auswirkungen auf den Schriftspracherwerb hat. Aufgrund dieser positiven Befunde

ist

gegenüber dem

Präventionsansatz der phonologischen Bewusstheit eine etwas euphorische Stimmung aufgekommen.

Dies

darf

nicht

darüber

hinwegtäuschen,

dass

zur

Entwicklung,

Implementierung und Wirksamkeit von metaphonologischen Vorschultrainings verschiedene Fragen noch offen bzw. unzureichend geklärt sind (vgl. Blachman 1997; Byrne et al. 1997). Da aktuell nicht ausreichende Befunde aus Interventionsstudien vorliegen, um die Frage der Stabilität und Generalisierung der Effekte von metaphonologischen Vorschultrainings bei solchen Kindern schlüssig beantworten zu können, werden weitere Studien gefordert. Im angloamerikanischen Raum weist Catts (1998) auf das Forschungsdefizit zum Präventionsansatz der phonologischen Bewusstheit hin, das speziell in Bezug auf sprachgestörte Kinder besteht. Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen haben sehr häufig Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen, die zumeist mit weiteren Schulproblemen einhergehen. Solche Kinder gelten daher als Risikokinder für LRS. Im Vergleich zu unauffälligen Kindern verfügen sprachgestörte Kinder beim Schuleintritt nicht über die reiche sprachliche Grundlage, auf der die Schriftsprachentwicklung aufbauen kann. Vorwiegend angelsächsische Studien belegen, dass Vorschulkinder mit primärsprachlichen Störungen häufig auch Rückstände in spezifischen Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs haben (vgl. Magnusson/Nauclér 1993; Snow et al. 1998; Romonath 1998). Eine wesentliche Rolle bei der präventiven Förderung kommt den Logopäden zu. Sie erfassen und betreuen sprachund sprechgestörte Kinder häufig schon vor dem Schuleintritt. Vorschulische Interventionen zur Ausdifferenzierung und Erweiterung sprachlich-kommunikativer Basisfähigkeiten bilden ohne Zweifel ein wichtiges Element der Prävention von kindlichen Schriftspracherwerbs- und Schriftsprachproblemen sowie anderen Schulschwierigkeiten. Allerdings muss bezweifelt werden, dass die herkömmlichen logopädischen Fördermaßnahmen ausreichen, um sprachgestörte Kinder vor Misserfolgen beim Lesen- und Schreibenlernen bewahren zu können. Deshalb wird gefordert, vermehrt spezifische Interventionen zur Prävention von legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten in die (heil-)pädagogische Arbeit 86 mit Vorschulkindern einfließen zu lassen. Das Forschungsdefizit betrifft besonders auch den deutschsprachigen Raum. In der Literatur wird die Bedeutung einer frühen präventiven

86

Die Heilpädagogik als ganzheitlicher Förderansatz ist ein wichtiger Bestandteil der Frühförderung. Gerade im Vorschulalter, in einer Zeit extremer Lernfähigkeit, ist es notwendig, Schädigungen, Funktionsschwächen und Entwicklungsrisiken möglichst frühzeitig zu erkennen und ihnen gezielt entgegenzuwirken. Praktiker erhalten mit Übungen zur Wahrnehmung, zu Motorik und Kognition, zu schulischen Fertigkeiten, zum Sozialverhalten und zur Sprache immer neue Anregungen für eine abwechslungsreiche Gestaltung der täglichen Förderarbeit.

71


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

Intervention mit lese-rechtschreibschwachen Kindern zwar betont, und es wurden bereits Prinzipien und Möglichkeiten der metaphonologischen Förderung vorgestellt, doch mangelt es an vergleichenden Untersuchungen der metaphonologischen Voraussetzungen von leserechtschreibschwachen und nicht lese-rechtschreibschwachen Vorschulkindern wie auch an Studien zur Überprüfung der Effekte von präventiven metaphonologischen Interventionen für lese-rechtschreibschwache Kinder. Diese Feststellung erstaunt wenig, da die deutschsprachige Sprachheilpädagogik/Logopädie die Grundlagen- und Interventionsforschung bislang stark vernachlässigt

hat:

Konzepte

und

Verfahren

sowie

Unterrichtsmethoden

werden

problematischerweise nur sehr selten hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft (vgl. Grohnfeldt 1989). Dieser Sachverhalt ist umso bedenklicher, als die Evaluation von pädagogisch-therapeutischen Interventionen zur berufsethischen Pflicht der Heilpädagogen gehört. Obgleich das Prinzip der pädagogischen Effizienzkontrolle im Hinblick auf die heilpädagogische Berufsethik „zu einseitig und zu vereinfachend“ ist, würde ein Verzicht auf dieses Prinzip „eine fatale Fehleinschätzung“ (Haeberlin 1996, S. 348f.) verantwortbaren heilpädagogischen Handelns bedeuten. Um den Kindern eine frühe und effektive Hilfestellung für das Lesen- und Schreibenlernen geben zu können, werden besonders gezielte Fördermaßnahmen zur phonologischen Bewusstheit als sinnvoll angesehen und empfohlen (vgl. Magnusson/Nauclér 1993; Catts 1998). Diese Frühförderung sollte auf pädagogisch-didaktischer Ebene stattfinden. Erste Studien zeigen, dass eine vorschulische metaphonologische Förderung von Kindern möglich und erfolgversprechend ist. Paula Thallal (2000) stellte das reibungslose Funktionieren optischer und akustischer Sinneswahrnehmungen als unumgängliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Erlernen des Schreibens und Lesens fest (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 152f.). Da Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben das Kind sowohl in der Schule als auch in anderen Lebensbereichen beeinträchtigt und belastet, sind Hilfestellungen, etwa in Form von Interventionen, relevant. Zur Überprüfung der Wirksamkeit diverser Trainings oder neu entwickelter Methoden werden Trainingsstudien (vgl. Schneider et al. 2000; Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008) durchgeführt. Eltern,

Lehrer, Schüler und

Erziehungswissenschaftler geben in den letzten Jahren vermehrt ihre Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation unseres Bildungs- und Schulsystems kund. In öffentlichen und auch privaten Diskussionen wird verzweifelt nach Lösungen für die aktuell proklamierte Bildungsmisere verlangt. Verstärkt wird hierbei auch wieder im reformpädagogischen Repertoire gesucht, um zu überprüfen, welche in Vergessenheit geratenen Ideen heute potentielle Lösungsansätze bieten könnten. In diesem Kontext rücken gegenwärtig sowohl Aspekte der Montessori-Pädagogik als auch anderer reformpädagogischer Ansätze in den 72


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

Fokus der öffentlichen Diskussionen. Inwiefern deren Verknüpfung mit der Berufsgruppe der Vorschulpädagogen heutzutage dazu beitragen kann, lese-rechtschreibschwachen und besonders legasthenen Kindern eine angemessene Förderung zur Erleichterung des Schriftspracherwerbs zu ermöglichen, bedarf einer fundierten Überprüfung. Maßnahmen in die Richtung der öffentlichen Anerkennung und Kostenübernahme bei Lese- und Schreibproblemen, wenn durch Spezialisten auf pädagogisch-didaktischer Ebene geholfen wird, sind mehr als erstrebenswert. Klare gesetzliche Regelungen, die eindeutig festlegen, welche Berufsgruppe wann zum Einsatz kommen muss, müssten erfolgen (vgl. KoppDuller/Pailer-Duller 2008a, S. 133), das bedeutet, dass es für alle beteiligten Gruppen umfassende Richtlinien geben sollte, wann wer Interventionen setzen muss, wenn Lese- oder Schreibprobleme auftreten. Solche Festlegungen fehlen bis heute. Ausgehend von dieser Standortbestimmung beschäftigt sich dieser Teil der vorliegenden Arbeit mit Möglichkeiten der Prävention von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten durch vorschulische Interventionsmaßnahmen sowie mit Ansätzen und Möglichkeiten elterlichpräventiver

Frühförderung

der

für

den

Schriftspracherwerb

primär

bedeutsamen

Sinneswahrnehmungen. 7.1.1

Einbindung der Eltern in die frühkindliche Förderung

Eine der größten Herausforderungen im Leben vieler Eltern ist die Erziehung eines Kindes. Im Allgemeinen verfügt jeder Elternteil selbst über Erfahrungen und Kompetenzen, um die Herausforderungen des täglichen Erziehungsgeschehens zu bewältigen. Jedoch gibt es immer wieder Momente, in denen Eltern an ihre Grenzen stoßen und nach geeigneter, optimaler Förderung verlangen. Die Anforderungen an Familien sind in den letzten Jahrzehnten durch Veränderungen im Berufsleben und in der Gesellschaft stark gestiegen. Deshalb sollte auch eine adäquate Berücksichtigung der spezifischen Schwierigkeiten im Umfeld der betroffenen Kinder angestrebt werden und nicht nur eine Verbesserung der Lese-Rechtschreibfähigkeit. Hier kann pädagogische Beratung (vgl. Krause 2003; Hechler 2010) und Elternbildung87 die gesuchte Information und Unterstützung bieten und Sicherheit in der Bewältigung der Erziehungsaufgaben des Alltags geben. Da im Falle des Vorhandenseins von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten oft wertvolle Zeit vergeudet wird, ist Erziehungsberatung, besonders wenn Legasthenie mit erheblichen psychischen Störungen einhergeht, unerlässlich. Zunächst erweist sich die Aufklärung der Eltern

87

Elternbildung bedeutet Informationssammlung, Austausch von Erfahrungen, eigene Stärken zu entdecken und schließlich auch praktische Anregungen für den Erziehungsalltag zu erhalten.

73


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

über das Phänomen Legasthenie als sehr wichtig, wobei die Information über Möglichkeiten der familiären, schulischen und therapeutischen Hilfe sowie schul- und sozialrechtliche Belange zentral sind. Es ist bewusst zu machen, dass Legasthenie eine kräftezehrende Barriere beim Schriftspracherwerb darstellt und das Kind seine Energien nicht durch Abwehrmechanismen erschöpfen darf. Hierbei müssen Elternhaus und jeweilige Institutionen (später etwa die Schule) zusammenarbeiten, sodass Konfliktsituationen weitestgehend vermieden werden. Es ist unabdingbar, auch das Kind über seine Schwäche, vor allem aber über seine Stärken aufzuklären und es darauf hinzuweisen, dass es keine Schuld – vor allem keine durch Dummheit oder Faulheit hervorgerufene – an seinen schulischen Problemen hat. Beratung für Legasthenie-Betroffene wird von verschiedenen Berufsgruppen und Institutionen angeboten. So wird bspw. auch in psychologischen Beratungs- und Erziehungsstellen Beratung bei Legasthenie durchgeführt. Auch der zuständige schulpsychologische Dienst und die öffentliche Jugendhilfe (Jugendamt) bieten Beratung an. Auch in Einrichtungen, die die Diagnostik durchführen, wird Beratung angeboten, hierzu zählen die Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, psychologische Praxen und private Anbieter88, die ihr diagnostisches Angebot mit einer Therapieempfehlung verbinden. Einen sehr großen Anteil der Beratungsarbeit übernehmen Elternselbsthilfegruppen, wobei der überwiegende Teil dieser Selbsthilfegruppen in den Landesverbänden der einzelnen Bundesländer organisiert ist. Die Landesverbände wiederum sind im Bundesverband Legasthenie (BVL) zusammengefasst. Der BVL, ein Eltern-Selbsthilfe-Verband89, hat sich zur Aufgabe gemacht, Eltern zu informieren, ihnen Mut zu machen und ihnen zu zeigen, wie sie mit ihren Kindern üben können. So erscheint es notwendig, den Eltern für eine Reihe von Grundsätzen gewissermaßen Hilfestellung zu geben, damit sie nicht falsch und erfolglos üben und womöglich gemeinsam mit dem Kind verzweifeln. Hier wird die Beratung von Eltern übernommen, die im Rahmen einer Selbsthilfegruppe Elternabende veranstalten. Diese Abende dienen dem gegenseitigen Austausch, der Beratung beim Umgang mit Schulen, dem Austausch von Empfehlungen zu Förderangeboten und bieten Hilfen bei der Umsetzung sozialrechtlicher Ansprüche. Es ist sinnvoll, vor der Durchführung des Elterntrainings im Rahmen eines Elternabends oder über einen Fragebogen die Interessen und Bedürfnisse abzuklären. Fragen an die Eltern sind u.a. deren Wahrnehmung und Bewertung der kindlichen Schriftsprachentwicklung sowie ihr Vorwissen zu sprachtheoretischen Inhalten. Ebenso wichtig sind Informationen zum elter-

88

Die freien, privaten Anbieter sind sehr unterschiedlich. Verschiedene Berufsgruppen, wie z.B. Ergotherapeuten, Lehrer, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder Logopäden, bieten hier ihre Dienste an. 89 vgl. Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

lichen Belastungserleben und zu Bewältigungsprozessen sowie die Frage nach der elterlichen Motivation zur Mitarbeit. Da sich die Probleme, die legasthene Kinder in der Schule haben, auf die ganze Familie auswirken, kommt der Mutter90 in der Regel eine zentrale Rolle zu, weil sie durch die Betreuung der Hausaufgaben meist genauere Beobachtungen nicht nur zu den Fehlern sondern auch zu den Stimmungen des Kindes macht. Es ist meist ihre Aufgabe, in der ganzen Familie Sachverstand und Problemverständnis zu erreichen, damit nicht durch ein unbedachtes Wort das Selbstwertgefühl des Kindes und der Erfolg bereits stattfindender Hilfen gefährdet werden. Oft sperrt sich ein Familienmitglied schon gegen den Gedanken, dass das Kind Legastheniker sein könnte, womit es wiederum zum Verlust wertvoller Zeit für eine frühestmögliche Förderung kommen kann. Da Legasthenie auch in der heutigen Gesellschaft noch immer von vielen Menschen als Makel empfunden wird, spielt bisweilen Prestigedenken mit Rücksicht auf die Umwelt eine fatale Rolle. Mit einer aufklärenden Beratung und angemessener Elternbildung ist es möglich, solche Missverständnisse abzubauen und beim legasthenen Kind – zumindest in der eigenen Familie – Sicherheit, Motivation und besonders ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen. Trotz aller Aufklärung kann es bei der Zusammenarbeit zwischen Mutter und Kind zu Spannungen in der Mutter-Kind-Beziehung kommen. Im Wesentlichen ist die Ursache hierfür der Rollenkonflikt, da die Mutter in der Förderung und beim gemeinsamen Üben zwangsläufig in die Rolle der Lehrerin schlüpft, die das Kind mit Forderungen, die es nur schwer oder gar nicht erfüllen kann, mit Leistungsbewertung im Klassenmaßstab, insofern mit Misserfolgen und dem Anspruch, noch mehr zu üben, verbindet. Jedoch sollte die Mutter für das Kind primär die Bezugsperson für emotionale Bedürfnisse, für Trost, Zuflucht, Liebe, Geborgenheit sein. Sofern die Mutter auch zur Lehrerin wird, entstehen für das Kind Schwierigkeiten, die am ehesten überwunden werden können, indem die Mutter verdeutlicht, dass sie für ihr Kind die Mutter bleibt und eine partnerschaftliche Haltung einnimmt, ihr Kind motiviert und ihm helfend zur Seite steht (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 90). Dies dient wiederum dazu, das Kind möglichst zum selbstständigen Arbeiten zu führen. Trotz dieser Selbstständigkeit benötigen Kinder, und besonders legasthene Kinder, sobald ihnen etwas schwerfällt, die Nähe der Mutter. Firnhaber (1995) befasst sich ausführlich mit der Zusammenarbeit von Mutter und Kind91. Um das Kind optimal zu fördern, können alle Familienmitglieder die Hilfe in

90

Traditionell betrachtet ist es meist der Vater, der berufstätig ist, sodass die Mutter mehr Zeit mit dem Kind und dessen Problemen verbringt. Betrachtet man jedoch moderne Familienkonstellationen, so ist durchaus auch der Vater derjenige, der sich mehr der Erziehung des Kindes widmet, wenn die Mutter berufstätig ist, sofern nicht beide Elternteile berufstätig und paritätisch in die Kindeserziehung eingebunden sind. 91 Als Negativbeispiel vgl. auch Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 187.

75


7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

Anspruch nehmen. Von besonderer Wichtigkeit für Eltern legasthener Kinder ist das Wissen über die jeweilige Entwicklungsphase92 ihres Kindes sowie über die Schwerpunkte innerhalb einzelner Lebensphasen. Zusätzlich wird der partnerschaftliche Umgang miteinander weiterentwickelt, unterschiedliche Möglichkeiten der Konfliktlösung werden kennengelernt, die Gesprächsfähigkeit wird gestärkt.93 Infolgedessen werden sich Eltern ihrer Stärken in der Vater- bzw. Mutterrolle bewusst, so kann der persönliche Erziehungsstil weiterentwickelt werden, aber vor allem können eventuell auftretende Probleme frühzeitig erkannt und rechtzeitig eine geeignete Hilfe in Anspruch genommen werden. Hierbei ist darauf Wert zu legen, den Eltern auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, da sowohl die Pädagogen als auch die Eltern Expertenwissen einbringen, das von beiden Seiten anerkannt werden sollte. Verschiedene Förderprogramme konnten nachweisen, dass eine wirksame und nachhaltige Förderung erst dann gesichert ist, wenn sie von der gut angeleiteten und motivierten Mutter durchgeführt wird (vgl. Bronfenbrenner 1974 zit. nach Kerkhoff 1982, S. 160). Aus den Bereichen Psychologie und Pädagogik besteht Einigkeit über die Risiko- und Schutzfaktoren der Familie bzw. der Bezugspersonen für die kindliche Entwicklung. Neben der Erzieherrolle können und müssen Eltern daher auch als wertvolle Ressource für eine gezielte frühkindliche häusliche Förderung einbezogen werden. Ob Eltern unmittelbar in den Förderprozess integriert werden sollen, ist für den Einzelfall zu beurteilen. Das Bewusstsein der Eltern bezüglich der Stärken und Schwächen ihres Kindes für eine häusliche Frühförderung des späteren Schriftspracherwerbs ist meist nicht ausreichend, auch wenn das Kind nicht von Legasthenie betroffen ist. Daher ist es wichtig, die Eltern über das Störungsbild zu informieren und hinsichtlich der erreichbaren Erfolge unter Betrachtung der Schwächen und Stärken des Kindes realistische Erwartungen zu erarbeiten (vgl. Suchodoletz 2006, S. 288). Bei der Integration elterlicher Frühförderung für die kindliche Förderung gilt eine gelingende Interaktion zwischen Kind und Eltern als wesentliche Voraussetzung für sämtliche Förderinhalte, die in der Elternarbeit94 weitergegeben werden sollen. Daraus ergibt sich die notwendige Kombination von Einzel- und Gruppenarbeit, die im Elterntraining umgesetzt werden soll. Je nach Instituti-

92

Die Bezeichnung „Entwicklungsstufe“ wird im Allgemeinen nicht mehr verwendet, da sie leicht zu Missverständnissen führt. Entwicklung geht nicht in eng abgrenzbaren Schritten vor sich, sondern es breiten sich Vernetzungen aus, die differenzierbarer werden. Unbestritten ist jedoch, dass eine Entwicklung auch komplexer Systeme von einfachen Formen zu immer ausgeprägteren vor sich geht. 93 Es ist besonders wichtig, mit dem legasthenen Kind ins Gespräch zu treten und ihm zu verdeutlichen, dass es nicht dumm ist, es zu motivieren und somit dessen Selbstwertgefühl aufzubauen. 94 Elternarbeit versteht sich als eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften einer pädagogischen Institution und den Eltern. Neben den Eltern werden ebenso alle weiteren wesentlichen Bezugspersonen des Kindes einbezogen. Ziel ist es, das Kind gemeinsam nach besten Kräften in seiner Entwicklung zu fördern (vgl. Dusolt 2008, S. 11).

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

on wird die Elternarbeit in unterschiedlichem Umfang umgesetzt. Im Bereich der Sonderpädagogik hat sie einen besonderen Stellenwert. Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzung einzelner Institutionen steht die kindliche Entwicklung im Mittelpunkt der Elternarbeit95. Formen einer aktiven Elternarbeit sind z.B. persönliche Elterngespräche sowie regelmäßige Elterninformationen oder Erziehungsvereinbarungen. Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist von Seiten der Pädagogen eine intensive Kenntnis der Lebenswelt des Kindes und der elterlichen Ressourcen. Es ist entscheidend, „dass die Elternressourcen genutzt und wertgeschätzt werden als Helfer, Mitwirkende und Rückmeldende“ (Eikenbusch 2006, S. 9). Den Eltern ist der kindliche Entwicklungsprozess verständlich zu machen (vgl. Hardmeier-Hauser 1997), die informierenden, beratenden und anleitenden Inhalte sind über die Dauer der Durchführung in den Familienalltag zu integrieren. Zunächst wird die Eltern-Kind-Interaktion optimiert, um darauf aufbauend positiven Einfluss auf die davon abhängigen kindlichen Entwicklungen (Sprache, Lernen, Verhalten) nehmen zu können. Um die Erziehung eines Kindes zu einer selbstbewussten, eigenständigen Persönlichkeit zu gewährleisten, bietet Elternbildung die geeignete Information, Unterstützung und Sicherheit in der Bewältigung der Erziehungsaufgaben des Alltags. Die Elternbildung sollte die Eltern-Kind-Beziehung stärken, die Kompetenz von Eltern bzw. Bezugspersonen in Erziehungsfragen unterstützen, über kindliche Bedürfnisse und Entwicklung informieren, Selbstreflexion, Erfahrungsaustausch und eine emotional-affektive Entlastung ermöglichen sowie präventiv gegen Erziehungsprobleme und Gewaltanwendung wirken. Elternbildung wird vor allem von gemeinnützigen Trägern organisiert und im gesamten Bundesgebiet von Bildungseinrichtungen wie Familienorganisationen, Eltern-Kind-Zentren, öffentlichen Anbietern und zahlreichen privaten initiativen Veranstaltungsreihen sowie Einzelveranstaltungen angeboten. Das Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend informiert Eltern über die Vielzahl der Möglichkeiten, zusätzlich trägt die Arbeit des Ministeriums zur Sicherung der Qualität der elternbildenden Angebote sowie zur Reduktion der Kosten bei. 7.1.2

Institutionelle Frühförderung und Prävention im Kindergarten

In deutschen Kindergärten steht die ganzheitliche Erziehung im Vordergrund. Der vorschulische Bildungsauftrag besteht in einer umfassenden Unterstützung der Handlungs-, Lern- und Bildungsfähigkeit von Kindern. Alle Persönlichkeitsbereiche sollen im Kindergarten ange-

95

Themen sind Betreuung, Entwicklungsförderung und Wissensvermittlung mit Sozialisations- und Kompensationsfunktion.

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

sprochen und gefördert werden, wobei der curriculare Zielsetzungskatalog eine Vielzahl von Fähigkeiten (soziale, emotionale, sprachliche, kognitive, motorische u.a.) nennt, welche die Kinder erwerben sollen, mit Schwerpunktsetzung auf dem emotionalen und sozialen Bereich (vgl. Brazelton/Greenspan 2002). Phonologische Bewusstheit, hier verstanden als Einsicht in die Lautstruktur der Sprache, sowie die Fähigkeit, sprachliche Einheiten wie Silben und Phoneme zu erkennen und mit diesen Einheiten kontrolliert zu operieren, gilt als die am besten untersuchte Lese- und Schreiblernvoraussetzung. Trotz der Hinweise, dass sich metaphonologische Fähigkeiten teilweise auch als Folge des Lese- und Schreibunterrichts entwickeln (vgl. Dehn 1977; Bentin et al. 1991), wird deren kausale Rolle im Schriftspracherwerb klar gesehen. Es gibt keinen Zweifel

daran,

dass

von

einer

bedeutenden Beziehung zwischen

vorschulischer

phonologischer Bewusstheit und dem späteren schulischen Schriftspracherwerb auszugehen ist. Die förderliche Vorhersage des späteren Erfolges beim Lesen- und Schreibenlernen durch Indikatoren für frühe metaphonologische Fähigkeiten sollte grundsätzlich Möglichkeiten der vorschulischen Prävention96 von kindlichen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten eröffnen (vgl. hierzu u.a. Scheerer-Neumann 1996; Blachman 1997; Küspert 1998; Snow et al. 1998; Jansen et al. 2002). Kritiker beanstanden die Förderung eines einzelnen Aspekts, da ganzheitliche Erziehung der Kinder wichtiger sei und es den Kindern einen Teil ihrer Kindheit rauben würde, wenn man sie schon vor Schuleintritt mit schulischem Wissen belaste (vgl. Blässer 1994). Der Forderung nach einer gezielten Förderung von metaphonologischen Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs im Kindergarten stehen in Deutschland der pädagogische Standpunkt einer ganzheitlichen Erziehung und die Befürchtung einer Verschulung der Kindergartenarbeit entgegen, weshalb der Schriftspracherwerb ausgeklammert wird. In Deutschland und anderen deutschsprachigen Ländern ist es demnach pädagogisch unerwünscht, schulbezogene Elemente in den Kindergartenalltag hineinzutragen, und hierzu gehört eben auch ein Training zur phonologischen Bewusstheit (vgl. Blässer 1994; Scheerer-Neumann 1996). Blässer erachtet die Integration von metaphonologischen Trainings in deutschen Kindergärten als wünschenswert. Sie weist aber darauf hin, dass in den deutschsprachigen Ländern der Streit darüber, ob im Kin-

96

Dieser Ansatz früher Förderung besteht in einem Training der phonologischen Bewusstheit bereits im Kindergarten, ein Jahr vor der Einschulung. Man testet und übt diese Fähigkeit, indem man Aufgaben bereitstellt, die das Heraushören von bspw. Anfangslauten, von Endlauten oder aller Laute in einem kurzen, gesprochenen Wort erfordern. Auch die Erfassung der Silbenzahl eines Wortes ist eine Leistung der phonologischen Bewusstheit und ebenso die Fähigkeit, unter drei oder vier verschiedenen Wörtern zwei herauszufinden, die sich reimen. Auf spielerische Weise entwickelt das Kind durch diese „Spiele mit Wörtern“ ein Gefühl für die Schriftsprache.

