Deutsche Oper Berlin | Magazin September 2014 – Januar 2015

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Deutsche Oper September 2014 – Januar 2015 | Spielzeit 2014 / 2015

Magazin In Kooperation mit

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Inhalt

4 Eine Frage der Schuld Der Komponist Iannis Xenakis und seine ORESTEIA 8 Heilige mit Geheimnis Mit DIE SCHÄNDUNG DER LUCRETIA setzt die Deutsche Oper Berlin ihren gefeierten Britten-Zyklus fort 10 Die Kraft der Verzweiflung Die Sopranistin Evelyn Herlitzius singt die Titelpartie in Dmitrij Schostakowitschs LADY MACBETH VON MZENSK 14 Der Star aus der Spandauer Straße Giacomo Meyerbeer und Berlin 18 Das Béjart Ballet Lausanne zeigt drei seiner berühmtesten Produktionen im Tempodrom 22 Matthew Herbert in der Tischlerei 24 IN TRANSIT verrät, was Opernsänger tun, wenn sie nicht singen 28 Repertoire-Tipps und Service

Das Deutsche Oper Magazin der Deutschen Oper Berlin ist eine Beilage der Tageszeitung Der Tagesspiegel Berlin © 2014 Herausgeber Deutsche Oper Berlin Vermarktungs GmbH Richard-Wagner-Straße 10 10585 Berlin Redaktion Dramaturgie / verantwortlich: Jörg Königsdorf [Deutsche Oper Berlin] Ulrich Amling [Der Tagesspiegel] Gestaltung Benjamin Rheinwald Produktion Möller Druck Die Rechtschreibung folgt den Vorlagen.

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3 2 © Marcus Lieberenz

Jörg Königsdorf Chefdramaturg, Deutsche Oper Berlin

Liebe Freunde und Freundinnen der Deutschen Oper Berlin, wie kaum ein anderes Opernhaus wird die Deutsche Oper Berlin mit ihrer architektonischen Gestalt identifiziert. Selbst diejenigen, die sich lieber einen klassischen Säulenportikus gewünscht hätten, müssen anerkennen, dass Fritz Bornemanns Bau unverwechselbar ist und das Gesicht dieser Stadt mitgeprägt hat. In dieser Spielzeit aber findet die Deutsche Oper Berlin zunächst nicht hinter dem markanten Waschbetonriegel, sondern anderswo statt: Während auf der Hauptbühne eine neue Obermaschinerie eingebaut wird, geben dort nicht Stimmen und Instrumente, sondern Hämmer und Bohrmaschinen den Ton an. Am 27. November soll die große Bühne wieder mit einer Vorstellung von Tschaikowskijs DER NUSSKNACKER in Betrieb genommen werden, doch bis dahin laden wir Sie herzlich ein, mit uns andere Opernspielorte in dieser Stadt zu entdecken. Denn auch wenn Vorstellungen auf der großen Bühne natürlich das Herz eines jeden Opernbetriebs sind, war Oper schon immer weit mehr: Nicht nur, dass es Oper schon gab, bevor man Opernhäuser baute – Komponisten und Theatermacher haben in ihrer Fantasie und ihrem Erfindungsgeist immer über die klassische Guckkastenbühne hinausgedacht und sich von anderen realen oder imaginären Spielorten inspirieren lassen. Als solchen Ort, wo ein anderes Musiktheater möglich sein soll, haben wir seit November 2012 unsere Tischlerei. Im September präsentieren wir hier beispielsweise mit Matthew Herbert einen der spannendsten britischen Klangkünstler. Und natürlich sind wir auch wieder in der Philharmonie zu Gast, die mit ihrer wunderbaren Akustik ein großartiger Spielort für konzertante Opern ist. Bei der Durchsicht unseres Spielplans werden Sie jedoch auch weniger vertraute oder zumindest für Musiktheater ungewöhnliche Orte entdecken: Das Parkdeck der Deutschen Oper beispielsweise, das wir mit Iannis Xenakis’ Open-AirGriechenoper ORESTEIA bespielen werden, oder auch das Tempodrom, wo wir zusammen mit dem Béjart Ballet Lausanne drei der berühmtesten Arbeiten des Jahrhundertchoreografen

