Deutsche Oper Berlin: Magazin (Saison 17/18, September 2017 – Januar 2018)

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Deutsche Oper Magazin September 2017 – Januar 2018 Saison 17 / 18

In Koopera�on mit


Inhalt

6 Banalität kann ich nicht ­komponieren Aribert Reimann ist einer der ­wichtigsten Komponisten unserer Zeit. Jetzt hat er für die Deutsche Oper Berlin ein neues Werk ­komponiert 8 Von unerhörter tragischer ­Dringlichkeit Regisseur Vasily Barkhatov über seine Arbeit an Reimanns L’INVISIBLE 12 Ein Theater der Inbrunst und Hysterie Das Regime der Wiedertäufer bildet den historischen Hintergrund von Meyerbeers LE PROPHETE

14 Erst Übermutter, dann ­Sexsymbol Als Carmen wurde Clémentine ­Margaine zum Star. Jetzt singt sie Bizets Heldin in einer Neuproduktion der Deutschen Oper Berlin und debütiert als Fidès in LE PROPHETE

20 Opfer auf allen Seiten Regisseur Ole Anders Tandberg verortet CARMEN in ­einer Welt ­voller Grausamkeiten und Abgründe

21 Alles auswendig Der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin bereitet sich in dieser Spielzeit auf große Aufgaben vor 24 Dankbarkeit und Demut Edita Gruberová ist das Vorbild einer ganzen Sänger­generation. Ihre Kollegin Jana Kurucová erklärt, warum

28 Das Tier in Dir Vor 200 Jahren schrieb Mary ­Shelley „Frankenstein“. Bis heute hat die Geschichte nichts von ihrer ­Faszination verloren. 31 Ein Experiment mit fatalem ­Ausgang Maximilian von Mayenburg stellt in der Tischlerei seine Version von FRANKENSTEIN vor 32 Die Welt in Form bringen „Lieder und Dichter“ präsentiert klassisches Liedgut und Dichter von heute. Thomas Wohlfahrt erläutert die Ver­bindungen zwischen Lyrik und Musik 34 Repertoire-Tipps und Service


Das Deutsche Oper Magazin ist eine Beilage der Tageszeitung Der Tagesspiegel Berlin © 2017 Herausgeber Deutsche Oper Berlin Vermarktungs GmbH Richard-Wagner-Straße 10 10585 Berlin Redaktion Dramaturgie / verantwortlich: Jörg Königsdorf [ Deutsche Oper Berlin ] Ulrich Amling [ Der Tagesspiegel ] Gestaltung STUDIO BENS, Berlin Fotos [Cover, Seite 4, 10, 18] Realgestalt Produktion Möller Druck Die Rechtschreibung folgt den Vorlagen.

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Impressum

was treibt einen Komponisten dazu, eine Oper zu schreiben? Und wie findet er den Stoff, der bei ihm die nötige Inspiration freisetzt, um ein Publikum einen ganzen Abend lang in Bann zu halten? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, landet – vor allem bei den Meisterwerken der Opernliteratur – oft beim Allerpersönlichsten. Bei Wagners Desillusionierung angesichts einer gescheiterten Revolution als Keimzelle für die Utopie des RINGS, bei Meyerbeers persönlicher Erfahrung des Missbrauchs von Religion zu machtpolitischen Zwecken als Triebkraft für LE PROPHETE, oder auch bei ganz elementaren familiären Prägungen wie einer starken Vater-Sohn-Beziehung, wie sie sich in vielen Opern Mozarts spiegelt. Je mehr man sich auf dieses „Warum“ konzentriert, desto näher ist man an dem, was uns heute an diesen Werken interessiert und fesselt: An den menschlichen Erfahrungen und Bekenntnissen, die jenseits zeitgebundener gesellschaftlicher Konventionen stehen, ja, sich oft zornig oder verzweifelt gegen sie wenden. Während wir bei Mozart, Wagner und Verdi freilich noch auf das spekulative Verfahren einer nachträglichen Psychoanalyse angewiesen sind, gibt es heute wohl kaum einen Komponisten, der die Bedeutung der eigenen Lebenserfahrungen für die Entstehung seiner Opern von der Hand weisen würde. Das gilt für den jungen Andrea Lorenzo Scartazzini, der zuletzt für die Deutsche Oper Berlin mit EDWARD II. eine explizit schwule, aber in ihrer starken Emotionalität auch für das große Publikum unmittelbar verständliche Oper schrieb. Und das gilt ebenso für Aribert Reimann, den Doyen unter den Komponisten unserer Zeit, der jetzt, mit 81 Jahren, für die Deutsche Oper Berlin ein neues Werk verfasst hat: In diesem Magazin erzählt er offen über die persönlichen Beweggründe, die ihn dazu bewogen, in L’INVISIBLE Geburt und Sterben eines Kindes zu verarbeiten. Um Ihnen diese Hintergründe und Beweggründe unseres Tuns nahe zu bringen, bieten wir Ihnen nicht nur unsere Einführungen und Programmhefte an, sondern auch dieses Magazin, das wir in Zusammenarbeit mit dem Tagesspiegel herausbringen. Nach elf schönen Jahren haben wir uns nun entschlossen, für die Vermittlung dieser Inhalte andere Wege zu beschreiten, die dem gewandelten Lese- und Informationsverhalten der meisten von uns besser gerecht werden. Ab 2018 werden Sie von uns auf neue Weise hören und sehen. Wir freuen uns auf Sie.

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© Bettina Stöß

Liebe Leserinnen und Leser,

Jörg Königsdorf


© Realgestalt


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L’Invisible Aribert ­Reimann 8. Oktober 2017

Aribert Reimanns neues Musiktheaterwerk ist ein Stück über die Unausweichlichkeit des Todes und die Unfähigkeit des Menschen, ihm zu begegnen. Aus drei Kurzdramen des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck – „Der Eindringling“, „Interieur“ und „Tintagiles Tod“ – schöpfte der Komponist den Stoff für alltäglich-traumhafte Räume, wo hinter scheinbar belanglosen Fassaden unsagbare Ängste und hilflose Trauer regieren.

Weitere Vorstellungen: 18., 22., 25., 31. Oktober 2017 Donald Runnicles Musikalische Leitung Vasily Barkhatov Inszenierung ­ Zinovy Margolin Bühne Olga ­Shaishmelashvili Kostüme Ulrich Niepel Licht Sebastian Hanusa, Jörg Königsdorf Dramaturgie Mit Rachel Harnisch, Annika Schlicht, Ronnita Miller; ­Stephen Bronk, Seth Carico, Thomas Blondelle, Tim ­Severloh, Matthew Shaw, Martin Wölfel, Gelimer R ­ euter / Salvador Macedo Orchester der Deutschen Oper Berlin Kompositionsauftrag der Deutschen Oper Berlin ­Gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung Mit Unterstützung des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin e. V. sowie von inm


© Gaby Gerster

Banalität kann ich nicht komponieren Der Berliner Aribert Reimann ist einer der bedeutendsten lebenden Komponisten überhaupt. Seit über sechzig Jahren ist er der Deutschen Oper Berlin ver­bunden. Jetzt hat er für dieses Haus eine neue Oper ge­schrieben.

Herr Reimann, in L’INVISIBLE vertonen Sie drei Kurzdramen von Maurice Maeterlinck. Was hat sie an dem Stoff gereizt? Mit dem Gedanken, Dramen von Maeterlinck zu vertonen, trage ich mich schon sehr lange, nämlich seit den achtziger Jahren. Damals sah ich drei Maeterlinck-Stücke in der Regie von Wolf Redl an der Berliner Schau­ bühne: „L’Intruse“, „L’Intérieur“ und „Les Aveugles“. Von den intensiven, beklemmenden Situationen, die diese Stücke entwerfen, von ihrem Umgang mit Stille war ich ungeheuer beeindruckt, so dass ich das Gefühl hatte: Das muss ich mal machen. Die Pläne habe ich dann aber wieder weggelegt. Es kamen so viele anderen Sachen: GESPENSTERSONATE, TROADES, DAS SCHLOSS, BERNARDA ALBAS HAUS, MEDEA. Jetzt, 30 Jahre später, ist es also soweit. Warum jetzt? Die Idee konkretisierte sich sehr, nachdem ich BERNARDA ALBAS HAUS geschrieben hatte. Damals, Anfang 2000, habe ich immer wieder an die Maeterlinck-Stücke gedacht. In langen Gesprächen, unter anderem mit Beat Furrer, habe ich die urheberrechtlichen Fragen geklärt. Dann kam der Auftrag der Wiener Staatsoper für MEDEA dazwischen, was ich unbedingt machen wollte. Das Libretto für die Maeterlinck-Stücke hatte ich allerdings zu diesem Zeitpunkt schon zusammengestellt. Nach der Uraufführung von MEDEA 2010 war mir klar: Ich kann erstmal keine Handlungsoper mehr schreiben, sondern muss einen völlig neuen Weg gehen. Bis dahin hatte ich immer komplette Stücke vertont oder Romane wie DAS SCHLOSS. Also fügen Sie jetzt drei Dramen zu einem Abend zusammen. Wie haben Sie sie ausgewählt? Dass ich „Les Aveugles“ nicht vertonen würde, war mir schon damals an der Schaubühne klar. Das haben andere gemacht, Beat Furrer etwa oder Lea Auerbach. Und ich hatte auch nicht den gleichen Zugang zu diesem Stück wie zu den beiden anderen. Erst später wurde mir klar, was das dritte Stück sein muss: „La Mort de Tintagiles“.

Bringen Sie die drei Stücke in einen Zusammenhang? Ich entdeckte einen Fixpunkt in allen drei Dramen: Das Kind. In „L’Intruse“ sitzt eine Familie zusammen, nebenan liegt die Mutter in den Nachwehen. Der Großvater bemerkt einen Eindringling, den keiner sieht – eigentlich müsste man sagen: die keiner sieht, denn „L’Intruse“ ist weiblich, wie „La Mort“. Ein Verweis auf die Mutter, denn sie stirbt nach der Geburt. In „L’Intérieur“ wartet ein alter Mann im Garten, er muss einer Familie mitteilen, dass sich eine der Töchter im Fluss das Leben genommen hat. Zurück bleibt ein schlafender Junge, aus dem bei mir im dritten Stück Tintagiles wird. Eine uralte Großmutter oder Königin, die man nicht sieht – daher der Titel L’INVISIBLE – lässt alle umbringen, die ihr den Thron streitig machen können, ein Motiv, das man zurück verfolgen kann bis zu Herodes dem Großen. Die Dienerinnen der Königin entführen auch Tintagiles, seine Schwester Ygraine kann ihm nicht helfen. Er wird ermordet. Dieses Kind, dieser Junge, tritt in allen drei Dramen auf. Deshalb bilden sie eine starke Einheit, stärker als etwa die drei Stücke, aus denen Puccinis IL TRITTICO besteht. In gewisser Weise können Sie also sagen, dass ich doch wieder eine Handlungsoper geschrieben habe. Ist es das erste Mal, dass Maeterlincks Kurzdramen auf diese Weise zu einem Abend zusammengespannt werden? Ich denke schon. Wir wissen aus zwei Aufsätzen, dass Rainer Maria Rilke Stücke von Maeterlinck auf der Bühne gesehen hat. Daraus lässt sich schließen, dass sie damals offenbar separat aufgeführt wurden. Sie bevorzugen klassische Stoffe der Weltliteratur, die aber immer einen Bezug zur unserer Gegenwart haben müssen. Beim SCHLOSS geht es zum Beispiel um den Überwachungsstaat, bei MEDEA um die Rückgabe von Raubgut. Was hat L’INVISIBLE mit unserer Zeit zu tun?


Das Gespräch führte Udo Badelt

„Meine Figuren ­erleben eine innere Steigerung, die sie zum Zerplatzen bringt.“

Udo Badelt, Kulturjournalist, studierte Germanistik und Geschichte in Düsseldorf und Berlin. Volon­ tariat bei der Märkischen Oder­zeitung in Frankfurt [Oder]. Er arbeitet regelmäßig für den Berliner ­Tagesspiegel und die Fachzeitschrift „Opernwelt“.