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

dergarten eine präventive Förderung von Kindern hinsichtlich spezifischer Voraussetzungen für das schulische Lesen- und Schreibenlernen erlaubt ist oder nicht, recht ideologische Züge angenommen hat. Daher muss „noch sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet werden“, wenn man metaphonologische Trainings in das Kindergartencurriculum einführen will (vgl. Blässer 1994, S. 236). Dabei geht die Autorin nicht weiter auf die Frage ein, inwieweit es sinnvoll ist, metaphonologische Trainings flächendeckend einzusetzen. Ein solches Training kommt letztlich allen Kindern zugute: „Selbst wenn man gar nicht von einem drohenden Risiko für LRS sprechen will, ist eine Erleichterung des beginnenden Schriftspracherwerbs auf jeden Fall zu begrüßen“ (Blässer 1994, S. 159). Andere Autoren hingegen erachten es als nicht erforderlich, im Kindergarten alle Kinder zu trainieren (vgl. Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008; Marx/Weber 2004). Eine präventive Intervention ist in erster Linie bei solchen Kindern indiziert, die Schwierigkeiten in der phonologischen Bewusstheit und in weiteren Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs zeigen. Dabei sind Kinder angesprochen, „die nicht reimen können, die Schwierigkeiten haben, Wörter in Silben zu zerlegen; es mögen auch Kinder sein, die prinzipiell Schwierigkeiten haben, sich auf die klanglichen Einheiten der gesprochenen Sprache zu konzentrieren“ (Küspert/Schneider 1999, S. 17). 7.1.3

Vorschulische Förderung der phonologischen Bewusstheit

Das „Bielefelder Screening“ (BISC) (vgl. Jansen et al. 2002; Marx/Weber 2004), ein im deutschen Sprachraum ziemlich verbreitetes Testverfahren zur Legasthenierisikoklassifikation, greift neben der visuellen Aufmerksamkeitssteuerung konsequenterweise vor allem Merkmale der phonologischen Informationsverarbeitung auf. Kombiniert mit einer Überprüfung des Sprachentwicklungsstandes des jeweiligen Kindes ergibt sich damit die Möglichkeit einer zufriedenstellenden Bestimmung eines Risikos für legastheniebedingte Schriftspracherwerbsprobleme bei Kindergartenkindern (vgl. u.a. Schneider et al. 1994; Schneider 2004; Marx et al. 2005a,b), wobei sich wiederum die phonologische Bewusstheit als wertvollstes Vorhersagemerkmal herauskristallisierte. Eine Möglichkeit zur Förderung der phonologischen Bewusstheit bietet das bereits in der 5. Auflage vorliegende Förderprogramm „Hören, lauschen, lernen“ (vgl. Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008; Küspert 1998). Die Programmstruktur beinhaltet sechs Übungseinheiten, die inhaltlich aufeinander aufbauen und das Ziel verfolgen, den Vorschulkindern Einblick in die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu vermitteln. Hier steht nicht das Erlernen des

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

Lesens und Schreibens, sondern die akustische Diskrimination bzw. Abstraktion sprachlicher Segmente, etwa Wörter, Reime, Silben und Laute, im Fokus. Das Training beginnt mit der ersten der sechs Übungseinheiten, die aus dem Training des „Lauschens“ besteht. Es wird also mit Lauschspielen begonnen, bei denen Geräusche, Flüstersprache und klingende Wörter97 zum Einsatz kommen. Hierbei werden die Kinder über konzentriertes Lauschen, Orten und Identifizieren von Geräuschen auf die darauffolgende Einheit des Programms, nämlich die Sprachspiele, eingestimmt. Die zweite Einheit besteht darin, den Umgang mit Reimen, und somit die Beachtung der formalen Struktur der gesprochenen Sprache, mit den Kindern zu üben. Zu Beginn dieser Übungseinheit spricht der Erzieher bzw. Pädagoge Reime vor und lässt die Kinder wiederholen, wobei viele bekannte Kinderreime zum Einsatz kommen. Anschließend dürfen die Kinder selbst Reimwörter zu vorgegebenen Wörtern bilden. In der nachfolgenden dritten Einheit lernen die Kinder Sätze und Wörter, dass sich (gesprochene) Sätze in kleinere Einheiten, nämlich Wörter, zerlegen lassen. Sie lernen auch, Wörter zu verbinden98, sie ergänzen Sätze um jeweils ein Wort und beginnen auch bereits, Wörter hinsichtlich ihrer Länge99 zu vergleichen. Die vierte Übungseinheit „Silben“ umfasst Spiele zum Umgang mit Silben und mit der Silbengliederung, mit der die Kinder meist recht vertraut sind 100. Sie vertiefen ihre Erfahrungen, indem sie vorgegebene Einzelsilben zu Wörtern zusammenfügen (Synthese) oder Wörter in Silben zerlegen (Analyse). Dies wiederum ist immer kombiniert mit rhythmischen Bewegungen zur Synchronisierung von Sprache und Motorik. Nachdem die Kinder mit der Silbe vertraut geworden sind, wird in der fünften Übungseinheit nun die kleinste sprachliche Einheit, der Laut, eingeführt. Da Laute koartikuliert werden und dementsprechend schwer zu isolieren sind, muss eine Abstraktionsleistung vollbracht werden. Um den Kindern den Zugang zu den Einzellauten zu erleichtern, wird mit der Identifizierung des Anlauts im Wort begonnen, wobei zunächst relativ leicht erkennbare Laute wie Vokale oder dehnbare Laute (/m/, /s/, /r/), und erst später Plosivlaute (/p/, /k/, /t/) eingeführt und behandelt werden. Bei der Einführung in die Welt der Laute gilt es, den Kindern diesen Schritt durch möglichst vielfältige Sinneserfahrungen zu erleichtern. So können Laute gehört, an der Mundstellung des anderen erkannt oder über Resonanzräume unseres Körpers erfühlt werden.

97

Minimalpaare: Phonologisch gesehen bilden zwei Wörter oder Ausdrücke ein Minimalpaar, wenn sie unterschiedliche Bedeutung haben und sich dabei in nur einem Phonem unterscheiden (z.B. Wand – Wind). 98 Z.B. ergibt die Zusammensetzung der Wörter „Schnee“ und „Mann“ das neue Wort „Schneemann“. 99 also hinsichtlich der Zeit, die man zum Aussprechen braucht. 100 etwa durch Singen oder rhythmische Übungen im Kindergartenalltag.

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

Zu Beginn dieser Einheit spricht der Erzieher bzw. Pädagoge verschiedene Wörter vor und dehnt dabei den Anlaut (z.B. Ssssssonne), nachdem die Kinder nachgesprochen haben, dürfen sie bspw. aus Bildkarten diejenigen aussuchen, die Wörter mit gleichem Anlaut darstellen. Die sechste und letzte Trainingseinheit schließlich dient der Analyse und Synthese von Lauten. Die Kinder beschäftigen sich in dieser Einheit mit den Lauten, die sie innerhalb eines Wortes hören können. Zunächst werden Übungen zur Phonemsynthese durchgeführt, wobei die Erzieherin ein Wort in Einzellauten vorspricht und die Kinder diese zu dem Wort zusammenfügen. Auch die Analyse wird ähnlich eingeführt. In den folgenden Spielen wird der Umgang mit Lauten geübt, indem z.B. aus einem Set von Bildkarten dasjenige herausgesucht werden soll, auf dem das Wort mit den meisten Lauten dargestellt ist. Schließlich beschäftigen sich die Kinder auch mit Phonemen, den bedeutungsunterscheidenden Einheiten der Sprache, indem sie etwa untersuchen, in welchem Laut sich zwei Wörter unterscheiden. Die Einheiten des Trainingsprogramms werden in täglichen zehn- bis fünfzehnminütigen Sitzungen während der letzten zwanzig Wochen des Kindergartenjahres in Kleingruppen in einem separaten Raum des Kindergartens durchgeführt, wobei die Förderung schwächerer Kinder vorrangig ist. Das Programm ist mit vielen Bildern, Bewegungs- und Singspielen sehr spielerisch gestaltet und soll den Kindern nicht nur Einblick in die Welt der Laute geben, sondern auch Freude am spielerischen und kreativen Umgang mit Sprache vermitteln. Ein detaillierter und exakt einzuhaltender Trainingsplan regelt die gesamte Trainingsphase. Für weiterreichende Ausführungen wird u.a. auf Schneider 1989 und Roth/Schneider 2002 verwiesen. Weitere Trainingsprogramme zur phonologischen Bewusstheit sind z.B. das „Lautwortoperationsverfahren“ (Kossow 1979)101, der „Kieler Leseaufbau“ (Dummer-Soch & Hacketal 1996), das „Marburger Rechtschreibtraining“ 102 (Schulte-Körne/Mathwig 2009), „hören, lauschen, lernen …“ (Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008), „hören, lauschen, sprechen …“ (Küspert/Schneider 2006) sowie „hören, sehen, verstehen“ (Rosenkötter et al. 2007). Je nach Alter und individueller Symptomatik des Kindes führen diese Verfahren nachgewiesenermaßen zu Verbesserungen der Lese- und/oder Rechtschreibleistung.

101

Als eine der frühesten Veröffentlichungen stellte Kossow (1979) Aufbau und Erprobung eines Programms zur Behandlung von Lese-Rechtschreibproblemen im Rahmen einer wissenschaftlichen Veröffentlichung vor. Dieses Trainingsprogramm nach Kossow stellt ein theoretisch begründetes, umfangreiches Förderprogramm für lese-rechtschreibschwache Kinder in den ersten Grundschulklassen dar und enthält sowohl kognitive als auch lerntheoretische Prinzipien. 102 Für eine theoretische Einordnung des Trainingskonzepts ist das Phasenmodell von Frith (1985) relevant.

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

7.1.4 Frühkindliche Wahrnehmungsförderung zur Prävention legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten Da sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit dem Prozess der Wahrnehmung beschäftigen, sind in der Literatur viele Definitionen für die Begrifflichkeit zu finden. So wird Wahrnehmung etwa im medizinischen Wörterbuch als „allgemeine Bezeichnung für den komplexen Vorgang von Sinneswahrnehmung, Sensibilität und integrativer Verarbeitung von Umwelt- und Körperreizen“ definiert (Pschyrembel 2002, S. 1779). R. Zimmer versteht Wahrnehmung als „Prozess der Informationsaufnahme aus Umwelt- und Körperreizen […] und der Weiterleitung, Koordination und Verarbeitung dieser Reize im Gehirn“ (Zimmer 2005, S. 32), bei dem individuelle Erfahrungen, Erlebnisse und subjektive Bewertungen bedeutend sind. Generell folgen der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen Reaktionen in der Motorik oder auch im Verhalten eines Menschen, die wiederum zu neuen Wahrnehmungen führen (vgl. ebd.). Bereits im Embryonalstadium beginnt die Sinnesentwicklung (vgl. Fröhlich/Büker 2005, S. 40), wobei sich zuerst das taktile System (der Tastsinn), später, jedoch ebenfalls bereits im pränatalen Verlauf, das vestibuläre System (der Gleichgewichtssinn) und die auditive Wahrnehmung herausbilden, während sich die visuelle Wahrnehmung zuletzt entwickelt. Vom Tag der Geburt an sind die Sinne des Menschen voll funktionsfähig (vgl. Zimmer 2005, S. 52; Spallek 2004, S. 42f.). In diesem Zusammenhang spricht Fröhlich von einer Grundausstattung, mit der das neugeborene Kind auf die Welt kommt (vgl. Fröhlich/Büker 2005, S. 42), jedoch entwickelt sich die Zusammenarbeit der Sinne in ihrer Entität, die vom täglichen Gebrauch der Sinnesorgane abhängig ist, erst während der ersten Lebenswochen und -monate. Um zunehmend sensible Wahrnehmung zu ermöglichen, benötigt diese Entwicklung vielfache Übungen, wozu sämtliche Handlungen des Säuglings bzw. Kindes dienen. Bei diesen Handlungen werden die benötigten Erfahrungen gemacht und im Gedächtnis gespeichert, wodurch sich synaptische Verbindungen im Gehirn bilden, die ein immer dichteres und verzweigter werdendes Netz bilden, das wiederum einen schnelleren und zuverlässigeren Austausch von Informationen ermöglicht. Damit derartige Vernetzungen stattfinden können, muss eine ausreichende sensorische Stimulation der Sinnesrezeptoren gewährleistet sein (vgl. ebd.). Dieser Prozess führt zu einer zunehmend differenzierteren Wahrnehmung. Die Begriffe Wahrnehmung bzw. Perzeption werden als Prozess des Auffassens und des Erkennens, ohne gedankliche Verarbeitung oder Beurteilung, als ein ganzheitlicher, komplexer und aktiver Prozess, der durch die subjektive Auswahl und Einschätzung des Wahrgenomme-

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nen eine emotionale Färbung bekommt (vgl. Fröhlich/Büker 2005, S. 17; Lueger 2005, S. 33) und der nicht der willkürlichen Hinwendung der Aufmerksamkeit bedarf, definiert. Der Prozess der Wahrnehmung wird von Zimmer als mehrstufiger Kreislauf verstanden (s. Abb. 8), demzufolge Umweltreize zunächst über die Rezeptoren des korrespondierenden Sinnesorgans aufgenommen werden, wobei bereits an dieser Stelle die Reize nach aktuell subjektiver Bedeutsamkeit vorausgewählt werden. Diesbezüglich spricht Ayres auch von hemmenden Kräften, die die unwichtigen Reize unterdrücken und die Impulsmenge auf die wichtigsten reduzieren (vgl. Becker 2005, S. 22). Nachdem diese präselektierten Reize über aufsteigende Bahnen in die entsprechenden sensorischen Zentren des Gehirns weitergeleitet worden sind, wird das Perzipierte dort gespeichert und mit bereits Perzipiertem verglichen und bewertet. Hier werden die Reize mit initialisierten Handlungen und Erfahrungen verknüpft. Schließlich sendet das Gehirn über absteigende Bahnen Impulse zu den ausführenden Organen, wodurch eine Resonanz in Form einer motorischen Handlung hergerufen wird. Infolgedessen kommt es schließlich zu erneuten Wahrnehmungen. Diesbezüglich spricht Zimmer von einem sich repetitiv erneuernden Regelkreis (vgl. Zimmer 2005, S. 46). Ayres spricht von sensorischer Integration. Im Unterschied zu Affolter vertritt Ayres die Auffassung, dass jedes Kind mit einer bestimmten Kondition sensorischer Integration geboren wird, die durch das kindliche Spielen kombiniert mit vielfältiger Erfahrung bei der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt gefördert und weiterentwickelt wird (vgl. a.a.O., S. 9). Nach Ayres verläuft die umfassende Entwicklung der sensorischen Integration in so genannten Anpassungsreaktionen, die sie als eine primär zielgerichtete und sinnvolle Reaktion auf sinnliche Erfahrungen definiert103. Während der Mensch Herausforderungen bewältigt und immer wieder neue Erfahrungen macht, entwickelt sich sein Gehirn weiter, sodass es zunehmend bessere Organisation erlernt. Da Kleinkinder ihre Erfahrungen bis zum siebten Lebensjahr insbesondere mittels der Motorik und ihrer Sinneswahrnehmungen generieren und Anpassungsreaktionen weniger vom Verstand ausgehen, spricht Ayres von einem Lebensabschnitt „der sensomotorischen Entwicklung“ (a.a.O., S. 10f.). Trotz der im Verlauf der weiteren Entwicklung zunehmend durch geistige sowie soziale Resonanzen ersetzen Teile sensomotorischer Prozesse bleibt die Motorik die Basis für komplexe sensorische Integration, wie sie etwa für den Schriftspracherwerb vorausgesetzt wird. Je besser diese Sensomotorik in den ersten Lebensjahren ausgeprägt ist, desto leichter wird für das Kind der Schriftspracherwerb und das spätere Erlernen von geistigen und sozialen Fähigkeiten (vgl. a.a.O., S. 11).

103

So versucht etwa ein Baby, einen Gegenstand, den es sieht, durch Ausstrecken seiner Hand zu erreichen.

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7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene

Wie gezeigt werden konnte, sind Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung ein wichtiger Indikator für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb. Da die Entwicklung einer zunehmend sensiblen Wahrnehmung vielfacher Übung bedarf, wozu sämtliche Handlungen des Kindes dienen und wobei die benötigten Erfahrungen gemacht und im Gedächtnis gespeichert werden, sollte dem Kind eine dazu geeignete und somit an Übungsmöglichkeiten reiche Umgebung bereitgestellt werden. Diese vorbereitete Umgebung ermöglicht den Aufbau von Gewohnheiten und Routinen, besonders auf das Lernen bezogen. „Die Gewöhnung ist am besten zu erreichen, wenn sie alternativlos und latent erfolgt. Das heißt, der Erzieher ist gehalten, ein bestimmtes, abgeschlossenes soziales Umfeld zu gestalten, das andere, gegenläufige Einflüsse oder alternative Erfahrungen ausschließt. (Prange/ Strobel-Eisele 2009, S. 55). Unter diesem Aspekt sollen in Kapitel 8 die Möglichkeiten pädagogisch-didaktischer Intervention nach dem Modell Maria Montessoris sowie nach dem Konzept der AFS-Methode Astrid Kopp-Dullers sowie Ansätze und Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten näher erörtert werden. Zuvor

soll

noch dieses Kapitel der präventiven Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene mit lerntheoretischen Reflexionen über vorbeugendes pädagogisches Intervenieren seinen Abschluss finden.

7.2 Lerntheoretische Überlegungen zur pädagogisch-präventiven Intervention Im Wesentlichen umfasst eine lerntheoretische Basis von Frühförderprogrammen die Durchführung und Strukturierung der Förderung, ohne dass damit Annahmen über den Gegenstand der Förderung verbunden sind. So werden lerntheoretische Prinzipien bei unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs eingesetzt, wie bspw. bei der Vermittlung von phonologischem und orthographischem Wissen (vgl. Suchodoletz 2006, S. 34). Aus der empirischen Forschung (z.B. Kossow 1979; Mannhaupt 1992; Schulte-Körne/ Mathwig 2009) können folgende Ableitungen für das Übungs- und Lernverhalten zusammengefasst werden: Förderung der intrinsischen kindlichen Motivation, der sukzessive Aufbau der Lernschritte, sukzessives Vorgehen104, Gliederung, Akzentsetzungen und Sinnverbindungen des Lernstoffs, Unterstützung von Selbstregulation und Anleitung zu planvollem Handeln, Lernen durch Nachahmung, Unterstützung einer positiven Haltung zur Lernsituation und zu eigenen Fähigkeiten, unmittelbare Rückmeldung über den Erfolg bzw. Fehlerkontrolle

104

Entdecken, Aneignen, Verbalisieren, Verinnerlichen, Automatisieren.

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8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller

sowie Beachtung der Prinzipien der Ermüdung105 (vgl. Suchodoletz 2006, S. 38). Lerntheoretisch fundierte Ansätze können sowohl schulisch als auch außerschulisch umgesetzt werden (vgl. a.a.O., S. 55). So lässt sich auch eine häusliche Förderung durchführen. In diesem Rahmen werden in den Förderstudien von Machemer (1979) und Schulte-Körne (et al. 1997, 1998) Eltern beauftragt, fünfmal in der Woche für kurze Intervalle mit ihren Kindern von den Beratern hoch strukturiert vorgegebene Rechtschreibübungen durchzuführen. Die Studien zur Wirksamkeit des präventiven Trainingsprogramms „hören, lauschen, lernen“ (Küspert 1998; Schneider et al. 1994, 1998, 2000) unterstützen die Interpretation, dass mit der einfachen Maßnahme des aufgeteilten Lernens die Effektivität der Förderung verbessert werden könnte. Der Einsatz lernstrategisch orientierter Förderprogramme kontrastiert unter lernpsychologischer Perspektive besonders, da in Studien, in denen sich lese-rechtschreibschwache Kinder unterschiedlichen Alters entweder eine komplette Schreibhandlungsstrategie (Mannhaupt 1992) oder spezifische Rechtschreibstrategien (Nock et al. 1988; Scheerer-Neumann 1988; Schulte-Körne et al. 1997; 1998) aneignen sollten, positive Befunde festgestellt werden konnten. Gerade diese Belege verlangen in Verbindung mit den aktuellen Lernforschungserkenntnissen den Einsatz von Fördermaßnahmen, die den Kindern Einsicht in die Schritte ihres Tuns vermitteln und ihnen Anregung zur strategischen Selbstkontrolle geben. Insgesamt ist der Einsatz lerntheoretisch begründeter Behandlungsmöglichkeiten bei der Förderung von lese-rechtschreibschwachen Kindern zu empfehlen.

8

Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller

8.1 Ansätze nach dem Konzept von Maria Montessori Kein reformpädagogisches Konzept ist so weit verbreitet wie das von Maria Montessori. Allein in Deutschland gibt es mehr als 400 Montessori-Kinderhäuser und über 1000 MontessoriSchulen. Viele Förderschulen wie auch Diagnose- und Förderklassen arbeiten nach dieser Methode. Der Ansatz ist darüber hinaus weltweit verbreitet. Seit den 1990er Jahren kann man einen regelrechten Boom des Ansatzes feststellen. Neue Montessori-Einrichtungen werden

105

die Abnahme der Reaktionsbereitschaft auf einen bestimmten Reiz.

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8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller

gegründet, zahlreiche Veröffentlichungen sind in den letzten Jahren erschienen und Ausbildungskurse werden verstärkt angeboten, offensichtlich weil die Nachfrage entsprechend groß ist. Schließlich versuchen auch viele Regeleinrichtungen, Elemente der Arbeit nach Montessori in ihren Alltag zu integrieren. Ein Beispiel dafür ist die so genannte Freiarbeit, die derzeit an Grundschulen umgesetzt wird. Die Motivation, sich mit dem Ansatz Maria Montessoris zu beschäftigen, ist sehr unterschiedlich. Für einige Pädagogen sind allgemeine (Erziehungs-) Probleme Anlass, nach neuen Wegen zu suchen, für andere sind es Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwächen und Probleme beim Schriftspracherwerb. Es bereitet zunehmend Schwierigkeiten, Kinder mit solchen Problemen in den Gruppenalltag (wie er vor allem in der Schule stattfindet) zu integrieren. Auch der Wunsch, individueller mit Kindern zu arbeiten, spielt für Pädagogen eine Rolle. Durch die Montessori-Pädagogik erhofft man sich, mehr auf das Kind eingehen zu können, wobei man erwähnen sollte, dass Erzieher bewusst Elemente der Montessori-Pädagogik aufnehmen, deshalb aber nicht zu einer Montessori-Einrichtung werden oder werden möchten, indem sie womöglich die Gesamtkonzeption verändern. Es stellt sich die Frage, welche Erfolgschancen der Ansatz bietet, dass er sich so lange weitgehend unverändert hält und immer neue Anhänger findet. Ist er auch geeignet, Antworten auf aktuelle pädagogische Fragen und Probleme zu geben? In diesem Kontext interessiert, ob der Ansatz von Montessori geeignet ist, neue Wege in der Prävention von legastheniebedingten Schulproblemen bzw. Problemen beim Schriftspracherwerb aufzuzeigen. Spätestens seit den Ergebnissen der PISA-Studie scheint die Forderung nach einer gezielten (Früh-)Förderung unserer Kinder wieder in aller Munde zu sein, jedoch war diese schon vor über einem Jahrhundert eine der zentralen Forderungen in den pädagogischen Ansätzen von Maria Montessori. Sie hatte die Gelegenheit, kleinere Kinder in ihrem Umgang mit und in ihren Reaktionen auf verschiedene Materialien zu beobachten, und als Ärztin war sie in der Lage, ihre Beobachtungen entwicklungspsychologisch einzuordnen. So ist es nicht verwunderlich, dass sie zu einer Zeit, als es die Neuropsychologie dem Namen nach noch gar nicht gegeben hat, ihrem pädagogischen Konzept eine neuropsychologische Grundlage gab. Aber das ist nur ein Aspekt, ein weiterer ist die tiefe Achtung vor der Würde des Kindes, das bereits den zukünftigen Erwachsenen in sich birgt und dem es zu einer sinnvollen Entwicklung zu verhelfen gilt. Um die frühen Lernphasen der Kinder zu nutzen und wichtige Lernpotentiale nicht zu vergeuden, schuf sie die ersten Kinderhäuser, in welchen schon Vorschulkindern ab dem dritten Lebensjahr eine gezielte Bildung und Erziehung ermöglicht werden sollte. Die Zeit von der Geburt an bis zum sechsten Lebensjahr hat Montessori als die Phase des absorbierenden Geistes (vgl. Montessori 1996) beschrieben, da das Kind in dieser 86


8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller

Lebensspanne mit großer Leichtigkeit vielerlei Lernanreize aufzunehmen vermag und diese einfach zu absorbieren scheint. Das Alter vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr stellt eine der wichtigen Entwicklungsphasen im Leben des Kindes dar, in der eine gezielte Förderung von außen beim Kind Anklang finden kann, da viele Entwicklungsfenster geöffnet sind und folglich das Lernen besonders leichtfällt. Ab dem dritten Lebensjahr ist das Kind „sensomotorisch betrachtet“ ein „reifes Wesen, das sprechen und zu vielen Menschen Kontakt aufnehmen kann“ (Ayres 2002, S. 42). In dieser Zeit werden die Fundamente für den Erwerb der höheren intellektuellen Funktionen gelegt. Jedes Kind durchläuft Entwicklungsphasen, sie sind Ausdrucksformen neurologischer Reifungsprozesse, und diese werden wiederum durch das biologische Potential, genetische Anlagen und eine Umwelt, die Erfahrungen und damit Lernen ermöglicht, bestimmt. In all diesen Bereichen, im Bereich der Sensomotorik, der Motorik, des Spracherwerbs und schließlich des Verhaltens, ist eine neurologische Entwicklung zu beobachten, die das Kind selbst mitbestimmt (vgl. Milz 1999, S. 60f.), indem es sich durch seine Lebensneugier der Umwelt zuwendet. Montessori spricht im Zusammenhang mit diesen Entwicklungsschritten, wie oben erwähnt, vom absorbierenden Geist106. Durch diese Zuwendung zur Umwelt werden immer wieder neue Reize verarbeitet, die die Grundlage für komplexe Verarbeitungssysteme bilden. „Bei den psychischen Funktionen kann die Reife nur durch Erfahrungen in der Umwelt eintreten, die während der einzelnen Entwicklungsabschnitte unterschiedlich sind. […]“ (Mon-tessori 1984, S. 88). Von Geburt an soll sich das Kind zu einem selbstverantwortlichen, unabhängigen Menschen entwickeln, wobei Erwachsene – Eltern, Erzieher und Lehrer – die beschriebene Entwicklungsarbeit so wenig wie möglich stören und dem Kind genügend Freiraum für die kindliche Entwicklung gewähren sollten. „Wird das Kind von den Möglichkeiten, diese Erfahrungen zu sammeln, ferngehalten zu dem Zeitpunkt, da es die Natur dazu bestimmt, vergeht diese spezielle, anregende Sensitivität, und die Entwicklung, wie auch die Reife, werden dadurch gestört“ (ebd.). Das Kind soll in seiner ganzen Person geachtet werden, um ihm die Möglichkeit zu geben, so individuell wie möglich zu arbeiten und ganzheitlich mit all seinen Sinnen zu lernen. So kann dem Kind ermöglicht werden, selbstständig und kritisch zu denken und zu handeln, eigene Entscheidungen zu treffen und verantwortungsbewusst mit Freiheit umzugehen.

106

Neurowissenschaftler bestätigen diese „Geistesform“ und verfeinern die Beschreibung, z.B. beschreibt Stern (1992) die selektive Wahrnehmung von Säuglingen. Weitere Erkenntnisse sind die reizabhängige Entwicklung des Gehirns, die Bedeutung der Umgebung sowie der bewussten Förderung.