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zeigen. Oder auch das Haus der Berliner Festspiele, in dem wir mit DIE SCHÄNDUNG DER LUCRETIA unseren gefeierten Britten-Zyklus fortsetzen. Diese „Auswärtssaison“, wie wir die Umbauphase getauft haben, ist für uns jedoch nicht nur ein Anstoß, in die Stadt hinauszugehen, sondern auch einen der bedeutendsten Musiker zu würdigen, den Berlin hervorgebracht hat: Giacomo Meyerbeer, den Vollender der Grand Opéra, dessen 150. Todestag in diesem Jahr begangen wird. Neuproduktionen von Meyerbeers Meisterwerken werden in den kommenden Jahren eine wichtige Größe im Spielplan der Deutschen Oper Berlin sein – als Ouvertüre zu diesem Meyerbeer-Zyklus präsentieren wir in diesem Jahr eine konzertante Aufführung seiner DINORAH sowie ein Symposion, das sich der Eigenart seiner Musik sowie ihrer wechselvollen Rezeptionsgeschichte zwischen Welterfolg und fast völligem Vergessen widmet. So aufregend diese Auswärtssaison für uns – und hoffentlich auch für Sie – ist, sind wir natürlich trotzdem froh, wenn wir wieder Vorstellungen auf unserer Hauptbühne zeigen können. Die Deutsche Oper Berlin wird dann technisch eines der bestausgestatteten Opernhäuser Europas sein und es den Produktionsteams ermöglichen, ihre künstlerischen Visionen bestmöglich umzusetzen. Die erste Neuproduktion, der das zugute kommt, wird Schostakowitschs LADY MACBETH VON MZENSK sein. Die Titelpartie von Schostakowitschs Meisterwerk ist in ihrer charakterlichen Komplexität eine Herausforderung. Mit Evelyn Herlitzius wird eine der charismatischsten Sängerdarstellerinnen unserer Tage die Katerina Ismailowa auf unserer Bühne verkörpern. Wir freuen uns auf Sie,

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Oresteia Iannis Xenakis [1922 – 2001] Premiere:

9. September 2014 Weitere Vorstellungen: 12., 13., 15., 16. September 2014 Auf dem Parkdeck Deutsche Oper

Fotografie: Sascha Weidner

Musikalische Leitung Moritz Gnann Inszenierung David Hermann Bühne, Kostüme Christof Hetzer Video Clara Pons Licht Ulrich Niepel Chöre William Spaulding Kinderchor Christian Lindhorst Dramaturgie Sebastian Hanusa Mit Michael Hofmeister, Seth Carico, Andrew Harris u. a.; Chor, Kinderchor und Orchester der Deutschen Oper Berlin

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David Hermann inszeniert Iannis Xenakis’ ORESTEIA auf dem Parkdeck Deutsche Oper

Eine Frage der Schuld Jeder Regisseur hat eine Wunschliste von seltenen Stücken, die er in der Hoffnung mit sich herumträgt, sie irgendwann einmal realisieren zu können. Bei David Hermann stand Iannis Xenakis’ ORESTEIA lange ganz weit oben auf der Liste und es war kein Wunder, dass er sofort dieses Stück vorschlug, als er nach dem Erfolg von Lachenmanns DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN über eine weitere Zusammenarbeit redete. Und schnell war auch der passende Ort für das Stück gefunden: Weil die Hauptbühne der Deutschen Oper Berlin wegen des Einbaus der neuen Obermaschinerie nicht zur Verfügung steht, schauten sich Hermann und sein Bühnenbildner Christof Hetzer einfach im Umfeld des Hauses um und wurden auf dem Deck des Parkhauses der Deutschen Oper fündig. Warum das für eine Freiluftaufführung konzipierte Stück nicht auch open air spielen? Zumal die gigantischen Stahltore des Kulissen-Magazins ein starkes Theaterzeichen für den Atriden-Palast darstellen. Wir, die Zuschauer, werden in Hermanns Inszenierung zum Volk, unter das sich der Chor mischt. Die gewaltigen Betonmauern werden transparent, wenn Kassandra, die Seherin, der niemand glaubt, die Morde vorhersagt. Mitten unter uns tanzen sich Orest und Elektra in Blutrausch. Die Erinnyen rütteln an den Absperrgittern und überfallen uns mit ihrer Forderung, den Muttermörder zu erschlagen. Athene predigt als moderne Politberaterin demokratische Deeskalation und erntet die aus den Nachrichten bekannte Ratlosigkeit. David Hermann fasziniert an Xenakis’ ORESTEIA, dass hier der komplette Stoff der antiken Tragödien-Trilogie des Aischylos in einer guten Stunde verarbeitet, konzentriert und zu einem hochemotionalen und klanggewaltigen Musiktheater verdichtet wird. Dessen Partitur entstand aus der außergewöhnlichen Verbindung von Avantgarde und Freiluftspektakel, von radikaler Moderne und glühendem Interesse für die Kultur des antiken Griechenlands. Am Beginn der Entstehungsgeschichte steht die Initiative kulturell engagierter Bürger im Mittleren Westen der USA. In der Kleinstadt Ypsilanti, in Michigan auf halbem Weg zwischen Detroit und der Universitätsstadt Ann Arbor gelegen, entdeckte man in den 60er Jahren, dass die Stadt nach dem griechischen Freiheitskämpfer Demetrios Ypsilanti [1793 –1832] benannt sei. Er hatte 1829 im Freiheitskampf den entscheidenden Sieg über das Osmanische Reich errungen und wurde nun zum Patron des Plans, ein