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Die Deutsche Oper Berlin ist neben der Bayerischen Staatsoper, wo drei Ihrer Opern uraufgeführt wurden, das für Sie wichtigste Haus. Wie sehr hat es Ihr Leben geprägt? 1955 habe ich hier erstmals im damals neugegründeten Studio als Korrepetitor gearbeitet. Das brach ich später ab, weil ich mich auf mein Studium konzentrieren musste. Aber ich habe weiterhin mit Sängern wie Dietrich Fischer-Dieskau gearbeitet. Das Ballett DIE VOGELSCHEUCHEN war meine erste Komposition, die an der Deutschen Oper uraufgeführt wurde. MELUSINE [1971] und GESPENSTERSONATE [1984] wurden anderswo uraufgeführt, in Schwetzingen und am Berliner Hebbel-Theater, aber jeweils mit Sängern der Deutschen Oper, Catherine Gayer zum Beispiel, oder Martha Mödl. Die Deutsche Oper Berlin hatte ja damals noch keine experimentelle Bühne wie heute die Tischlerei. Ohne Catherine Gayer wäre MELUSINE nie entstanden, denn sie konnte Dinge singen, die ­andere damals noch nicht wagten. Ich kannte sie schon von meinem Studium her. DAS SCHLOSS war dann meine erste Uraufführung auf der großen Bühne der Deutschen Oper, L’INVISIBLE jetzt die zweite. Ich bin dem Haus schon sehr verbunden. Sie sind einer der gefragtesten zeitgenössischen Komponisten. Allein 2017 wurde MEDEA in Wien wiederaufgenommen und an der Komischen Oper neu inszeniert, wie auch die GESPENSTERSONATE an der Berliner Staatsoper. Die Salzburger Festspiele haben Lear neu heraus gebracht, und im Oktober dann L’INVISIBLE an der Deutschen Oper Berlin. Bedeutet der Erfolg für Sie Freude oder Belastung? Anstrengend ist es natürlich immer. Aber alles hängt davon ab, wie man damit umgeht. Die Freude ist auf jeden Fall viel, viel größer.

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Es geht mir nicht um platte Aktualität. Ich kann einfach nichts komponieren, was mit uns nichts zu tun hat. Das ist etwas vollkommen anderes als eine Aktualitätsoper. Was L’INVISIBLE betrifft: Zum einen hat natürlich jedermann mit dem Tod zu tun, der Tod kommt. Seitdem der Mensch lebt, lebt er auch mit dem Tod. Maeterlinck hat das in drei Bilder gefasst. Im dritten wird jemand entführt und umgebracht. Jeden Tag werden Menschen auf irgendeinen Befehl hin ermordet. Jemand fährt in eine Menschenmenge, und wir wissen nicht, wer die Auftraggeber sind. Sie sind unsichtbar, so wie hier. Niemand hat die Königin je gesehen, nur die Dienerinnen – das behaupten sie zumindest. Alles ist zum Glück sehr mystifiziert und sehr poetisch. Direkte Banalität kann ich nicht komponieren. Wie haben Sie den Stoff musikalisch umgesetzt? Es gibt drei Orchesterbesetzungen. In „L’Intruse“ erklingen nur Streicher, in „L’Intérieur“ nur Holzbläser. Streicher wären mir da ganz unmöglich gewesen. Beim „Tintagiles“ summiert sich alles, kommt alles zusammen. Arbeiten Sie gerne mit solch strikten Scheidungen? Man kennt diese Technik der Instrumentierung aus anderen ihrer Werke, etwa aus den „Drei Gedichten der Sappho“, wo sie auf die Violinen völlig verzichten. Ich habe das bisher in kurzen Abschnitten meiner Arbeit immer wieder getan. Jetzt aber setze ich ganze Bilder auf diese Weise um, das ist neu. Etwa bei „L’Intruse“: In dem Moment, in dem die Mutter stirbt, tut das Kind seinen ersten Schrei. Bis dahin hat es überhaupt nicht reagiert. Im Orchester setzen zum ersten Mal sehr scharfe Akkorde der Holzbläser ein, die praktisch überleiten zu „L’Intérieur“. Gehen die Stücke nahtlos ineinander über, oder setzen Sie Zwischenspiele ein? Ja, es gibt drei Countertenöre, die man zunächst nur hinter der Bühne hört, begleitet von zwei Harfen. Im dritten Bild wird klar: Es sind die Dienerinnen der Königin und Todesboten. Ein Alter, sein Name ist Agloval, sagt im Stück: „Sie gehen nicht wie andere Wesen“. Sie sind weder Mann noch Frau. Da war mir klar: Sie müssen von Countertenören gesungen werden. Wie haben sie die übrigen Stimmen ausgestaltet? In allen drei Stücken gibt es einen Sopran, aber nur in „Tintagiles“ mit Koloraturen. Dort ist die Sopranpartie Ygraine zugeordnet. Der Alte ist ein Bassbariton. Die Partien sind nicht so hoch und dramatisch wie in MEDEA. Die Stimmen sind gleichmäßiger, es gibt weniger Ausschläge nach oben und unten? Ja, denn dazu ist gar keine Gelegenheit. Alles ist sehr kurzphasig, die Angst ist groß, keiner wagt, etwas zu sagen, vieles gleicht mehr Sprechgesang. Eine Ausnahme ist Ygraine. Sie durchlebt furchtbare Angst, so dass sie manchmal kaum atmen kann. Ständig verschwinden Leute, und keiner weiß, warum. Nachdem ihr Bruder tot ist, kann sie nicht mehr an sich halten. In einem Monolog verflucht sie die Königin, schleudert ihre ganze Furcht und Wut auf sie. Das kann ich nicht mit Sprechgesang gestalten. Was würden Sie entgegnen, wenn man einige der Frauenstimmen in ihren Opern als „hysterisch“ bezeichnet? Eigentlich ist das das falsche Wort, weil man unter Hysterie etwas anderes versteht. Meine Figuren erleben eine innere Steigerung, die sie zum Zerplatzen bringt, so dass sie gar nicht mehr die Ruhe haben, einen Satz zu singen. Es bricht aus ihnen heraus. Medea zum Beispiel befindet sich spätestens nach dem ersten Viertel der Oper in einem Ausnahmezustand. Da ist sie jeder Ruhe beraubt. Schreiben Sie generell anders für Männer- als für Frauenstimmen? Nein, es gibt keinen Unterschied. Alles hängt von der Situation ab. „L’Intruse“ und „L’Intérieur“ sind ruhige Stücke, mit Momenten von Ausbrüchen. Im letzten Bild ist alles sehr auf Ygraine fokussiert, die sich gar nicht mehr halten kann. Ihr kleiner Bruder wurde geholt, sie weiß nicht mehr, wie es weitergeht, versucht sich zu wehren. Da ist natürlich sehr viel Geschleudertes drin, aber keine Hysterie. Es ist eine Übererregtheit, die zerplatzt. Und sie kann nicht zerplatzen in einer ruhigen Kantilene. Ich würde auch nicht sagen, dass die Königin der Nacht eine hysterische Partie ist, nur weil sie Koloraturen hat. Das Wort „Hysterie“ ist sehr falsch und oberflächlich. Es trifft nicht den Kern.


Von unerhörter tragischer Dringlichkeit Regisseur Vasily Barkhatov über seine Arbeit an L’INVISIBLE Vasily Alekseevich Barkhatov wurde 1983 in Moskau geboren und schloss 2005 sein Regiestudium am Russischen Institut für Theaterkunst bei Rosetta Nemchinskaya ab. Zahlreiche Operninszenierungen führten ihn etwa an das Mariinsky Theater St. Petersburg. Daneben arbeitete er am Bolschoi Theater ­Moskau und an der Litauischen Nationaloper in Vilnius. 2009 inszenierte er mit DIE RÄUBER nach Friedrich Schiller am Moskauer Puschkin-Theater erstmalig ein Schauspiel. Darüber hinaus ist Vasily Barkhatov als Filmregisseur aktiv und drehte beispielsweise den ­K inofilm „Atomic Ivan“. Auch arbeitet er für das ­Fernsehen. In der Spielzeit 2013/2014 war er Künst-

©Bernd Uhlig

lerischer Leiter der Mikhailovsky Oper St. Petersburg.

Herr Barkhatov, wann haben Sie zum ersten Mal etwas von A ­ ribert Reimann gehört? Das war schon recht früh, während meines Studiums in Russland. Ich suchte damals für eine Theaterproduktion Musikausschnitte und stieß dabei auf sein Requiem. Seine Musik hat mich dann so gefesselt, dass ich mir alle damals verfügbaren Mitschnitte seiner Opern besorgt habe – vor allem natürlich den LEAR in der Münchner Uraufführungsproduktion mit Fischer-Dieskau. Was ist für Sie das Besondere an Reimanns Musiksprache? Für mich ist Reimann einer der wenigen echten Musikdramatiker. Man kann ihn in dieser Hinsicht gut mit Janáček vergleichen: Bei beiden ist jeder Takt der Musik dem Ausdruck innerer Gefühle verpflichtet. Alles ist bei ihnen Psychologie und die inneren Zustände der Figuren werden mit einer seismografischen Genauigkeit abgebildet, die einerseits an eine ­medizinische Bestandsaufnahme erinnert, aber durch das extrem Private, Intime des Gegenstands auch eine unerhörte tragische Dringlichkeit schafft. Das liegt vielleicht auch daran, dass man in der Musik immer den Komponisten selbst mit seinem Schmerz und seiner Trauer spürt. An Janáček erinnert bei Reimann auch der Umgang mit den Vorlagen der Opern. Beide sind Meister im extremen Verknappen. Das trägt natürlich sehr zur Klarheit und Unmittelbarkeit des Erzählens bei. Reimann versteckt nichts und er illustriert nichts – man könnte L’INVISIBLE im Extrem auch so inszenieren, dass die Figuren nur dasitzen und bewegungslos ins Publikum starren. Auch dann würde man noch genau all die Emotionen wahrnehmen, die in ihnen vorgehen, weil die Musik keine äußere, sondern nur innere Handlung wiedergibt. Während der Vorbereitung zu L’INVISIBLE sind Sie Vater einer Tochter geworden. In der Oper geht es um Geburt und Tod eines Kindes. Beeinflusst einen so etwas? Ich habe immer versucht, objektiv zu bleiben und keine abergläubischen Gedanken aufkommen zu lassen. Aber ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich meinem Bühnenbildner die Requisitenliste vorlas, in der auch von den verschiedenen Todesarten die Rede ist, durch die

Seit 2014/2015 inszeniert er an Theatern des deutschsprachigen Raums, so am Nationaltheater Mannheim LA DAMNATION DE FAUST, am Theater Basel und am Hessischen Staatstheater Wiesbaden.

Kinder zu Tode kommen: Einer ertrinkt, der nächste fällt vom Balkon, der dritte stirbt im brennenden Auto. Da wurde mir dann doch ziemlich mulmig. Sie sind in Russland geboren und aufgewachsen. Sehen Sie sich auch als russischen Regisseur? Natürlich. Auch wenn die russischen Opernregisseure meiner Generation – und damit meine ich auch diejenigen, die wie Dmitri Tcherniakov und ­Kirill Serebrennikov ein paar Jahre älter sind als ich – alle das Musik­theater deutscher Prägung lieben. Wir haben alle unser Studium damit verbracht, die Videos von Harry Kupfer, Jossi Wieler und anderen zu sehen, und ich bin immer wieder nach Berlin gekommen, um Oper anzuschauen. Mit 18 durfte ich bei den Proben zu Konwitschnys DON GIOVANNI an der Komischen Oper hospitieren und das gehört zusammen mit Tcherniakovs Produktion von Strawinskijs THE RAKE’S PROGRESS zu den beiden Theaterereignissen, die mein Leben verändert haben. Nun sind Sie international erfolgreich, aber vor allem im deutschsprachigen Raum präsent. Ich gehe einfach dahin, wo man mich einlädt – und das sind derzeit vor allem Deutschland und die Schweiz. Ich wurde zwar bei meinen Arbeiten in Russland nie zensiert oder behindert, doch andererseits habe ich das Gefühl, mich durch meine Arbeiten in Deutschland weiterentwickelt zu haben. Und vieles von dem, was mir vorschwebt, wäre derzeit in Russland wohl einfach nicht möglich. Die Fragen stellte Jörg Königsdorf


DAS SCHLOSS, 1992 © kranichphoto

MELUSINE, 1971 [Schwetzinger Festspiele] © Ilse Buhs

DIE VOGELSCHEUCHEN, 1970 © Ilse Buhs

GESPENSTERSONATE, 1984 [Hebbel-Theater] © kranichphoto

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Uraufführungen von Aribert Reimann durch die Deutsche Oper Berlin


© Realgestalt


Giacomo Meyerbeer 26. November 2017

Als großes Gesellschaftspanorama vereint ­Meyerbeers Grand Opéra aus dem Jahre 1849 über den „König“ der Wiedertäufer, Jean de ­Leyde, Re­flexionen auf historische und zeitlose Mechanismen der Macht mit einer Analyse ­gewaltsamer Um­wälzungen und der Geschichte ­einer schwierigen Mutter-Sohn-Beziehung

Weitere Vorstellungen: 30. November; 3., 9., 16. Dezember 2017; 4., 7. Januar 2018 Enrique Mazzola Musikalische Leitung Olivier Py ­Inszenierung Pierre-André Weitz Bühne, Kostüme Bertrand Killy Licht Jeremy Bines Chöre Jörg K ­ önigsdorf, Katharina Duda Dramaturgie Mit Clémentine Margaine, Elena ­Tsallagova, Sandra ­Hamaoui; Gregory Kunde / Bruce Sledge, Noel Bouley, ­ Derek W ­ elton, Seth Carico, Dean ­Murphy, Andrew ­Dickinson, Ya-Chung Huang, Byung Gil Kim, Jörg Schörner Opernballett, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Gefördert von der Beauftragten der ­Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des ­Deutschen Bundestages

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Le Prophète


© akg Images

Ein Theater der Inbrunst und Hysterie Meyerbeers LE PROPHETE schlägt eines der spektakulärsten Kapitel der Reformations­geschichte auf: die Herrschaft der Münsteraner Wiedertäufer. Doch was geschah damals w ­ irklich?