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Die Montessori-Materialien sind besonders dafür entwickelt, diese Reize anzubieten und dem Kind somit Entwicklungsanstöße zu geben bzw. seine Umwelt angemessen für die Entwicklungsphasen des Kindes zu gestalten. So kann ihm die Möglichkeit gegeben werden, die sensiblen Phasen auszuschöpfen und eventuell versäumte Lerninhalte durch Reize auf spielerische Weise nachzuholen. Nach M. Fritz lässt sich das allgemeinere „Problem versäumter Lernbereitschaften“ mit Hilfe der phasenspezifisch erarbeiteten Materialien Montessoris präventiv lösen, weil auf diese Weise ein „Ausfall von Lernprozessen“ (Fritz 1971, S. 139f.) didaktisch verhindert wird. 8.1.1

Grundlagen des Montessori-Modells

Auch in der Montessori-Pädagogik geht man davon aus, dass die Phonetik der Zugang beim Erlernen unbekannter Wörter ist. Aus diesem Grund nutzt man in dieser Pädagogik die phonetische Annäherung an das Lesen (vgl. Montessori 2001a, S. 152). Von Bast wird die Montessori-Pädagogik „als in Deutschland bis heute wirkungsmächtige Strömung“ angesehen, bei der „das Kognitive und das Aufgeklärte der Mittelpunkt ihrer Pädagogik“ (Bast 1996, S. 167) sind. Ein Kind wird mit dem Drang zu lernen und zu wachsen geboren. Dieser Drang geht einher mit dem spontanen Bedürfnis, sich aktiv mit der Umwelt auseinanderzusetzen, was zu Erkenntnisprozessen führt, die seine Persönlichkeit bilden. So erlebt jedes einzelne Kind sein Wachstum, sofern es von einfühlsamen Erwachsenen begleitet wird und in einer anregenden Umwelt lebt, mit großer Freude. Im Wesentlichen ist der Erziehungsprozess demzufolge ein Selbsterziehungsprozess, den es mit Hilfe von außen zu unterstützen und zu fördern gilt. Folglich geht Entwicklung nach Montessori vom Kind aus, welches nicht Objekt, sondern Subjekt in diesem von biologischen Rahmenbedingungen beeinflussten Prozess ist (vgl. Bast 1996, S. 55). Nach Maria Montessori kann eine Person niemals von einer anderen Person entwickelt werden, genauso wie auch Entwicklung nicht gelehrt werden kann (vgl. Montessori 1984, S. 184). Nach Montessori muss Erziehung immer entwicklungsgemäß sein, d.h., dass sie den inneren Kräften und den Bedürfnissen des Kindes auf seiner jeweiligen Entwicklungsphase entsprechen muss. Demnach darf das Kind weder überfordert noch geistig unterfordert werden. Da Entwicklung in Wechselwirkung von Bewegung und Wahrnehmung geschieht, werden Sinnesreize mit Hilfe von Bewegungen aufgenommen, bekommen Bedeutung, machen Erkennen möglich und führen wiederum zu motorischen Reaktionen. So entsteht ein Regelkreis, der im Zusammenspiel von Empfindung und Gedächtnis zu neuen Vernetzungen und damit zu Fähigkeiten führt. Dadurch werden Denken und Sprechen und damit Kommunikation mit dem sozialen Umfeld möglich. Für eine differenzierte Ausprägung dieses 88


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Netzwerks sind vielfältige Erfahrungen mit der Umgebung, die aufgenommen, verarbeitet und gespeichert werden, notwendig. Montessori entwickelte ihre weltbekannte Methode, um die Erziehung und Förderung behinderter wie auch nicht behinderter Kinder zu ermöglichen, wobei sie schwerpunktmäßig mit dieser Methode „als Organisation des Lernprozesses begonnen“ und „später […] theoretisch nachgeholt [hat], was in ihrem Konzept für die Praxis schon lange realisiert war, nämlich die Verbindung von Inhalt und Methode“ (Raapke 2003, S. 238). Montessori erstellte eine komplexe Verknüpfung zwischen wissenschaftlicher Theorie und erzieherischer Praxis, wobei sich in diesem Erziehungsmodell das pädagogisch orientierte Handeln im Kontext der kindlichen Entwicklung bewegt. Dieser Kontext impliziert sowohl körperliche als auch geistige, psychische sowie intellektuelle Bedürfnisse des Kindes, wobei das Material als Leiter für die psychischen Bedürfnisse fungiert (vgl. Montessori 1987, S. 84). „Die Sinne sind ‚Greiforgane‘ der Bilder der Außenwelt, die für den Verstand so notwendig sind, wie die Hand als Greiforgan der für den Körper notwendigen Dinge. Doch beide – Sinne und Hand – können sich über solche einfachen Aufgaben hinaus verfeinern und dadurch immer wertvollere Gehilfen des großen inneren Motors werden, der sie in seinen Dienst stellt“ (Montessori 1987, S. 165). Wie hier beschrieben erkannte Montessori dank ihrer Fähigkeit zur genauen Beobachtung sowie ihrer ärztlichen Ausbildung, die sie dazu befähigte, ihre Hypothesen über kindliches Verhalten in ein neuropsychologisches Raster einzuordnen, welche Bedeutung der Verarbeitung von Sinnesreizen im Rahmen der kindlichen Entwicklung zukommt. Montessori geht davon aus, dass jeder Mensch bei der Geburt über einen „inneren Bauplan“107 verfügt, der die Entwicklung steuert. Die Montessori-Pädagogik steht sozusagen auf zwei Säulen, die erste Säule ist die Entwicklung des Kindes, das mit einem genetischen Potential geboren wird, dessen Ziel das Wachsen und Lernen ist (vgl. Raapke 2001, S. 14). Ihr ist der Grundsatz, Folge dem Kind, es wird dir seinen Weg zeigen, zuzuordnen, während die zweite Säule ihrer Pädagogik die Umwelt des Kindes ist, durch die es nur lernen und wachsen kann, indem es sich mit ihr auseinandersetzt. Der Grundsatz der zuletzt genannten Säule lautet demnach: Hilf mir, es selbst zu tun (ebd.; Montessori 1978, S. 274). Das Kind weist den Weg, der Pädagoge folgt ihm, indem er angemessene Materialien108 vorbereitet. Das Sinnesmaterial109 soll helfen, die erworbenen Sinnes-

107

Die Anlagen für die geistige Entwicklung liegen im Kind verborgen, der Plan entfaltet sich in vielen Entwicklungsschritten durch eine „geheimnisvolle Kraft“. 108 Angemessenes Material folgt dem methodischen Vorgehen nach dem Prinzip der kleinen didaktischen Lernschritte unter Beachtung der Entwicklungsphasen eines Kindes.

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eindrücke zu ordnen und somit geistige Kategorien zu erzeugen. Es ist ihrem Ausgangspunkt gemäß, dass sich jedes Kind in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt. Nach Montessori soll das von ihr erarbeitete Material „kein Ersatz für die Welt sein, soll nicht allein die Kenntnis der Welt vermitteln, sondern soll Helfer und Führer sein für die innere Arbeit des Kindes. Wir isolieren das Kind nicht von der Welt, sondern wir geben ihm ein Rüstzeug, die ganze Welt und die Kultur zu erobern. Es ist wie ein Schlüssel zur Welt und ist nicht mit der Welt selbst zu verwechseln“ (Montessori 1985, S. 274). Das Lern- und Entwicklungsmaterial verschafft dem Kind also einen Zugang zur abstrakten Welt, indem bereits erworbenes Wissen betrachtet, objektiviert, geordnet und bewertet wird, so werden unreflektierte, ganzheitlich aufgenommene Eindrücke zu reflektierter Erfahrung gemacht. Mit Hilfe des didaktischen Materials von Montessori als Grundlage ist es möglich, die Wahrnehmung des Kindes gezielt und individuell zu fördern. In diesem Kontext kann der Umgang mit dem didaktischen Material als das zentrale Moment Montessoris bei der Erziehung der Sinne bezeichnet werden (vgl. Montessori 2001a, S. 112). Zu diesen Materialien gehören das Material zur Unterscheidung von Dimensionen (rosa Turm, braune Treppe, rote Stangen, Einsatzzylinder, farbige Zylinder), das Material zur Unterscheidung von Formen (geometrische Kommode, konstruktive Dreiecke, geometrische Körper)110 sowie das Material zur Unterscheidung elementarer Sinnesempfindungen (zur Unterscheidung von Farben, Oberflächen- und Materialstrukturen, Gewichten, Geräuschen und Tönen, Gerüchen, Wärmequellen und zur Unterscheidung des Geschmacks). Montessoris Sinnesmaterial setzt sich aus einem System von Gegenständen zusammen, die nach spezifischen Eigenschaften wie Farbe, Form, Gewicht, Oberflächenbeschaffenheit, Temperatur, Klang usw. geordnet werden können (vgl. Holtstiege 1977, S. 103). Eine weitere Dimension, die das Material erschließt, ist die Fähigkeit zur Kategorienbildung, sodass Sinneseindrücke in abstrakter Weise organisiert und benannt werden können. Didaktisch entsprechend geordnet und aufbereitet ermöglicht das Material auch legasthenen Kindern einen für sie gangbaren Weg für den Schriftspracherwerb. Dies bildet die fundamentalen didaktischen Auswahlprinzipien und somit die Qualitäten des von Montessori erarbeiteten Sinnesmaterials. Diese Isolierung der einzigen Eigenschaften im Material wird in

109

Bereits im 19. Jahrhundert entwickelten Itard und Sequin die „physiologische Methode“ für die Behandlung von geistig behinderten Kindern, die später auch für die Arbeit mit normal intelligenten übernommen wurde. Maria Montessori übernimmt weite Teile des Werks von Itard und Sequin. Die physiologische Methode bedeutet „die Einheit von Intellekt und Sinnestätigkeit bzw. Motorik und die Aktivierung des Intellekts durch Einwirkung auf die Sinne und den Bewegungszusammenhang. […] Die Aktivierung des Geistes geschieht daher über die Sinne. Durch die Peripherie wird auf das Zentrum eingewirkt“ (Heiland 1991, S. 39). 110 Die Übungen mit diesen Materialien dienen in besonderer Weise der Vorbereitung des mathematischen Denkens.

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Ästhetik, Abstufung, Anregung, Begrenztheit, Organisiertheit, Fehlerkontrolle sowie das kindliche Interesse kategorisiert. Die Isolierung des Materials ist so gestaltet, dass bei dessen Umgang jeweils eine Eigenschaft isoliert wird. Es sind Gegenstände vorzubereiten, die mit Ausnahme der unterschiedlichen Eigenschaften untereinander vollkommen gleich sind. Zu große Komplexität und Phantasie würden nur Verwirrung stiften. Die gesamten Materialien, wie auch die Umgebung, sind harmonisch und ästhetisch ansprechend gestaltet, sodass sie die Kinder anziehen. Jedoch dient diese Ästhetik nicht in erster Linie der Freude oder der Vervollkommnung des sinnlichen Eindrucks, sondern sie soll dem Kind vermitteln, sorgfältig mit dem Material umzugehen. Zudem sollte das Material dem Kind Anregung zum Handeln geben und somit seine Tätigkeit hervorlocken. Nach Montessori ist es unzweckmäßig, wenn ein Kind von zu vielen Reizmitteln umgeben ist. Sie vertritt den Standpunkt, dass ein Kind keine Reizmittel benötigt, die es „aufwecken bzw. anreizen“, um mit der konkreten Umgebung in Kontakt zu treten. Vielmehr müsste ihm die Gelegenheit gegeben werden, die vielfältigen Eindrücke, die wie ein Chaos aus der Umgebung auf es einwirken, zu ordnen. „In der Begrenzung der Hilfsmittel, die das Kind dazu führen, Ordnung in seinen Geist zu bringen und ihm das Verständnis der unendlich vielen Dinge erleichtern, die es umgeben, liegt das höchste Erfordernis, das es dem Kind ermöglicht, seine Kräfte zu schonen und das es sicher auf den schwierigen Pfaden seiner Entwicklung voranschreiten läßt“ (Montessori 1987, S. 119). Nach Montessori soll das Prinzip der quantitativen Begrenzung (vgl. Fischer et al. 1999) gelten, d.h., dass der Pädagoge bewusst die Zahl der einzelnen Lehrmittel begrenzt und zwischen dem Erforderlichen und dem Ausreichenden entscheidet, da zu viele Lernmaterialien die Konzentrationsfähigkeit blockieren und zu wenige die Wahlmöglichkeit einschränken. Die Aufgaben dürfen vom Kind beliebig oft, gemäß dem Prinzip der Wiederholbarkeit (vgl. ebd.), wiederholt werden. Die Abstufung gestaltet sich durch bestimmte physikalische Eigenschaften des Materials wie Farbe, Form, Maße, Klang, Zustand von Rauheit, Gewicht, Temperatur usw. „Jede einzelne Gruppe verfügt über die gleiche Eigenschaft, jedoch in verschiedenen Abstufungen; es handelt sich also um eine Abstufung, bei der sich der Unterschied von einem Gegenstand zum anderen gleichmäßig verändert und, wenn möglich, mathematisch festgelegt ist“ (Montessori 2001a, S. 114). Zusätzlich wird das Material mengenmäßig begrenzt, um einerseits ein äußeres Chaos durch zu viele Materialien zu verhindern und andererseits deshalb, damit die Kinder einen Weg für ihre Entdeckungen finden, ohne Umwege machen zu müssen. Das kindliche Interesse wird dahingehend berücksichtigt, dass nur ein Material ausgewählt wird, das sich erfahrungsgemäß für die Erziehung eignet und „das kleine Kind auch tatsächlich interessiert“ (ebd.). Die Erfahrung, etwas Neues benennen zu können, eine Entde91


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ckung gemacht zu haben, führt zu weiteren Erkundungen in der vorbereiteten Umgebung, die Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein fördern. Es gibt jedoch Kinder, die bestimmte Materialien bewusst meiden. Es besteht hier die Möglichkeit, dass eine Beeinträchtigung der Wahrnehmungsverarbeitung vorliegt. Diesen Kindern sollte in besonderer Weise und mit behutsamem, gezieltem Vorgehen „Entwicklungshilfe“ gegeben werden. Schließlich ist ein ebenso wichtiges Merkmal die Gestaltung und der Umgang mit den Lernmaterialien auf die Art und Weise, dass die Möglichkeit zur selbstständigen Fehlerkontrolle111 gegeben ist. Das Kind soll im Umgang mit dem Material auf seine Fehler aufmerksam werden. „Die sachliche Fehlerkontrolle führt das Kind dazu, bei seinen Übungen überlegt, kritisch, mit seiner an Genauigkeit immer stärker interessierten Aufmerksamkeit, mit einer verfeinerten Fähigkeit kleine Unterschiede zu erkennen. So wird das Bewußtsein des Kindes durch die Kontrolle der Fehler vorbereitet, auch, wenn diese nicht immer stofflich oder sinnlich112 wahrnehmbar sind“ (Montessori 1987, S. 117; Verweis B.D.). Das Kind soll sich mit dem selbstständigen Erlernen der Gesetzmäßigkeit des Materials beschäftigen, ohne vom Erwachsenen, der indirekten Erziehung entsprechend, davon abgebracht zu werden. Dies trägt wiederum zur Selbstständigkeit bei. Voraussetzung dafür ist die den spezifischen Kriterien entsprechende Gestaltung der Umgebung und des Lernmaterials. Diese Fehlerkontrolle beschränkt sich nicht nur auf das Material, sondern erstreckt sich auf die gesamte Umgebung. Die Altersangaben, die bei der Beschreibung der Materialien und für deren Einsatz angegeben sind, sollen einen Anhaltspunkt geben, ab wann es sinnvoll ist, die jeweiligen Materialien anzubieten. Je nach Entwicklungsphase des Kindes sind diese als Richtwert zu verstehen. Auch das Sprachverständnis und die Sprachbenutzung älterer Kinder sollte aufmerksam beobachtet werden. Das Lern- bzw. Sinnesmaterial sollte ausschließlich für den Zweck genutzt werden, für den es geschaffen wurde. Die entwicklungsanregenden Mittel sollten so genau bestimmt sein, dass eine wirkliche Kongruenz zwischen den inneren Bedürfnissen und den Anregungen gegeben ist (vgl. Montessori 1985, S. 82, 125), womit sich die Auswahl der Fördermittel am Kind selbst, an dessen Alter, seinen jeweiligen Fähigkeiten und der Umgebung orientieren. Folglich ist das vorbereitete Material sowohl der sensiblen Phase als auch der Entwicklungsphase des Kindes angepasst. Hierbei wird auf das Prinzip des aufbauenden

111

Dies kann etwa durch bestimmte Merkmale, die auf die Rückseite des Aufgabenkärtchens aufgetragen sind, erfolgen. 112 Der Ausdruck „sinnlich“ kann hier leicht zu Missverständnissen führen. Gemeint ist wohl eine so konzentrierte Hinwendung, dass Fehler ohne sensorisch-motorische Kontrolle empfunden werden. So wie Kinder, die an eine bestimmte Ordnung im Raum gewöhnt sind, bereits auf kleine Veränderungen aufmerksam werden.

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Schwierigkeitsgrades (vgl. Fischer et al. 1999) geachtet, welches die Aufschlüsselung komplexer Sachverhalte in logisch aufeinanderfolgenden Stufen verlangt113. Die unter neuropsychologischem Verständnis in Wechselwirkung zueinander geschehende Zuordnung von Gegenstand, oder seiner Eigenschaft, und der zugehörigen Benennung verdeutlicht, wie notwendig die Arbeit mit dem Sinnesmaterial auf die von Montessori empfohlene Art und Weise für die Sprachentwicklung und die Wahrnehmungsverarbeitung, auch für Kinder mit beeinträchtigter Wahrnehmungsverarbeitung und Sprachkompetenz, sein kann. Ausgangspunkt für die Entwicklung des Materials ist die Notwendigkeit, die kindlichen Sinne zu entwickeln und zu differenzieren. Schließlich muss sich ein Kind mit seiner Umwelt verständigen, was es nur anhand von Erfahrungen kann. Die Erwachsenen müssen ihm die Freiheit lassen, diese Erfahrungen auf seine eigene Weise machen zu können. Wenn möglich sollten sie ihm zugleich helfen, seine Welt und die darin herrschenden Prinzipien zu erkunden und sich zu assimilieren. Daher müssen sie eine Brücke zwischen ihrer Welt und der des Kindes schlagen. In Gestalt einer besonders vorbereiteten Umgebung schlägt die MontessoriPädagogik eben diese Brücke. Das Ziel, auf das alle didaktischen Bemühungen gerichtet sind, besteht nach Montessori in der Intention, dem Kind zu helfen, sich durch Selbstständigkeit zur freien Persönlichkeit zu entwickeln (vgl. Holtstiege 2009, S. 84). Dies geschieht durch die mit didaktischer Systematik vorbereitete Umgebung. Alles, was ein Kind zum Lernen braucht, soll in dieser vorbereiteten Umgebung (vgl. Holtstiege 2009, S. 128ff., 181) bereitgestellt werden, sodass das Kind in der freien Arbeit mit dem Lernmaterial allein arbeitet und lernt. Die erzieherische Praxis und somit die Aufgabe des Erziehers bzw. Pädagogen stellt sich nun als die Bereitstellung der äußeren Bedingungen, also der mit didaktischer Systematik vorbereiteten und geordneten Umwelt dar, die der freien Entwicklung sowie dem ursprünglichen Wissensdrang und somit den Bedürfnissen und Interessen des Kindes entspricht (vgl. Montessori 1996, S. 12). Mehrheitlich lernt das Kind in diesem Zusammenhang im handelnden Umgang mit konkreten Gegenständen. Das Fundament für die intellektuelle kindliche Entwicklung konstruiert das Kind nur durch Konzentration, also durch das konzentrierte Arbeiten (vgl. Montessori 1987, S. 84), weshalb Konzentration zum zentralen Begriff von Montessoris Methode wurde (vgl. von Oy 1996, S. 12). Solche tiefen Konzentrationsprozesse kommen besonders bei jüngeren Kindern, bezüglich des Lernens mit vorbereiteten Materialien, unter Inklusion der Bewegung vor (vgl.

113

Z.B. werden zunächst Buchstaben durch das Ertasten von Sandpapierbuchstaben kennengelernt, anschließend wird mit der Arbeit mit Buchstabenkärtchen begonnen.

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Holtstiege 2009, S. 101). Diese vorbereitete Umgebung ist notwendig, weil sich eine Persönlichkeit in der Gesellschaft nur hier ungehindert entwickeln kann (vgl. von Oy 1996, S. 16). Nach Montessoris Meinung ist es „besser als alle Leistungsanforderungen und Erwartungen, die an Kinder gestellt werden […], dass das Kind die Umgebung und die Anreize bekommt, die es zur ungehinderten Entfaltung seiner Anlagen braucht“ (vgl. a.a.O., S. 11). Außerdem müsse man „eine Umgebung schaffen, in der das Kind das wachsende Bedürfnis seines Lebens befriedigen kann. In der Umgebung muss es deshalb auch Nahrung finden, mit der es sein Wissen vertiefen und die Fähigkeiten seines Verstandes entwickeln kann. […] Wenn das Kind die Gelegenheit bekommt, aus der Umgebung nach seinem eigenen Rhythmus und seiner eigenen Arbeitsweise Wissen zu erwerben, entwickelt es sich auf erstaunliche Weise. Beim Erwerb dieses Wissens ist das Kind immer tätig“ (Montessori 2003, S. 73). Diese vorbereitete Umgebung ist nur eines der gewichtigen Kernprinzipien der Montessori-Pädagogik. Weitere sind u.a. die Schulung der Wahrnehmungsfunktion, Bewegung, Aktivität und Arbeit – „tun durch Tun lernen“ (vgl. Montessori 2001b, S. 16), – Gleichgewicht, Rhythmus, Ordnung, wiederum eng verknüpft mit der programmierten und dem Kind angepassten Vorbereitung durch den Pädagogen, Individualität und Selbstwertungsprozess, außerdem Freiheit und Spontaneität, Entdeckungen sowie Entwicklungen und besonders das „Kind als Baumeister seiner selbst“ (vgl. Raapke 2001, S. 39; hierzu auch Abb. 4). „Durch den Kontakt mit der Umgebung und ihre Erforschung baut der Verstand diesen Schatz wirkender Gedanken auf, ohne die seine abstrakten Funktionen, Grundlagen und Präzision, Genauigkeit und Inspiration entzogen wären. Dieser Kontakt wird durch die Sinne und die Bewegung hergestellt. Es ist zwar möglich, die Sinne zu erziehen und zu verfeinern, auch wenn es sich dabei nur um einen zeitlich begrenzten Gewinn im Leben des einzelnen handelt […]. Der Wert dieser Erziehung der Sinne wird jedoch deshalb nicht geringer, denn gerade während dieser Entwicklungsperiode nehmen die Grundgedanken und -gewohnheiten des Verstandes Gestalt an“ (Montessori 2001a, S. 112f.). „Mit dem sich allmählich äußernden Bewusstsein und Willen ergibt sich ein zwingendes Bedürfnis, Ordnung und Klarheit zu schaffen und zwischen Wesentlichem und Zufälligem zu unterscheiden [...] Um dieses Bedürfnis zu erkennen, braucht das Kind eine exakte wissenschaftliche Führung, wie sie durch unsere Ausstattung mit Anschauungsmaterial und unsere Übungen möglich wird“ (a.a.O., S. 113). Die Montessori-Pädagogik basiert auf den verborgenen, schöpferischen Kräften des Kindes, sodass die Aufgabe des Pädagogen darin liegt, diese Kräfte zu erwecken und zu aktivieren, um das Kind zu motivieren und zu harmonisieren (vgl. Montessori 2001b, S. 15). Dabei soll die Führung vom Material ausgehen, das vom Pädagogen vorbereitet ist und zur Lösung ent94


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wicklungsfördernder Aufgaben motiviert. Somit wird ein Lehrer, Erzieher bzw. Pädagoge im Sinne Maria Montessoris zu einem Organisator verschiedener Lernprozesse (vgl. Montessori 2002, S. 9ff.). Wie bereits erwähnt, muss ein Erzieher also lernen114 zu beobachten, wie Kinder die unterschiedlichen Mittel benutzen, wie oft sie diese Materialien gebrauchen, welche Reaktionen durch sie im Kind hervorgerufen werden „und vor allem, welche Entwicklung dadurch ermöglicht wurde“ (Montessori 2001a, S. 112). Diese Beobachtungsgabe ist nach Montessori die pädagogische Basisqualifikation (vgl. hierzu auch Hagemann/Börner 2009, S. 109f.), sie ist auch notwendig, um Ergänzungsmaterialien so zu gestalten, dass sie die Polarisation der Aufmerksamkeit115 (vgl. Holtstiege 2009, S. 134, 180ff., 195; Hedderich 2005, S. 42; hierzu auch Abb. 6), einen Zustand, der gleichzusetzen ist mit Konzentration, der Bindung der kindlichen Kräfte, dem intensiven Kontakt des Kindes mit dem Lerngegenstand 116, auslösen kann. „Das ist wohl der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen, um sie […] auszunützen“ (Montessori 1954, S. 59). Auch die Wissenschaft, z.B. die Aufmerksamkeitsdefizithypothese (vgl. u.a. Holcomb et al. 1985; Facoetti et al. 2002, 2003), liefert wesentliche Erkenntnisse für die gezielte Förderung von legasthenen Menschen, woraus sich u.a. die Erkenntnis ergibt, dass legasthene Menschen in den Bereichen der Aufmerksamkeit eine gezielte Förderung benötigen, um der zeitweise auftretenden Unaufmerksamkeit beim Lesen und Schreiben entgegenzuwirken. Daraus lässt sich folgern, dass „die Stärkung bzw. Schärfung der Funktion der Sinneswahrnehmungen, die man für das Erlernen des Schreibens und Lesens braucht, und eine Förderung im Symbolbereich“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 153) stattfinden müssen. Eine signifikante Voraussetzung für diese Polarisation der Aufmerksamkeit ist die Selbstständigkeit, die bei der Bewegung in der vorbereiteten Umgebung von essentieller Bedeutung ist. „Das Kind wird dabei zum Entdecker der Welt und hat den Wunsch immer tiefer einzudringen und seine Entdeckungen zu verwerten. Konzentration als tätige Meditation am Detail bedeutet ein SichAuftun des Geistes, das […] als aktives Verstehen bezeichnet wird und ein schöpferisches Phänomen darstellt“ (Montessori 1976, S. 101, 118, 204).

114

Grundlegend dafür ist die entsprechende Aufklärung der Eltern durch pädagogische Beratung sowie elternbildende Maßnahmen (s.o. Kapitel 7.1.1). 115 Findet das Kind während einer sensiblen Phase eine seinen Bedürfnissen exakt entsprechende Beschäftigung, so ist es zu einer tiefen Konzentration fähig, die als Polarisation der Aufmerksamkeit bezeichnet wird. Das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit wird heute von der Neuropsychologie bestätigt. 116 Für das Auftreten dieser Polarisation der Aufmerksamkeit sind der Altersstufe des Kindes entsprechende Lernmethoden zu entwickeln.