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„amerikanisches Epidauros“ zu schaffen: Ein Festspielhaus sollte errichtet werden, um in sommerlichen Antiken-Festspielen die Dramen des alten Griechenlands zur Aufführung zu bringen. Als künstlerischer Kopf des Unternehmens wurde der griechische Regisseur Alexis Solomos gewonnen, der 14 Jahre lang das Athener Nationaltheater geleitet hatte und als einer der damals erfolgreichsten Regisseure des Epidauros-Festivals ein Garant für „griechische Authentizität“ war. Die erste Spielzeit der Festspiele 1966 wurde Ende Mai mit Aristophanes’ „Die Vögel“ eröffnet, am 14. Juni folgte die Premiere der ORESTEIA von Aischylos, mit einer von Iannis Xenakis komponierten Schauspielmusik. Gespielt wurde open air im provisorisch hergerichteten Baseball-Stadion von Ypsilanti, da das eigentlich geplante Festspielhaus noch nicht gebaut war – und auch nie gebaut wurde, da das Festspielunternehmen bereits nach der zweiten Spielzeit Konkurs anmelden musste. Immerhin kam es noch zu einem Gastspiel der ORESTEIA-Produktion in Paris, der Stadt, die seit 1947 Lebens- und Arbeitsmittelpunkt des 1922 geborenen Iannis Xenakis war. Als Kind griechischer Eltern war dieser im rumänischen Brăila geboren worden. Nach dem frühen Tod der Mutter verbrachte er aber den Großteil seiner Kindheit und Jugend in einem Internat in Griechenland. Er entwickelte umfassende musische, philosophische und naturwissenschaftliche Interessen, studierte dann aber zwischen 1940 und 1946 in Athen Bauingenieurswesen und schloss dieses Studium mit Diplom ab. Nach der Okkupation Griechenlands 1941 unterstützte er den Widerstand, trat später der kommunistischen Partei Griechenlands bei und beteiligte sich nach Abzug der Wehrmacht Ende 1944 aktiv auf Seiten der Kommunisten am griechischen Bürgerkrieg. Im Januar 1945 wurde er schwer verwundet, verlor sein linkes Auge und war in der linken Gesichtshälfte fortan entstellt. Zwei Jahre später musste er, inzwischen in Abwesenheit zum Tode verurteilt, das Land verlassen. Er ging nach Paris ins Exil und konnte erst nach dem Ende der griechischen Militärdiktatur und der Aufhebung des Todesurteils 1974 wieder zurückkehren. In Paris verdiente Xenakis sich zunächst seinen Lebensunterhalt als Ingenieur und später auch als künstlerischer Mitarbeiter im Büro des Architekten Le Corbusier. Parallel dazu nahm er musikalische Studien unter anderem bei Arthur Honegger und Olivier Messiaen auf. Mit der Uraufführung des Orchesterstücks „Metastasis“ gelang ihm 1955 der Durchbruch und in den Folgejahren etablierte sich Xenakis als einer der wichtigsten Vertreter der