Das Ende war nah, und die Erlösung auch. Das Ende kam, die Erlösung nicht. Jan Matthys, ein Bäcker aus Holland, der sich zum Anführer der Täuferbewegung und zum Herrscher von Münster aufgeschwungen hatte, prophezeite die Apokalypse für Ostern 1534. Ins Himmelsreich eingehen würden nur diejenigen, die wirklich gottgefällig gelebt hatten. Für Matthys und seine Anhänger, die schon vor seiner Ankunft erst den Bischof und dann die Lutheraner vertrieben hatten, war Münster, eine westfälische Hanse- und Handelsstadt mit 11.000 Einwohnern, das neue Jerusalem. In dieser christlichen Republik zeigte sich bereits, so der Hauptprediger Bernd Rothmann, die „bisher verborgene Herrschaft Christi“. Matthys hatte dazu aufgerufen, die Gottlosen hinzurichten, um die Stadt „von aller Unsauberkeit“ zu reinigen. Am Ende wurden sie nur gezwungen, Münster zu verlassen. Die Dageblie-

benen mussten sich taufen lassen, zum zweiten Mal, also als Wiedertäufer. Es wurde eine Güter­ gemeinschaft eingeführt, Lebensmittelvorräte und jeglicher Geldbesitz mussten abgegeben werden, Urkunden und Schuldscheine wurden vernichtet. Bis auf die Bibel sind alle Bücher verbrannt worden. Diesem militanten Proto­ kommunismus ging es allerdings nicht um Klassenkampf, sondern um den Wunsch, so wie die Frühchristen zu leben. „Es gehört einem Christen alles, was die christlichen Brüder und Schwestern haben, das gehört dem einen so gut wie dem anderen“, verkündete ein Prediger namens Stutenbernt. Demut und Bescheidenheit galten als höchste Tugenden, hinzu kam der göttliche Auftrag, sich zu vermehren und hinauszugehen in alle Welt. Letzteres erwies sich zunehmend als schwierig, weil die Stadt von katholischen und protestantischen Truppen belagert wurde. Ersteres war

mehr eine Frage der Biologie. Die Polygamie, in der die Gegner der Wiedertäufer eine besonders verabscheuungswürdige Form der Sünde sahen, sollte helfen, den Frauenüberschuss zu lindern. Rund 8.000 Frauen lebten in der Stadt, aber nur 3.000 Männer. Jan van Leiden, ein weiterer Anführer, war mit sechzehn Frauen verheiratet. Zwei davon ließ er wegen Ungehorsams enthaupten. Das Münster der Wiedertäufer muss man sich wie eine Freilichtbühne vorstellen, in der ein Theater der Inbrunst und Hysterie, der Angst und des Blutes aufgeführt wurde. Der Kulturhistoriker Richard van Dülmen unterscheidet drei Entwicklungsphasen, die von der Anerkennung der Reformation 1532 über das Zerwürfnis von Evangelischen und Radikalen und der Ablehnung der Kindstaufe bis zur Machtübernahme durch die Täufer 1533 reicht. Der Zeitstrahl führt dabei immer weiter in die Eskalation. Sich selbst nennen die Täufer Christen, von den anderen


Christian Schröder

© akg Images

Christian Schröder, Jahrgang 1965, beschäftigt sich im Feuilleton des „Tagesspiegel“ vor allem mit Popmusik, Film und historischen Themen. Er hat Kunstgeschichte studiert und eine Biografie über Hildegard Knef geschrieben.

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zedur ausgeführt, bei der ihnen „alles Fleisch mit glühenden Zangen von den Knochen abgerissen und dann Gurgel und Herz mit glühenden Eisen durchstoßen“ werden. Die sterblichen Überreste kommen in die Käfige. Luther freute sich, dass dank „Gottes großer Gnade“ der Teufel besiegt worden sei, der in Münster leibhaftig Haus gehalten habe. Der Traum, schon auf Erden den Himmel zu erschaffen, ist gescheitert. Zum ersten Mal. Aber er geht weiter. Bis heute endeten allerdings alle Beglückungsversuche im Blutvergießen.

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Die Wieder­ täufer ent­ fesseln einen Bildersturm gegen Klöster und Kirchen.

sprechen sie als Gottlosen. Deren Geist soll vollständig aus der Stadt verschwinden, ein Bildersturm, der sich gegen Klöster und Kirchen richtet, macht mit der Vergangenheit Tabula rasa. „Die Reliquienbehälter brachen sie auf, nahmen Gold, Silber und Perlen, mit denen die Gebeine geschmückt waren, weg, streuten die Knochen auf die Straße und traten sie mit Füßen“, berichtet ein Augenzeuge. Der Furor richtet sich auch gegen Gebäude, man beginnt, Kirchen abzureißen. Ehe sie „das Papsttum und den Pfaffenmissbrauch“ wieder annähmen, wollten sie „das Kind im Mutterleibe essen und alle sterben“, sagen Einwohner dem Gesandten des Landgrafen von Hessen, der zu Verhandlungen in die Stadt gekommen ist. Aber sie bräuchten doch Kirchen, um die Predigt zu hören, insistiert der Besucher. „Wenn wir Predigt hören, wollen wir auf den Markt gehen, fürchten weder Hagel noch Regen“, lautet die Antwort. „Denn wir wissen wohl, dass uns unter der Predigt nichts Beschwer­ liches widerfährt.“ Die Täufer leben in der Gewissheit, behütet zu sein. Am Himmel zeigen sich Feuer. Sie lassen die Sonne so hell erstrahlen, dass alle Menschen, die auf dem Markt stehen, „in ihrem Angesicht den Anschein hatten, als wären sie vergoldet.“ Gotteskinder, Goldmenschen. Was nicht eintritt, ist das Ende der Welt. Ein paar Wochen, nachdem das Osterfest von 1534 vergangen ist, ohne dass sich die Himmelstore öffneten, besteigt Jan Matthys sein Pferd und unternimmt mit einigen Gefährten einen Ausfall aus der eingeschlossenen Stadt, bei dem es sich um ein Selbstmordunternehmen handelt. Es kommt zu einem Gefecht, und der Prophet und Bürgermeister wird „mit einem Spieß durchstochen“. Da „hieben ihm die Landsknechte den Kopf ab und schlugen ihn in hundert Stücke und bewarfen sich damit. Das Haupt stecken sie auf einen Zaunpfahl in die Luft.“ Abschreckungsterror in der Art des „Islamischen Staats“. Zu Matthys Nachfolger steigt sein Schüler Jan van Leiden auf, ein ehemaliger Wirt und Bänkelsänger. Er lässt sich zum König krönen und macht Münster zum Königreich der letzten Tage. Leiden sieht sich als neuer König David und als Messias, er will „der Oberste von allen Obrigkeiten“ sein. Trotz beginnender Lebensmittelknappheit entfaltet er mit den 135 Personen seines Hofstaats größte Pracht. Der König „reite auf einem fahlen Pferde mit schwarzgrünem Samt bedeckt in der Stadt umher, habe eine goldene Krone auf seinem Haupt und wenig Vertrauen in seine Untertanen“, heißt es in einer zeitgenössischen Chronik. Vom Ende des Wiedertäufer-Reiches künden heute drei eiserne Käfige, die am Turm der Lambertikirche hängen. Sie sind Symbole des Schreckens. Im Juni 1535 wurde Münster von den Belagerungstruppen erobert. Die Sieger verurteilen die Rädelsführer Bernhard Krechting, Bernd Knipperdolling und Jan van Leiden zum Tod. Das Urteil wird in einer mehrstündigen Pro-


© privat

LA DAMNATION DE FAUST © Bettina Stöß

Erst Übermutter, dann Sexsymbol Ihre Weltkarriere begann Clémentine Margaine an der Deutschen Oper Berlin. Jetzt kehrt sie mit zwei großen Rollen ­zurück: die ­Fidès in Meyerbeers LE PROPHETE und die ­Titelpartie in ­CARMEN

„Ich liebe Überraschungen!“ Wenn Clémentine Margaine das mit dem Brustton ihres wohlklingenden Mezzos verkündet, dann glaubt man es ihr einfach. Und es gibt auch genügend Gründe, es ihr zu glauben. Denn überraschende Vorkommnisse und Wendungen – vor allem künstlerischer Natur – pflastern förmlich die letzten Jahre im Leben von Clémentine Margaine und haben ihre Karriere rasant beschleunigt. Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin? Das war einmal, von 2011 bis 2013. Inzwischen jettet die 34-jährige Französin zwischen Paris und Sydney, Barcelona, Washington und New York um die große weite Welt und eilt von Erfolg zu Erfolg. Die letzte große Überraschung verbindet sich mit New York, dem Debüt der Mezzosopranistin an der Metropolitan Opera im Februar 2017.


15 14 CARMEN © Bettina Stöß

„Ein wirklich verrücktes Debüt“, erinnert sich die Sängerin. Eigentlich war sie erst für die zweite Vorstellungsserie eingeplant – immerhin mit Carmen, ihrer Vorzeigepartie, die für Clémentine Margaine längst die wichtigste Eintrittskarte zu vielen großen Opernbühnen geworden ist. Nur zwei Tage vor der Premiere kam plötzlich die Anfrage der Met-Intendanz, ob sie für die erkrankte Kollegin der ersten Serie einspringen könne?! „Noch nicht mal eine Kostümanprobe hatte ich gehabt“, beschreibt die Sängerin die delikate Situation. „Und mehr als eine Probe war auch nicht mehr drin.“ Doch die Sängerin sprang ein, sang – und siegte: „Auf der Bühne hatte ich überhaupt keine Angst, ich war einfach nur glücklich, da singen zu dürfen!“ Insgesamt zehn erfolgreiche CARMEN-Vorstellungen an dem traditionsreichen Haus mit seinen 3800 Plätzen standen am Ende zu Buche – mit drei verschiedenen Tenören als Don José. Und im Nachhinein zieht die Sängerin ein rundum positives Fazit: „Ich hätte mir keinen besseren Einstieg wünschen können. Denn wenn man eigentlich gar nicht vom Publikum erwartet wird, ist die Überraschung am größten!“ Die Wiedereinladung an die Met war damit eigentlich nur noch Formsache; in zwei Jahren steht sie dort wieder auf der Bühne. Natürlich als Carmen. Über diese nach Leben, Liebe und Freiheit dürstende Frau, Dreh- und Angelpunkt für Georges Bizets Oper von 1875, könnte man mit Clémentine Margaine stundenlang diskutieren. Man merkt, welchen Spaß es ihr macht, sich für diese Rolle auf der Bühne ins Zeug zu legen, zu singen, zu spielen und zu tanzen. Mittlerweile hat sie die Carmen in den unterschiedlichsten Inszenierungen gesungen; die Carmen-Debüts in London und Wien stehen noch an. An der New York Met war es – wen wundert’s – eine durch und durch traditionelle Produktion des Briten Sir Richard Eyre, sehr spektakulär und mit spanischen Flamenco-Tänzern. Einigermaßen „strange“ empfand die Sängerin die Inszenierung des Italo-Schweizer Multi-Künstlers Daniele Finzi Pasca am ehrwürdigen Teatro San Carlo in Neapel: „Sich nicht anfassen dürfen, nicht tanzen – das war schon sehr merkwürdig.“ Und noch eine andere Lesart bot der Spanier Calixto Bieito, in dessen Inszenierung die Mezzo­ sopranistin gleich nach ihrem New Yorker Debüt beim „Heimspiel“ an der Pariser Opéra de la Bastille einen riesigen Erfolg einheimste. Auch hier kein Tanz, kein folkloristisches Sevilla, sondern Spanien zur Zeit des Franco-Regimes. Dafür alles sehr körperlich, sehr erotisch. Erwartungsgemäß gespalten waren die Reaktionen. Viele waren geschockt, die Zeitung „Le Monde“ titelte, Carmen sei in der Vulgarität versunken. Clémentine Margaine dagegen, wie auch ihr zahlreich erschienener Anhang aus Freunden und F ­ amilie, war sehr angetan: „Natürlich haben viele Besucher andere Erinnerungen an CARMEN, aber ich fand es richtig gut.“ Und wenn dann ein Tänzer, Symbol für den verletzlichen Torero, auf der