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So löst jeder neue bzw. bedeutungsvolle Reiz eine Aktivierungsreaktion aus. Nach mehrmaliger Wiederholung desselben Reizes tritt die Habituation ein. Wird ein neuer Reiz angeboten oder wird der alte Reiz bzw. Anteile dessen verändert, tritt diese allgemeine Aktivierung wieder auf. Die Ausdauer, Aufnahmebereitschaft und Konzentration sind von Kind zu Kind unterschiedlich, daher muss der Erzieher, um jedem Kind in „einer vorbereiteten Umgebung die notwendigen Erziehungsmöglichkeiten zu eröffnen“ (Montessori 2002, S. 130), fähig sein, eine dem Kind entsprechende pädagogische Strategie zu erarbeiten. Nach langjährigen Beobachtungen erkannte Montessori einen dreiteiligen Arbeitszyklus: „Die Konzentration umfaßt demnach drei Stufen: die ‚vorbereitende Stufe‘, die ‚Stufe der großen Arbeit‘, die mit einem Gegenstand der äußeren Welt im Zusammenhang steht, und eine dritte, die sich nur im Inneren abspielt und die dem Kinde Klarheit und Freude verschafft“ (Montessori 1992a, S. 52f.). Hieraus leitet sich die zentrale Frage der Montessoripädagogik ab: durch welche didaktischen Bedingungen dieses Phänomen wiederholt hervorgerufen werden kann. In einer solchen tiefen Konzentrationsphase lässt sich das Kind durch keine anderen Reize von seiner Tätigkeit abbringen. Dieser Erkenntnisprozess beeinflusst nicht nur sein Denken, sondern seine gesamte Persönlichkeitsentwicklung positiv. Für diesen Prozess prägt Montessori den Begriff der Normalisation bzw. Normalisierung (vgl. Holtstiege 2009, S. 18, 189ff.; Raapke 2001, S. 206), der nach Montessori den Prozess und den Zustand beschreibt, nach dem Kinder allmählich friedlich und ausgeglichen werden, sich in aller Ruhe an eine selbst gewählte Arbeit machen, sich den Umgang mit einem bestimmten ausgewählten Material zeigen lassen, daran solange sie wollen intensiv arbeiten und zufrieden mit dem Ergebnis, und mit sich selbst, die Arbeit abschließen können. Hiermit ist demnach die Wiederherstellung der wahren positiven Möglichkeiten, über die das Kind von Natur aus verfügt, die aber bei einer unangemessenen Behandlung durch die Erwachsenen verbogen werden, gemeint. Bereits die Bezeichnung „Sinnesmaterial“ weist darauf hin, welche Bedeutung Montessori der Schulung der Sinne beigemessen hat. Diese Schulung der Sinne ist eine Übung im differenzierten Empfinden, mit Hilfe der Sprache im Wahrnehmen und damit auch im Bedeutunggeben, als ein Weg zur Entwicklung und Förderung der Kognition. Und in diesem Sinne soll dieser Ausdruck auch verstanden werden. Alle von ihr erarbeiteten Materialien, die der Förderung einer differenzierten Wahrnehmungsverarbeitung dienen sollten, waren in Abstimmung darauf, in welchem Entwicklungsalter das Material Interesse wecken und zu konzentriertem Handeln anregen konnte und auch welche Ausmaße es haben müsste, konzipiert (vgl. Montessori 1987). Was nach Montessori mit dem Material erreicht wird, ist eine zunehmend feinere Verarbeitung von Reizen diverser Modalitäten. Es ist die differenzierte Wahrnehmungsver96


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arbeitung, die zu immer komplexeren funktionellen Systemen und damit schließlich zu kognitiven Leistungen führt. Das Material soll durch seine Ästhetik Anziehungskraft auf das Kind ausüben und es so zur Tätigkeit anregen. „Um eine Sache interessant zu machen, genügt es nicht, daß sie von sich aus interessant ist, sondern sie muß dem Tätigkeitsdrang des Kindes angemessen sein. Wenn das Kind einen unveränderlichen Gegenstand nur „sehen“ oder „hören“ oder „anfassen“ darf, ist das Interesse nur oberflächlich und springt von einer Sache zu anderen“ (Montessori 1987, S. 118). Sinnvollerweise muss das Material einerseits der jeweiligen Entwicklungsphase117 des Kindes entsprechen, d.h., es muss mit ihm umgehen, es bewegen und benutzen können. Der Ansatz, bzw. die Orientierung dieser Pädagogik ist die konsequente Art und Weise, dem Kind bei seiner Entwicklung zum menschlichen Werden geeignete Hilfe im Kontext und unter der Bedingung menschlichen Fortschritts anzubieten. Zu solch wichtigsten Hilfen gehört die Lehre über die sensitiven Phasen118. Dem Kind zur Selbstständigkeit zu verhelfen119 und „zu erkennen, was das Kind in den verschiedenen Zeitpunkten seiner Entwicklung lernen muss“ (zit. nach Holtstiege 1997, S. 10), war für Montessori von zentraler Bedeutung. Jedes Kind durchläuft verschiedene Entwicklungsphasen, die jeweils durch bestimmte Sensibilitäten, Montessori nennt sie sensible Perioden (Montessori 1978, S. 46f.), gekennzeichnet sind. Es sind Phasen in der Entwicklung des Kindes, die von einer besonderen Empfänglichkeit für bestimmte Lernvorgänge und spezifische Fähigkeiten (z.B. Bewegung, Sprache u.a.) in der Begegnung mit der Umwelt geprägt sind, weshalb sich das Kind mit intensiver Konzentration entsprechenden Bildungsanreizen zuwenden kann, formale und inhaltliche Kompetenzen erwirbt und sich diese dauerhaft einprägt. Es handelt sich dabei um ein „entwicklungsspezifisches inneres Gerichtetsein auf die Umwelt zur Bewältigung immanent gesetzter Aufgaben, deren Lösung erst Reifung ermöglicht“ (Röhrs 1998, S. 263). Für Montessori bezeichnen die sensiblen Perioden quasi den Strukturplan der geistigen Entwicklung des Kindes. Sie beschreibt diese sensiblen Phasen wie folgt: „Das Kind macht seine Erwerbungen in seinen Empfänglichkeitsperioden. […] Auf Grund dieser Empfänglichkeit vermag das Kind einen außerordentlich intensiven Zugang zwischen sich und der Außenwelt herzustellen, und von diesem Augenblick an

117

Auf die Bezeichnung „Entwicklungsstand“ wird verzichtet, da Entwicklung fließend und nicht stufenartig und in exakt voneinander abgegrenzten und abgrenzbaren Stufen verläuft. 118 Diese Begriffe werden als Synonyma verwendet für: „sensible Perioden“, „sensible Phasen“ oder auch „Empfänglichkeitsphasen“. 119 Die zunächst extrinsische Motivation nach einer ersten Begegnung des Kindes mit dem Montessori-Material wandelt sich später bei vielen Kindern zu einer intrinsischen Motivation. Anfangs kennt das Kind das Material nicht, doch bald kann es selbstständig damit umgehen.

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wird ihm alles leicht, begeisternd, lebendig. Jede Anstrengung verwandelt sich in einen Machtzuwachs. Erst wenn während einer solchen Empfänglichkeitsperiode die entsprechende Fähigkeit errungen worden ist, senkt sich ein Schleier der Gleichgültigkeit und Müdigkeit über die Seele des Kindes. Kaum ist jedoch eine dieser seelischen Leidenschaften erloschen, da entzünden sich auch schon andere Flammen, und so schreitet das Kind von einer Eroberung zur nächsten fort“ (Montessori 1996, S. 49). Die kindliche Entwicklung teilt Montessori in drei Hauptgruppen ein (vgl. Montessori 1996). Die „Zeit des Aufbaus“ betrifft Kinder von der Geburt an bis zum dritten Lebensjahr, das Kind lernt unbewusstes Absorbieren von Sinneseindrücken für das Laufenlernen sowie das Sprechen und einen Sinn für Ordnung (absorbierender Geist120) (vgl. u.a. Holtstiege 2009, S. 35f., 39f., 70, 77). Vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr entwickelt sich eine Sensibilität für Feinmotorik, erstes begriffliches Kategorisieren, Sprachdifferenzierung und für soziale Beziehungen. Die zweite Hauptgruppe bildet die „Zeit des Ausbaus“, die das Alter von sechs bis zwölf Jahren umfasst. In dieser Phase entwickelt sich die Sensibilität für moralische Wertungen, kooperative Sozialbeziehungen und Naturerscheinungen unterschiedlichster Art. Die dritte Hauptgruppe schließlich ist die „Zeit des Umbaus“, umschließt das Alter von zwölf bis achtzehn und fokussiert Sensibilität für Gerechtigkeit und Menschenwürde, soziale und gesellschaftliche Prozesse, wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Verantwortung. Die Ausdauer, Aufnahmebereitschaft und Konzentration sind von Kind zu Kind unterschiedlich, daher muss der Erzieher, um jedem Kind in „einer vorbereiteten Umgebung die notwendigen Erziehungsmöglichkeiten zu eröffnen“ (Montessori 2002, S. 130), fähig sein, eine dem Kind entsprechende pädagogische Strategie zu erarbeiten. Die pädagogische Folgerung daraus ist die Tatsache, dass diese Sensibilitäten durch erzieherische Hilfen herausgefordert und optimal gefördert werden müssen, denn „keine Erziehung kann später auslöschen, was in der konstruktiven Epoche der Kindheit inkarniert wurde“ (Montessori 1987, S. 161). So führt bspw. die Sensibilität für Bewegung bei einem kleinen Kind zur Freude an allen Übungen, die entscheidend zur Bewegungskoordination, zum Begreifen der Umwelt und zur Selbstbeherrschung beitragen. Die Sensibilität für Ordnung führt zum Aufbau geistiger Ordnungsstrukturen und zum Erfassen ordnender Kategorien 121, während die Sensibilität für Sprache zum mühelosen Absorbieren jeder Muttersprache und die

120

Der absorbierende Geist stellt einen sehr dominierenden Aspekt der Geistesform des Kindes dar: als die Form der unbewussten Tätigkeit der kindlichen Intelligenz. 121 Eigenschaften von Gegenständen wie Größe, Länge, Gewicht etc., von zeitlichen Ordnungen, von Ritualen usw.

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Sensibilität für soziale Interaktionen (bereits bei Neugeborenen) zur Kontaktaufnahme mit der Umwelt führen122. Diese Empfänglichkeitsphasen sind jedoch von vorübergehender Dauer, es besteht die potentielle Gefahr, sie zu verpassen, da sie an bestimmte Entwicklungsphasen geknüpft sind. Deshalb ist es für Montessori, um Rückschlüsse darauf ziehen zu können, welche Lernangebote in dieser Phase vonnöten sind, von großer Bedeutung, die Kinder genau in ihrem Verhalten, bei ihrer Arbeit und ihrer Artikulation zu beobachten. Da sich Entwicklung individuell innerhalb einer gewissen zeitlichen Variationsbreite vollzieht und ein Nachreifen neben der Motivation des Kindes auch von der Plastizität des Gehirns abhängt, ist nach Montessori dieses Nachreifen nicht der sensiblen Phase entsprechend, sodass das Kind auch nicht mehr „auf natürliche Weise“ lernt. Als Folge eines Versäumnisses einer sensiblen Phase „können weitere Errungenschaften nur mit reflektierender Tätigkeit, mit Aufwand von Willenskraft, mit Mühe und Anstrengung gemacht werden. […] Es gibt also eine besondere innere Lebenskraft, welche die wunderbaren natürlichen Errungenschaften des Kindes erklärt. Stößt das Kind jedoch während einer Empfänglichkeitsperiode auf ein Hindernis für seine Arbeit, so erfolgt in der Seele des Kindes eine Art Zusammenbruch, eine Verblindung“ (Montessori 1996, S. 49). „Die Ergebnisse dieser gehemmten Sensitivitäten prägen sich dann als Fehler für den Rest des Lebens ein“ (Montessori 1978, S. 120f.). Die Einflüsse, die das Reifen, Lernen und Verhalten bestimmen, sind so vielfältig, dass es oftmals erstaunlich ist, was bei einem Kind trotz ungünstiger Voraussetzungen möglich ist. Doch es ist wichtig, die Bedeutung der sensiblen Phasen innerhalb der kindlichen Entwicklung zu kennen, in der Pädagogik zu berücksichtigen und für die Erziehung der Kinder die Konsequenzen daraus zu ziehen. Es ist Aufgabe der erziehenden Personen, durch genaue Beobachtung zu erkennen, welche Aspekte der Umgebung sich das Kind für das Lernen besonders intensiv nutzbar machen kann. Der Erzieher sollte sich also an den Lernbedürfnissen der jeweiligen Entwicklungsphase orientieren, damit er durch entsprechende Angebote bestmöglich darauf antworten kann. In diesem Zusammenhang spricht die Entwicklungsbiologie des 21. Jahrhunderts von Zeitfenstern oder kritischen Perioden, innerhalb derer ein bestimmtes Verhalten erlernt werden muss, da es nach dem Schließen dieses Fensters schwer oder fast unmöglich ist, dieses Verhalten noch zu erwerben (vgl. Klein 2007, S. 30). Der zentrale Punkt aller Überlegungen Montessoris und somit ihres ganzen Erziehungskonzepts ist ihre Grundhaltung dem Kind gegenüber. Priorität haben die Liebe und Achtung der

122

So kann das Kind in die menschliche Gemeinschaft hineinwachsen.

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Erwachsenen gegenüber den Kindern, für die die Menschenrechte selbstverständlich ebenso gültig sind wie für Erwachsene (vgl. Raapke 2001, S. 18). Das gesamte pädagogische Konzept sowie die von Montessori entwickelte Didaktik und ihre umfassende Pädagogik lassen sich für die Förderung geistig behinderter, normal entwickelter und auch legasthener Kinder einsetzen123. Zu Recht darf Montessoris pädagogisches Konzept nach Biewer nicht als „Kanon eindeutiger festgelegter pädagogischer Maßnahmen“ (Biewer 2001, S. 197), sondern eher als Ansatz zum richtigen pädagogischen Handeln gesehen werden. 8.1.2

Aktualität des Montessori-Modells

Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen bei Kindern sind eine ebenso vielbeklagte Auffälligkeit wie die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, wodurch der Sichtweise Montessoris aktuelle Bedeutung zukommt. Die Montessori-Pädagogik lebt in vielfältiger nationaler und internationaler124 Form auch im neuen Jahrtausend. Insgesamt gibt es in Deutschland

ca.

1000

Montessori-Einrichtungen,

die

die

frühpädagogischen

Montessori-

Einrichtungen, die Montessori-Kitas (Kinderhäuser) und die Montessori-Schulen der Primarsowie Sekundarstufen umfassen125. In vielen Bundesländern haben sich eigene MontessoriLandesverbände gegründet, die als Interessensvertretung fungieren und als Anlaufstellen dienen. Um die Interessen auch auf Bundesebene zusammenzuführen, bildungspolitische Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, allgemeine Ausbildungsstandards und die Qualitätsentwicklung von Montessori-Einrichtungen zu garantieren, wurde im Jahr 2004 der MontessoriDachverband Deutschland e.V. (MDD) gegründet. Die Aktualität der Montessori-Pädagogik lässt sich neben dem durch eine Fülle empirischer Untersuchungsergebnisse belegten wissenschaftlichen Interesse auch in der Pädagogik nachweisen. Durch falsches Erziehungsverhalten kann Entwicklung leicht beeinflusst bzw. beeinträchtigt und sogar gestört werden, weshalb es ein pädagogischer Auftrag ist, die Umwelt so zu gestalten, dass Entwicklung nicht gefährdet wird. Hierbei ist es wichtig, dass Erzieher und Pädagogen gute Kenntnisse über die Entwicklung bzw. die Bedürfnisse eines Kindes besitzen, die sie

123

Einige Elemente lassen sich für die Förderung bzw. das Training lese- und rechtschreibgestörter Kinder vielversprechend einsetzen, da es sich bei den elementaren didaktisch-pädagogischen Materialeigenschaften um grundlegende Eigenschaften handelt, die allen Gegenständen der erzieherischen Umwelt eines Kindes entsprechen sollen, nämlich Ästhetik, Begrenzung, Aktivitätsmoment und Fehlerkontrolle (vgl. hierzu auch Holtstiege 2009, S. 110ff.). 124 Z.B. zeichnet Gebhardt-Seele (1999) die Geschichte der Montessori-Pädagogik nach, eine ausführliche Darstellung der internationalen Entwicklung der Montessori-Pädagogik findet sich bei Ludwig (1999). 125 Vgl. dazu Montessori Dachverband Deutschland, Homepage (2010).

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über die genaue Beobachtung von Kindern gewinnen können. Auf der Grundlage dieser Annahmen entwickelte Maria Montessori ein bis in die heutige Zeit gültiges Handlungskonzept für Erzieher und Lehrkräfte (vgl. hierzu u.a. Missmahl-Maurer 1994; Ludwig 2009), wobei die Bedeutung der Arbeit Montessoris für die Gegenwart darin zu liegen scheint, Kriterien für die Beschaffenheit von didaktischen Entwicklungsmaterialien, die eine angemessene Herausforderung von Entwicklung durch gezielte didaktische Mittel und Materialien ermöglichen, gefunden zu haben. Das Material Montessoris gilt nur als Mittel zum Zweck, nämlich dem Kind aktiv bei seiner Entwicklung zu helfen, wobei das Kind immer das Wichtigste in allen Bemühungen bleibt (vgl. Holtstiege 2009, S. 119). „Mit Montessori hätten wir eine Orientierung, eine pädagogische Leitlinie innerhalb der wohl zeitgemäße Erkenntnisse mit berücksichtigt werden, auf der aber nicht am Symptom, sondern an der Verursachung, den nicht befriedigten Bedürfnissen des Kindes, angesetzt wird“ (Milz 1999, S. 87). Die Grundsätze und Prinzipien Montessoris lassen sich durchaus in angemessener Weise auf die heutige Zeit übertragen, sie haben immer noch eine gewisse Aktualität, doch sollte berücksichtigt werden, dass man es mit einer „veränderten Kindheit“ zu tun hat, da die Kinder in der heutigen Zeit in einer ganz anderen Umwelt aufwachsen und viel weniger Bezug zur Natur haben als die Kinder vor einer oder zwei Generationen. Da die meisten Kinder ihre Zeit hauptsächlich in der Wohnung verbringen, wenig Bewegung haben und immer mehr Kinder ohne Geschwister oder mit alleinerziehenden Elternteilen aufwachsen, machen sie völlig andere Kindheitserfahrungen. Zieht man die Übungen des praktischen Lebens als Beispiel heran, so kommt der Sorge für die Umgebung heute eine noch tiefere Bedeutung zu und damit auch der MontessoriPädagogik Aktualität. Betraf dieser Bereich ursprünglich Haus und Garten, so muss der Blick unter den heute gegebenen Umständen auf eine bedrohte Umwelt erweitert werden. Heute werden die damals von Montessori empfohlenen Materialien126 von den Übungen mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs in Kombination mit solchen, die mit etwas Phantasie leicht selbst herzustellen sind, ergänzt (vgl. Milz 1999, S. 91). Solche Elemente aus dem pädagogischen Konzept Montessoris127 haben heute durch neuropsychologische Erkenntnisse eine neue Bestätigung bekommen (vgl. Milz 1997, S. 229; Schulze-Frieling 2003b, S. 119). Bereits kleine Kinder müssen zu einer Verantwortlichkeit gegenüber ihrer Umwelt erzogen werden,

126

Mit ihrem Werk „Ein Weg für alle“ (1996) hat Lore Anderlik eine Fülle von Anregungen dazu gegeben. Ausführlich hierzu: s. Hellwig 2007. 127 wie die Schulung der Sinne, die sensorische Stimulation zur Wahrnehmungsförderung (vgl. Holtstiege 2009, S. 98), die vielfältigen Variationen zur Generalisierung der erworbenen Fähigkeiten, Erziehung des Selbstbewusstseins des Kindes durch das eigene Tun.

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die sie entsprechend ihrer Entwicklungsphase leisten können. In diesem Kontext spricht Montessori von komischer Erziehung128 (Montessori 1988), einem wesentlichen Erziehungsansatz. „Einzelheiten lehren bedeutet Verwirrung stiften. Die Beziehung unter den Dingen herstellen bedeutet Erkenntnisse vermitteln“ (Montessori 1988, S. 126). Der Pädagoge soll dem Kind zunächst den Ablauf der betreffenden Tätigkeit zeigen, das Kind soll dann jedoch die Freiheit haben, die Aktion auf seine eigene Weise auszuführen. Montessori unterscheidet zwischen Zeigen129 und Lehren (vgl. Milz 1999, S. 91), besonders wichtig ist allerdings, dass dabei die Serialität, das geordnete Nacheinander, deutlich erfahren wird. Ist die Montessori-Pädagogik also eine moderne Pädagogik, die Neues oder zumindest anderes als die verschiedenen Varianten der konventionellen Pädagogik bringt, die wir alle mehr oder weniger kennen? Befindet sie sich auf der Höhe der Zeit, ohne nur eine modische Strömung zu sein? Betrachten wir dazu einige Punkte der Montessori-Pädagogik genauer. In der Montessori-Pädagogik hat jedes Kind das Recht, seinen eigenen individuellen Weg zu gehen, wodurch ein hohes Maß an individueller Unabhängigkeit entsteht, jedoch nur im Rahmen eines pädagogisch vorstrukturierten Raumes. In ihrem Werk „Die Entdeckung des Kindes“ beschreibt Montessori zahlreiche didaktische Materialien und gibt außerdem Hinweise zur deren Einsatzmöglichkeiten. Ein besonderes Maß an eigenständigem Lernen bietet die beliebige Wiederholbarkeit der Lernaktivitäten und eine Isolierung der Lernschwierigkeit im Material. Dieses von Montessori entwickelte Material und die zugeordneten Übungen fördern tätige, die Sinnesorgane ansprechende Vorgänge, die von geistiger Konzentration begleitet werden und zur Ordnung sowie zur Polarisation der Aufmerksamkeit führen. Das pädagogische Ziel Montessoris besteht demzufolge darin, durch die richtige erzieherische Methode zum Zusammentreffen von körperlicher und geistiger Konzentration beim Kinde beizutragen und die bestmögliche Selbstentfaltung des Kindes zu gewährleisten. Diesem Ziel kommt die Theorie einer Entwicklungspädagogik nach H. Roth sehr nahe, nach der Entwicklung in erzieherischer Perspektive als ein beeinflussbares Geschehen betrachtet wird, das durch das Interesse des Pädagogen und die Ermöglichung aktiver Entwicklungshilfe und aktiver Entwicklungssteigerung „bis zum Optimum der potentiellen Möglichkeiten eines Kindes“ (Roth 1971, S. 26) gelenkt wird. Die zwei vorausgesetzten Auffassungen dieser Theorie sind zum einen die Entwicklung des Menschen als eine aktiv zu betreibende Aufgabe im Sinne einer fördernden Beeinflussung und zum anderen die Einsicht, dass Entwicklung abhängig ist „von

128 129

Die aktuelle Wissenschaft spricht von Tiefenökologie. Zum Begriff des Zeigens in der Pädagogik ausführlicher auch Prange/ Strobel-Eisele 2006.

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einer angemessenen Herausforderung des sich entwickelnden Kindes […] durch initiierende Aufgaben […]“ (Roth 1971, S. 34). Selbstverständlich ist eine solche Entwicklungsförderung von der Entwicklungsphase des jeweiligen Kindes und von einer angemessenen Herausforderung abhängig. Darunter ist die Bereitstellung von Anregungen in Familie, Kindergarten und Schule zu verstehen. Als Beispiel eines angemessenen Modells kann das Prinzip der Passung (vgl. Holtstiege 2009, S. 7, 86, 120) nach H. Heckhausen (1969) herangezogen werden. Die entwicklungspädagogische Herausforderung gemäß dem Prinzip der Passung ist gebunden an die Gestaltung von Förderungsprogrammen nach dem Grundsatz der Kontinuität – eine Forderung, die sich bei Maria Montessori bereits verwirklicht findet. Ferner bestehen Übereinstimmungen der Montessori-Pädagogik mit aktuellen systematischkonstruktivistischen Denkmodellen der heutigen Pädagogik. In Pädagogik, Heil- und Sonderpädagogik, Frühförderung, Beratung und Therapie der 90er Jahre hat das systematischkonstruktivistische Gedankengut 130 breite Anerkennung gefunden (vgl. Hedderich 2005, S. 127). Eine Parallele zu Montessori wird von Mantura und Varela (1987) gezogen, die Selbstorganisation als grundlegenden Mechanismus des Lebendigen sehen. Diese Selbstorganisation liegt bei Montessori im Kind, das „Baumeister seines Selbst“ ist. In der Heil- und Sonderpädagogik hat der skizzierte Bezugsrahmen besondere Berücksichtigung erfahren, da auch ein Mensch mit Behinderung nicht ein defizitäres, sondern ein sich selbst organisierendes Wesen ist. In der neueren Diskussion zur Frühförderung zielt diese auf die individuell bestmögliche Entwicklung ab. Nach Kautter et al. (1988) wird das Kind folglich als „Akteur seiner Entwicklung“ (Kautter et al. 1988) charakterisiert, „der sich konstruktiv und verstehbar mit der individuellen Lebenswelt auseinandersetzt, in der er sich vorfindet, als kreatives Wesen, das für die in seiner Lebenswelt auftretenden Probleme Lösungen findet, die für es akzeptabel sind“ (Kautter 2002, S. 194), charakterisiert. Dies bedeutet konkret, dass die Verhaltensweisen des Kindes als individuelle, eigenständige Lernwege in eine angemessene, kindgemäße Förderung einzubeziehen sind, wie es auch nach Montessoris Methode geschehen soll131. Obwohl es sich bei der Montessori-Pädagogik um eine Konzeption handelt, die zur Jahrhundertwende entwickelt wurde, bietet sie wertvolle Anregungen für Erziehung und Unterricht auch nach der Jahrtausendwende. Notwendig ist es allerdings, das Kind „als Kind des 21. Jahrhunderts“ in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken und zu verstehen.