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musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Mit der Anwendung mathematischer Modelle zur Komposition einer enorm kraftvollen Musik erschloss Xenakis bislang unbekannte Klangwelten. Zugleich entstand in der öffentlichen Wahrnehmung aber das Bild des „Mathematiker-Komponisten“, während andere Aspekte seiner künstlerischen Arbeit, wie etwa die intensive Beschäftigung mit der griechischen Antike, drohten, darüber in den Hintergrund gedrängt zu werden. So prägte die Beschäftigung mit den beiden großen Antipoden der vorsokratischen Philosophie, Parmenides und Heraklit, Xenakis’ Überlegungen zu Musiktheorie und künstlerischem Schaffensprozess. Die Schriften des antiken Musiktheoretikers Aristoxenos waren Inspirationsquelle für die Entwicklung von Skalen abseits der Dur-Moll-Tonalität, mit denen er, unter Verwendung von Drittel- und Vierteltönen, auch in der ORESTEIA gearbeitet hat. Zeit seines Lebens vertonte Xenakis zudem antike Literatur. Bereits in einem seiner ersten Jugendwerke vertonte er Gedichte von Sappho, 1962 folgte die Uraufführung von „Polla ta Dhina“, der Vertonung eines Chorliedes aus Sophokles’ „Antigone“. 1964 beauftragte Alexis Solomos den Komponisten, die Chorlieder seiner Inszenierung der „Schutzflehenden“ des Aischylos im antiken Theater von Epidauros zu vertonen und zwei Jahre später wurde die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der ORESTEIA in Ypsilanti fortgesetzt. 1967 entstand die Musik zu Senecas „Medea“ in der Pariser Inszenierung Jorge Lavellis, in den 70er Jahren folgten Kompositionen von Chorliedern aus „Ödipus auf Kolonos“ und „Helena“, 1993 wurde das Musiktheater LES BACCHANTES D‘EURIPIDE [DIE BAKCHEN DES EURIPIDES] uraufgeführt und für die Eröffnung der Olympischen Spiele war in Zusammenarbeit mit Robert Wilson ein Prometheus-Projekt geplant. Xenakis’ Alzheimer-Erkrankung und sein Tod 2001 ließen das Projekt nicht mehr reifen. Iannis Xenaki © akg images

Boris Kehrmann lebt als Musik- und Theaterpublizist in Berlin. Zahlreiche internationale Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Fachmedien. Demnächst erscheint sein Buch über „Walter Felsenstein im Dritten Reich“.

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Die Schauspielmusik der ORESTEIA erfuhr über die Jahre mehrere Revisionen hin zur endgültigen, an der Deutschen Oper gespielten Fassung. Bereits 1967 entstand eine Konzertfassung für Chor und Kammerorchester. Statt der englischen Übersetzung wurden nun die altgriechischen Originaltexte verwendet, ansonsten folgt das Stück mit den drei Teilen „Agamemnon“ – „Choephoren“ – „Eumeniden“ dem Ablauf, Aufbau und Inhalt der Dramentrilogie. Eine Besonderheit dabei ist, dass die Partitur mit der Vertonung zentraler Passagen des Dramentextes eine umfangreiche Chorpartie enthält. Solopartien im engeren Sinne gibt es jedoch nicht. Vielmehr werden die Texte der Solisten etwa im langen Dialog von Elektra und Orest im zweiten Teil des Stückes, kurz vor der Tötung der Mutter Die Handlung der Oper Klytämnestra und ihres Liebhabers Aigisthos, von zwei sich aus dem Chor herauslösenden SolistenIn Argos wartet das Volk seit zehn Jahren auf gruppen gesprochen. Und an anderen Stellen stedie Rückkehr seines Königs Agamemnon aus hen rein instrumentale Partien für gewisse Handdem Trojanischen Krieg. Der hatte seine Tochlungsmomente – und fordern damit die Phantasie ter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert, damit des Regisseurs. diese nicht weiter mit ungünstigen Winden den Zwanzig Jahre später überarbeitete Xenakis das Aufbruch der griechischen Flotte verhindere. Stück erneut und holte es damit auf die FreiluftWährend Agamemnons Abwesenheit ist seine bühne zurück. 1987 inszenierte Iannis Kokkos Frau Klytämnestra eine Liaison mit dessen VetORESTEIA im sizilianischen Gibellina. Für den ter Aigisthos eingegangen. Um den Tod IphigeBariton Spyros Sakkas, mit dem Xenakis eine nies zu rächen und gemeinsam den Thron zu langjährige Zusammenarbeit verband, fügte er besteigen, ermorden die beiden Agamemnon in der neu komponierten Kassandra-Szene in bei dessen siegreicher Rückkehr aus dem Tro„Agamemnon“ eine Solopartie hinzu. Kassandras janischen Krieg. Jahre später tötet wiederum Vision der bevorstehenden Morde wird von ihm Orestes, der Sohn Agamemnons, Mutter und als hochvirtuoses Selbstgespräch des Solisten Onkel, um den Tod des Vaters zu rächen. Fortan komponiert. Lediglich begleitet von einem Schlagwird der Muttermörder von den Erinnyen, archazeuger und einem Psalterion, einer Art Zither, die ischen Rächegöttinen, verfolgt. Erst das Einaltgriechischen Instrumenten nachempfundenen greifen Athenes erlöst Orestes, indem sie ihn ist, wechselt der Sänger permanent zwischen von einem neu geschaffenen Gerichtshof der Bruststimme und Falsett, im Dialog zwischen der Menschen freisprechen lässt und die Erinnyen Seherin Kassandra und dem Chor. Wiederum fünf in wohlmeinende Eumeniden verwandelt. Jahre später kam im Auftrag des Griechischen