­Bühne komplett ausgezogen wird? Clémentine sieht es locker: „Mich hat das nicht gestört!“ Gestört hat das anscheinend auch nicht das Publikum der öffentlichen Generalprobe, alles junge Leute unter 28. „Da war eine unglaubliche Energie im Saal“, staunt die Sängerin noch immer, „so etwas müsste man jeden Abend haben.“ Hinterher gab es lautstarke Pfiffe – der Begeisterung. Und auch die französische OpernWebsite Ôlyrix lobte Clémentines Leistung: „Ihre Carmen ist so düster wie die abgedunkelten Vokale und so generös wie ihre Stimme und ihr dramatisches Vibrato.“ Und wie sieht sie selbst die Carmen? Die Sängerin hat es sich angewöhnt, dem Publikum immer eine Mischung anzubieten: aus ihren eigenen Vorstellungen, die sich im Laufe der Zeit wie ein Puzzlespiel zusammengesetzt haben, und den Vorgaben der jeweiligen Produktion. „Carmen ist eine sehr komplexe Figur. Oft sagt sie etwas anderes, als sie denkt, nicht nur am Ende.“ Denn natürlich liebe sie Don José, obwohl sie das Gegenteil behauptet: „Und das muss man


DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN © Barbara Aumüller

dem Publikum auch deutlich machen!“ Gleichzeitig sei Carmen zerbrechlich, verspielt – und auf ihre Unabhängigkeit fixiert. Sängerisch ist die Rolle eher in der Mitte der Herausforderungsskala angesiedelt, dafür muss man physisch als Darstellerin sehr viel geben: „Von ihr geht die ganze Energie aus, sie ist immer im Dialog mit Don José, ihren Freundinnen oder dem Chor.“ Markieren kommt da für die Sängerin auch in der Probe nicht in Frage. Und in der Aufführung kommt es immer auf den jeweiligen Don José an: „Ist der Tenor vom Typ eher ein Macho, muss ich natürlich dagegen halten.“ In dieser Saison nun steht Clémentine Margaine auch an der Deutschen Oper Berlin wieder als Carmen auf der Bühne. Allerdings nicht mehr in der uralten Beauvais-Inszenierung, die zwischenzeitlich von Søren Schumacher aufpoliert wurde, sondern in einer völlig neuen Produktion, die am 20. Januar 2018 Premiere feiern wird. Regisseur ist der Norweger Ole Anders Tandberg, der am Hause schon die erfolgreiche Schostakowitsch-Inszenierung der LADY ­MACBETH VON MZENSK zu verantworten hatte. Davon hat die Sängerin nur Gutes gehört, insofern ist sie völlig entspannt. Darüber hinaus hat sie jedoch noch keinerlei Ahnung, was sie diesmal bei CARMEN erwartet. Aber sie liebt ja auch die Überraschungen … Ansonsten vertraut die Sängerin einfach dem Team der Bismarckstraße, das ihr in den l­etzten Jahren mit vielen großen Rollen die ­Chance gegeben hat, sich auszuprobieren und weiter­ zuentwickeln, so mit der Dalilah in der Oper von Camille Saint-Saëns, mit der Marguerite in ­Berlioz’ LA DAMNATION DE FAUST oder der Maddalena in Verdis RIGOLETTO. „Das hier ist mein Haus“, macht die Sängerin der Deutschen Oper ein charmantes Kompliment. Auch wenn sie nur zwei Spielzeiten im Ensemble war: „Vom Ensemble und dem Chor bis zum Orchester, man kennt hier so viele Leute, man ist hier so vertraut miteinander, dass man bei den Aufführungen das Gefühl hat, als ob man Kammermusik machen würde.“ Nun steht – neben der Carmen – noch eine weitere Premiere ins Haus, eine wirkliche Monster­ partie, eine Herausforderung par excellence: die Fidès in Giacomo Meyerbeers Oper LE PROPHETE, Abschluss des Meyerbeer-Zyklus an der Deutschen Oper, in dem bereits VASCO DA GAMA und DIE HUGENOTTEN auf die Bühne gebracht wurden. Oder besser: gestemmt – denn Meyerbeers Grands Opéras sind wahre Theatermonster, lang, aufwändig und sängerisch enorm schwer zu besetzen. Clémentine Margaine hat beherzt zugegriffen, als ihr die Fidès angeboten wurde, obwohl diese Partie von ihrer großen Kollegin Marilyn Horne einst als „das schwerste, was ich je gesungen habe“ eingeschätzt wurde. Warum ist die Fidès so schwer? „Weil alles drin ist“, erwidert die Französin lakonisch, „Koloraturen, hohe Noten, tiefe Noten, großes Legato und sogar Kadenzen. Einfach alles!“ Und das

Meyerbeers ­Fidès ist eine der schwersten Partien der ­gesamten Opern­ geschichte

dann noch über fünf Stunden, das sei die größte Herausforderung; denn die schwierigsten Momente mit dem hohen C [für eine Mezzosopranistin!] kommen erst ziemlich am Ende. Trotzdem macht die Sängerin nicht den Eindruck, als könnte ihr diese Rolle wirklich Angst einflößen. Für die Bewältigung der vielen Schwierigkeiten – die ja auch eine „Kopfsache“ ist – hat Clémentine Margaine ein interessantes Rezept parat: „Weil die schwersten Teile am Ende kommen, muss man die Rolle auch von hinten lernen. Dann ist die Stimme am frischesten – und das prägt sich ins Gedächtnis ein.“ Summa summarum: Was die Rolle fordert, ist „Belcanto auf französisch“. Wobei das mit Belcanto so eine Sache ist: „Ich bin nicht als Belcanto-Sängerin auf die Welt gekommen“, weiß die Sängerin, deren Markenzeichen ein üppiger Mezzosopran mit dem oben beschriebenen „dramatischen Vibrato“ ist. Doch dass da Potenzial für mehr schlummerte, wurde im letzten Sommer eher per Zufall – Überraschung, Überraschung! – offenbar. Die Sängerin war gerade in Australien unterwegs, als die Salzburger Festspiele anfragten, ob sie innerhalb von zwei Wochen als Rebecca in Otto Nicolais erst in letzter Zeit wieder ausgegrabener italienischer Oper IL TEMPLARIO, komponiert im Stile eines Donizetti, einspringen könne. „Ich habe natürlich zugesagt, ohne dass ich so genau wusste, was mich da erwartete“, erzählt


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Michael Horst arbeitet als Musikjournalist und ­Autor für Radio und Printmedien in Berlin. 2012 erschien in der Reihe „Opernführer kompakt“ des Henschel-Verlags, Leipzig, sein Band über Puccinis TOSCA; im März 2015 folgte in derselben Reihe ein Band über P ­ uccinis TURANDOT.

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lich, wenn man es das erste Mal mit Orchester gemacht hat, aber der Instinkt sagt einem schon vorher, ob es passt.“ Und was sagt ihr Instinkt zu den großen Wagner-Partien? Da hat sie wohl eher den Verstand eingeschaltet, der Clémentine Margaine sagt, damit noch etwas zu warten, um nicht sofort in die Wagner-Schublade einsortiert zu werden. Mit der Brangäne, die sie bereits konzertant gesungen hat, ist immerhin schon mal ein Anfang gemacht. Ganz allein auf ihr enormes stimmliches Potenzial und ihren Instinkt verlässt sich die Sängerin dann doch auch wieder nicht. Fit muss auch der Körper sein, aber statt ihre Muskeln im Studio zu trainieren, joggt die Französin lieber: „­ Meine Sneakers habe ich immer dabei.“ Oder sie verbindet das Nützliche mit dem Angenehmen – beim Flamenco-Tanzen. In Südfrankreich aufgewachsen, hat die Sängerin schon immer ein Faible für den Flamenco gehabt, den sie als Kind in Barcelona kennen und lieben lernte. Und sollte sie irgendwo auf ihren vielen Gastspielen auf eine Flamencotruppe treffen, dann nimmt sie sofort ein paar Stunden oder schmuggelt sich in das Aufwärmtraining der Tänzer hinein. Zuletzt war das an der Met in New York der Fall. Und solange Clémentine Margaine noch Carmen singt, dürfte es für sie wohl nicht schwierig sein, diesem Hobby weiterhin nach Lust und Laune zu frönen. Michael Horst

RIGOLETTO © Bettina Stöß

die Sängerin freimütig. Was dann kam, war ziemlich viel Belcanto, ziemlich viele hohe Noten – und ein dürftiger Orchesterpart, hinter dem man sich nicht verstecken kann. Clémentine Margaine paukte die Rolle in Australien, sang mit großem Erfolg an der Seite von Juán Diego Flórez die beiden konzertanten Aufführungen im Großen Festspielhaus. Und durfte am Ende beruhigt konstatieren: Ich kann auch Belcanto! Wer nun meint, die Sängerin sei, neben ihren bewährten Partien, mit der Vorbereitung dieser Meyerbeer-Rolle gut ausgelastet, irrt sich ­gewaltig. Es scheint, als ließe sich Clémentine Margaine derzeit von einem schier unerschöpflichen Strom an Energie und Neugier von einer Herausforderung zur nächsten treiben. Jede Menge weitere Debüts stehen an: Ihre kurze sommerliche „Urlaubszeit“ im heimatlichen Südfrankreich hat sie dazu genutzt, um sich auf Donizettis LA FAVORITE in Marseille [ebenfalls Belcanto auf französisch] und auf Ravels raffiniert-sinnlichen Einakter L’HEURE ESPAGNOLE an der Pariser Bastille-Oper vorzubereiten. Und noch eine weitere Premiere vom Kaliber der Fidès wartet auf sie: ihre erste Amneris in Sydney. Diesmal fehlt allerdings der Überraschungsmoment für die Sängerin: „Diese Rolle hatte ich aus Neugier schon vorher studiert – einfach mal drauflos singen und dann sehen, wie es sich anfühlt.“ Es fühlte sich anscheinend gut an, mit den vielen tiefen und nicht allzu viel hohen Tönen: „Natürlich weiß man das erst wirk-


© Realgestalt


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Carmen

Georges ­Bizet 20. Januar 2018 Georges Bizets widerständige Titelheldin ist eine der faszinierendsten Figuren der Oper überhaupt. Regisseur Ole Anders Tandberg zeigt in Bizets Meisterwerk eine Welt, in der Liebe als zwischenmenschliches Gefühl keinen Platz mehr hat – eine Welt, wo der Mensch mit seinen intimsten Bedürfnissen zur Ware wird.

Weitere Vorstellungen: 24., 27. Januar; 4., 10. Februar, 30. Mai; 1., 7., 9., 16. Juni 2018 Ivan Repušić Musikalische Leitung Ole Anders Tandberg Inszenierung Erlend Birkeland Bühne Maria Geber Kostüme Ellen Ruge Licht Jeremy Bines Chöre Christian Lindhorst Kinderchor Jörg Königsdorf Dramaturgie Mit Clémentine Margaine, Nicole Haslett, Vasilisa ­Berzhanskaya, Heidi Stober, Charles Castronovo, Philipp ­Jekal, Tobias Kehrer, Markus Brück, Ya-Chung Huang, Dean Murphy Chor, Kinderchor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Mit Unterstützung des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin e. V. Der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin wird ­unterstützt von der Berliner Volksbank und Dobolino e. V.


Opfer auf allen Seiten Ole Anders Tandberg über seine Sicht auf CARMEN

©Bernd Uhlig

Der Norweger Ole Anders Tandberg gehört zu den profiliertesten Theater- und Opernregisseuren Skandinaviens. Nach seiner Aus­ bildung an der Guildhall School of Music and Drama London, der School of Architecture in Oslo und dem Dramatic Institute in Stockholm machte er ab Mitte der neunziger Jahre zunächst mit Schauspielinszenierungen, u. a. am Nationaltheater Oslo und am Royal Dramatic Theatre Stockholm, auf sich aufmerksam. In den letzten Jahren hat Tandberg, der auch als Bühnenbildner tätig ist, sich ­zunehmend der Oper zugewandt und an der Oper Oslo, der König­ lichen Oper Stockholm und dem Opernhaus Zürich inszeniert. An der Deutschen Oper Berlin inszenierte er 2016 mit großem Erfolg Schostakowitschs LADY MACBETH VON MZENSK.

