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Wunder als Möglichkeit

Kino evoziert die Realität nicht wie literarische Sprache es tut; kopiert sie weder wie ein Gemälde, noch ahmt es sie nach wie im Theater. Kino reproduziert Realität ... In Wirklichkeit machen wir selber Kino, indem wir es leben ... Die Realität der menschlichen Welt ist nichts anderes als diese doppelte Repräsentation, in welcher wir Akteure und Beobachter zugleich sind: ein gigantisches Ereignis [Happening], wenn man so will.

Pier Paolo Pasolini

Was bedeutet Pasolinis Beharren darauf, dass Kino der Realität entspricht? Warum diese Obsession? Kunst hat doch immer eine gewisse Entfernung zu der Welt, die sie zu ergründen versucht. Aber genau an dieser Stelle setzt Pasolini seine Idee der Realität als „doppelte Repräsentation“ an. Wir befinden uns kontinuierlich innerhalb und außerhalb unserer Welt: innerhalb als Akteure und außerhalb als Beobachter. Diese Doppelung verdeutlichen wir in unserer Inszenierung mit der Durchführung eines Experiments: Damit versuchen wir, ein Libretto umzusetzen, in dem die Aktionen der Charaktere in der dritten Person wiedergegeben werden, also von außerhalb. Es passiert erst im späteren Verlauf, nach den Transformationen durch ihre Begegnungen mit dem Gast, dass die Charaktere auch größere Passagen singen, aber auch dann bleibt der Text in der dritten Person. Die Figuren sind gefangen im Paradox der „doppelten Repräsentation“ – wortwörtlich ihrem Leben zusehend, in jenem Moment, wo sie es versuchen zu leben.

Doch was hat die Oper mit der Realität zu tun? Scheint es nicht so, als gäbe es kaum etwas weniger „Reales“, als wenn jemand auf einer Bühne singt? Wenden wir uns hierfür wieder Pasolinis Stilvermögen zu: als Methode, um diese Entfremdung im Herzen des Seins zu erfassen. Er war der Auffassung, dass eine nicht untersuchte Realität obskur, falsch oder in seinen Worten „bourgeois“ ist. Er war erst durch stilistische Repräsentation in der Lage, „Realität durch Realität“ auszudrücken und die Fundamente des alltäglichen Lebens in einem anderen Licht darzustellen. Das gilt für die Familie von „Teorema“ – eine Familie, die er als „in keinem Sinne als herausragende Personen, sondern als Personen, die mehr oder weniger durchschnittlich sind“, beschreibt. Es ist von zentraler Bedeutung für Pasolini, dass seine Charaktere unbedeutend, normal und undramatisch oder, in den Augen mancher, ungeeignet für die große Bühne der Oper sind. Aber es ist genau dieses Beharren auf unbedeutenden Personen, durch das Pasolini unser Augenmerk auf sein eigentlich bedeutsames Thema lenkt: das Wunder.

Pasolini glaubte an, so wie er es nannte, die „subjektive Realität“ von Wundern. Damit meinte er nicht, dass eine Person fliegen oder über das Wasser laufen kann. Es bedeutet nur, dass es eine bestimmte Perspektive gibt, aus der man die Welt sehen kann, die diese Dinge als Möglichkeiten offenbart. Ein Wunder ist nichts anderes als eine neue Sicht auf die Welt, eine Perspektive, in der etwas Unmögliches plötzlich möglich erscheint. In diesem Sinne gleichen sich Pasolinis Marxismus und sein Katholizismus, die beide als Suche nach neuen Perspektiven, einer neuen Realität, verstanden werden können, befreit von dem erdrückenden bourgeoisen Konsum seiner Zeit.

Und so sind wir nun hier, an der Deutschen Oper, konfrontiert mit einer Bühne, auf der ein wissenschaftliches Experiment inszeniert wird, das die Beobachter*innen in diese Untersuchung menschlichen Verhaltens miteinbezieht. In diesem Sinne weicht die Frage im Herzen von IL TEOREMA DI PASOLINI nicht von der Frage ab, die sich das Publikum am Ende jeder Aufführung stellt: Warum verhalten sich die Menschen so, wie sie sich verhalten? Können wir uns anders verhalten? Besteht die Möglichkeit einer anderen Welt? IL TEOREMA

DI PASOLINI ruft das Publikum dazu auf, Oper in einem anderen Licht zu betrachten, als Experiment in Form einer Einladung, die Welt mit neuen Augen zu sehen, die Perspektive zu wechseln, die Realität zeitgleich von innen und außen zu erleben und hoffentlich, die Welt als einen Ort wahrzunehmen, an dem Wunder möglich sind.

Bush Moukarzel [Dead Centre]