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Rundfunks eine weitere Soloszene hinzu. Es ist der Auftritt Athenes im dritten Teil, den „Eumeniden“. Diese Partie ist ebenfalls für einen Bariton komponiert, der zwischen Kopf- und Bruststimme wechselnd das Doppelwesen der Göttin verdeutlicht. Mit der Musik der ORESTEIA versucht Xenakis keine Rekonstruktion antiker Musik. Vielmehr ist die Komposition durch und durch Xenakis, wenngleich er in der Partitur ältere Traditionslinien reflektiert – um sie auf seine sehr persönliche Weise neu zu verarbeiten. So knüpft er an die bedeutende Rolle des Chores in der antiken Tragödie an, indem dieser in seiner Vertonung zur eigentlichen Hauptfigur wird. Die Psychologie von Massenphänomenen wird dabei ebenso zum Thema wie die Dramaturgie ihrer Energieverläufe und ihrer Eigendynamik. Dies betrifft die Agonie, in der das kriegsmüde Volk von Mykenae auf das Ende des Trojanischen Kriegs und die Heimkehr ihres Königs Agamemnon wartet, den Blutrausch, in den es sich gemeinsam mit Elektra und Orest vor der Ermordung Klytämnestras hineinsteigert, die archaische Wut der Erinnyen, die den Muttermörder Orest verfolgen und schließlich auch den wilden Jubel, mit dem am Schluss des Stückes der Schiedsspruch Athenes gefeiert wird – und der zugleich die Frage offen lässt, ob hier wirklich der Sieg einer demokratischen, auf Konsens gegründeten neuen Ordnung gefeiert werden darf. Zur Vertonung dieser großen Chorszenen bedient sich Xenakis eines breiten Repertoires musikalischer Mittel. Es wird in einer Art Psalmodie gesungen, die an byzantinische Kirchenmusik erinnert, es gibt blockartige, in einer ganz eigenen Quart- und Quintharmonik ausgesetzte Chorsätze, es wird chorisch gesprochen und im dritten Teil des Stückes wird vom Frauenchor – den Erinnyen – wild geschrien. Um hier die Dichte der Klangereignisse zu multiplizieren, gab Xenakis allen Chorsängern und Instrumentalisten bis zu drei Schlaginstrumente in die Hand: Triangel, Tambourine, Sirenen, Peitschen, Maracas, sowie Holz- und Metallplatten. Im Kontrast hierzu steht der Kinderchor, der mit der von Athene erwirkten Verwandlung der lärmenden Erinnyen in die wohlmeinenden, segenspendenden Eumeniden einsetzt und, wie im