Herr Tandberg, die verführerische Zigeunerin Carmen ist ein Phantasieprodukt französischer Künstler, die ein Spanien imaginieren, das es so nie gegeben hat. Liebe und Tod, Freiheit und Kastagnettengeklapper gehören untrennbar zum Klischee der Oper Georges Bizets. Was interessiert Sie außerdem? Es geht darum, dass Carmen Grenzen überschreitet und die Gefahr nicht scheut. Im Libretto liest man, dass sie in die Zukunft schauen kann. Sie weiß, wann sie sterben wird und hat überhaupt keine Angst davor. Sie sagt das mehrmals im Verlauf des Stücks. Darin besteht ihre Freiheit. Eine gefährliche Freiheit, weil sie grenzenlos ist. Das ist faszinierend und unwiderstehlich für jeden, der sich in sie verliebt. Gleichzeitig ist diese grenzenlose Freiheit furchteinflößend, denn wer sie erreicht, der wird dadurch zerstört. Das betrifft nicht nur Carmen, sondern auch alle, die sie umgeben. Besonders alltagstauglich scheint die grenzenlose Liebe also nicht zu sein und die Protagonisten sind selten sympathisch. Würden Sie Carmen zu sich nach Hause einladen? Vielleicht zu meiner Geburtstagsparty, denn sie wäre mit Sicherheit ein aufregender Gast bei jeder Feier. Mit ihr befreundet zu sein wäre sicher schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Sie lässt sich in keine Gesellschaft einordnen. Sie fordert jeden auf, mit ihr die Seiten zu wechseln. Das pittoreske Zigeunerleben des Librettos bedeutet in unserer Sichtweise, dass auch sie eine Mörderin ist. Wer diese Grenze überschritten hat, kann und will sich nicht wieder begrenzen lassen. Auch der Tod anderer hat keine große Bedeutung mehr. Das ist unmenschlich, also kann sie kein Vorbild für uns sein.

Don José lässt sich von Carmen emotional erpressen. Obwohl er irgendwann merkt, dass Carmen nicht gut für ihn ist, kehrt er doch zu ihr zurück. Was sagt das über ihn? Carmen macht ihn zuerst an. Sie kann es nicht ertragen, dass ein Mann so demonstrativ nicht an ihr interessiert ist. Sie will nicht dauerhaft mit ihm zusammen sein, sie will ihn nur erobern. Er reagiert darauf nicht rational. Sie wollen sich gegenseitig, gerade weil sie nicht zusammenpassen. Wenn er sie im dritten Akt endlich verlässt, um zu seiner sterbenden Mutter zurückzukehren, schafft er beinahe den Absprung. Aber er kehrt zurück und ahnt wahrscheinlich, dass er sie töten wird. Man kann es sich leicht machen und sagen, er ist halt ein Psychopath mit selbstzerstörerischer Neigung. Aber das wäre mir zu einfach. Irgendetwas passiert mit ihm, denn zu Beginn der Oper agiert er noch einigermaßen unauffällig. Was das ist, wollen wir gemeinsam herausfinden. Eine bemerkenswerte Todessehnsucht durchzieht diese Oper, wie man sie eher in der deutschen Spätromantik erwartet. Carmen weiß, dass sie bald sterben wird, Don José ahnt zumindest, dass er sie umbringen wird, Escamillos Beruf ist das Töten im Stierkampf. Was bedeuten diese Untergangsfantasien? Im Stierkampf geht es darum, dem Tod ins Auge zu sehen und ihn zu überwinden. Das wünschen wir uns doch alle: Das Leben für immer zu erhalten. Den gefährlichen Stier erlegen, während seine Hörner uns schon bedrohlich nah gekommen sind und er uns töten könnte. Es ist immer wieder wie das erste Mal, auch wenn der müde Stier in der Regel gar nicht mehr in der Lage wäre, den Torero zu besiegen. Es ist eine bedrohliche und erschreckende Welt, in die Bizet und seine Librettisten uns schauen lassen. Auch die Schmuggler stehen nicht in erster Linie für ein romantisches Leben am Lagerfeuer, sondern für Gier und Profitstreben. Heute würden sie kaum Tabak und Kaffee schmuggeln, vielmehr Flüchtlinge, Drogen oder Transplantationsorgane. Das ist eine sehr blutige Geschichte, die Opfer auf allen Seiten hervorbringt. Die gleichnamige Novelle von Prosper Merimée ist erheblich brutaler als die Oper. Die Figuren sind deutlich als Verbrecher gezeichnet, Don José wird schließlich hingerichtet, während in der Oper nach Carmens Tod gnädig der Vorhang fällt. Spielt die Novelle für Ihre Inszenierung eine Rolle? Wir haben die Novelle gründlich gelesen, aber Grundlage für meine Inszenierung ist selbstverständlich Georges Bizets Partitur. Wir können nur mutmaßen, was zwischen Escamillo und Carmen passieren würde, wenn Don José sie nicht umbrächte. Ich nehme an, sie würde auch ihn recht schnell verlassen. Es bleibt ein Stück über eine Frau, die vor gar nichts Angst hat außer vor echter Intimität. Ihr Handeln ist davon bestimmt, Nähe zu anderen Menschen zu verhindern. Sie spricht zwar immer wieder von der Liebe, unternimmt aber alles, um diese Liebe zu zerstören. Vielleicht muss sie deshalb sterben, weil sie dieses Paradox nicht aushält. Das Gespräch führte Uwe Friedrich

Uwe Friedrich studierte Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und Germanistik an der FU Berlin. Nach seiner journalistischen Ausbildung beim Bayerischen Rundfunk arbeitete er als Opernredakteur für den Saarländischen Rundfunk. Er ist als Musikjournalist und Moderator für verschiedene Radiosender tätig.


„Na klar, wir singen auswendig!“ – Matti, Jakob und Daniel, 8, 9 und 10 Jahre alt, rutschen schon eine Zeit lang auf ihren Stühlen hin und her. Sie wollen mit ihrem „Kleinen Chor“ endlich auch nach vorn auf die Freilichtbühne! Dort singt aber gerade noch der „Große Chor“, „Cantate domino“ von Daniel Friderici. Davor waren schon Lieder von Händel und Poulenc zu hören, Schumanns „Wassermann“ und als Auftakt „Die Gedanken sind frei“. Der „Große Chor“, das sind die insgesamt rund 80 Kinder, deren Altersdurchschnitt bei 11 bis 12 Jahren liegt. Sie haben in der vergangenen Spielzeit in der Bismarckstraße in den Opern TURANDOT, BILLY BUDD oder BORIS GODUNOW insgesamt rund 50 Auftritte auf der Opernbühne absolviert, sind also schon dort zu erleben, wo die Kleinen erst noch hin wollen. Begonnen hat dieser besondere Konzerttag für die Kinder schon um 9 Uhr in der Frühe. Chorleiter Christian Lindhorst will noch einen Durchlauf machen, aber erstmal steht das Einsingen an:

Summen und Singen auf verschiedenen Silben von „Lü“ bis „La“, mit der Zunge schlackern, mit den Lippen ploppen, kräftig schlürfen, genussvoll schmatzen – eben all das, was man so macht, um die „Sing-Muskulatur“ in Gang zu bringen. Danach beginnt die sogenannte Stellprobe, bei der die Auf- und Abgänge der verschiedenen Chorgruppen geprobt werden: „Kleiner Chor, nach rechts“ …, „Großer Chor, einen Schritt zurück“ … „Jugendchor dahinter“ … Immerhin sind heute vier verschiedene Ensembles beteiligt, insgesamt rund 150 Kinder und Jugendliche. „Die Stellprobe schafft Sicherheit beim Singen nachher“, erklärt die Stimmbildnerin Rosemarie Arzt, die unter anderem auch für die älteren, ehemaligen Kinderchorsänger verantwortlich ist. Als „Voice-Changers“ bilden sie ein JungenEnsemble aus Sängern, deren Stimmumfang sich gezielt erweitern lässt, indem die Kinderstimme als Kopfstimme erhalten bleibt, während sich die Sänger im Laufe des Stimmwechsels in junge Tenöre oder Bassbaritone verwandeln.

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BORIS GODUNOW © Marcus Lieberenz

Alles auswendig Ein Besuch beim Kinder- und Jugendchor der Deutschen Oper Berlin auf der Freilichtbühne in Spandau


CARMEN © Bettina Stöß

„Man singt in einer großen Gemeinschaft, in der trotzdem jeder Einzelne zählt.“

© Marcus Lieberenz

Später werden die Stimmwechsler dann mit „California Dreaming“ und anderen A-cappellaLiedern unter Beweis stellen, wie vorteilhaft es für die Stimme ist, als Kind in einem sehr guten Chor gesungen zu haben. „Man wird präziser beim Singen und kann sich den Ton vorstellen, bevor man ihn singt“, erzählt Tim, 20 Jahre alt und früher im „Großen Chor“ an vielen Aufführungen beteiligt. Auf der Freilichtbühne gibt es nun eine kleine Vorschau auf die kommende Spielzeit: einen Ausschnitt aus LE PROPHETE von Giacomo Meyerbeer. „Le voilà, le Roi Prophète“ singen die Kinder zur Klavierbegleitung von Christian Lindhorst, der betont, dass diese Oper mit ihren ausgedehnten Kinderchören eine große musikalische Herausforderung sei. Zumal die Kinder mit den Erwachsenen manchmal nur eine oder zwei gemeinsame Proben hätten, danach ginge es „sofort auf die Bühne“. Die Chorkinder Clara und Hans sind Mitglieder im „Großen Chor“, aber derzeit noch nicht ganz sicher, in welcher der beiden neuen Produktionen sie mitsingen werden – vielleicht bei LE PROPHETE, vielleicht aber auch in der neuen CARMEN. Die Einteilung der Gruppen, die für jede neue Opernproduktion ebenfalls neu zusammengestellt werden, gibt Chorleiter Christian Lindhorst erst noch bekannt. Clara, 10 Jahre alt, hat gerade noch in der „BORIS-­GODUNOW-Gruppe“ mitgewirkt und verrät, dass sie eigentlich am liebsten auf deutsch singt. Der Chorleiter hat Verständnis für diesen Wunsch, denn er weiß, dass den Kindern beim Singen in all diesen „Opernsprachen“ – Englisch, Französisch, Italienisch und manchmal eben auch Russisch – einiges abverlangt wird. Dafür dürfen die Jungen und Mädchen in BORIS GODUNOW zumindest vergleichsweise leichte Kleidung tragen, ganz anders als bei BILLY BUDD. Hans, 11 Jahre alt und schon etwas länger im Chor, findet sein Kostüm zwar schön, allerdings müsse er als „Powder monkey“, als Pulverjunge, in den langen Gummihosen, der dicken Jacke und den schweren Matrosenstiefeln ganz schön schwitzen. Auch Tim, mittlerweile Mitglied im „Jugendchor“, erinnert sich an schweißtreibende Auftritte als Kind in seiner Lieblingsoper LA BOHEME. „Die Melodie ist schön, das Stück ist schön, einziger Nachteil: man muss in Winterklamotten auf die Bühne.“ Zu warme Kostüme würde er gern vermeiden, meint Christian Lindhorst, der als Chorleiter aber nur wenig Einfluss auf die Ausstattung nehmen kann. Er bereite die Kinder vor allem musikalisch vor. Erst auf dieser Grundlage könne der Chor dann die in jeder Oper geforderten umfangreichen darstellerischen Leistungen erbringen. Wie die schwierige Choreografie bei BILLY BUDD, die mit sehr viel Arbeit verbunden gewesen sei, und von den beteiligten Jungen eine außergewöhnliche „Körperspannung“ erfordern würde.


IRGENDWIE ANDERS © Marcus Lieberenz

Schön sei es, wenn die Kostüme das Singen sogar positiv beeinflussen würden, wie bei der farbenfrohen Inszenierung von Humperdincks HÄNSEL UND GRETEL. „Da merkt man“, so der Chorleiter, „dass sich die Kinder mit den bunten Kostümen verändern und noch viel freundlicher und aufgeweckter singen“. Auch Clara mag diese Märchenoper besonders gern, obwohl man beim gemeinsamen Finale auch leicht mal durcheinander kommen kann. Die Kuchenkinder müssten sich da schon sehr konzentrieren, weil die Solisten an dieser Stelle doch „ziemlich laut“ singen. Natürlich geht in den Aufführungen auch mal etwas schief, meint Christian Lindhorst. Aber, das sei nicht schlimm, sondern menschlich und würde schließlich auch bei den Erwachsenen vorkommen. Seine Chorkinder seien insgesamt sehr mutig und überaus professionell, er sei jedes Mal erstaunt, wie schnell die Kinder immer wieder mit dem Dirigenten zusammen sind. Und wenn es doch mal zu sehr klappert, bringt der Chorleiter – unsichtbar für das Publikum – mit der „roten Taschenlampe“ vom Bühnenrand aus wieder rhythmische Ordnung in sein Ensemble. Professionell auf der Bühne, konzentriert in der Probe – wenn man diesen Idealzustand mit einem Kinderchor erreichen will, muss man auch gewisse Eigenheiten und Unterschiede berücksichtigen: „Jungen sind ein bisschen wuseliger, ein bisschen unruhiger, brauchen Bewegung“,

Hans Ackermann

Hans Ackermann wurde in Hamburg geboren, hat Schulmusik ­s tudiert und eine Journalistenschule besucht. Seitdem arbeitet er in Berlin als freiberuflicher Musikjournalist, Autor und Kritiker für WDR, SWR und RBB, schreibt für den Tagesspiegel – und ist als OHRENMENSCH neuerdings auch mit einem eigenen „BLOG für HINHÖRER“ im Netz in aktiv.