130

Ein bedeutsamer Vertreter dieses sog. radikalen Konstruktivismus ist u.a. Piaget. S.o.: „Hilf mir, es selbst zu tun“ (Raapke 2001, S. 14), d.h., dass das Kind den Weg weist und die erziehende Person ihm folgt, indem sie angemessene Materialien vorbereitet. 131

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Der Begriff „Methode“ war Montessori für ihre erzieherische Konzeption zu eng, da es „vielmehr um eine umfassende Förderung menschlicher Personalität“ gehe (vgl. Ludwig 2000, S. 14). Schließlich kann zu Recht gesagt werden, dass Montessori wahrscheinlich immer aktuell sein wird132, weil durch die von ihr entwickelten Materialien ein systematisch durchdachtes Programm der Förderung und Anregung sowie der spielerisch herausfordernden, initiierten Aufgaben durch stimulierendes Beschäftigungsmaterial gegeben ist. 8.1.3

Pädagogisch orientiertes Legasthenietraining mit Montessori-Material

Die italienische Ärztin und Pädagogin entwickelte ihre pädagogische Methode für die Arbeit mit behinderten Kindern und übertrug sie später auf normal entwickelte Kinder (vgl. Montessori 2001a, S. 29ff.). Die Ärztin Montessori beobachtete zunächst das Kind und stellte dann ihre Diagnose, indem sie den Entwicklungsfortschritt 133 des Kindes einschätzte und beobachtete, wofür es sich von sich aus interessierte. Erst danach machte sie ein „Trainingsangebot“ und beobachtete weiterhin, wofür sich das Kind von sich aus interessierte. Montessoris Pädagogik ist eine Pädagogik, die das Kind als eigenständige, individuell orientierte Persönlichkeit betrachtet, auf die der Unterricht und die Erziehung ausgerichtet sein sollten, damit das Prinzip der freien Wahl (vgl. Fischer et al. 1999) und der individuellen Erziehung Geltung haben. Die natürlich initiierte Neugier der Kinder wird zum Fokus, sie erhalten Motivation über ihre Lernschritte durch die freie Wahl, selbst entscheiden zu können und dabei gut in ihrer Entwicklung fortzuschreiten. So liegt in der Montessori-Pädagogik beständig die Betonung auf Reziprozität bzw. Interaktion, Differenzieren, Vergleichen und Verifizieren, was ein Hilfsmittel für die genaue, wissenschaftliche Erkundung seiner Lebenswelt darstellt. Folglich sind die von Montessori erarbeiteten Materialien für das selbstständige Erarbeiten von Sachinhalten konzipiert. Bei dieser freien Beschäftigungswahl gelten das Prinzip der relativen Zeitfreiheit134 und das Prinzip der relativen Wahlfreiheit135, d.h., dass die Lernutensilien in ihrer Beschaffenheit vom Kind selbstständig genutzt werden können, dass sie also kindgerecht be-

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wenn auch im Laufe der Jahre immer wieder mit kleineren Abänderungen bzw. Ergänzungen zu rechnen sein muss. 133 In Montessoris Buch „Das kreative Kind“ (1984) finden sich Diagramme für bestimmte Bereiche der Entwicklung des kleinen Kindes: Bewegung, Sprache, Stadien der Unabhängigkeit und möglicherweise gegenläufiger Regressionen. Hier sind Entwicklungsverläufe schematisiert worden. Die Zeitraster sind selbstverständlich nicht für jedes Kind gleich. Wenn ein Kind eine bestimmte Entwicklungsphase zum angegebenen Zeitpunkt noch nicht erreicht hat, besteht noch kein Grund zur Besorgnis, jedoch ist es ein Hinweis, diese Entwicklung etwas genauer zu beobachten. 134 Wann und wie lange es sich mit einer Aufgabe bzw. einem Material beschäftigt, kann das Kind selbst bestimmen, wobei selbstverständlich die Zeitressourcen, z.B. durch eine Trainingsstunde, begrenzt sind. 135 Das Kind wählt aus den vorhandenen Materialressourcen.

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schaffen sind. Das Kind wird mit dem Material in der Dreistufenlektion (vgl. Milz 1999, S. 130f.) vertraut gemacht. Die erste Stufe bildet die Verbindung von Sinneswahrnehmung und Assoziation, indem ein Gegenstand benannt wird. Der Pädagoge weist auf den Gegenstand oder dessen Eigenschaft hin und nennt klar und deutlich den zugehörigen Namen. Außer dem Namen darf kein Wort gesprochen werden, da ausschließlich Gegenstand und Name in Assoziation zueinander das Bewusstsein des Kindes erreichen dürfen. Nachdem das Kind die Benennung wiederholt hat, gelangt es zur zweiten Stufe, auf der der Name des entsprechenden Gegenstandes repetiert wird. Dies ist der wichtigste Abschnitt, da er die Festigung der Zuordnung des Namens zum Gegenstand oder zur Eigenschaft beinhaltet. Er wird durch abwechslungsreiche Aufgaben interessant und unterhaltsam gestaltet, wobei der Bewegungsdrang des Kindes berücksichtigt werden muss. Die dritte Stufe schließlich besteht aus der Erinnerung an die Abstraktion, die dem Gegenstand entspricht. In dieser Phase wird die Assoziation zwischen Gegenstand und Namen überprüft. Wenn das Kind das Material kennt, mit seinem Gebrauch vertraut und in der Lage dazu ist, die jeweiligen Eigenschaften zu unterscheiden, soll es demnach auch in die genauen Benennungen eingeführt werden. Dies geschieht durch Fragen wie z.B. „Was ist das?“ oder „Wie ist es?“ Falls die Aussprache des Kindes noch unsicher ist, kann sie durch wiederholtes Vor- und Nachsprechen gefestigt werden. Damit werden das Sprachverständnis und die Sprachbenutzung gefördert, es wird dem Kind ermöglicht, seinen Wortschatz zu erweitern. Vor allem aber wird durch die Verbindung der erfahrenen Qualitäten, ihrer Gleichheiten oder Unterschiede mit der dazugehörigen Bezeichnung auch die Fähigkeit zum differenzierten Wahrnehmen unterstützt. Hierbei geht es um eine Wechselwirkung von Erkennen und Benennen, wobei die korrekte Handlung das Bindeglied darstellt. Schafft man es, das Kind zur konzentrierten Tätigkeit zu bringen, so darf es durch keine äußeren Einflüsse von seiner Arbeit abgelenkt bzw. gestört werden. Die Aufgabe des Trainers ist es, für eine ruhige Atmosphäre in einer geeigneten Umgebung zur sorgen. Nachdem das Kind durch das Spiel mit Montessori-Material Selbstbewusstsein erlangt und gelernt hat, seine initiierte Motivation zu steuern, folgt als Ziel der Arbeit mit dem Montessori-Material die Materialablösung, d.h., dass das zunächst konkret und aktiv Gelernte ab-strakt erfasst werden soll. Der Pädagoge trägt zum Erfolg der Montessori-Methode bei, indem er neben der Beobachtungsgabe auch über „Flexibilität, adäquate Reaktionen und entsprechendes Handeln“ (Montessori 2002, S. 129) verfügt, sodass er sich immer wieder auf neue Kinder, deren Eltern und neue Situationen einstellt. Die von Montessori erarbeiteten Materialien und Methoden können auf diese Weise die Grundlage für eine systematische Behandlung le105


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gasthener Kinder schaffen. Montessori ist vor allem die Entwicklung eines umfassenden Konzepts zur Schulung der Sinneswahrnehmung bzw. die Bereitstellung von Materialien zur Förderung der gesprochenen und geschriebenen Sprache (vgl. Holtstiege 2009, S. 100) zu verdanken, hier wird die Bedeutung für die Behandlung der Legasthenie evident. Für den Umgang mit legasthenen Kindern, deren seelischer Bereich besonders empfindsam sein kann, benötigt der Trainer Einfühlungsvermögen, Beobachtungsgabe und Phantasie. Durch ständige, kritische Überprüfung können die Grenzen der kindlichen Entwicklung und der Möglichkeiten des Kindes erkannt werden (vgl. von Oy 1996, S. 15). Die Aktivität des Kindes besteht im möglichst richtigen Handeln. So findet das Kind bei jedem Schritt Neues und schreitet mit der inneren Kraft vorwärts, die ihm Befriedigung gibt. Es geht auch nicht um ein eigenständiges Suchen, Finden und vielleicht sogar Erfinden, da dies das Heraussuchen von etwas aus einem komplexen Ganzen voraussetzt. In der Montessori-Pädagogik wird nur gesucht, was eindeutig gefunden werden kann, und nur erfunden, was sich aus der zwingenden Logik des Materials und seiner Organisation in der adäquat vorbereiteten Umgebung ergibt. Das Sinnesmaterial Montessoris ist nicht nur ein in seiner Logik miteinander vernetztes didaktisches (Lern-)Material, sondern es kann ebenso diagnostischen Zwecken dienen. So lassen sich bspw. mit Geräuschdosen sehr schnell Hörschäden erkennen, die sonst vielleicht unbemerkt bleiben und derentwegen das Kind schlimmstenfalls später als lernbehindert erklärt werden würde, nur weil es im Unterricht nicht ausreichend hören konnte. Die speziellen Farbtäfelchen können eine Farbblindheit erkennbar machen. Aber auch Schwierigkeiten in der Bewegungskoordination, im Formgefühl und in der visuellen Wahrnehmung können beim Umgang mit dem Sinnesmateriel schon früh erkannt und, wenn nötig, behandelt werden. Dies gilt für den berühmten „rosa Turm“, die „roten Stangen“ oder die „braune Treppe“ ebenso wie für das Material zum Riechen oder zum Tasten (vgl. auch Raapke 2001). Was Kinder in den Regelschulen lernen sollen, steht im Lehrplan oder in den Rahmenrichtlinien. Dabei wird die Frage, ob ein Kind individuell in seiner psychischen Konstitution sowie in seiner Intelligenzentwicklung so weit fortgeschritten ist, dass es sich mit Interesse diesen Anforderungen widmen und sie so auch bewältigen kann, offiziell nicht berücksichtigt. Maria Montessori hatte kein Interesse daran, dass alle Kinder im gleichen Zeitraum mit dem gleichen Tempo die gleichen Ziele erreichen, da jedes Kind seinen eigenen, individuellen Weg gehen sollte. Ebenso wie auch anderen Pädagogen war Montessori bewusst, dass Kinder über unterschiedliche Talente sowie verschiedene Lernfähigkeiten verfügen. Leistungskonkurrenz und Begabungsdifferenzen waren für sie unwesentlich, woraus zu schließen ist, dass sie kein Interesse an Selektion und Leistungsdifferenzierung hatte (vgl. Raapke 2001, S. 18). Erst 106


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dann, wenn das Kind von sich aus die Kraft dazu hat, werden Leistungen erwartet, denn auch wenn Kinder unterschiedliche Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb mitbringen, sollten sie alle die gleichen Möglichkeiten haben. Nur unter besonderer Berücksichtigung der oben beschriebenen Bedingungen kann die von Montessori betonte Normalisation erreicht werden. Das bedeutet, dass das legasthene Kind die eigene Legasthenie akzeptieren, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben so weit wie möglich überwinden, zum seelischen Gleichgewicht kommen und somit zur Integration in die Gesellschaft vorbereitet werden kann. Denn „ein Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen […] oder das soziale Wesen par excellence“ (zit. nach Ludwig 2000, S. 15).

8.2 Ansätze nach der AFS-Methode von Astrid Kopp-Duller 8.2.1

Grundlagen der AFS-Methode

Die AFS-Methode bietet eine Möglichkeit der gezielten pädagogischen Förderung legasthener Kinder. Ausgehend von der Tatsache, dass legasthene Menschen136 eine andere Informationsverarbeitung haben, die sich lediglich beim Lesen- und Schreibenlernen bemerkbar macht und aufgrund dessen Betroffene eine andere Lernfähigkeit haben, wurde die AFS-Methode entwickelt. Ziel ist es, den Menschen mit Schreib- und Leseproblemen eine individuelle Förderung zu ermöglichen, pädagogisch-didaktisch orientiertes Handeln besser zu erklären und planbar zu machen, um damit einen Beitrag zur Professionalisierung zu leisten. Die AFS-Methode wird auch als umfassende Methode bezeichnet, weil die Förderung auf allen Gebieten ansetzt, in denen das Kind Auffälligkeiten zeigt. Die Entwicklung dieser speziellen Methode erfolgte auch im Hinblick auf die zunehmende Fülle an empirischen Forschungsergebnissen, die immer größer werdende Diskrepanz zwischen der Wissenschaftsentwicklung und den unbewältigten Praxisproblemen. Zwischen der Wissenschaft und der Praxis einen Bezugspunkt zu schaffen, indem wissenschaftliche Forschungsergebnisse für die praktische Arbeit mit Betroffenen umgesetzt werden, ist von großer Bedeutung. Die multisensorische Methode, die sowohl den Ursachen als auch den Symptomen einer Legasthenie gerecht wird, ist Ergebnis qualitativer und quantitativer empirisch-pädagogischer Forschung und bietet einen neuen modernen Weg der pädagogischen Förderung bei Lese- und Schreibproblemen. Ihre Entwicklung wurde durch Feldstudien in interdisziplinärer Zusam-

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Im Rahmen der AFS-Methode sind, wenn von legasthenen Menschen oder von Menschen mit Lese- und Schreibproblemen gesprochen wird, dyskalkule Menschen (also solche mit Rechenproblemen) impliziert.

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menarbeit unter Einbeziehung neuester wissenschaftlicher Forschungsergebnisse ermöglicht (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 151ff.). Studien, die im Rahmen pädagogischer Forschung durchgeführt wurden, belegen, dass bei einem Teil der von Lese- und Schreibproblemen betroffenen Menschen die alleinige vermehrte Förderung am Symptom, d.h. an den Fehlern, nur eine geringe oder gar keine Wirkung zeigt, also nicht erfolgreich ist. Das Fundament der Methode bildet die „logische Schlussfolgerung, dass ein legasthener Mensch nur durch ein spezielles und umfassendes Training“ (Kopp-Duller 2008a, S. 39) befähigt wird, das Schreiben und Lesen zu erlernen, da seine differenten Sinneswahrnehmungen und Sinnesleistungen miteinbezogen werden müssen. Besonders im Falle einer genetisch bzw. biologisch bedingten Verursachung, wenn also eine Legasthenie vorhanden ist, ist eine verstärkte Förderung alleine im Schreib- und Lesebereich in Form von vermehrtem Üben nicht ausreichend. Da der Denk- und Handlungsprozess bei legasthenen Kindern meist nicht parallel verläuft, ist eine weitere Grundlage der AFS-Methode die Forderung nach einem Zusammenschluss dieser beiden Prozesse (vgl. a.a.O., S. 40). Die Erkenntnis, dass ein ausschließliches Schreib- und Lesetraining bei einem legasthenen Menschen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt 137, impliziert die Interventionen im Aufmerksamkeits- und Sinneswahrnehmungsbereich. Daher verbindet die AFS-Methode spezielle Elemente zur Gewährleistung einer umfassenden Förderung. Die Besonderheit der AFS-Methode ist das Zusammenwirken der drei besonders zu fördernden Komponenten – Aufmerksamkeit, Funktion, Symptom – zusätzlich zum bedeutenden Lobes- und Zeitfaktor. All diese Elemente sollen sich gegenseitig ergänzen, ineinander wirken und somit das legasthene Kind bei seiner Entwicklung unterstützen. Die grundlegenden Anforderungen, die erfüllt sein sollten, sind folgende: „Das bewusste Steigern der Aufmerksamkeit beim Lesen und Schreiben muss erreicht werden, […] die Sinneswahrnehmungen, die Funktionen, müssen durch ein gezieltes Training verbessert werden,, […] im Symptombereich, also beim Schreiben, Lesen und Rechnen, müssen spezielle Techniken angewendet werden“ (a.a.O., S. 39), um dem legasthenen Menschen die Bewältigung der Kulturtechniken zu ermöglichen. Die zusätzlichen Faktoren zu diesen drei bedeutsamen Bestrebungen, der „Lobesfaktor“ und der genauso relevante „Zeitfaktor“ (vgl. ebd.), müssen die grundlegenden Elemente umrahmen. Da legasthene Menschen in wesentlich größerem Ausmaß als nicht legasthene auf eine positive Rückmeldung und Motivation (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 148) bezüglich ihrer Leistungen im Schreiben und Lesen angewiesen sind, ist es besonders wichtig, jede auch noch

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Hierzu tragen maßgeblich die genaue Beobachtung sowie die daraus gezogenen Schlüsse bei.

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8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller

so kleine Leistung positiv zu reflektieren. Ohne Lob, das bereits ein Erfolgserlebnis darstellt, können betroffene Kinder die Schule nicht ohne Sekundärschäden bewältigen. Zusätzlich zu diesen positiven Resonanzen benötigen Legastheniker „effektiv mehr Zeit, um Buchstaben, Wörter, Zahlen oder Rechenoperationen im Gedächtnis zu verankern“ (Kopp-Duller 2008a, S 40). Nur mit Rücksichtnahme auf diese beiden genannten Faktoren ist ihnen die Möglichkeit gegeben, Lesen und Schreiben relativ mühelos zu erlernen. Die AFS-Methode kann ein optimales Resultat, nämlich das erfolgreiche Erlernen der Kulturtechniken, nicht ohne diese beiden Faktoren erreichen (vgl. ebd.). Die AFS-Methode garantiert eine Orientierung an den Bedürfnissen des Betroffenen selbst, d.h., dass jeder Ansatz, der zur Verbesserung der Schreib- und Lesefertigkeiten eines legasthenen Menschen führt, integriert werden kann. Die Offenheit dieser Methode sichert individuelle Interventionen (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 147ff.), womit diese der multikausalen Problematik gerecht wird und sich dadurch ein Erfolg einstellen kann. Nach einem pädagogischen Feststellungsverfahren, dem AFS-Computertestverfahren (vgl. ebd., S. 29ff.) – das gleichzeitig mit der AFS-Methode entwickelt worden ist und dem Spezialisten eine individuelle Planung des Trainings ermöglicht – soll dem Betroffenen dort geholfen werden, wo seine Probleme liegen. Dies ist für einen optimalen Erfolg unbedingt notwendig, da jede Legasthenie eine individuelle Ausprägung hat. Ein enormer Vorteil der Methode ist die Flexibilität, jederzeit das Angebot ändern zu können und auf die aktuellen Bedürfnisse des Betroffenen einzugehen. Dank der intensiven wissenschaftlichen Forschung rückt die „unbedingt notwendige pädagogisch-didaktische Hilfe“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 145) bei Leseund Schreibproblemen immer mehr in den Fokus. Mit rechtzeitiger Hilfe auf dieser Ebene ist garantiert, dass dem Kind Sekundärproblematiken, die sich zumeist im psychischen Bereich zeigen, erspart bleiben. Die Daten und Fakten der Langzeitstudie, die zwischen den Jahren 2001 und 2006 mit insgesamt 3370 Probanden durchgeführt wurde, bestätigen die Wirksamkeit der Methode. 85% der Probanden verbesserten ihre Schreib-, Lese- und Rechenleistungen kontinuierlich im zweijährigen Beobachtungszeitraum und konnten somit die Anforderungen in der Schule erfüllen (vgl. a.a.O., S. 165ff.). 8.2.2

Pädagogisch orientiertes Legasthenietraining nach der AFS-Methode

Es ist außerordentlich wichtig, dass man den individuellen Anforderungen eines legasthenen Menschen bei Interventionen im Schreib- und Lesebereich als Legastheniespezialist, Lehrer und auch als Elternteil nachkommt. Die Kombination von vorgegebenen Strukturen und frei 109


8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller

wählbaren Teilen138 der AFS-Methode erlaubt ein völlig individuelles Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes (vgl. a.a.O., S. 162). Aufmerksamkeitstraining Legastheniker, die gelernt haben, ihre Gedanken, also ihre Aufmerksamkeit, bewusst zu benutzen und zu lenken, erzielen wesentlich bessere Leistungen beim Schreiben, Lesen oder Rechnen. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu halten, wenn es um das Schreiben, Lesen oder Rechnen geht, ist bei legasthenen Menschen stark beeinträchtigt, betroffene Kinder driften meist mit ihrer Aufmerksamkeit ab und sind nicht konzentriert bei der Sache. Eine der Grundlagen der AFS-Methode ist es, Denken und Handeln wieder zu verknüpfen. Diese Fähigkeit, die Aufmerksamkeit bewusst zu lenken, zu erwerben, erfordert viel Geduld und Einfühlsamkeit. Gedankenlenken ist eine Leistung, die Zeit zum Üben, Geduld und liebevolle Unterstützung benötigt. Auch Übungen der Edu-Kinästhetik, des autogenen Trainings und anderer bewährter körpertherapeutischer Methoden werden im Aufmerksamkeitstraining genutzt (s. Abb. 7). Neben dieser intensiven Arbeit ist es selbstverständlich notwendig, dass von Seiten des Kindes der Wunsch und der Wille, seine Situation wirklich zu verbessern, vorhanden sind (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 41), da eine Verbesserung seines Zustandes nur mit der Bewusstheit und der Mitarbeit des legasthenen Kindes herbeigeführt werden kann. Grundlegend hierfür ist zum einen das Gespräch (vgl. ebd.). Das konstante Trainieren der Aufmerksamkeit bringt wesentliche Fortschritte, indem sich das Kind angewöhnt (vgl. a.a.O., S. 43), sich selbst zu beobachten, und selbst immer öfter wahrnimmt, dass es abgelenkt war. Die Technik des Gedankenlenkens sollte so tief in das Bewusstsein des Kindes dringen (vgl. ebd.), dass sie schließlich automatisch angewendet wird139. Doch auch da ist die Unterstützung der Erwachsenen gefordert. Zum anderen besteht eine Möglichkeit zur Hilfe beim Schriftspracherwerb in der „Anwendung verschiedener Techniken und Übungen zur Steigerung der Aufmerksamkeit“ (vgl. a.a.O., S. 44), wobei mit Hinblick auf die Offenheit der Methode alle Methoden und Ansätze140 erlaubt und erwünscht sind, die dem Kind helfen, seine Gedanken besser zu fokussieren. Es ist wichtig, „dass konsequent unterschiedliche Übungen zu den einzelnen Teilleistungen mit und ohne Symbolik durchgeführt werden“ (Kopp-Duller 2008a, S. 50).

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Dies ist vergleichbar mit Montessoris Gesetz der Sache bezüglich vorgegebener Strukturen und mit dem Prinzip der freien Wahl hinsichtlich der frei wählbaren Teile in der AFS-Methode. 139 Sobald sich das Kind dem Schreiben, Lesen oder Rechnen widmet, aktiviert sich diese erworbene Fähigkeit. 140 Viele so genannte Alternativmethoden können ein erfolgreiches Legasthenietraining ergänzend abrunden.

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Funktionstraining Dank der kontinuierlichen Verbesserung der Wahrnehmungsleistungen durch das Training der Aufmerksamkeit werden wesentliche Voraussetzungen für bessere Leistungen beim Lesen, Schreiben oder Rechnen geschaffen. Zu diesen Voraussetzungen gehören besonders die Sinneswahrnehmungen. Zweifellos sind intakte und gut entwickelte Sinneswahrnehmungen 141 eine enorm wichtige Voraussetzung für einen problemlosen Schriftspracherwerb. Ein weiterer bedeutender Bereich, der in einem pädagogisch-didaktischen Training unbedingt zu beachten ist und eine individuelle Förderung erfordert, ist die Notwendigkeit der Aufmerksamkeit beim Lesen und Schreiben. Nicht nur Übungen zur Steigerung der Aufmerksamkeit, sondern auch eine ausreichende Erklärung, warum genau eine gute Aufmerksamkeit vor Fehlern beim Lesen und Schreiben bewahrt, ist für die Betroffenen hilfreich. Dieses Postulat ist als Analogie zu Montessoris Polarisation der Aufmerksamkeit anzusehen. Unter Funktionen der Sinneswahrnehmungen142 ist, wie der Begriff schon nahelegt, ein einwandfreies Zusammenspiel der verschiedenen Sinneswahrnehmungen beim Schreiben und Lesen zu verstehen (vgl. a.a.O., S. 45). Sobald einige dieser Sinneswahrnehmungen different arbeiten, ergeben sich Schwierigkeiten. Es ist wichtig, dass bei „diesem Prozess der Umsetzung von Lauten zu Buchstab, die Sinneswahrnehmungen Optik, Akustik und Raumlage funktionieren“ (a.a.O., S. 47) und miteinander korrespondieren. Sowohl die Optik als auch die Akustik werden jeweils in drei Unterkategorien gegliedert, wobei zur Optik die Kategorien optische Differenzierung, optisches Gedächtnis, optische Serialität und zur Akustik die Kategorien akustische Differenzierung, akustisches Gedächtnis sowie die akustische Serialität gehören143. Optische Informationen werden von den Betroffenen generell schlecht gespeichert, weshalb die meisten Kinder mit differenter optischer Wahrnehmung alles anfassen müssen, um es begreifen zu können. Diese Probleme setzen sich beim Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen fort. Weitere Sinneswahrnehmungen, die beim Schriftspracherwerb korrekt funktionieren müssen, sind die Raumorientierung und das Körperschema. Beim Lesen fallen Kinder mit Raumlageproblemen besonders durch sehr langsames, unsicheres Lesen auf. Beim Lesen fehlt die Orientierung im Text und beim Schreiben kann die Aufteilung des Blattes (Raum) nur schlecht eingeschätzt werden. Unter die Raumorientierung fällt außerdem das gesamte Raum- und

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Diese wichtige Voraussetzung intakter Sinneswahrnehmungen kann durch das Training mit dem MontessoriMaterial erreicht werden. Dieses „Sinnesmaterial“ ist naturgemäß zum Training der Sinneswahrnehmungen konzipiert. 142 Diese werden auch Teilleistungen genannt. 143 Ausführliches hierzu: s. Kopp-Duller 2008a, S. 46ff.

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Zeitgefüge (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 48)144, Distanzen, Größen oder Einheiten erscheinen als nicht Greifbares. Kindern, die Schwierigkeiten mit dem Körperschema haben, gelingt die Einschätzung der Lage und Richtung am eigenen Körper nicht, häufig fällt eine Rechts-LinksVerwechslung auf, deshalb ist das Körperschema auch anders ausgeprägt als bei nicht legasthenen Menschen. Nicht hinreichend entwickelte Wahrnehmungsleistungen im optischen und/oder akustischen Bereich sind, im Gegensatz zu anderen Sinneswahrnehmungen145, relativ häufig anzutreffen (vgl. a.a.O., S. 49). Da besonders die Sinneswahrnehmungen den Leseund Schreibprozess stark beeinflussen, nimmt das Funktionstraining in der AFS-Methode einen besonders wichtigen Platz ein. Das Übungsmaterial sollte hier besonders abwechslungsreich sein und die Übungen müssen genau auf die Bedürfnisse des jeweiligen Kindes abgestimmt werden. Nur wenn in diesem Bereich wesentliche Veränderungen eintreten, sind Fortschritte und Erfolgserlebnisse für das legasthene Kind im Schreiben, Lesen und Rechnen möglich. Wie beim Aufmerksamkeitstraining ist auch beim Funktionstraining konsequent auf unterschiedliche Übungen zu achten. Symptomtraining Auch einer individuellen Förderung im Symptombereich wird in der AFS-Methode eine große Bedeutung beigemessen. Das Erlernen der Buchstaben und Zahlen in den ersten Monaten der Schulzeit ist für ein legasthenes Kind eine besondere Leistung. Je früher eine Hilfe einsetzt, desto schneller wird der Lernprozess vorangehen. „Leider wird gerade der schwierige Prozess des Buchstaben- und Zahlenlernens beim legasthenen Kind oft völlig unterschätzt“ (a.a.O., S. 52). Deshalb ist es besonders wichtig, dass auch Eltern selbst mitwirken, wobei es selbstverständlich legitim ist, die Hilfe inner- oder außerschulischer Spezialisten in Anspruch zu nehmen. Von den Eltern sollte das Legasthenietraining durch einen individuell für das Kind zusammengestellten Trainingsplan ergänzt werden. Dieser Trainingsplan wird von einem Trainer für einen bestimmten Zeitraum entworfen und dann immer wieder den nächsten Entwicklungsphasen des Kindes angepasst. Selbstverständlich wird sowohl mit dem Lehrer als auch mit den Eltern des Kindes intensiv zusammengearbeitet, wobei der Trainer Fördermöglichkeiten vorschlägt.