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Einleitungschoral der „Matthäus-Passion“, als beruhigender Cantus firmus über das übrige Klanggeschehen gelegt wird. Dem Chor steht ein Kammerorchester zur Seite, das mit Holz- und Blechbläsern, einem umfangreichen Schlagwerk sowie einem Solo-Violoncello besetzt ist. Auch hier ist es die Bandbreite musikalischen Ausdrucks im Rahmen einer dezidiert modernen Klangwelt, mit der diese Partitur besticht. In harten Orchesterschlägen oder dichten, schwarmartig organisierten Klangfeldern entfaltet Xenakis die ganze Wucht des ihm zur Verfügung stehenden Instrumentariums. Dann aber dünnt er den Orchestersatz aus, so dass nur noch einzelne Soloinstrumente übrig bleiben wie etwa die in höchster Lage geführte Oboe, mit der Xenakis den Klang des antiken Blasinstruments Aulos nachempfindet – oder die Piccoloflöte, die Verwandte der griechischen Souravli. Daneben finden sich Passagen, in denen mit exzessivem Schlagzeugeinsatz der Muttermord Orests begleitet wird oder wo mit Gongs, Glasglocken und wenigen Piano-Tönen der tiefen Holzbläser ein ätherisch-transzendentes Klangbild des Heiligen Hains von Delphi gezeichnet wird, in dem Orest Zuflucht vor den Erinnyen sucht. Vom Baseballstadion in Ypsilanti über die Freiluftaufführung im sizilianischen Gibellina, über Aufführungen als archaisch-mythologisches Ballett in der Choreographie Joachim Schlömers 1993 in Ulm, als surreale Bildersinfonie 1995 im griechischen Epidauros in der Regie Dimitris Papaioannous oder als Spektakel vor mehreren Tausend Zuschauern auf dem Wiener Karlsplatz 2011 in der Regie Carlos Padrissas: Xenakis’ ORESTEIA, explizit komponiert für eine Freiluftaufführung, ist ein Werk, das nach ungewöhnlichen Spielorten und szenischen Lösungen verlangt. Und es ist ein Stück, das die archaische Kraft und zeitlose Aktualität von Aischylos’ Tragödien in die Moderne transferiert.

Boris Kehrmann

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Die Schändung der Lucretia Benjamin Britten [1913 –1976] Premiere:

14. November 2014 Weitere Vorstellung: 16. November 2014

Fotografie: Sascha Weidner

Musikalische Leitung Nicholas Carter Inszenierung Fiona Shaw Bühne Michael Levine Kostüme Nicky Gillibrand Licht Paul Anderson Mit Ingela Brimberg, Thomas Blondelle, Katarina Bradić u. a.; Orchester der Deutschen Oper Berlin