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meint Christian Lindhorst, der diese Eigenschaften am liebsten in positive Energie umwandelt und die Proben mit viel Bewegung auflockert. Regulär finden pro Woche zwei solcher Proben statt, so dass auch noch Zeit für andere Dinge bleibt, erzählt Pauline. Sie ist 9 Jahre alt, singt noch im „Kleinen Chor“ und trifft sich in ihrer Freizeit mit Freundinnen, liest viel und übt Klavier. Wenn Aufführungen bevorstehen, kommen aber zumindest beim „Großen Chor“ schnell weitere Termine hinzu. Die Kinder, die in der überwiegenden Mehrheit in Berlin, einige aber auch in Brandenburg wohnen, sind dann manchmal an fünf Tagen im Opernhaus. Ein hohe zeitliche Belastung, die auf der anderen Seite aber auch ein starkes Gemeinschaftsgefühl hervorbringt. „Wir sind verschiedene Stimmen, aber wir singen zusammen“, sagt Clara über den besonderen Teamgeist im Chor. Dieser soziale Gedanke ist auch für Christian Lindhorst maßgeblich: „Man singt in einer großen Gemeinschaft, in der trotzdem jeder Einzelne zählt“. Auf der Freilichtbühne erreichen die „Enfants de chœur“ aus Meyerbeers LE PROPHETE nun die Textstelle „Oh, le Ciel! Qu’entends-je?“ und tatsächlich öffnen sich bei dieser himmelwärts gerichteten Frage kurz die Wolken. Die Sonne bricht durch und taucht die Freilichtbühne, den Chor und die etwa 500 Zuschauer für einen magischen Moment in helles Licht. Wenig später hat dann auch für die drei Jungen vom „Kleinen Chor“ das lange Warten endlich ein Ende. Nun geht es für Matti, Jan und Daniel auf die Bühne, wo sie beim „Katzentatzentanz“ ihre ersten Erfahrungen im Musiktheater vorführen: szenisch spielen die Kinder die Geschichte der Katze, die partout nicht mit dem Igel tanzen will. Die etwa 30 Sängerinnen und Sänger aus dem jüngsten Chor-Nachwuchs zeigen dabei, dass sie schon jetzt die wesentliche Fähigkeit für den Auftritt in einem Opernhaus beherrschen: sie können gleichzeitig singen und darstellen – was alles andere als einfach ist. „Wenn man DAS beides zusammen kann“, meint Christian Lindhorst, „dann hat man schon ganz viel für die Bühne gelernt“. Da macht es dann auch nichts, wenn den Jungen vom „Kleinen Chor“ mal die Notenmappe herunterfällt, denn, „na klar, wir singen auswendig!“


links Jana Kurucová und rechts Edita Gruberová in LUCREZIA BORGIA © Bettina Stöß

Dankbarkeit und Demut Seit nunmehr 50 Jahren steht Edita Gruberová, die Königin der Koloratur, auf den großen Bühnen der Welt. Dieses Jubiläum ­feiert die Primadonna des Belcanto auch an der Deutschen Oper Berlin. Über die Vorbildfunktion von Edita Gruberová für jüngere Sänger spricht die Mezzosopranistin Jana Kurucová.

Frau Kurucová, Sie haben zusammen mit Edita Gruberová in der Deutschen Oper Berlin Donizettis LUCREZIA BORGIA gesungen. Was kann man sich bei einer solchen Gelegenheit von der Primadonna des Belcanto abgucken? Mir imponiert vor allem die unglaubliche Motivation, die sie für jeden Auftritt mitbringt. Auch jetzt noch, nach einem halben Jahrhundert auf der Opernbühne, spürt man bei ihr nicht einen Moment Routine, sondern eine große Demut der Kunst gegenüber und eine Dankbarkeit, überhaupt auf der Bühne stehen zu dürfen. In dieser Unermüdlichkeit, immer weiter an sich zu arbeiten und im Streben nach Perfektionierung der eigenen Technik und des eigenen Stils nie nachzulassen, ist Edita Gruberová tatsächlich eine Art Vorbild für mich. Ich habe sogar gehört, dass sie immer noch Gesangsstunden nehmen soll! Wenn es ums Abgucken geht, dann betrifft das natürlich keine technischen Details, denn erstens singt sie ein anderes Stimmfach, und zweitens ist ihre Gestaltung so persönlich, dass es völlig unsinnig wäre zu versuchen, stilistische Details nachzuahmen. Wohl aber – und das halte ich für viel wichtiger – kann man sich bei ihr das Prinzip abgucken, jeder Phrase, ja, jeder Note, einen Sinn zu geben. Darüber hinaus gibt es sicher auch noch einige ganz praktische Dinge wie die physische Vorbereitung auf große Belcantopartien? Sicher. Das ist gerade für mich im Moment sehr wichtig, da sich meine Stimme in den letzten Jahren in Richtung höher gelegener Belcanto-Partien wie die Elisabetta in Donizettis MARIA STUARDA entwickelt hat – eine Partie, die ich in der nächsten Spielzeit ja an der Deutschen Oper Berlin singen werde. Für solche Partien muss die Stimme besonders frisch gehalten werden und die Zwerchfell-Muskulatur darf nicht müde sein. Das heißt: Ausreichend Abstand zwischen den Vorstellungen, viel Schlaf und

Sonderkonzert: Edita Gruberová zum 50-jährigen Bühnen­jubiläum 29. November und 4. Dezember 2017 Peter Valentovic Dirigent Edita Gruberová Solistin Orchester der Deutschen Oper Berlin


Das Gespräch führte Jörg Königsdorf

Edita Gruberová als Lucia di Lammermoor an der Deutsche Oper Berlin, 1980, © kranichphoto

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gutes Essen. Bei diesen Partien merke ich jetzt auch viel mehr, warum den Sopranistinnen selbst kleinste Erkältungen so gefährlich werden können und wie sehr man sich in Acht nehmen muss! Ist es für Sie persönlich auch ein Lebensziel, mit 70 noch auf der Bühne zu stehen und immens schwere Partien zu singen? Mir macht Singen Spaß, seit ich denken kann, und ich vermute, das wird sich auch nicht geändert haben, wenn ich 70 Jahre alt sein werde. Allerdings kann ich mir dann eher Charakterrollen wie die Hexe in HÄNSEL UND GRETEL vorstellen. Ich glaube darüber hinaus, dass Gruberová trotz ihrer langen Karriere eher ein Beispiel für eine Künstlerin ist, die eben nicht ihr ganzes Leben nur der Musik opfert. Schließlich ist sie ja auch Mutter – und das bedeutet ein ganz reales Leben jenseits der Opernbühne. Wie Edita Gruberová stammen Sie aus der Slowakei – einem kleinen Land mit knapp fünfeinhalb Millionen Einwohnern, das dennoch eine große Menge bedeutender Opernsänger und – sängerinnen hervorgebracht hat: Neben Edita Gruberová wären zum Beispiel Lucia Popp und Luba Orgonasova, aber auch Pavol Breslik, Dalibor Jenis und Peter Dvorsky zu nennen. Woran liegt das? Es kann gut sein, dass die diversen kulturellen und ethnischen Einflüsse, die in der Slowakei zusammenkommen, dabei eine Rolle spielen. Wir sind eine gute „Promenadenmischung“ von deutschen, ungarischen, russischen und tschechischen Zutaten, glaube ich. Aber davon abgesehen singen wir Slowaken einfach gern. Ich selbst bin schon als Kind bei Familienfesten auf den Tisch gestiegen und habe gesungen. Und wenn mein Vater je ein Gesangsstudium absolviert hätte, wäre er sicher Heldentenor geworden.


© Barbara Aumüller

Die Liebe zu den drei Orangen

Sergej Prokofjew am 14., 20. und 28. Oktober 2017


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© Universal Pictures

Frankenstein

Musiktheater nach Mary Shelley u. a. von Gordon Kampe, Paul Hübner und Maximilian von Mayenburg 30. Januar 2018 „Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange“ – so Mephisto zu Faust. Auch Franken­stein will Gott gleich sein und Leben schaffen. Doch wie weit darf der Mensch in seinem Forscherdrang ­gehen? Maximilian von Mayenburg rekonstruiert die Frage der Schauerromantik in einer Neuproduk­ tion für die Tischlerei der Deutschen Oper Berlin.


© Universal Pictures

Weitere Vorstellungen: 2., 3., 4., 23., 24., 25. Februar 2018 Maximilian von Mayenburg Inszenierung Sophie du Vinage Ausstattung Lars Gebhardt Dramaturgie Jens Holzkamp Musikalische Leitung Mit Sandra Hamaoui; Andrew Dickinson, Paul Hübner Musiker des Orchesters der Deutschen Oper Berlin

„In einer düsteren Novembernacht“ war es Victor Frankenstein endlich gelungen. Er sah, wie sich „das trübe gelbe Auge“ des Geschöpfes öffnete, das er erschaffen hatte. Doch an die Stelle der Freude über den Erfolg seines prometheischen Plans trat das Grauen. Anders als erwartet stand da ein „Unmensch“ vor ihm, mit gelber Haut und tiefen, fahlweißen Augenhöhlen … Die Idee, einen künstlichen Menschen zu kreieren, lag im frühen 19. Jahrhundert in der Luft. Der Gedanke an Prometheus, den Menschenschöpfer der antiken Mythologie, zirkulierte, als die noch nicht 20-jährige Mary Shelley, ihr Dichter-Gatte Percy und der Schriftsteller-Superstar Lord Byron samt Leibarzt Polidori 1816 einen Schlechtwetter-Sommer am Genfer See verbrachten, Spukgeschichten lasen und beschlossen, in diesem Genre zu reüssieren. Das besaß zwar den „Hautgout“ des Trivialen, beinhaltete aber den Reiz, an literarische Moden anzuknüpfen – namentlich die Schauerromane von Walpole, Beckford, Radcliffe oder Lewis – und, vor allem, an die wissenschaftlichen und philosophischen Errungenschaften, die das aufklärerische Siècle des Lumières dem jungfräu­ lichen Jahrhundert vererbt hatte. Wissenschaft, Technik und Industrie entwickelten sich rasant, der „Wille zum Wissen“ [Foucault] ließ ungeahnte Früchte reifen, gleichzeitig drängte die später von Adorno und Horkheimer zugespitzte Frage ins Bewusstsein, ob Aufklärung und Fortschritt besseres Leben ermöglichten oder den Keim des Verderbens bereits in sich trugen.

Auch Mary Shelley versuchte sich an einer Antwort und schrieb den Roman „Frankenstein“. Einerseits erschuf sie mit ihrem Protagonisten den Idealtypus eines von Wissensdrang beseelten Forschers, der keine Skrupel kennt und alles tut, um herauszufinden, was Welt und Menschen im Innersten zusammenhält. Andererseits führt Victor Frankensteins Erfolg, die tatsächliche ­Erkenntnis der Beschaffenheit des Menschen und das Wissen um das Geheimnis des Lebens, direkt in den Horror. Der junge Schweizer wird zwar zum modernen Prometheus, wie es im Untertitel heißt, nur erschafft er keinen neuen Menschen, sondern das Paradigma des furchteinflößenden Monsters – aus zusammengeflickten Leichenteilen bestehend, sieht es zum Weglaufen schrecklich aus. Dabei hilft Weglaufen kaum. Frankensteins Monster verfügt über übermenschliche Kräfte und mordet im Handumdrehen – besser: im Halsumdrehen. Ikonisch wurde die Horrorgestalt schließlich durch die Maske, in der es Boris Karloff in der Verfilmung von 1932 verkörperte. Die Verwechslung Frankensteins mit seiner Kreatur geriet zur wohl geläufigsten der Literaturgeschichte. „Science-Fiction handelt nicht von der Zukunft, sondern, wie alle Erzählkunst, vom Möglichen, vom Vorstellbaren“, schreibt der Fantasy-Connaisseur Dietmar Dath in seiner Monographie über „Superhelden“. Das halbe Marvel-ComicUniversum wurzelt in der Erfindung Mary Shelleys. Hulk, Spider-Man, die Fantastischen Vier sowie diverse ihrer bösen Widersacher sind nichts anderes als Ergebnisse von Experimenten durchgeknallter Wissenschaftler – oft besteht eine Personalunion von Schöpfer und Kreatur, ähnlich wie in Robert Louis Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“-Novelle [1886], die eine beliebte Folie für psychologische Deutungen lieferte. Auch am Anfang von „Frankenstein“ steht ein Alptraum, auch Victor könnte als schizophren interpretiert werden. Horror entsteht durch Nähe zur Wirklichkeit, sei sie psychologischer oder naturwissenschaftlicher Art. Heute, in Zeiten avancierter Gen-Forschung und Roboter-Technik, erscheint die Fiktion von der Wirklichkeit eingeholt. Kein Wunder, dass die Faszination für den Stoff nach wie vor floriert, wie zuletzt die britische Fernseh-Serie „The Frankenstein Chronicles“ [2015] zeigte.