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Die Kinder können ihre Position im Raum nicht richtig einschätzen und sie haben oftmals ein sehr schlechtes Zeitgefühl und ein geringes Orientierungsvermögen. 145 Es kommt so gut wie nie vor, dass beim legasthenen Kind alle Sinneswahrnehmungen different ausgeprägt und betroffen sind, wodurch die erwünschte Lese-, Schreib- oder Rechenleistung nicht erbracht werden könnte.

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Das individuelle Training im Lese- und Schreibbereich ist eine Notwendigkeit, die als konsequent durchgeführte, ausgiebige und anhaltende Übung auch zu einem nachhaltigen Erfolg in allen Bereichen führen kann.

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9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention

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Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention

Für die Planung einer Förderung ist die Einbeziehung des Elternhauses wesentlich. Daher sollten die Eltern ausführlich beraten und durch eine aktive Beteiligung an den Interventionen ihren Beitrag leisten können (z.B. Schulte-Körne et al. 1997, 1998). Bei der Durchführung der Förderung durch Behandlungsmaßnahmen ist vor allem die emotionale Unterstützung von großer Bedeutung. Durch das Vermeiden von Schuldzuweisungen und das Schaffen einer für das Kind protektiven familiären Atmosphäre kann der Schweregrad einer LeseRechtschreibstörung beeinflusst werden. Bedeutung kommt der Art der Verstärkung (positive und negative Verstärkung) zu, z.B. in der späteren Hausaufgabensituation, bei der Unterstützung beim Lernen in Form von Hilfen und beim Umgang mit Fehlern. Durch adäquate Anregungen und Unterstützungen, bspw. beim Lesen, können für das Kind lernförderliche Bedingungen im Elternhaus geschaffen werden. Dabei spielt das regelmäßige Vorlesen, das Sprechen über die Bücher (oder zusätzlich auch das Hören von CDs) und überhaupt eine sprachlich und kommunikativ anregende Umwelt eine große Rolle. Relativ leichte Texte sollten so gewählt werden, dass das Interesse des Kindes geweckt wird und das Lesen keine übermäßigen Probleme bereitet. Es kommt dabei weniger auf das richtige Lesen an, sondern darauf, dass sich das Kind mit dem Lesen beschäftigt, sich damit auseinandersetzt und Freude daran findet (vgl. auch Suchodoletz 2006, S. 288). Indirekt wird dadurch auch die phonologische Bewusstheit trainiert, da das Kind beim Zuhören den Klang, den Rhythmus sowie die Betonung der Sprache erfassen kann. Wenn dem Kind somit Möglichkeiten für Erfolgserlebnisse eingeräumt werden, kann es ein besseres Selbstbewusstsein im Umgang mit der Schriftsprache entwickeln. Längsschnittstudien konnten belegen, dass die phonologische Informationsverarbeitung von entscheidender Wichtigkeit für den Schriftspracherwerb ist. Die bedeutsamste Komponente dabei ist die phonologische Bewusstheit, die auch bereits im Kindergartenalter in Form von kindgemäßen spielerischen Übungen146 trainiert werden kann. Metaanalysen (z.B. Bus/Ijzendoorn 1999) haben gezeigt, dass das Training effizienter ist, wenn es mit einem Buchstaben-Laut-Training kombiniert wird. Haben Kinder sprachliche Defizite bzw. Sprachentwicklungsstörungen, so ist eine gezielte frühe Sprachförderung bzw. Sprachtherapie notwendig.

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Diese sind z.B. Reime, Silben, Anlaute, Lautsynthese und Lautanalyse.

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9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention

9.1 Wie können Eltern die pädagogisch-didaktischen Erkenntnisse der Frühförderung legasthener Kinder einsetzen? Die Eltern und andere Bezugspersonen sichern im Allgemeinen Lernen und Wachstum des Kleinkindes, sie wenden sich ihrem Kind liebevoll zu und geben ihm Orientierung durch Zuverlässigkeit der persönlichen Beziehungen und durch einen geregelten Tagesablauf. Sie sprechen mit ihm und lassen es an ihrem Leben teilhaben. Bestimmte Fehlertendenzen werden den Eltern bei den täglichen Beobachtungen ihres Kindes deutlicher auffallen als Außenstehenden. Darüber sollten sie offen mit dem Kind sprechen, um gemeinsam mit ihm herauszufinden, wie es sich bei diesen Fehlern selbst wirksam kontrollieren kann. Das elterliche Potential zur Unterstützung des kindlichen Schriftspracherwerbs, der Kognition und Emotion wird meist nicht ausgeschöpft. Da der soziale Kontext der Familie „als stabilisierend und fördernd“ (Dehnhardt/Ritterfeld 1998) betrachtet wird, stellt die Familie eine wertvolle Ressource dar. Somit muss die Hilfe auf das gesamte familiäre und pädagogische Umfeld ausgeweitet werden, da nicht nur das betroffene Kind bestimmte Auffälligkeiten zeigt, sondern auch das Lebensumfeld des Kindes dessen Situation beeinflusst (vgl. Kramer/Trappe 2006). Im Rahmen der Elternarbeit geht es darum, wie sie ihr Wirken bestmöglich in die frühkindliche Förderung integrieren können (vgl. Siegert/Ritterfeld 2000), ein „konsequentes Weiterdenken“ (Rodrian 2008, S. 57) der Frühförderung bezüglich des psychosozialen Umfeldes des Kindes ist zielführend. Hinweise auf Defizite der Kinder, etwa in der phonologischen Bewusstheit, von Erzieherinnen oder aus eigener Vermutung bzw. Beobachtung sollten unbedingt ernst genommen werden und ggf. auch von psychologisch-pädagogisch geschulten Fachkräften in Frühförderstellen, Erziehungsberatungsstellen usw. fachdiagnostisch abgeklärt werden. Wenn sich die Eltern dann zur Förderung der eigenen Kinder entschließen, sollten sie auch Kontakt zu geschulten Fachkräften an Frühförderstellen und Erziehungsberatungsstellen halten, die sie bei dieser Fördermaßnahme beratend begleiten, da es nicht hilfreich ist, verschiedene Lernmethoden, die möglicherweise sich widersprechende Instruktionen beinhalten, gleichzeitig anzuwenden. Dass Eltern in der Lage sind, ihr Kind adäquat zu fördern, konnte in mehreren empirischen Arbeiten nachgewiesen werden. So untersuchten Bushell et al. (1982) sowie Fry (1977) den Therapieeffekt verschiedener Programme zur Förderung der Lesefähigkeit, die Eltern mit ihren leseschwachen Kindern durchführten. Es konnte gezeigt werden, dass alle Kinder hinsichtlich der Lesegenauigkeit wie auch des Leseverständnisses durch das Üben mit ihren Eltern profitierten. Eltern konnten anhand eines Lernprogrammes ihre Kinder sowohl im Lesen als auch in der Rechtschreibung erfolgreich fördern, was sich auch auf die schulischen 115


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention

Leistungen übertrug (vgl. Thurston/Dasta 1990). Für den deutschsprachigen Raum fanden Schulte-Körne et al. (1997, 1998) heraus, dass Eltern unter systematischer und regelmäßiger Anleitung in der Lage sind, die Rechtschreibleistung ihres Kindes zu verbessern. Auch die positive Veränderung der Interaktion und die Tatsache, dass das Selbstwertgefühl der Kinder durch das Eltern-Kind-Training signifikant verbessert wurde, sind ein weiterer wesentlicher Befund dieser Untersuchungen. Sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, können Eltern also mit der Unterstützung von Fachleuten auch spezifische Förderprogramme mit ihrem Kind durchführen. Zu diesen Voraussetzungen zählen etwa ausreichende Zeit von Seiten der Eltern und konsequentes Üben über einen längeren Zeitraum hinweg, wobei die Beziehung zwischen Eltern und Kind nicht durch negative Lernerfahrungen belastet sein darf, wenn ein gemeinsames Üben etwa zu ausgeprägten Auseinandersetzungen führt. Außerdem sollte die Möglichkeit einer Beratung bezüglich des Förderprogramms bestehen. Das Marburger Rechtschreibtraining (Schulte-Körne/Mathwig 2009) ist ein Beispiel für ein Programm, das hinsichtlich seiner Wirksamkeit als Elterntraining überprüft ist. Weder professionelle Pädagogen noch die Eltern können wissen, auf welche Weise das legasthene Kind seine Schwächen kompensieren kann, wie es lernt und wann es eine Pause braucht. Ebenso wie die Pädagogen können und müssen auch Eltern das Kind für eine Zusammenarbeit gewinnen. Es soll ihnen sagen, was ihm schwerfällt, wie es versucht, sich selbst zu helfen, und wo es ratlos ist. Dies ist jedoch nur in einer Atmosphäre der Gleichberechtigung und des verstehenden und angstfreien Umgangs miteinander möglich. Es wird meist gelingen, mit dem Kind gemeinsam herauszufinden, was es besonders gut kann. Zeigt ein Kind kein Interesse an den angebotenen Materialien, sollte das für Eltern ein Anlass sein, das Kind und seine Situation noch einmal genauer zu betrachten, da es möglicherweise überfordert ist. Sobald Kinder ihre Schwierigkeiten spüren, versuchen sie automatisch, problembehaftete Situationen zu meiden. In diesem Fall ist es besonders wichtig, das Interesse behutsam zu wecken, indem das Kind mit vereinfachten Aufgaben an die Arbeit herangeführt wird. Bei mangelnder Förderung könnte es später in der Schule weiterhin ein Vermeidungsverhalten zeigen, das wiederum negative Auswirkungen auf das Selbstbild und Selbstbewusstsein des Kindes hat. Voraussetzungen für eine solche häusliche Förderung und Hilfe von Seiten der Eltern sind vor allem die Anerkennung der Eigenart der Lese-Rechtschreibstörung des Kindes und viel Geduld, um dem Kind langfristig Hilfen zu geben. Der Rückhalt in der Familie ist zentral für die Unterstützung eines legasthenen Kindes. Die Anerkennung durch die Eltern trotz minderer Leistungen bildet die Basis für eine positive Entwicklung des legasthenen Kindes. Die Arbeit mit dem Kind bringt immer wieder neue Erkenntnisse im Hinblick auf Tätigkeiten, die es ausführen kann oder auch nicht, oder auf Leistungen, die in einigen Berei116


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention

chen möglich sind und in anderen eben nicht. So soll bspw. das Erfassen von Beeinträchtigungen nach dem Ansatz von M. Frostig147 zur Planung einer Förderung dienen, um einen Ausgangspunkt für einen Weg zu finden148, den man mit dem Kind gehen kann (vgl. Frostig 1976). Da die Diagnose Legasthenie nicht selten erst relativ spät gestellt wird und die Beziehung zwischen dem legasthenen Kind und den Eltern durch quälendes Üben u.U. schon extrem angespannt ist, ist die Entlastung des Kindes und der Eltern wichtig (vgl. Warnke et al. 1989). Diese Entlastung erfolgt meist schon durch die Diagnose149 und die Aufklärung über die Problematik. Beim Vorhandensein einer Legasthenie sollte eine spezielle pädagogischdidaktische Förderung durchgeführt werden, was eine Unterstützung des Schriftspracherwerbs von Seiten der Eltern keinesfalls ausschließt. Elterliche Hilfe muss pädagogisch zweckmäßig sein, sodass daraus eine Entlastung des Kindes resultiert und zugleich chronische Konflikte vermieden werden. Zur häuslichen Förderung können bspw. Wortspiele mit Bildern und Memory-Spiele zum Training der phonologischen Bewusstheit150 leicht selbst zusammengestellt werden. Eltern könnten z.B. Bilder von Wörtern mit gleichen Anfangslauten aussuchen, anfangs besonders mit den dehnbaren Konsonanten /l/, /m/, /n/, /r/, /s/, /w/ und /z/ (vgl. Dummer-Smoch 2001, S. 45). Ebenso bieten sich Bilder, mit denen man Reimpaare finden kann, oder Bilder von Wörtern mit gleicher Silbenzahl zum Üben an (vgl. ebd.). Lerntipps für Eltern sind z.B. auch Farben, mit denen etwas hervorgehoben und gekennzeichnet werden kann. Außerdem ist Lautgebärdensprache beim Einüben von Buchstaben und beim Buchstabieren von Wörtern hilfreich, was besonders legasthenen Kindern eine große Hilfe bietet, da diese Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung haben und ihnen auf diese Weise die Möglichkeit zur mehrkanaligen Wahrnehmungsverarbeitung gegeben wird. Zusätzlich sind Merkwörter bzw. „Eselsbrücken“ aus eben genannten Gründen hilfreich. Das Kind wird „Eselsbrücken“ ausprobieren oder sich selbst welche konstruieren, daher sollten Eltern versuchen, gemeinsam mit dem Kind solche hilfreichen Assoziationen für spezielle Rechtschreibprobleme zu finden und möglichst viele Übungen als Spiel durchzuführen, weil Lernen im Spiel viel leichter fällt. Somit können beim Lernen möglichst viele Sinne genutzt werden. Legasthene Kinder sind bereit, mehr zu lernen als andere Kinder, wenn sie motiviert werden und ihr Problem akzep-

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Der Ansatz von Frostig beruht auf der Annahme, dass sich Lernstörungen auf gestörte oder unzureichend ausgebildete Wahrnehmungsfunktionen zurückführen lassen und dass spezifische Lernstörungen ebenso spezifischen perzeptiven Dysfunktionen entsprechen. 148 Für Frostig besteht die Möglichkeit dazu in einer Art Bestandsaufnahme, die sie als Evaluation bezeichnet. 149 Diese kann z.B. durch das pädagogische AFS-Testverfahren (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008b, S. 51ff.) oder den Pädagogischen Sinneswahrnehmungstest im Vorschulalter (PSV) (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 51ff.) erfolgen. 150 Siehe hierzu auch „hören, lauschen, lernen“ nach Küspert/Schneider (1999, 2006, 2008) oder „hören, sehen, verstehen“ nach Rosenkötter et al. (2007).

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tiert wird (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 79). Dennoch ist von großer Bedeutung, dass sie weder durch den Zeitaufwand noch durch den Schwierigkeitsgrad der Übungen überfordert werden dürfen. Für weitere Anregungen zur pädagogisch orientierten elterlich-präventiven Intervention wird auf die Werke der Autoren Irene Klöck und Caroline Schorer, Charmaine Liebertz, Armin Sohns, Matthias Paul Krause, Walter Straßmeier, Alexandra Braunmiller, Karin Grether, Martin Thurmair und Monika Naggl verwiesen. Im Folgenden sollen Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Frühförderung durch das Material und das Konzept Maria Montessoris sowie durch die AFS-Methode zur Prävention von legastheniebedingten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb diskutiert werden.

9.2 Wie können Eltern zur Prävention von legastheniebedingten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb beitragen? Im Vorschulalter sollten alle Sinne (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 41ff.), etwa durch Seh- und Hörspiele, musikalisch rhythmische Erziehung, bildnerische Gestaltung und Werken, zur Entwicklung einer bewussteren Wahrnehmung gefördert werden. Hierzu trägt auch die Schulung der Sinne besonders im Bereich der Mengenerfassung und im Bereich der Berührung bei. „Mit Sand, Wasser und Gefäßen zu hantieren“ sowie die Vorbereitung auf die Fertigkeit, Schreibgeräte zu halten, „durch das ausgiebige Befassen mit Ton oder anderen Knetmassen“ (a.a.O., S. 42) sollte den Kindern ermöglicht werden, da diese interaktive Wahrnehmungsförderung eine wichtige Voraussetzung für die Denkförderung ist und den Schriftspracherwerb erleichtert. Demzufolge besteht „zwischen der Sinnesschulung und den motorischen Aktivitäten des Kindes“ (ebd.) ein relevanter Zusammenhang. In der Schule werden das Hören und Sehen überbeansprucht, wohingegen das Fühlen und Tasten mit Haut und Muskeln relativ selten gebraucht wird. Infolgedessen bleibt die Koordination der Bewegungen oft unterentwickelt, was sich höchstwahrscheinlich auf die schulischen Leistungen auswirkt. Wurde vor dem Schuleintritt nicht genug Anreiz zur Entwicklung der sensorischen Integration gegeben, so kann hier mit Hilfe des von Montessori entwickelten Sinnesmaterials nachgearbeitet werden (vgl. Raapke 2001, S. 40). Das zentrale Thema der didaktischen Materialien Montessoris und damit der gesamten Montessori-Pädagogik ist der Zusammenhang von Intelligenz und Bewegung, Körper und Geist, Kopf und Hand. Die sensomotorischen Prozesse der taktilen Ebene spielen also eine zentrale Rolle in Montessoris pädagogisch-didaktischem Konzept (vgl. Hellwig 2007). Nach Ingeborg Milz sind die Prinzipien der Montessori-Pädagogik für legasthene Kinder von besonderer Bedeutung, da Montes118


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sori auf die Förderung der Sinne sowie der gesprochenen und geschriebenen Sprache einen besonderen Wert legte und eine Methode und Materialien erarbeitete, mit denen „besonders bei teilleistungsschwachen Kindern eine Grundlage für eine systematische Behandlung“ (Milz 1997, S. 229) gegeben ist. Selbstverständlich fühlen sich nicht alle Kinder von der Arbeit nach Montessori angesprochen, weshalb auch kein Kind „dazu gezwungen“ werden sollte. Durch die ständigen Misserfolge, die die legasthenen Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen begleiten, entwickelt sich bei ihnen eine gewisse Abneigung dieses Prozesses. Sie verfügen zwar über eine normale, oft auch überdurchschnittliche Intelligenz, zeigen aber kein spontanes Interesse und verlangen eine ständige aktive Erregung ihrer Aufmerksamkeit.151 Deshalb müssen sie nach Montessoris Prinzipien zur Beobachtung, zum Vergleichen aufgefordert und zur Tätigkeit ermuntert werden (vgl. Montessori 2001a, S. 198). Die Förderung durch das Montessori-Material und nach Montessori-Prinzipien soll bei legasthenen Kindern u.a. auch die fehlende Lern- und Wissbegierde wecken, wobei das Verhalten und der Lernstil in einer geeigneten Umgebung genau beobachtet und jeder Schritt analysiert werden soll. Erst wenn das Kind den zu bearbeitenden Stoff aufgenommen und richtig erkannt hat, sollten weitere Trainingsschritte unternommen werden. Dabei ist nicht das Lernvorgehen, wie es im üblichen schulischen Unterricht praktiziert wird, gemeint, da es sich um eine außerschulische Förderung der kognitiven, sensorischen und motorischen Fähigkeiten des Kindes in einer vorbereiteten Umgebung handelt. Durch das ständige Vermitteln zwischen Material und Kind werden Entwicklungsspielräume eröffnet, damit das Kind sich entfalten kann (vgl. Montessori 2002, S. 129), da sich nur so „die Betonung der motorischen und sensorischen Fähigkeiten der Montessori-Pädagogik positiv aus[wirkt]. Sie liefert dem Erzieher [Legasthenietrainer] Anhaltspunkte für die Beobachtung. Die konzentrierte Tätigkeit, vom Kind […] direkt vollzogen, von dem Erzieher […] reflektiert beobachtet“ (Oy 1996, S. 14), ist ein Weg für die Bewältigung der Schwierigkeiten eines legasthenen Kindes. Gerade aufgrund der häufig zusätzlich vorliegenden Konzentrationsstörung bei legasthenen Kindern sind die Elemente der vorbereiteten Umgebung und der Stille von besonderer Bedeutung. Bei der Arbeit mit dem Sinnesmaterial geht es Montessori, die sich viele Jahre mit der Förderung der Sinneswahrnehmung beschäftigte sowie zahlreiche Materialien und Vorgehensweisen zu diesem Zweck entwickelt hat, um die gezielte Förderung einer differenzierten Verarbeitung. Diese differenzierte Wahrnehmung soll durch das Ordnen der erworbenen Eindrücke und das Unterscheiden zwischen Wesentlichem und Zufälligem angeregt werden, um

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Eine Polarisation der Aufmerksamkeit lässt sich beim Legastheniker kaum feststellen.

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den Erwerb von Konzept- und Begriffsbildung und die Aufdeckung von Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsverarbeitung zu einem Zeitpunkt, in dem eine gezielte Förderung noch Aussicht auf Erfolg haben kann, zu ermöglichen (vgl. Milz 1999, S. 126). Betrachtet man die Arbeit mit dem Entwicklungs- bzw. Sinnesmaterial Montessoris unter neuropsychologischem Gesichtspunkt, bekommt sie einen neuen Stellenwert und eine aktuelle Bedeutung für die heilpädagogische Praxis im Bereich der Frühförderung, insbesondere in Kindergarten, Vorschule und Schule, aber auch für häusliche Frühförderung legasthener Kinder. „Mit der Sinnesausbildung muß in der formativen Periode begonnen werden, wenn wir sie später durch Erziehung für jede besondere Form von Bildung vervollkommnen und verwerten wollen. Deshalb soll die Sinnesausbildung im kindlichen Alter methodisch beginnen und dann während der Periode des Unterrichts fortgeführt werden, dessen Aufgabe es ist, den einzelnen auf das praktische Leben in der Umwelt vorzubereiten“ (Montessori 1987, S. 164). Methodisches Vorgehen bedeutet in diesem Zusammenhang: die Förderung der sensorischen und motorischen Entwicklung durch das von Montessori erarbeitete Material und auf die von ihr empfohlene Art und Weise durch gezielte Angebote. Zur Förderung und Unterstützung der Wahrnehmungsentwicklung des Legasthenikers eignet sich insbesondere das Kinderhaus- und Vorschulmaterial, das von Montessori als „Schlüssel zur Umwelt“ bezeichnet wurde (vgl. Montessori 1985; von Oy, 1996, S. 16). Die Materialien können je nach Schwerpunkt der Teilleistungsstörung eingesetzt werden und dienen gleichermaßen der Sprach-, Lese- und Rechtschreibförderung. Da sich die äußeren Reize zur Erziehung des Kindes in dessen Umgebung befinden, muss diese so gestaltet sein, dass sie alles enthält, was dem Reifegrad des Kindes angepasst ist und die Entwicklung fördern kann. Demzufolge gehören gezielte Angebote und Anreize zum individuellen und sozialen Lernen zu einer vorbereiteten Umgebung. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass die Entwicklung eines Kindes Zeit und Raum zur Entfaltung der inneren Kräfte benötigt. Wird davon ausgegangen, dass Entwicklung durch biologisches Potential, die genetische Veranlagung und die Interaktion mit der Umwelt bestimmt wird, wird deutlich, wie wichtig der Einfluss der Umgebung für das Kind ist. Zur vorbereiteten Umgebung gehören vor allem auch die Erwachsenen, die Eltern und Erzieher des Kindes (vgl. Milz 1999, S. 189). Damit bekommt der Begriff „Umgebung“ einen weiten Rahmen, der die Pädagogen vorrangig mit einbezieht und hohe Anforderungen an sie stellt. In dieser entsprechend „reiz-voll“ gestalteten Umgebung, deren Reize jedoch begrenzt angeboten werden, erfolgt die Förderung der Wahrnehmungsverarbeitung durch Tätigkeiten und Handlungen. Es geht darum, Bewegung, Sprache, die Wahrnehmungsbereiche und die höheren kognitiven Funktionen im Entwicklungszusammenhang zu fördern. Wichtige Voraussetzungen dafür sind das Verständnis und die Zusammenarbeit mit Eltern. Das Verständnis der Bezugsperson, 120


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möglicherweise unter Einbeziehung verschiedener diagnostischer Ebenen, und der beteiligten Pädagogen für die Situation und die besonderen Bedürfnisse des jeweiligen Kindes ist dabei Voraussetzung für eine elterliche, häusliche Förderung (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 133). Bei Montessori geht es immer um die Förderung der Entwicklung, die besonders die Aufgabe der Eltern und Vorschulpädagogen ist. Dafür sind insbesondere die Übungen des praktischen Lebens (Holtstiege 2009, S. 94f.) nach Montessori geeignet. Die verschiedenen Bereiche, die unter dem Oberbegriff Übungen des praktischen Lebens zusammengefasst sind, geben dem Kind vielfältige Möglichkeiten, grundlegende Fähigkeiten im Rahmen von praktischem Alltagsgeschehen zu erwerben. Gegenstände des täglichen Gebrauchs sind kein Spielmaterial im herkömmlichen Sinn, sie geben dem Kind nach sorgfältiger und exakter Einführung die Möglichkeit, Erfahrungen und Erkenntnisse zur Schulung der unterschiedlichen Wahrnehmungen, zum Training der Grob- und Feinmotorik, zum Erwerb eines großen Wortschatzes, zum Erkennen mathematischer Grundeinheiten sowie zum gezielten Handeln zu sammeln und verhelfen ihm damit zu einem kleinen Stückchen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit (vgl. Anderlik 1996, S. 125). Diese Grundfähigkeiten sind die Voraussetzung für die sog. „höheren psychischen Funktionen“ (vgl. Luria 1992; vgl. auch Abb. 2), womit kognitive Leistungen, bspw. auch Schulleistungen, gemeint sind. Diese höheren psychischen Funktionen setzen zunächst zu erlernende elementare Verarbeitungsprozesse voraus, wozu es vielfältiger Anregung bedarf. Diese Anregungen bieten die Entwicklungs- bzw. Sinnesmaterialien Montessoris. Voraussetzung für eine Übung des praktischen Lebens in dieser Form und für die Vertiefung einer konkret erfahrenen Handlung ist allerdings, dass die Umgebung dafür entsprechend vorbereitet ist. Sowohl für den Elternteil als auch für das Kind ist es wichtig, den Verlauf des Vorgehens zu strukturieren. Die Serialität muss deutlich erfahrbar sein (vgl. Milz 1999, S. 102). So kann etwa die Tätigkeit des Herstellens eines Zitronensaftgetränkes „unter heilpädagogischem Aspekt zur Förderung unterschiedlicher Entwicklungsstufen und in verschiedenen Erfahrungsbereichen hilfreich sein (Milz 1999, S. 103), indem sie die Sensomotorik, die Motorik, die Sprachbenutzung sowie eventuell soziales Miteinander fördert. Es sollte immer um die Erfahrungen gehen, die das Kind konkret macht und zu denen es die Anregung aus der vorbereiteten Umgebung bekommt. Es ist wichtig zu bedenken, dass viele Kinder in ihrer häuslichen Umgebung wenige Möglichkeiten für lebenspraktische Selbsterfahrungen haben, da ihnen zu oft Entscheidungen abgenommen und Lösungswege vorgegeben werden. Je nach Alter des Kindes können sich Aufgaben zur Erweiterung des Wortschatzes, zur Sprachpflege, zur Wortlehre und zur Begriffsbestimmung anschließen, solche können etwa Wortkästchen mit Wörtern der verschiedenen Wortarten sein. 121