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9 Diese Inszenierung gleicht einer archäologischen Ausgrabung. Ein Mann und eine Frau suchen nach der historischen Wahrheit und ihrer Deutung für die Gegenwart. Tatsächlich wühlen sie in der Erde eines römischen Feldlagers und finden Indizien für die Vergewaltigung einer jungen Frau. Sie kommentieren die Fundstücke und wollen verstehen, wie es zu der Tat kam und was die Folgen waren. Benjamin Brittens rätselhafte Kammeroper DIE SCHÄNDUNG DER LUCRETIA entstand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und die Regisseurin Fiona Shaw spürt die Nachwirkungen ganz deutlich in der Partitur: „Die Oper wurde 1946 in Glyndebourne mit Kathleen Ferrier in der Titelrolle uraufgeführt. Während des Kriegs waren dort Flüchtlinge einquartiert, die immer wieder die deutschen Bomber im Anflug auf die Südküste hörten. Kurz vor der Uraufführung hatte Benjamin Britten das Konzentrationslager Bergen-Belsen besucht, und die Verstörung durch diese Erlebnisse ist in der Oper hörbar.“ Wie der Chor in der griechischen Tragödie kommentieren der Mann und die Frau das Geschehen der Oper und verleihen dem Suizid der „geschändeten“ Lucretia eine christliche Bedeutung. Aber welche? Entspricht die Selbsttötung dem Opfertod einer christlichen Heiligen, die sich in den Dienst einer höheren Sache stellt? Oder ist es die private Verzweiflung über die Zerstörung des eigenen Selbstbildes und Lebensentwurfs? Fiona Shaw betont in ihrer Deutung, wie fasziniert Lucretia von ihrem späteren Vergewaltiger ist. Ihre Verzweiflung nach der Tat resultiert auch aus der brutalen Enttäuschung, aus der Zerstörung ihres Traums. Hier ist Lucretia kein Marmorabbild vorbildlicher Tugend, sondern eine junge Frau, die sich von der körperlichen Intensität der Soldaten durchaus faszinieren lässt. Auch das Paar der kommentierenden Beobachter wird emotional immer tiefer in die Handlung hineingezogen. Die irische Regisseurin Fiona Shaw hat viel Erfahrung mit klassischen Stoffen. Als eine der profiliertesten Schauspielerinnen der Britischen Inseln trat sie in vielen Theaterproduktionen und Filmen auf. Am bekanntesten ist sie wahrscheinlich als Tante Petunia Dursley in den „Harry Potter“-Verfilmungen, wo sie auch ihr komödiantisches Talent zeigen konnte, ebenso wie in „Undercover Blues“ und in der Spielfilmfassung der Fernsehserie „Mit Schirm, Charme und Melone“. Aber Fiona Shaw steht schon seit geraumer Zeit nicht nur als Darstellerin auf der Bühne oder vor der Kamera, sie schreibt auch über ihre Erlebnisse. Das Tagebuch eines Klosteraufenthalts wurde mit großem Erfolg als Hörspiel von der BBC gesendet. In ihrer Inszenierung der Kammeroper DIE SCHÄNDUNG DER LUCRETIA deutet sie nun den Begriff der Vergewaltigung als Zerstörung und Selbstzerstörung in allen Lebensbereichen, die von der militärischen Logik erfasst werden. „Wenn man sich das Lebensgefühl der Nachkriegszeit vergegenwärtigt, wird klar, wie mutig Britten gerade mit dieser Oper war. Nicht nur, dass Lucretia vergewaltigt wird, auch ihre Ehe und ihre Zukunft werden brutal und gedankenlos vernichtet. Mit Lucretias Entscheidung, den Tod zu wählen, zerstört sie auch die Zukunft ihres Ehemannes [und in meiner Inszenierung auch ihres Kindes]. Aber in dem Werk verbirgt sich auch die ganze Komplexität des menschlichen Daseins. Es geht um die dunkle Seite des Bewusstseins, die dem Duett Lucretias mit ihrem Mann entgegengesetzt wird, in dem es fast so scheint, als könne sie den Die Handlung der Oper Schock der Vergewaltigung vergessen und zu ihm zurückkehren. Brittens großartige Musik verstärkt Lucretia, Gemahlin des römischen Generals den Schrecken ihres Suizids.“ Die Oper endet mit Collatinus, liebt ihren Mann und ist ihm treu. Der der verstörenden Frage „Ist das alles?“ Bei der Zyniker Tarquinius, ein etruskischer Adeliger, Beantwortung können auch die christlichen Komglaubt nicht an Werte wie Treue und Hingabe. mentatoren des Geschehens kaum helfen, auch Um sie auf die Probe zu stellen, wartet er ab, bis sie vermögen das Chaos der gewalttätigen GeCollatinus wegen einer Reise abwesend ist, und schichte nicht zu ordnen. Ihre Deutung als christverschafft sich unter einem Vorwand Zutritt zu liches Heilsgeschehen wirkt eher wie die verzweiihrem Haus. Zunächst versucht er sie zu verfühfelte Autosuggestion des tiefgläubigen Komporen. Als das scheitert, vergewaltigt er sie. Collanisten Benjamin Britten, der die Frage letztlich an tinus, dem Lucretia am nächsten Tag von der uns weiterreicht. Tat berichtet, reagiert verständnisvoll. Lucretia aber kann das Gefühl der Schande nicht überwinden und nimmt sich das Leben. Uwe Friedrich

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Mit DIE SCHÄNDUNG DER LUCRETIA setzt die Deutsche Oper Berlin ihren gefeierten Britten-Zyklus fort

Heilige mit Geheimnis

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Lady Macbeth von Mzensk Dmitrij Schostakowitsch [1906 –1975] Premiere:

25. Januar 2015 Weitere Vorstellungen: 29., 31. Januar; 5., 14. Februar 2015

Fotografie: Sascha Weidner

Musikalische Leitung Donald Runnicles Inszenierung Ole Anders Tandberg Bühne Erlend Birkeland Kostüme Maria Geber Licht Ellen Runge Chöre William Spaulding Dramaturgie Jörg Königsdorf Mit Evelyn Herlitzius, John Tomlinson, Maxim Aksenov u. a.; Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Koproduktion mit dem Königlichen Opernhaus Oslo