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Das Tier in Dir Über Hintergründe und Wirkungen von Mary Shelleys Schauerroman-Klassiker „Frankenstein“


© wikimedia.commons

In seinem Streben ist Frankenstein zunächst mit Faust verwandt. Zwar kommt der Naturwissenschaftler ohne Alchemie, Magie und Hexenküche aus, gerät aber nicht weniger in Teufels Küche. Im „Faust II“ lässt Goethe, ein Vitalist, der an einen Saft glaubte, welcher allem Lebendigen zugrunde liegt, einen Homunkulus entstehen, chemisch – eine zeitgenössische Darstellung zeigt Fausts Gehilfen, wie er das künstliche Wesen im Glaskolben zusammenbraut. Im kulturgeschichtlichen Kontext des Frankenstein-Monsters ist auch der Golem der jüdischen Mystik von Bedeutung, eine menschenähnliche Gestalt aus Lehm oder Ton, ausgestattet mit mörderischen Fähigkeiten ganz wie bei Mary Shelley. Der Golem [Hebräisch: Ungeformtes] folgt Befehlen, er ist eine Art organischer Roboter – wie in Achim von Arnims „Isabella von Ägypten“ [1812] oder später in Gustav Meyrinks populärem Roman von 1915. Einer Mythos-­Variante zufolge fertigte bereits Prometheus die Menschen aus Lehm. In der Literatur ist der Titan eine widersprüchliche Figur, das heißt, seit der Antike entweder Betrüger [Hesiod] oder tragischer Held [Aischylos], Symbolfigur für den menschlichen Sieg über die Natur, aber auch für Hybris. Giordano Bruno rückte in einer Satire den Mythos in die Nähe der biblischen Schöpfungsgeschichte: Prometheus habe das Feuer gestohlen, um die menschliche Vernunft zu illuminieren wie Adam und Eva die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis pflückten, um letztere zu erlangen.

Literarische Bearbeitungen und Auseinandersetzungen mit der Prometheus-Figur gibt es zuhauf, spätestens seit dem Geniekult des Sturm und Drang aber wird das Dichten selbst als prometheische, also schöpferische, nahezu göttliche Fähigkeit aufgefasst – kein Zufall, dass Goethes Prometheus-Hymne dieser Phase entstammt. Es galt, mit Gott zu wetteifern. Was für die Literatur gilt, gilt auch für Philosophie und Naturwissenschaften. Mitte des 18. Jahrhunderts, in Zeiten radikaler Aufklärung, verfasste der Arzt und Denker La Mettrie die berühmt-berüchtigte Abhandlung „Der Mensch eine Maschine“ [1748], beschrieb die Seele als Resultat körperlicher Funktionen und behauptete, es gebe nur eine rein materielle Substanz. Wenig früher wurde der Erfinder Jacques de Vaucanson als Konstrukteur von technisch hochkomplexen Automaten – Göttliche Maschinen [Alex Sutter] – berühmt. Als sein Kabinettstück gilt – neben dem hölzernen Flötenspieler – die aus rund vierhundert beweglichen Einzelteilen bestehende Mechanische Ente, die mit den Flügeln schlug und sogar einen halbwegs funktionierenden Verdauungsapparat besaß. Gott hatte sich in so einem Umfeld erübrigt, Grund für Staat und Kirche, bedrohliche materialistische Werke zu indizieren. Reiz und Resonanz aber blieben gewaltig, wie Jean Pauls „Der Maschinenmann“ [1789], E.T.A. Hoffmanns „Die Automate“ [1814] und „Der Sandmann“ [1817] zeigen. Wenn sich auch von Kempelens Schachtürke genannter ­Roboter als Betrug herausstellte – in

dem G ­ ebilde steckte ein menschlicher Schachspieler –, seine Wirkung aufs Publikum verfehlte er so wenig wie die Experimente Luigi Galvanis, der durch die Herstellung eines Stromkreises Froschschenkelmuskeln zur Kontraktion brachte. Der Galvanismus galt lange als biologische Disziplin – für Frankenstein wird er zur Basis. In den Anatomischen Theatern erzeugten Galvanistische Experimente unter Studenten sogenannten delightful horror [Edmund Burke], also angenehme Gruselgefühle. Heute gehen wir dafür ins Kino – in Ridley Scotts Alien-Film „Prometheus“ [2012] etwa, in dem Wissenschaftler, darunter ein den Menschen überlegener Android, nach Hinweisen auf extraterrestrische Ursprünge menschlichen Lebens forschen. Die Fortsetzung – „Alien: Covenant“ [2017] – zeigt schließlich die Hybris des Androiden, der sich als Schöpfer des Bösen und potenzierter Frankenstein-Verschnitt geriert. Die Frage, wie weit Forschung gehen darf, wurde und wird vor dem Hintergrund menschlicher DNA-Entschlüsselung sowie der Entwicklung künstlicher Intelligenz breit diskutiert. Mary Shelley thematisiert die Frage nicht nur explizit, ihr Roman nimmt beinahe Überlegungen späterer Ethik-Kommissionen vorweg – da, wo Frankenstein seinem Geschöpf eine Partnerin kreieren soll, sein Vorhaben aber „aus moralischen Gründen“ verwirft: Die Erschaffung einer Art könnte die Menschheit bedrohen. Dabei ist das Laborprodukt nicht „von Natur aus“ bösartig. Mary Shelley knüpft nahtlos an die anthropologischen Konzepte des Zivilisationskritikers Rousseau an, der für Prometheus, als Erfinder der Wissenschaft, wenig übrig hatte. Nein, der künstliche Mensch entwickelt sich erst zur mordenden Bestie, als er von der Gesellschaft – und nicht zuletzt seinem Schöpfer – brutalst zurückgewiesen wird. „Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass der Homunkulus über eine sensible Seele verfügt, die in einem abstoßenden Äußeren steckt“, schreibt der Horrorliteraturforscher Peter-André Alt in seiner „Ästhetik des Bösen“ und verortet das Schreckliche in der Anmaßung des Meisters, sein Monstrum bedenkenlos zu erschaffen. Ein freundliches, harmloses Monster wäre allerdings ein Paradoxon und jedenfalls kein Stoff für Horror, auch wenn 60er-Jahre-Serien wie „The Addams Family“ oder „The Munsters“ diese Variante durchgespielt haben – als Komödie. Tobias Schwartz

Tobias Schwartz ist Schriftsteller und Dramatiker. Er wurde 1976 in Osnabrück geboren, studierte in Berlin Philosophie und Literaturwissenschaft und schreibt regelmäßig für verschiedene Z ­ eitungen und Magazine über literarische Themen. Im September erscheint sein Virginia-Woolf-Buch „Bloomsbury & Freshwater“ im AvivA Verlag.


© Stephan Walzl

Maximilian von Mayenburg wurde in München ge­boren. Er studierte zunächst Gesang an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin, u. a. bei Thomas Quasthoff. Ab 2007 studierte er dort zusätzlich Musik­ theaterregie. Im Rahmen des Studiums lernte und ­arbeitete er u. a. bei Jossi Wieler, Vera Nemirova, Hans Neuenfels und Stefan Herheim. Bei den Bayreuther Festspielen 2011 inszenierte er den RING DES ­NIBELUNGEN in einer Fassung für Kinder und gewann den Regiewettbewerb der Deutschen Bank ­Stiftung „Akademie Musiktheater heute“. Für die ­Inszenierung der Oper XERXES am Theater Bielefeld erhielt er im Winter 2015 den „Sonderpreis Tischlerei“ der Deutschen Oper Berlin. Seither inszenierte er ­unter anderem am Theater Heidelberg und am Theater

Herr von Mayenburg, wie entstand die Produktion FRANKENSTEIN? 2015 gewann ich mit meiner Inszenierung von Händels XERXES in Bielefeld den Sonderpreis „Tischlerei“ der Götz-Friedrich-Stiftung. Der Preis besteht darin, eine Uraufführung in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin zu inszenieren, also ein völlig neues Stück entwickeln zu dürfen. Mir war ziemlich schnell klar, auf welchen Stoff meine Wahl fallen würde: Auf den Roman „Frankenstein“ von Mary Shelley, dessen Erscheinen 2018, wenn wir Premiere feiern, übrigens genau 200 Jahre her ist. Warum diese Geschichte? Was bedeutet sie Ihnen? Ich bin nicht der Einzige, der von dem Stoff schon seit langem fasziniert ist, er ist ja oft verfilmt und weitererzählt worden. Allerdings wird „Frankenstein“ meist als Wissenschaftskritik rezipiert: Der Mensch spielt Gott und maßt sich an, Leben zu erschaffen. Mich interessiert etwas anderes an der Geschichte: Es ist eine Autorin, Mary Shelley, die hier über einen Mann schreibt, der sich ohne Zutun einer Frau fortpflanzen will. Die Geschlechterkonkurrenz, die Unfähigkeit des Mannes, gebären zu können, ist ein meiner Meinung nach lange vernachlässigter Aspekt von „Frankenstein“. Wie werden Sie das auf die Bühne bringen? Wir sind noch in der Phase der Stückentwicklung. Fest steht aber, dass es ein Labor geben wird. Die Zuschauer sitzen in steil ansteigenden Rängen, in Anlehnung an die Anatomischen Theater des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen öffentliche Obduktionen durchgeführt wurden. Bei uns werden Sie Zeuge eines Experiments mit fatalem Ausgang. Und wie soll das musikalisch umgesetzt werden? Die Musik schreibt Gordon Kampe. Er wird nebens eigens für das Stück komponierter Musik auch Stücke anderer Komponisten integrieren, arrangiert für ein Instrumentalensemble. Das können Lieder von Franz Schubert sein oder Arien aus der Oper PYGMALION von Jean-Philippe Rameau – in der eine Statue zum Leben erwacht –, außerdem Textauszüge wie Goethes „Prometheus“-Gedicht, das ja ebenfalls von einer Auflehnung gegen die Götter handelt, und Originalpassagen aus Shelleys Roman. Sie wurden in München geboren und haben in Berlin an der „Hanns Eisler“-Hochschule Gesang studiert, unter anderem bei Thomas Quasthoff. Sänger sind sie aber dann doch nicht geworden. Ich fühlte mich auf der Bühne nicht so wohl. Also sattelte ich um und studierte Musiktheaterregie, ebenfalls an der „Hanns Eisler“. Bereut habe ich es nicht: im laufenden Jahr 2017 konnte ich den FREISCHÜTZ in Bielefeld, TURN OF THE SCREW in Bern und LE NOZZE DI FIGARO in Graz herausbringen. FRANKENSTEIN wird nach längerer Zeit meine erste Arbeit in Berlin sein, wo ich auch wohne – was mich natürlich besonders freut.

Bern. Mit FRANKENSTEIN gibt er sein Debüt an der Deutschen Oper Berlin.

Die Fragen stellte Udo Badelt

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Ein Experiment mit fatalem Ausgang Maximilian von Mayenburg über seine Version von FRANKENSTEIN


© Tina Brüser

Die Welt in Form bringen Bei „Lieder und Dichter“ treffen zeitgenössische Dichter auf ­klassisches Liedgut. Thomas Wohlfahrt ist Leiter des Hauses für Poesie, das die Reihe zusammen mit der Deutschen Oper Berlin veranstaltet. Im Gespräch erklärt er, was Dichtung und ­Musik miteinander verbindet.

Liederabende im Foyer Termine: 26. September 2017, 12. Februar, 27. März, 14. Mai 2018 Mit Meechot Marrero, Alexandra Hutton, E ­ lena Tsallagova, Irene Roberts, Ronnita Miller, ­Annika Schlicht; Thomas Blondelle, Thomas Lehman, Clemens Bieber, Stephen Bronk, John Parr Eine gemeinsame Veranstaltung der Deutschen Oper Berlin und des Hauses für Poesie Lesungen: Uljana Wolf [26. September 2017] Durs Grünbein [12. Februar 2018] Nora Bossong [27. März 2018] Dagmara Kraus [14. Mai 2018] Klassisches Kunstlied trifft moderne Lyrik: Die Veranstaltungsreihe in Zusammenarbeit mit dem Haus für Poesie vereint Liederabend und Dichterlesung. An jedem der vier Abende im Foyer der Deutschen Oper Berlin stellt ein ­Autor eigene Werke vor, die in Bezug zu den Liedern des Programms stehen.