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Wie alle Tätigkeiten in der Montessori-Pädagogik dienen auch die Übungen des praktischen Lebens zur Förderung der Entwicklung. In seinem Werk „Maria Montessori. Leben und Werk“ hat E. M. Standing, ein langjähriger pädagogischer Wegbegleiter Montessoris, ihre pädagogischen Grundsätze dargestellt. Nach Standing besteht die Hilfe darin, dass „in der vorbereiteten Umgebung ‚Anreize zum Tätigsein‘ angeboten werden, die eine spezielle Antwort auf eben die sensitive Periode des Kindes geben, die es gerade durchläuft. Neben dem intensiven Interesse an ‚synthetischen (aufbauenden, miteinander verbundenen) Bewegungen‘ eignet dem Kind zugleich die besondere Fähigkeit, sie zu fixieren, sie sich zur Gewohnheit zu machen, und zwar mit einer Leichtigkeit und Spontaneität, die niemals wiederkehren“ (Standing 1959, S. 125). Beispiele für Tätigkeiten sind folgende: Gegenstände nach deren Gebrauch wegräumen, Staub wischen, Gegenstände abwischen, Tisch decken und abräumen, Fußboden säubern, Geschirr spülen, Tier- und Pflanzenpflege sowie Tätigkeiten, die sich im Zusammenhang mit der äußeren Umgebung anbieten, wie etwa Blätter zusammenrechen oder Unkraut jäten. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Tätigkeiten, wie sie in Haus und Garten vorkommen, wobei das Kind den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erfährt und erlebt. Die Sorge für die Umgebung kann Verantwortungsgefühl und Ordnungssinn entwickeln. Im Umgang mit Lappen und Besen macht das Kind räumliche Erfahrungen, durch die besonders legasthene Kinder den Umgang mit Begriffen, die Beziehungen definieren und den Raum strukturieren152, lernen. So kann einer Raumlagelabilität oder einer Seitigkeitsanomalie schon früh gegengearbeitet werden. Störungen im Bereich der Raumlage-Orientierung stehen häufig in Verbindung mit Störungen des Körperschemas, vor allem mit unausgeprägter Seitigkeit. Kindern, die eine Figur-Grund- und Raumlage-Wahrnehmungsstörung haben, sodass sie ähnlich aussehende Buchstaben verwechseln oder oft gar nicht voneinander unterscheiden können153, kann durch Förderung des Tastsinns mit Montessori-Sandpapierbuchstaben geholfen werden. Zur vorschulischen Förderung kann mit Übungen mit verschiedenen geometrischen Figuren aus Sandpapier und anderen Stoffen trainiert werden. Quadrate, Kreise, Dreiecke u.Ä., in verschiedenen Größen und Positionen in den Tastkasten gelegt, müssen blind ertastet und erkannt werden. Hierbei sollen sie vom Kind genau erkannt und nicht mit

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Dazu zählen Begriffe wie: oben, unten, hinten, vorne, zwischen, neben, innen und außen. Später in der Schule wird auf dreierlei Beeinträchtigungen kaum geachtet: Kinder, die mit der Raumlageverarbeitung Probleme haben, werden u.U. Schwierigkeiten mit Buchstaben- und Zahlenvertauschungen und Verdrehungen bekommen, z.B. bei <b>/<d>, <q>/<p>, <d>/<p>, <b>/<g>, <n>/<u>, <m>/<w>, auch mit <a> und <e> und mit den Ziffern 6/9. Sie werden als „typische“ Legastheniker in Förderkursen behandelt, oft nur mit geringem Erfolg, weil die Ursachen nicht alleine im kognitiven Bereich zu suchen sind, sondern auch im körperlichen. Das Körperschema ist unzureichend entwickelt. Manche dieser Kinder kommen in die Sonderschule, obwohl sie (mindestens) durchschnittlich intelligent sind. Sie quälen sich Jahr für Jahr mit dem Gefühl, dumm zu sein. 153

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ähnlichen Formen verwechselt werden. Hat das Kind die Formkonstanz dieser Figuren wahrgenommen, wird mit ähnlich aussehenden Buchstaben, wie „p“/„q“, „W“/„M“, „u“/„n“, „b“/„d“, die sich nur bzgl. der Raumlage unterscheiden, genauso verfahren, sofern das Kind die Buchstaben-Laut-Zuordnung beherrscht154. „Unsere Hand, die taktil-kinästhetische Wahrnehmung, hat uns im Laufe unserer Entwicklung gelehrt. So erkennen wir im Allgemeinen auch unter perspektivischer Veränderung die eigentliche Form, sie ist für uns konstant“ (Milz 1997, S. 123). So wird durch das Trainieren der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung der Hand die Buchstabengestalt oder die Buchstabenfolge über das Muskelgedächtnis gespeichert und kann auf diesem Wege behalten, vorgestellt und wieder abgerufen werden. Die von Montessori dafür vorgesehenen Übungen zur Entwicklung von Bewegung und Geschicklichkeit betreffen vor allem die Förderung des Gleichgewichts und damit grundlegende neuropsychologische Funktionen, die an der Wahrnehmung des eigenen Körpers beteiligt sind. Es ist nicht nur die Geschicklichkeit155 (Koordination), die gefördert wird, sondern es werden auch Beziehungen zu Gegenständen, Tätigkeiten und Personen hergestellt. Diese Erfahrungen des In-Beziehung-Setzens können unter psychoanalytischer Sichtweise auch als Erwerb von Objektbeziehungen betrachtet werden. Bei der Koordination handelt es sich um das Zusammenspiel, die Integration von taktil-kinästhetischen Reizen, die im Gehirn verarbeitet werden. Nach Katz werden durch die tastende Hand genaue Vorstellungen über die Welt vermittelt. Demnach zieht nach seiner Ansicht die Welt als Tastvorstellung durch die Hand ins Bewusstsein ein, da der Mensch durch das Tasten über die taktilen Eigenschaften der Dinge informiert wird. Die Tastvorstellungen, die durch Berührungsempfindungen entstehen, werden im Gedächtnis gespeichert. Katz spricht hierbei vom „Gedächtnistasten“ (vgl. Katz 1989). Beim Tasten werden Hypothesen gebildet, Eindrücke analysiert, korrigiert, wieder aufgenommen und zu Bildern vereint (vgl. Holtstiege 2001, S. 11). Die Hand ist demnach das eigentliche Tastorgan, dabei sind Fingerspitzen die tastempfindlichsten Körperteile. Je besser und differenzierter diese Wahrnehmungsverarbeitung gelingt, umso präziser können auch die Bewegungen ausgeführt werden. Diese Präzision von Bewegungen, besonders die Feinmotorik betreffend, ist von großer Bedeutung für den kindlichen Schriftspracherwerb. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers, das Bewusstwerden einzelner Körperteile und deren Stellung

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So legt man die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge nach und lässt sie bei geschlossenen Augen mit den Fingerspitzen, mit dem Zeige- und Mittelfinger nachfahren, erkennen und benennen. Dann werden die Buchstaben gemischt und das Kind versucht, sie zu ertasten und zu benennen. Schwierigkeiten bereitende Buchstaben werden aussortiert. Im weiteren Verlauf wird ein Buchstabe vor das Kind gelegt und mit beiden Schreibfingern nachgefahren. Dann soll dieser unter die anderen gemischte Buchstabe vom Kind gefunden und erkannt werden. 155 Montessori spricht von der Anmut der Bewegung, die durch die Übungen des praktischen Lebens gefördert werde.

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zueinander sind Voraussetzung für die extrakorporale Raumwahrnehmung. Dabei kann es sich um den ganz nahen Raum, wie z.B. das Heft und die Linien, auf denen das Kind schreibt, oder auch um den erweiterten Raum, in dem es sich orientieren muss, handeln. Die Übungen des praktischen Lebens betrachtet Montessori als eine regelrechte „Gymnastik“ (Montessori 1987, S. 165), durch die alle Bewegungen verfeinert werden und wozu die Umgebung den Anlass gibt. Neuropsychologisch betrachtet ist diese Verfeinerung der Bewegung bereits ein Entwicklungsprozess, an dem verschiedene Empfindungen und Reaktionen beteiligt sind (vgl. Milz 1999, S. 97). Sie ermöglichen die Eigenwahrnehmung des Menschen, an der wiederum die Kinästhesie beteiligt ist. Der Schulung des Tastsinns widmet Montessori viel Aufmerksamkeit, weshalb sie hierfür ihre ins Detail gehenden Übungsvorschriften gibt (vgl. Katz 1989), indem sie empfiehlt, dem Kind das Berühren und Betasten einer Oberfläche beizubringen. Dabei bewegt sich die Hand um den Gegenstand herum, wodurch der „Gegenstand konkreter und genauer wahrnehmbar“ (Montessori 2002, S. 129, 132) wird. So wird durch das Hinzukommen des Muskelsinns die Speicherung möglichst vieler Eindrücke im Muskelgedächtnis ermöglicht. Zu diesem Zweck hat Montessori eine Sammlung von Tastmaterialien und Übungen entwickelt, die das Kind befähigen, verschiedene Oberflächenstrukturen zu erkennen und somit den Tastsinn auszubauen. Zu diesen tastsinnfördernden und somit auch tastgedächtnisfördernden Materialien sind die geometrische Kommode oder verschiedene Stoffe und Sandpapierbuchstaben zu zählen. Dieses Material sollte die Vorschulkinder auf den Schriftspracherwerb vorbereiten, indem die dazu notwendige Feinmotorik und das genannte Muskelgedächtnis trainiert werden. Auch zur Förderung legasthener Kinder kann es eingesetzt werden, da die Legasthenie häufig in Kombination mit einer beeinträchtigten Feinbzw. Grobmotorik sowie einer reduzierten Merkfähigkeit vorzufinden ist (vgl. SchulzeFrieling 2003a, S. 118.). Für die Bewältigung der Lese-Rechtschreibstörungen ist u.a. die Förderung des Tastsinns die Voraussetzung. Vom Tasten gewinnen die legasthenen Kinder über das Muskelgedächtnis neue Erkenntnisse, indem sie die „Beschaffenheit der Umwelt mit den Händen kennenlernen“ (Kükelhaus/Zur Lippe 1982, S. 119). Um das Tastgefühl zu entwickeln, werden Materialien mit verschiedenen Eigenschaften wie rau und glatt, hart und weich, starr und elastisch angeboten, wobei es sehr wichtig ist, stufenweise vorzugehen156, da sich beim Zugreifen nur Wahrnehmungen verschiedenen Drucks und verschiedener Grade von Warm und Kalt ertasten lassen. „Erst im Betasten, d.h. im leichten Hingleiten über die Flächen und im vorsichtigen Umfahren der Gegenstände werden besondere Qualitäten,

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Am Anfang soll an der Entwicklung des Fingerspitzengefühls gearbeitet werden, bevor man zum Zugreifen übergeht.

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Strukturen fühlbar“ (a.a.O., S. 119). Für die Förderung des Fingerspitzengefühls sind Übungen mit den Perlen einsetzbar, die mit den Fingern aufgefädelt werden, wobei, beginnend mit Daumen und Zeigefinger, immer nur zwei Finger benutzt werden. Ist mit jedem Finger eine Perle aufgefädelt worden, wird in umgekehrter Reihenfolge, beginnend mit dem kleinen Finger, wieder zurückgefädelt. Aufgefädelt wird erst mit der rechten, dann mit der linken Hand, zu Beginn wird das Auffädeln mit den Augen verfolgt, nach einiger Zeit darf die Übung mit geschlossenen Augen durchgeführt werden. Nach mehreren Trainingswiederholungen kann die Aufgabe erschwert werden157. Eine weitere Möglichkeit zur Förderung des Tastsinns bietet die Tastkiste. Zum Tasttraining mit verschiedenen Materialien gehören Täfelchen aus glattem Papier und Sandpapier, Pappkarton und Plastik, Holz, Schaumstoff und Metall, Seidenund Wollstoffen. Es werden z.B. Haus- und Wildtiere aus Plastik betastet, erkannt und benannt. Das Kind sitzt vor dem Tisch und seine Hände befinden sich in einer „Tastkiste“. Ein Gegenstand wird vom Trainer hereingeschoben, bleibt aber für das Kind verdeckt. So wird die Konzentration durch die Hände auf das Fühlen gelenkt. Die Aufgabe besteht darin, die Materialien mit den Fingerspitzen zu betasten, zu erkennen und zu benennen. So wird in der ersten Stufe die Assoziation von Sinneswahrnehmung158 hergestellt. Taktil-kinästhetische Erfahrung, also das Spüren, ist die Voraussetzung für Geschicklichkeit, denn „die Hand ist das Organ des Geistes“ (Montessori 1984, S. 137) und das „Kind baut sich auf durch das Werk seiner Hände“ (Montessori 1992a, S. 108). So verhilft differenzierte Wahrnehmungsverarbeitung zu Sicherheit und Selbstvertrauen, zu Selbstbewusstsein und Selbstkontrolle und hat letztlich auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Kognition (vgl. a.a.O.). Jedoch ist allein durch die Förderung des Tastsinns bei einem legasthenen Kind noch lange nicht das LeseRechtschreibproblem behoben. Um einen Erfolg zu erzielen, muss mit der gespeicherten taktil-kinästhetischen Erfahrung eine Leistung der visuellen Information eng verbunden werden (vgl. Affolter 1975, S. 234). Andererseits aber wird eine Störung im taktil-kinästhetischen Sinnesbereich durch das Training des visuellen Bereichs kompensiert (vgl. Affolter 1977, S. 210). Da die optische Differenzierungsfähigkeit die Voraussetzung für das Schreiben- und Lesenlernen ist, weil die Sinnentnahme aus einem Text ohne differenzierte Erfassung der Struktur der einzelnen Buchstaben unmöglich ist, ist das Training des visuellen Bereichs als besonders wichtig einzuschätzen. Demnach sind neben der phonologischen Bewusstheit und der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung die Koordination von Hand und Auge, die Figur-

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Das Kind soll z.B. verschiedenfarbige Reihen mit jeweils 8 Perlen und später 4 verschiedenfarbige Reihen mit jeweils 4 Perlen auffädeln. All diese Übungen sollten nach einigen Trainingsstunden auch mit geschlossenen Augen durchgeführt werden. 158 In diesem Fall ist es der Tastsinn.

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Grund-Unterscheidung und damit die visuelle Wahrnehmung zusätzlich erforderliche Teilfunktionen für das Erlernen des Lesens und Schreibens. Bei der Koordination von Hand und Auge handelt es sich um Fertigkeiten, die bereits ein komplexes Zusammenspiel visueller und motorischer Funktionen voraussetzen. Ist diese sensorisch-motorische Integration noch nicht oder unzureichend möglich oder ist die Reafferenz verlangsamt, so wirkt sich dies auf die Feinanpassung und Kraftdosierung aus, was wiederum zur Verlangsamung von Handlungsabläufen und zu einem größeren Energieaufwand führt159. Wie bei den Übungen des praktischen Lebens sind es also zunächst die Handlungen, die Auge-Hand-Koordination, die taktilkinästhetische Wahrnehmung, welche dem Kind die Erfahrungen vermittelt, in welcher Richtung ein Objekt liegt, in welchem Abstand zu ihm selbst und in welchem Abstand zu einem anderen Objekt. Begriffe wie „vor“, „hinter“, „darüber“, „darunter“ u.v.m., aber auch Relationen wie „größer“, „kleiner“, „mehr“ oder „weniger“ sind Prämissen für den Schriftspracherwerb. Auch die Fähigkeit zur Seriation wird dadurch bestimmt (vgl. Milz 1999). Abgesehen von den Schwierigkeiten, die es in der Rechtschreibung geben kann, weil die Beziehung der Buchstaben untereinander, ihre Reihenfolge im Wort, nicht erfasst und behalten werden kann, kann sich das auch auf das Sprachverständnis auswirken, wenn ein Kind Probleme im Verstehen von Begriffen wie „gegenüber“, „zwischen“, „davor“ und „dahinter“ hat. Neben Missverständnissen bei Arbeitsaufträgen zeigt sich das z.B. dann, wenn Geschichten nacherzählt werden sollen, da es hierbei vor allem um die zeitlichen Beziehungen geht und Zeit und Raum untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. a.a.O.). Die Figur-Grund-Unterscheidung ist die Fähigkeit, eine Figur visuell aus ihrem Hintergrund herauszulösen, von ihm zu differenzieren, sie als getrennt von ihm zu erkennen. An diesem Prozess sind verschiedene Wahrnehmungsfunktionen beteiligt. Hierfür muss vor allem die Fähigkeit der visuellen Erfassung einer geometrischen Gestalt entwickelt sein. Hierfür bedarf es besonders des In-Beziehung-Setzens von Geraden, Winkeln und Kurven, des Analysierens und Abstrahierens (Milz 1999, S. 116). Wie ein Kind diese Erfahrungen macht, hängt auch von der Veranlagung zur Wahrnehmungsverarbeitung und von der jeweiligen Entwicklungsphase, in der es sich befindet, ab. Bei Reifungsverzögerungen und bei frühkindlicher Hirnschädigung kann möglicherweise auch die Fähigkeit zum Analysieren verzögert sein (vgl. Milz 1999, S. 117). Schließlich spielt auch die genetische Veranlagung zur Bevorzugung der einen oder anderen Hemisphäre eine Rolle. So gilt es immer, Kinder mit Problemen beim

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Die Kinder werden später im Unterricht beim Schreiben schneller ermüden als ihre Klassenkameraden, werden unaufmerksam und können sich nicht konzentrieren. Aufgrund dieses Aufmerksamkeitsdefizits kommt es zu einer Fehlerhäufung in schriftlichen Arbeiten.

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Schriftspracherwerb auch hinsichtlich ihrer Wahrnehmungsverarbeitung zu überprüfen. Beeinträchtigungen der Figur-Grund-Unterscheidung können sich auf vielfältige Weise auf das spätere schulische Lernen auswirken und sich gegenseitig bedingen. Sie können das Erkennen von Buchstabengestalten im Wort, auf einer Heft- oder Buchseite, die Konzentration160, die Aufmerksamkeit sowie das Lesen und Schreiben beeinträchtigen161. Dementsprechend können Beeinträchtigungen vielfältige und unterschiedliche Auswirkungen haben, je nachdem, welche Ursachen ihnen zugrunde liegen. Für die Förderung des optisch-visuellen Bereichs erarbeitete Montessori ein bis in die feinsten Details durchdachtes Material. Beim Training des visuellen Unterscheidungsvermögens kommen zum Erkennen der Dimensionen ein rosa Turm, eine braune Treppe und rote Stangen zum Einsatz, zum Erkennen der Farben Einsatzzylinder und Farbtäfelchen sowie zum Erkennen der Figuren eine geometrische Kommode (vgl. Hammerer 1997, S. 128). Das Material zur Unterscheidung von Formen bietet neuropsychologisch betrachtet Hilfen und Anregungen zur Entwicklung einer differenzierten Wahrnehmungsverarbeitung, gleichzeitig sieht Montessori in diesen Materialien eine Möglichkeit zur Vorbereitung des mathematischen Denkens, wofür sensorische und motorische Erfahrungen erforderlich sind. Aufgrund dieser mathematischen Schwerpunktsetzung wird nicht weiter auf diese Materialienkategorie eingegangen. Neben den Übungen des praktischen Lebens dient zur Vorbereitung auf den Schrifterwerb im genannten Kontext das Training der Schreibmotorik z.B. durch metallene Einsatzfiguren. Dieses Material besteht aus zehn quadratischen rosa Metallplatten mit herausnehmbaren blauen geometrischen Einsätzen162. Wie auch die Einsatzzylinder haben sie einen Knopf zum Anfassen. Vor allem durch das Ausmalen der Figurenumrisse übt das Kind die für das Schreiben notwendige Feinmotorik. Für viele andere Sinnesfunktionen, wie etwa den Farbensinn, Tastsinn, Gewichtssinn und den Gehörsinn, gibt es ebenfalls Materialien, die nach den gleichen Prinzipien aufgebaut sind und in Verbindung mit begrifflichen Übungen stehen. Materialien zum Training dieser für den Schriftspracherwerb bedeutenden Vorläuferfertigkeiten sind das Material zur Unterscheidung elementarer Sinnesempfindungen und das Material zur Unterscheidung von Dimensionen. Das Material zur Unterscheidung elementarer Sinnesempfin-

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Diese erfordert nämlich die Zentrierung der Wahrnehmung. Hierbei wird neben dem Erfassen der Buchstabengestalt auch die Figur-Grund-Wahrnehmung beansprucht. Ob es sich um einzelne Buchstaben oder um Silben handelt, immer ist die Figur-Grund-Wahrnehmung beteiligt. Wenn diese nicht gut genug ausgebildet ist, kann sich das auf den Leseprozess und die Rechtschreibung auswirken. Sofern die verschiedenartigen Auswirkungen von Beeinträchtigungen visueller Wahrnehmung bekannt sind, kann bei manchen Kindern der Schwerpunkt der Störung anhand von Beobachtungen und Testergebnissen herausgefunden werden (vgl. Milz 1999, S. 118). 162 Diese sind: Quadrat, Rechteck, Kreis, Ellipse, Trapez, Fünfeck, Kreisbogendreieck, Dreieck und Vierpass. 161

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9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention

dungen impliziert neben Sinneseindrücken von Gewicht, Wärme und Farbe auch das Riechen, Schmecken, Tasten, Hören und Sehen und solche, die durch Oberflächen- und Tiefensensibilität vermittelt werden. Betrachtet man die Entwicklung eines Kindes von der Geburt an bis zum Schuleintritt, so setzt der Umgang mit den Materialien zur Unterscheidung von Dimensionen und Formen bereits Fähigkeiten voraus, die nur durch die Verarbeitung unterschiedlicher Sinnesempfindungen auf intermodaler Ebene möglich sind. Es findet also sensorische Integration statt, durch die einzelne Empfindungen zu einem ganzheitlichen Eindruck verarbeitet werden. Dieser Prozess, die sog. intermodale Verarbeitung, geschieht für taktile, kinästhetische, visuelle und auditive Informationen in den sich überlappenden Feldern der Gehirnrinde (vgl. Milz 1999). Differenzierte Wahrnehmung beginnt jedoch bereits innerhalb jedes einzelnen Sinnesbereiches, die sich immer mehr verfeinernde Analyse eingehender Reize betreffend. Intramodale Verarbeitung im Bereich einer Sinnesmodalität ist an der intermodalen Verarbeitung beteiligt, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass Montessori bei dem von ihr erarbeiteten Entwicklungsmaterial auch die Förderung elementarer Sinnesbereiche berücksichtigte, denn differenziertes Wahrnehmen betrifft die Entwicklung aller o.g. Sinnesbereiche. Montessori hat darauf geachtet, dass beim Umgang mit folgenden Materialien die Wahrnehmung auf jeweils einen Sinnesbereich konzentriert ist (s. Kapitel 8.1.1). Zum Material zur Unterscheidung von Dimensionen gehören: der rosa Turm, die braune Treppe, die roten Stangen, die Einsatzzylinder sowie die farbigen Zylinder163 (vgl. von Oy 1996). Die Aufgaben zur Unterscheidung der Dimensionen fördern die Differenzierung sensorischer und motorischer, visueller und in Verbindung mit der Sprache auch auditiver Eindrücke. Die Arbeitsschritte laufen jeweils nach der bereits erwähnten Dreistufenlektion ab. Zum rosa Turm gehören zehn rosa lackierte Holzwürfel mit einer Kantenlänge von 1 x 1 x 1 cm bis 10 x 10 x 10 cm. Das direkte Ziel des Materials rosa Turm ist die Begriffsbildung „groß/klein“. Das indirekte Ziel besteht aus der Entwicklung der Motorik, der Koordination der Bewegung und der Bildung von Ordnungsstrukturen, bezüglich der Wortschatzerweiterung sollen die Adjektive „groß/klein“ zusammen mit dem Komparativ und Superlativ verknüpft werden. Beim Umgang mit dem Material rosa Turm wird die unterschiedliche Größe der einzelnen Würfel propriozeptiv164, taktil-kinästhetisch und visuell empfunden. Im Allgemeinen ist die Differenzierung angesprochen, insbesondere die Differenzierung einer Figur

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Zu den folgenden detaillierten Ausführungen des Sinnesmaterials vgl. Oy 1996 und u.a. auch Milz 1999. Das Wort „Propriozeption“ kommt aus dem Lateinischen (proprius = „eigen“, recipere = „aufnehmen“), übersetzt heißt das Eigenwahrnehmung. Das propriozeptive System ist kein eindeutig lokalisierbares Sinnesorgan. Die Rezeptoren der propriozeptiven Wahrnehmung heißen Propriozeptoren und liegen über den ganzen Körper verteilt z.B. in den Sehnen, Bändern, Muskeln und Gelenkkapseln. 164

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9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention

vor ihrem Hintergrund, die Figur-Grund-Differenzierung sowie das Differenzieren von Größen. Die Materialeigenschaften werden erfahren und mit Hilfe der Sprache erfasst. Durch das taktile und kinästhetische Abtasten mit den Händen und durch das visuelle Abtasten mit den Augen wird die Unterbrechung einer Serie wahrgenommen. Wird die visuelle Wahrnehmung durch das Schließen der Augen verhindert, so konzentrieren sich die Empfindungen auf das Umgreifen und die dadurch empfundenen Reize. Insgesamt werden die Beziehungen der Elemente einer Serie zueinander erfahren. Gefördert wird die Verknüpfung von Vorstellungsbild und Vorstellung: das Speichern einer Größenordnung als Vorstellungsbild, das Vergleichen des visuellen Vorstellungsbildes mit den konkreten Gegenständen der gleichen Gruppe und die Schulung des Gedächtnisses. Außerdem werden erste Erfahrungen mit Schwerpunkt und Statik erworben. Während das Kind einzelne Würfel aufeinandersetzt, besteht die Möglichkeit zur Beobachtung, ob es bspw. bei der Bewegung der Hand einen leichten Tremor 165 gibt, ob es die Hand zielgerichtet steuern kann und ob es aus der Menge der Würfel immer den richtigen findet. Diese Beobachtungen dienen in erster Linie als Voraussetzung für eine gezielte Förderung. Generell sollte bei der beobachtenden Beurteilung der Tätigkeit das Alter des Kindes berücksichtigt werden und es sollten keine voreiligen diagnostischen Schlüsse gezogen werden. Zum Material braune Treppe gehören 10 Holzprismen, die jeweils 20 cm lang und 1 x 1 cm bis 10 x 10 cm groß sind. Damit schließt sich die braune Treppe dem rosa Turm systematisch an. Hier lernt das Kind die Unterscheidung von Größenverhältnissen und erweitert seine Ordnungsstrukturen auf der Grundlage eines weiteren Materials. Das direkte Ziel des Materials braune Treppe ist die Begriffsbildung „dick/dünn“. Als indirekte Ziele sind die Entwicklung der Motorik, die Koordinierung der Bewegung und die Bildung von Ordnungsstrukturen zu betrachten. Zur Wortschatzerweiterung werden jeweils der Komparativ und der Superlativ trainiert. Zusätzlich kann die akustische Wahrnehmung mit einbezogen werden, indem bspw. Bälle verschiedenen Materials die Treppe hinuntergerollt werden. Beim Aufbau der Treppe werden Dicke und Beschaffenheit des Materials beim Umgreifen der einzelnen Quader mit den Händen taktil-kinästhetisch wahrgenommen. Es gibt die Möglichkeit, den rosa Turm und die braune Treppe zu kombinieren, da beide Materialien an den Seiten die jeweils gleichen Maße haben166. Beim Umgang mit dem rosa Turm in Kombination mit der braunen Treppe werden das Vergleichen und Vorstellen beansprucht. Piaget (1975) geht davon aus, dass der Übergang von der Wahrnehmung zur anschaulichen Vorstellung bzw. zu einem Vorstellungs-

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Das ist ein Muskelzucken oder ein Zittern. Jeweils zwei Flächen der Treppe sind quadratisch und passen zu den Würfeln des rosa Turms.