Herr Wohlfahrt, Wilhelm Müller, der Textdichter der Winterreise, und Franz Schubert sind sich nie begegnet. Sie hätten es gerade noch so schaffen können. Die „Winterreise“ ist mein Lieblingsbeispiel dafür, dass die Künste sich in der Dichtung wiederfinden: Klanglinien des Texts gehen zur Musik, Rhythmuslinien gehen zum Tanz. Vergegenwärtigen wir uns: Dichtung entstand vor annähernd 5000 Jahren als kultische Handlung, als Sinnstiftendes zwischen Musik und Tanz. Die „Odyssee“ und „Gilgamesch“ kamen einst nur von Mund zu Mund um die ganze Welt. Nach dem Buchdruck und der Alphabetisierung der Gesellschaft hätte sich das Gedicht auch auflösen können. Statt dessen haben sich Klang und Rhythmus der Worte ins rein Ästhetische verlagern dürfen. Sie haben den Essay einmal eine Verlängerung des Gedichtes genannt. Weil er auf ähnliche Weise Haken schlägt. Man kann Enden verknüpfen, die Dinge anders benennen, und plötzlich geht eine Tür auf, sieht Dasselbe ganz anders aus. Auch die Lyrik kann das, indem sie Form setzt, behauptet, macht, baut. Das ist der alte poeisis-Begriff: Machen, Tun. Der schottische Dichter John Burnside … … der gerade beim Poesiefestival die Berliner Rede zur Poesie hielt … … ist ein Meister dieses Hakenschlagens. Müssen wir nicht ohnehin vieles neu denken? Da hat die Poesie große Kraft. Was auch zunimmt, ist, dass Leute aus aller Herren Länder beginnen, mit der deutschen Sprache zu arbeiten. Dagmara Kraus zum Beispiel, eine in Polen geborene, in Frankreich studiert habende, in Berlin lebende – ja, was? Sie schreibt ein wunderbares Deutsch. Wie sie die Sprachen zueinander schiebt und


Die Fragen stellte Christiane Tewinkel

Christiane Tewinkel schreibt für den Tagesspiegel und die Frankfurter Allgemeine Zeitung über Musik. Sie ist Privatdozentin für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und Lecturer in Musicology an der Barenboim-Said Akademie Berlin.

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durcheinander dreht, das ist völlig überraschend. Nun scheint die Lyrik unserer Zeit sowieso freier als die früherer Jahrhunderte mit ihren Strophen- und Reimformen. Auch der freie Reim ist ja nicht formlos. Es bleibt eine Kunst, die Welt in Form zu bringen – ich nehme ein Sonett, und dann zwinge ich die Welt über Sprache in dieses Format. Die „Sportlichkeit“, die darin liegt, löst sich in Schönheit auf. Und dann die Formverletzungen: In Jan Wagners Sonett „Giersch“, das kein harmonisierendes Ende hat wie sonst im Sonett üblich, wird die Form überwuchert. Im Konflikt zwischen dem Garten als künstlicher Natur und dem Wildwuchs gewinnt die Natur. Wie wichtig ist heute noch das Auswendiglernen? Es trainiert Denken und Erinnerungsvermögen. Ich habe meine Großmutter darin nicht erreicht. Heute wird das viel zu wenig eingeübt. Rechnen zeitgenössische Lyriker noch damit, dass ihre Texte auswendig gelernt werden? Es passiert etwas anderes: Gedichte werden wieder vorgelesen. Das diesjährige poesiefestival berlin hatte 12.000 Besucherinnen und Besucher, wir gelten als das größte Festival dieser Art in Europa. In Kolumbien oder Nicaragua jedoch kommen bei ähnlichen Gelegenheiten 120.000 – 130.000 Menschen zusammen. Auf dem lateinamerikanischen Markt hat man einen anderen Zugang zur Lyrik, dort gibt es keine so starken Brüche zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Man hört Gedichte also lieber, als sie still zu lesen? Die Stimme ist das Instrument des Gedichts und hebt, was dem Gedicht eingeschrieben ist. Erst dann wandert es von Körper zu Körper. Das ist es, was die Leute in Lyrik-Lesungen bringt. Und warum gehen sie in Liederabende? Immerhin stellt sich die Musik dem Gedicht in den Weg. Ein gutes Gedicht braucht nichts, doch zieht es andere Künste an: Es gibt Gedichte, die x-fach vertont worden sind, und jede Vertonung ist Aktualisierung und Interpretation. Als nächstens liest Uljana Wolf bei „Lieder und Dichter“. Ihr „Dust Bunnies“ sieht aus wie ein Prosatext. In Wirklichkeit gibt es Binnenstrukturen, Alliterationen, Assonanzen. „Dust Bunnies“, englisch, klingt lustig im Vergleich zum deutschen „Wollmäuse“. Und das Gedicht schaut mit Zärtlichkeit auf etwas, das oft Ekel erregt. Wer sind diese Viecher? Was machen sie mit diesen Flocken, sind das Nester? Hier gelangt etwas ins Bewusstsein, das wir sonst gar nicht sehen. Das Spiel mit Sprache und Bedeutung gewährt eine Art Radieschen-Blick auf die Welt.

© Dirk Skiba

Uljana Wolf dust bunnies wir wollten über kleine tiere sprechen, wollten auf die knie gehen für die kleinen tiere, jene aus staub und schlieren, in ritzen und dielen, jene, die in grauen fellen frieren, unsere tiere aus nichts. wir wollten auch ganz nah in deiner sprache und in meiner hauchen, sag mir liebes, hast du heute schon gesaugt. nein, wir wollten unsere tiere nicht erschrecken, klein wie flecken, sind das flecken, haben sie nicht puschelschwänze, lange löffel, oder lange schwänze, tuschelohren, wollten wir nicht weniger rauchen, weniger husten, weniger entweder oder sein. gestern war die zimmerecke einsam in ihrer knarzenden öde. heute ist sie hort, heute zärtlichen horden ein port, wir wollen also still sein, auf den knien lauschen: unsere kleinen tiere, wie sie ihre wollenen, mondgrauen namen tauschen. aus: falsche freunde. [c] kookbooks 2009


Repertoire-Tipps © Thomas Jauk

© Thomas Jauk

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER – Richard Wagner Christian Spuck erzählt Wagners Seefahrer-Oper aus der Perspektive des überlebenden Erik und erzeugt dabei suggestive Bilder von hoher atmosphärischer Dichte. „Ganz großes, tiefgründiges Theater ist das, genial unterstützt durch den Bühnenbildner Rufus Didwiszus.“ [taz] 8., 22., 27. September; 18. November 2017 Donald Runnicles / Ido Arad [Nov] Musikalische Leitung Inszenierung: C ­ hristian Spuck LOHENGRIN – Richard Wagner In seiner Version von Wagners Musikdrama hinterfragt Kaspar Holten den Mythos vom Heilsbringer und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die vergeblich versucht, ihre inneren Konflikte durch Kriege zu lösen. „Holten erweckt die prophetischen wie bedenklichen Züge des Stücks zum Leben, ohne sie platt zu illustrieren.“ [Berliner Zeitung] 10., 16. September; 9., 12. November; 17. Dezember 2017 Musikalische Leitung: Donald Runnicles / Axel Kober [Dez] Inszenierung: K ­ asper Holten AIDA – Giuseppe Verdi „So unmittelbar und so durchdringend wie jetzt in der Deutschen Oper rücken einem die Massenszenen der ‚Aida‘ nur selten auf den Leib“, berichtete das Deutschlandfunk über die spektakuläre Produktion von Benedikt von Peter, die Verdis Klassiker mitten ins Publikum versetzt. 23., 29. September; 2., 7. Oktober 2017 Musikalische Leitung: Giampaolo Maria Bisanti Inszenierung: B ­ enedikt von Peter

DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN – Sergej Prokofjew Starregisseur Robert Carsen deutet Prokofjews skurriles Opernmärchen zu einer Hommage an die Theaterstadt Berlin um. Dabei gelingt ihm ein Opernabend voller Tempo, Witz und Esprit aus dem Geist der Revue. 14., 20., 28. Oktober 2017 Musikalische Leitung: Nicholas Carter Inszenierung: R ­ obert Carsen © Barbara Aumüller

ELEKTRA – Richard Strauss Nur ein Gedanke hält Elektra am Leben: Die Ermordung ihres Vaters durch ihre Mutter muss gerächt werden – dabei ist die „Grenze zwischen Passion und Obsession gefährlich fließend“ [Kirsten Harms]. 19., 26., 30. Oktober 2017 Musikalische Leitung: Donald Runnicles Inszenierung: K ­ irsten Harms NABUCCO – Giuseppe Verdi Drama um die babylonische Gefangenschaft des Volkes Israel unter König Nabucco, der dem Größenwahn verfällt. Seine Tochter Abigaille nutzt die Chance und putscht sich an die Macht. 29. Oktober; 1. November 2017; 6., 14. Januar 2018 Musikalische Leitung: Roberto Rizzi Brignoli Inszenierung: K ­ eith Warner © Bettina Stöß

© Marcus Lieberenz

TANNHÄUSER – Richard Wagner In einem Sängerwettstreit auf der Wartburg soll das Wesen der Liebe ergründet werden. Die geladenen Sänger singen von der Reinheit des Gefühls, Tannhäuser jedoch preist die Leidenschaft der Venus. Das Bekenntnis zur Lust bringt die Gesellschaft in Aufruhr. 11., 19. November; 2. Dezember 2017 Musikalische Leitung: Michael Boder Inszenierung: K ­ irsten Harms


TOSCA – Giacomo Puccini Eine Operndiva und ein Kunstmaler müssen ihre Liebe inmitten eines totalitären Regimes behaupten. Ein Polit-Thriller aus der Zeit der Napoleonischen Eroberung, zu sehen in einer klassischen Inszenierung. 21., 24. Oktober 2017; 5., 12. Januar 2018 Musikalische Leitung: John Fiore Inszenierung: B ­ oleslaw Barlog © Matthias Horn

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DIE HOCHZEIT DES FIGARO – Wolfgang Amadeus Mozart Eine der vollkommensten musikalischen Komödien der Operngeschichte: Figaro und Susanna, Bedienstete am Hofe des Grafen Almaviva, wollen heiraten, doch die Dinge geraten außer Kontrolle … 10., 15., 21., 28. Dezember 2017 Musikalische Leitung: Nicholas Carter Inszenierung: ­Götz Friedrich

Raum für experimentelles Musiktheater Die Tischlerei: altersgerechtes, facettenreiches Angebot vom Baby- und Knirpskonzert über zeitgenössisches Kindermusiktheater. Spielstätte für neue Formen von Oper jenseits des Repertoires. Ort für Uraufführungen, Installationen und Bearbeitungen.

Tischlerei-Tipps Babykonzerte [0 – 2 Jahre] Klingendes Abenteuer für die Jüngsten 28. – 30. September; 6. – 8. Dezember 2017 Konzept: Anna von Gehren, Tamara Schmidt Knirpskonzerte [3 – 4 Jahre] Mitmachkonzert für Kleinkinder 8. – 10. Oktober 2017 Konzept: Anna von Gehren, Tamara Schmidt DAS GEHEIMNIS DER BLAUEN HIRSCHE [ab 5 Jahren] 23. – 27. November 2017 Regie, Konzept: Annechien Koerselman

DER BARBIER VON SEVILLA – Gioacchino Rossini Graf Almaviva sucht Hilfe beim beliebtesten Friseur der Stadt, Figaro, denn er liebt Rosina, die wiederum von ihrem Vormund bewacht wird. Eine bunte, rasante Komödie. 1., 6. Oktober; 26., 30. Dezember 2017; 13. Januar 2018 Musikalische Leitung: Ido Arad [Okt] / Nikolas Nägele Inszenierung: K ­ atharina Thalbach

Tischlereikonzerte Von den Musikern zusammengestellte moderierte Programme, die sich thematisch an den Premieren der Saison 17 / 18 orientieren. 16. Oktober; 20. November 2017; 8. Januar 2018 JAZZ & LYRICS Jazz-Konzerte mit Musik und Texten, Biografischem und Poetischem. Meet & Greet in der anschließenden Artists’ Lounge. 19. November; 10. Dezember 2017; 14. Januar 2018 AUS DEM HINTERHALT Late-Night-Performance zur Großen Oper 2. Dezember 2017 – LE PROPHÈTE Konzept, Künstlerische Leitung: Alexandra Holtsch Mit Ole Wulfers, NU Unruh

Infos, Tickets, Trailer auf www.deutscheoperberlin.de

Deutsche Oper Berlin Bismarckstraße 35, 10627 Berlin Karten und Infos 030-343 84 343 www.deutscheoperberlin.de Tischlerei [Eingang: Richard-Wagner-Straße / Ecke ­Zillestraße] Einlass ab 30 Minuten vor Beginn

FRANKENSTEIN Musiktheater nach Mary Shelley Uraufführung am 30. Januar 2018 Gordon Kampe, Paul Hübner Komposition, Maximilian von Mayenburg Inszenierung

Kasse mit Abo-Service [Eingang: Götz-Friedrich-Platz oder Bismarckstraße 35] Mo bis Sa 11.00 Uhr bis 1,5 Stunden vor der Vorstellung; an freien Tagen bis 19.00 Uhr; So 10.00 – 14.00 Uhr

Abendkasse ohne Abo-Service [Bismarckstraße 35] 1 Stunde vor Beginn Anfahrt U2 Deutsche Oper / U7 Bismarckstraße Buslinien: 101 und M49 Parkhaus Deutsche Oper


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