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bild mit einer Übersetzung taktiler Erfahrungen ins Visuelle einhergeht (vgl. Piaget/Inhelder 1975, auch 1990), womit das sog. Visualisieren trainiert wird. Zusätzlich werden durch die unterschiedlichen Ausmaße und Gewichte propriozeptive Reize im Gehirn gespeichert, sie führen über taktil-kinästhetische Eindrücke zu räumlichen Vorstellungen. Die Speicherung sensomotorischer Vorstellungen, also zunächst die Aufnahme sensorischer und motorischer Erfahrungen, um sie dann aus der Erinnerung handelnd zu reproduzieren, sind wichtige Übungen zur Festigung räumlicher Erfahrungen, räumlicher Vorstellung und räumlichen Denkens. Das Material der roten Stangen besteht aus zehn rot lackierten Holzstangen, die jeweils das Maß 2,5 x 2,5 cm haben, 10 cm bis 100 cm lang sind und sich gegenseitig ergänzen lassen. Das direkte Ziel dieses Materials ist die Begriffsbildung „lang/kurz“. Die Entwicklung der Motorik, die Koordinierung der Bewegung, die Bildung von Ordnungsstrukturen sowie die Vorbereitung auf die Arbeit mit den numerischen Stangen sind indirekte Ziele. Zur Wortschatzerweiterung werden jeweils der Komparativ und der Superlativ trainiert. Im Umgang mit den roten Stangen werden gezielt Bereiche der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung angesprochen. Es sind die Feinmotorik, die Auge-Hand-Koordination, die Figur-GrundDifferenzierung, die Längenkonstanz, die Raumlage und die Raumbeziehung, das Erkennen von Abstufungen sowie Gleichmäßigkeiten, die unter dem Aspekt neuropsychologischer Voraussetzungen zur Entwicklung des mathematischen Denkens, aber auch als Voraussetzung für das Lesen- und Schreibenlernen anzusehen sind. Gleichzeitig werden die sprachliche Verarbeitung und damit das begriffliche Verständnis gefördert. Um räumliche Erfahrungen zu präzisieren, helfen Begriffe wie „lang“, „länger“, „am längsten“, „kurz“, „kürzer“, „am kürzesten“. Sehen, Sprechen und Handeln in Kombination ermöglichen die mehrkanalige Verarbeitung von Wahrgenommenem, was zu besserer Speicherung und Vorstellung führt. Die Einsatzzylinder bestehen aus vier Einsatz-Zylinderblöcken mit zehn unterschiedlichen Zylinderbohrungen und jeweils zehn dazugehörigen Einsatzzylindern. Ein Einsatzblock besteht aus Einsätzen gleichen Durchmessers und zunehmender Höhe, einer aus Einsätzen zunehmenden Durchmessers und gleichbleibender Höhe, einer aus Einsätzen mit zunehmendem Durchmesser und zunehmender Höhe und einer aus Einsätzen mit abnehmendem Durchmesser und abnehmender Höhe. Das direkte Ziel dieses Materials besteht im Erkennen von Dimensionsunterschieden bei gleichbleibender Form. Es werden Reihen nach vorgegebenen Ordnungsstrukturen gebildet, Farben sowie Dimensionsunterschiede werden wahrgenommen. Indirekte Ziele sind die Ausbildung der Feinmotorik der Schreibhand, Vorbereitung auf die Stifthaltung beim Schreiben und die Bildung von Ordnungsstrukturen im Bereich der Dimensionen. Zur Wortschatzerweiterung werden die Adjektive „dick/dünn“, „hoch/niedrig“, 130


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„groß/klein“, „tief/flach“ mit dem Komparativ und Superlativ eingeführt und trainiert (vgl. von Oy 1996, S. 68). Hierbei wird eine Basis für das Erlernen der Rechtschreiblogik gelegt, da innerhalb einer Wortfamilie der Wortstamm meistens gleich geschrieben wird, und Grammatik (Wortdurchgliederung, Wortart, Komparation) geübt. Der Umgang mit den verschieden dimensionierten Zylindern fördert besonders das visuelle und taktil-kinästhetische Unterscheiden bzw. das differenzierte Erkennen von Eigenschaften, von abgestuften Reihenfolgen und von Relationen wie etwa Zusammengehörigkeit, von Gleichheiten und von Gegensätzen. Zusätzlich werden die Koordination von Auge und Hand, die Figur-Grund-Differenzierung, das Erkennen räumlicher Strukturen und der Sprachausdruck im Sinne des Gebrauchs von passenden Adjektiven und des Gebrauchs von Komparativ und Superlativ gefördert. Die Einszu-Eins-Zuordnung der Zylinder in die passenden Öffnungen bildet eine Vorbereitung zum späteren Abzählen. Durch die taktil-kinästhetische Rückmeldung beim Einsetzen eines Zylinders in eine Öffnung geschieht eine Vorbereitung auf eine Leistung im mathematischen Bereich. Zum Material der farbigen Zylinder gehören vier Aufbewahrungskästen mit verschiedenfarbigen Deckeln, die verschiedene Sätze Zylinder, insgesamt 40, enthalten. Die Farbe eines jeden Zylindersatzes hat eine besondere Bedeutung. So beinhaltet der blaue Kasten Zylinder gleicher Durchmesser und unterschiedliche Höhe, der rote Kasten beinhaltet Zylinder unterschiedlichen Durchmessers und gleicher Höhe, der gelbe Kasten beinhaltet Zylinder, deren Höhe und Durchmesser synchron kleiner werden, und der grüne Kasten beinhaltet Zylinder, deren Höhe und Durchmesser sich gegenläufig verändern. Das Erkennen und Vergleichen nach Seriengesetzen bildet das direkte Ziel dieses Materials, während das indirekte Ziel das Bilden von Reihen nach selbst gefundenen oder vorgegebenen Ordnungskriterien und das Erkennen der Gesetze der Statik sind. Die Wortschatzerweiterung gleicht der der Einsatzzylinder. Hierbei ist allein die visuelle Wahrnehmung angesprochen. Es gibt keine eindeutige sensomotorische Fehlerkontrolle, was neuropsychologisch verstanden eine komplexe Leistung erfordert und wofür die bereits gemachten taktil-kinästhetischen Erfahrungen die Voraussetzung bilden. Damit wird eine höhere Anforderung an die Wahrnehmungsverarbeitung des Kindes gestellt. Die farbigen Zylinder können übereinander angeordnet werden, womit die Serialität nicht nur in der horizontalen, sondern auch in der vertikalen Richtung trainiert wird. Zusätzlich erweitern die Begriffe „unter“, „darüber“, „darunter“ den Wortschatz. Bei der Arbeit mit den Farbtäfelchen wird bei jedem Training mit nur einer bestimmten Farbe gearbeitet. Sie sind für das Training von Vorschul- sowie Schulindern geeignet. Das Kind wird aufgefordert, die Farbtäfelchen nach Farbabstufungen zu sortieren, z.B. die hellgrünen, grünen, dunkelgrünen. Unter die Farbtäfelchen werden Kärtchen mit dem dazugehörigen Be131


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griff, in Druckschrift in derselben Farbe geschrieben, gelegt. Für Kinder, die Leseprobleme haben, werden die Farbtäfelchen und die Wortkärtchen gemischt. Das Kind muss sie richtig auslegen, zuordnen und benennen. Dann werden die farbig beschriebenen Kärtchen durch schwarz beschriftete ausgewechselt. Das Kind soll sich an das Wortbild erinnern und es dem entsprechenden Farbtäfelchen zuordnen. Beherrscht das Kind bereits das Lesen und Schreiben, so wird das Wort mit geschlossenen Augen noch einmal buchstabiert und dann in das Heft geschrieben. So wird die Beziehung vom abstrakten Wort „grün“ zum konkreten Farbenbild und zum Wortbild hergestellt. Genauso wird mit den anderen Farbabstufungen verfahren. Montessoris Farbtäfelchen bieten weitere Möglichkeiten, die optische Differenzierung und das optische Gedächtnis zu fördern und somit gleichzeitig zum besseren Lesen und Schreiben beizutragen, indem eine Reihe von Farbtäfelchen, die zu einer Farbe in verschiedenen Farbabstufungen gehören, vor das Kind gelegt wird. Die beiden kontrastreichsten Täfelchen werden dem Kind gezeigt und auf den Tisch gelegt. Das Kind vergleicht die Farbtäfelchen miteinander und stuft sie gleichmäßig in eine Farbreihe ein. Danach werden die übrigen Täfelchen ihrer Schattierung entsprechend nacheinander so geordnet, dass eine abgestufte Farbreihe von hell bis dunkel entsteht (vgl. a.a.O., S. 66.). Die Übung wird mehrmals wiederholt. Das Kind wird aufgefordert, die Farbabstufungen zu benennen, indem es auf ein entsprechendes Kärtchen zeigt und dabei „hell, heller, am hellsten“, „dunkler als“ usw. ausspricht. Dann werden Kärtchen mit dem entsprechenden Begriff, die in derselben Farbschattierung beschriftet sind, unter die Farbtäfelchen gelegt, die Begriffe werden gelesen und buchstabiert. Mit geschlossenen Augen muss das Kind mit dem Zeigefinger der rechten Hand über das aus Sandpapierbuchstaben ausgelegte Wort fahren. Noch einmal wird mit geschlossenen Augen buchstabiert. Nachdem das Kärtchen mit den Begriffen vom Kind ausgesucht und dementsprechend zugeordnet und gelesen worden ist, soll es abgeschrieben werden. Schließlich darf das Kind mit derselben Farbe, mit der gearbeitet wurde, ein Phantasiebild malen, z.B. einen Kobold mit dunkelgrünen Augen, hellgrünem Haar, einer Mütze in einer anderen Abstufung der Farbe Grün. Genauso werden das Hemd, die Hose, die Schuhe, die Strümpfe etc. bemalt. Als zusätzliche Trainingsaufgabe werden die Kärtchen mit den erlernten Begriffen, die in der Farbe, mit der gearbeitet wurde, beschriftet sind, an einem Ort befestigt, an dem das Kind sie öfter sehen kann. Es dürfen jeweils nicht mehr als fünf Begriffe sein. Von Vorteil ist, wenn sie zu einer Wortfamilie gehören, z.B. hellgrün, hell, heller, am hellsten. Zusätzlich kann das Computer-Programm „Easy-Training“ vom Kärtner Landesverband Legasthenie für die häusliche Förderung dem Training des optischen Gedächtnisses und der optischen Serialität auf eine ähnliche Weise dienen. Die Übung heißt Opticlick. Nachdem das Programm gestartet wurde, erscheinen auf dem Monitor zwei Reihen aus je sechs Farbtafeln (hellgrün, hellblau, 132


9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention

dunkelgrün, dunkelblau, rot und grau). Die untere Farbreihe wird nach 20 Sekunden ausgeblendet und die Aufgabe für das Kind besteht nun darin, sich die Reihenfolge der unteren Farbreihe zu merken und sie per Mausklick der oberen Reihe richtig zuzuordnen, ähnlich wie beim Memory-Spielprinzip. Beim Umgang mit dem Sinnesmaterial geht es also um die Entwicklung und Förderung einer differenzierten Wahrnehmungsverarbeitung verschiedener Sinnesempfindungen, wobei unterschiedliche Reifungsebenen und unterschiedlich komplexe Leistungen angesprochen werden. Diese bauen neuropsychologisch gesehen aufeinander auf, obgleich sie in der Praxis nicht unbedingt in festgelegter Reihenfolge angeboten werden, da sich die Vorgehensweise nach der Entwicklungsphase des jeweiligen Kindes zu richten hat. Für Montessori ist die Erziehung der Sinne (vgl. Montessori 1987, S. 230, 304), die einem biologischen und einem sozialen Ziel dient, von höchstem pädagogischem Interesse. Das Soziale besteht nach Montessori in der Vorbereitung des Individuums auf die Umwelt, wobei die biologische Komponente darin besteht, die natürliche Entwicklung des Kindes zu unterstützen. Der Zweck der Erziehung der Sinne besteht nach Montessori darin, durch wiederholte Übung eine Verfeinerung in der Wahrnehmung der Unterschiede der Sinnesreize herbeizuführen. „Sie hat ein Unterrichtsmaterial für die Erziehung der wichtigsten Sinne konstruiert, das dazu dienen soll, dem Kind die Selbstverbesserung nahe zu legen, indem es Irrtümer ohne Weiteres erkennen lässt“ (Katz 1925, S. 83).

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10 Abschließende Diskussion

10 Abschließende Diskussion

In den letzten Jahren hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Lesens und Schreibens sowie mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten einen rasanten Aufschwung erlebt. Mehrere wissenschaftliche Disziplinen befassen sich mit diesem Themenbereich: Sprach- und Kommunikationswissenschaftler ebenso wie Psychologen, Pädagogen und Mediziner. Dabei wird von einem recht weiten Verständnis von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten bzw. Legasthenie ausgegangen. Es handelt sich nicht nur um Schwierigkeiten beim Worterkennen, also beim Lesen im engeren Sinn, und beim Rechtschreiben als seinem Gegenstück, sondern auch um Schwierigkeiten beim Leseverständnis, beim schriftlichen Ausdruck und beim Schreiben, also bei der motorischen Ausführung selbst. In all diesen Bereichen haben sich neue Entwicklungen abgezeichnet. Die Schulreife setzt einen gewissen Grad an neuropsychologischer Reife voraus, wie er sich bspw. auch in der grob- und feinmotorischen Geschicklichkeit und in der Ausbildung einer Seitigkeit167 darstellt. Spätestens dann, wenn ein Kind in die Schule kommt, sind besonders die Fähigkeiten im sozialen Bereich wie auch die Voraussetzungen zum Erlernen der Kulturtechniken von Bedeutung. Die Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb sind neben der motorischen Geschicklichkeit, dem Gedächtnis, der zweckvollen Aktivität und der Raumwahrnehmung auch die Bereiche der visuellen Wahrnehmung, die u.a. Marianne Frostig in mannigfaltiger Weise beschrieben hat (vgl. u.a. Frostig et al. 1977; Büttner et al. 2008). Sie sind von entscheidender Bedeutung für das Erlernen des Lesens und Schreibens. Selbstverständlich kommen weitere Fähigkeiten, wie das Gedächtnis, die visuelle Vorstellung, das vorausschauende Planen, also die Antizipation, die Fähigkeit, Denkvorgänge hintereinander auszuführen, die Fähigkeit zur Umstellung auf neue Aufgabenformen sowie die Anwendung bestimmter Prinzipien auf wechselnde Situationen hinzu, insbesondere jedoch die Sprache. Für all diese Fähigkeiten, und damit auch für die kognitive Entwicklung, sind neuropsychologische Prozesse168, im Besonderen funktionierende Sinneswahrnehmungen, die Voraussetzung. Trotz der Tatsache, dass Legasthenie nicht geheilt werden kann, werden die Kinder und Jugendlichen, die ihre Schulkarriere normal durchlaufen, später auch kein Problem mehr im Beruf haben. Frühestmögliches Erkennen von Defiziten im Bereich des Schriftspracherwerbs

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Das ist die Dominanz einer Hemisphäre für bestimmte Funktionen. Wenn Montessori im Kontext der Erziehung der Sinne von einem biologischen Ziel spricht, ist die neuropsychologische Entwicklung gemeint, die eng in Wechselwirkung mit dem sozialen Ziel steht. 168

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und dem Kind das Gefühl des Versagens nehmen zu können, sind wichtige Ziele. Bei legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten handelt es sich um eine Problematik, die sowohl von individuellen Lernvoraussetzungen als auch von der Umgebung und der Förderung beeinflusst wird. Hierbei ist von einer wechselseitigen Einflussnahme auszugehen. Von besonderer Bedeutung sind die Fortschritte im Verständnis für die biologischen Grundlagen der Legasthenie. Der Beitrag der Vererbung für das Auftreten der Lernprobleme ist in den letzten Jahren deutlich sichtbar geworden. Bisherige Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein größerer Teil dieser Risikokinder früh auffällig wird. Hier ergeben sich Chancen für eine gezielte frühkindliche Prävention legastheniebedingter Probleme beim Schriftspracherwerb. Auch an die weiteren Untersuchungen der neurophysiologischen Grundlagen des Worterkennens knüpfen sich Hoffnungen. Die Messung der hirnphysiologischen Aktivitäten während des Lesens bzw. bei speziellen Aufgaben könnte es in Zukunft erlauben, die Funktionsweise verschiedener Teilprozesse beim Lesen und Schreiben differenzierter zu beurteilen und damit auch einen Beitrag für die Planung und die Beurteilung der Fortschritte in der Frühförderung zu leisten. Inzwischen wurde eine Vielzahl diagnostischer Methoden, die eine differenzierte Darstellung der Entwicklungsphasen im Lesen und Schreiben und damit eine rationale Planung der Interventionsmaßnahmen ermöglichen sollte, entwickelt. Die breitere Anwendung dieser diagnostischen Methoden sollte im Weiteren zu Fortschritten bei der Individualisierung der Förderung führen. Hierzu können Eltern einen enormen Beitrag leisten, indem sie eine geeignete Förderung finden. Pädagogen sind die erste Anlaufstelle beim Verdacht auf Schriftspracherwerbsschwierigkeiten bzw. Legasthenie; gemeinsam mit ihnen und mit eventuell zusätzlich hinzuzuziehenden Experten der Gesundheitsebene sollte dann die geeignete Förderung gewählt werden. Wie gezeigt werden konnte, beschränkt sich die Förderung legasthener Kinder nicht lediglich auf ein Training im Symptombereich, also des Lesens und Schreibens. Da Legasthenie auch gravierende Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat, muss neben der Förderung des Schriftspracherwerbs auch eine Erhöhung des Selbstwertgefühls und emotionaler Stabilität ein bedeutendes Behandlungsziel sein. Folglich integriert ein umfassendes Trainingskonzept neben institutioneller Hilfe auch den Bereich des Elternhauses. Die Eltern werden bei der häuslichen Frühförderung von Pädagogen unterstützt, sie haben so die Möglichkeit, durch eine nach sonder- oder heilpädagogischen Grundsätzen aufgebaute Förderung auf die individuellen Schwächen und Stärken des Kindes einzugehen. Das Elternhaus kann Teilbereiche der Förderung übernehmen. Für jedes Kind wird in diesem Fall ein individuelles Trainingsprogramm zusammengestellt. Ausschlaggebend für den Erfolg der Behandlung sind die Unterstützung und der Rückhalt in der Familie. Das Ausmaß emotionaler Unterstützung, das die 135


10 Abschließende Diskussion

Kinder in ihrer jeweiligen Familie bekommen, beeinflusst wesentlich die Fortschritte beim Erlernen des Lesens und Schreibens. Von unmittelbarer Bedeutung sind hier sowohl das Fehlen einer kritischen Haltung seitens der Eltern als auch das Ausmaß an positiver Unterstützung, Motivation und Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung169. So können sich positive Effekte wie Konzentration und Ruhe einstellen. Gelingt es, Abneigung und Ängste gegenüber allem Schriftsprachlichen aufzulösen und Lernzuversicht bzw. Motivation zu vermitteln, so werden sich bei der Förderung des Schriftspracherwerbs Erfolge einstellen. Wie Längsschnittstudien gezeigt haben, ist die Unterstützung durch das Elternhaus für die langfristige Schriftspracherwerbsentwicklung des legasthenen Kindes von ausschlaggebender Bedeutung. Unter diesem Aspekt ist eine außerschulische Betreuung von allen Kindern mit einer ausgeprägten Legasthenie erforderlich. Statt das Lernen als etwas Unmögliches anzusehen, kann das Kind auf diese Weise begreifen, dass es seine eigene Lernsituation durch bestimmte Methoden verbessern kann. Maria Montessori hat das Kind in ihrer Pädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter heute noch aktuellen Aspekten betrachtet, die deutliche Parallelen zu den derzeit favorisierten systematisch-konstruktivistischen Denkmodellen aufweisen, sie hat damit weit mehr an „pädagogischem Erbe“ hinterlassen als nur eine Methode. Die Montessori-Pädagogik ist pädagogische Theorie, Erziehungskonzeption und Praxismethode. Nicht nur für die frühkindlichen Fördermaßnahmen im Rahmen allgemeiner Erziehung, sondern besonders auch für die Ansätze und Möglichkeiten der Prävention legastheniebedingter Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb bedarf es einer Öffnung und Weiterentwicklung ihrer Gedanken. In diesem Sinne bestehen vielerlei Möglichkeiten der pädagogisch-didaktischen Frühförderung legasthener Kinder, nicht nur in institutionellen Einrichtungen, sondern auch für elterlich-präventive Intervention. Im Gesamtgebiet der Legasthenieforschung ist die frühkindliche pädagogisch-didaktische Intervention bei legasthenen Kindern immer noch ein relativ vernachlässigter Bereich. Jedoch haben sich auch hier wesentliche Fortschritte ergeben. Es ist zu beobachten, dass sich die Situation zunehmend verbessert, da es vielen Menschen gelingt, sich von althergebrachten Stereotypen zu befreien. Ein besonderer Akzent wurde auf die Frühförderung und die Prävention von legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten in der Vorschulzeit bzw. in den ersten Phasen des Erstleseunterrichts gelegt. Es ist klar geworden, dass die frühkindliche

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Sowohl die Geduld des Kindes als auch die Geduld der Mutter sollte nicht zu sehr strapaziert werden. Beim Üben bzw. bei den Hausaufgaben ist es daher wichtig, sich bei der Reihenfolge der Aufgaben nach dem Kind zu richten (manche möchten mit den leichteren beginnen, andere möchten zuerst die schweren hinter sich bringen).

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10 Abschließende Diskussion

Förderung legasthener Kinder intensive Formen der Unterstützung braucht, damit die Kinder Fortschritte beim Schriftspracherwerb machen. Um eine optimale individuelle Förderung legasthener Kinder zu ermöglichen, werden auch andere Organisationsformen als die schulische Förderung im Kurssystem benötigt. Durch fächerübergreifende Hilfestellungen, besonderes bei Auftreten von Begleit- und Sekundärproblemen, können die Möglichkeiten und Grenzen professioneller Pädagogen deutlich besser und sinnvoller eingeschätzt werden. Dies kann sowohl zu einem realen Selbstbild als auch zu einer realistischen Einschätzung durch die Gesellschaft in Hinblick auf die pädagogischen Leistungen führen. Zudem sollte durch die Akzeptanz der Verwobenheit der Lernprozesse, u.a. mit den Rahmenbedingungen, auch der Blick für die Bedingungen, unter denen professionelles pädagogisches Handeln häufig stattfinden muss, geschärft werden. Die Legasthenie ist als eine Normvariante menschlicher Begabung, als eine andere geistige Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten zu betrachten. Es bedarf noch intensiver Aufklärungsarbeit, um eine Akzeptanz in Gesellschaft, Kultur und - ein nicht zu unterschätzender Faktor - in der Politik zu erreichen. Vor allem die Politik wird in Zukunft die Augen vor der Tatsache, dass circa 15% der Weltbevölkerung bereits unter Legasthenie leiden, nicht verschließen können. Es ist zu hoffen, dass es zu einem gänzlichen Umdenken hinsichtlich des gesellschaftlichen Verständnisses der Legasthenieproblematik kommt und diese als pädagogisch-didaktisches Interventionsgebiet betrachtet wird. Zudem ist es wünschenswert, dass sich die Gesellschaft wie auch die verschiedenen forschenden Disziplinen weiterhin vermehrt aus einem pädagogischen Verständnis heraus mit der Problematik der Legasthenie beschäftigen. Hier lassen sich viele neue Wege entdecken, wie legasthenen Kindern beim Schriftspracherwerb besser geholfen werden kann – und daher mag sich die Anstrengung lohnen. Hinter dieser Arbeit stand keinesfalls die Option einer Degradierung neuropsychologischer bzw. therapeutischer und alternativer behandelnder Interventionen bei Legasthenie. Vielmehr soll ein Anstoß zur vermehrten Anwendung von Maßnahmen zur unterstützenden präventiven Förderung und zur pädagogisch-didaktischen Intervention bei legasthenen Kindern, vor allem von Seiten der Eltern, gegeben werden, um die Erfolgschancen für alle Betroffenen zu erhöhen. Ich hoffe, mit der vorliegenden Arbeit einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Umdenken in Bezug auf das Verständnis von Legasthenie und die damit in Zusammenhang stehenden Schriftspracherwerbsschwierigkeiten geleistet zu haben. Es war mir auch ein Anliegen, die wichtige Funktion der Berufsgruppe der Vorschulpädagogen zu betonen: Pädagogen sind „Mitformer“ der zukünftigen Gesellschaft, und in diesem Kontext sollte auch ihre Arbeit gesehen werden.

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156


Anhang

Abb. 2: Bausteine der kindlichen Entwicklung Quelle: Ayres 1984

157


Abb. 3: Das Logogenmodell nach Morton in 체berarbeiteter Version nach Ellis Quelle: zit. nach Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 98170.

170

Die neben den Verbindungspfeilen befindlichen Abk체rzungen geben die Art der weitergegebenen Informationen an visuell, akustisch, grammatikalisch, semantisch, phonemisch, lexikalisch, als motorisches Muster von Graphemen und kin채sthetisch.

158


Abb. 4: Das Grundgerüst der Montessori-Pädagogik Quelle: Hagemann/Börner 2009, S. 20

Abb. 5: Das Drei-Phasen/Sechs-Stufen-Modell des Erwerbs von Lesen und Schreiben nach Frith Quelle: Graf 1994, S. 108

159


Abb. 6: Persรถnlichkeitskonstitution Quelle: Holtstiege 2009, S. 66

160


Abb. 7: AFS-Methode im visualisierten Ăœberblick nach Kopp-Duller Quelle: Kopp-Duller 2008a, S. 42

161


Abb. 8: Verlauf des Wahrnehmungsprozesses Eigene Darstellung in Anlehnung an Zimmer 2005, S. 47

162


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