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Evelyn Herlitzius © privat

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Die Sopranistin Evelyn Herlitzius singt die Titelpartie in Dmitrij Schostakowitschs LADY MACBETH VON MZENSK

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Die Kraft der Verzweiflung

Frau Herlitzius, Sie singen unter anderem die Elektra von Richard Strauss, Turandot von Giacomo Puccini, die Lady Macbeth von Giuseppe Verdi und die Lady Macbeth von Mzensk von Dmitrij Schostakowitsch. In diesen Rollen verkörpern Sie Frauenfiguren am Rande des Nervenzusammenbruchs, die kaum sympathisch wirken. Wie finden Sie einen Zugang zu diesen Rollen? Das klingt mir ein bisschen zu hysterisch. Es ist ja ein gern gepflegtes Vorurteil den dramatischen Rollen des angehenden 20. Jahrhunderts gegenüber, dass diese Frauen alle mehr oder weniger verrückt sind. Da spuken die Ideen Sigmund Freuds noch immer sehr stark in unseren Köpfen herum, vielleicht etwas zu stark. Das sind Frauen, denen es nicht gut geht, das ist klar. Sie bekommen entweder ihr Leben nicht auf die Reihe oder sie befinden sich in einer Position, in der sie ihre Probleme nicht lösen können, weil die gesellschaftliche Situation sie gefangen hält. Ich wehre mich aber stark dagegen, einfach zu sagen „die haben alle ‘nen Knall“. Das macht diese Schicksale zu schmal. Katerina Ismailova, also Schostakowitschs Lady Macbeth, ist ein einfaches Mädchen vom Land, das an einen reichen Kaufmann verheiratet wird. Sie ist nun dem Gewaltsystem in dieser Familie vollkommen ausgeliefert. Bis dahin hat sie wahrscheinlich ein freies Leben geführt, hat schwer gearbeitet, ist ziemlich ungebildet, hat aber eine Zufriedenheit in der Natur gefunden. Jetzt darf sie aus dem Hof der Familie nicht mehr raus, sie darf keinen Schritt mehr alleine machen, ist der brutalen Kontrolle ihres Schwiegervaters ausgesetzt. Das muss man erst mal aushalten. Ihr fehlt die Fähigkeit zur Innenschau, sie kann ihre Energien nicht umleiten. Ein anderer Mensch würde vielleicht die Bibel lesen, eine Sprache lernen oder meditieren. Irgendwann hält sie diesem Druck nicht mehr Stand. Alle ihre Hoffnungen auf ein Leben in Liebe, eine Die Handlung der Oper erfüllte Sexualität und ein Kind sind zerstört und sie weiß sich nicht anders zu helfen, als ihre Peiniger durch Mord zu beseitigen. Das Schicksal der jungen Kaufmannsfrau Katerina Ismailowa steht im Zentrum von Schostakowitschs 1934 uraufgeführter Oper: Nachdem Offenbar haben Sie für sich selbst ein Psysie sich in den Arbeiter Sergej verliebt hat, erchogramm dieser Frau entworfen. Machen mordet Katerina zuerst ihren herrschsüchtigen Sie das bei jeder Rolle? Wie lange nehmen Schwiegervater, dann auch ihren Ehemann. Als Sie sich Zeit für eine neue Partie? sie auf dem Weg in die Verbannung mitansehen Das mache ich immer. Nur so kann ich den Chamuss, wie ihr Geliebter sich einer anderen Frau rakter verstehen, den ich auf der Bühne darstellen zuwendet, reißt sie diese mit sich in den Tod. möchte. Und wenn der Regisseur eine andere

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Vorstellung von dem Charakter hat, dann muss man diskutieren. Und zwar so lange, bis die verschiedenen Vorstellungen in Einklang gebracht werden können. Ich gehe immer sehr gut vorbereitet in die Proben, damit ich für solche Gespräche gewappnet bin. Für diese und für die musikalische Vorbereitung nehme ich mir so viel Zeit wie möglich. Bei Elektra hat das zwei Jahre gedauert. Körper und Seele müssen jeden einzelnen Schritt erfassen. Wie komme ich von dieser Entwicklungsstufe zur nächsten? Das kann man nicht schnell lernen. Wenn man den Stil des Komponisten kennt, geht es vielleicht ein bisschen schneller, aber anderthalb Jahre sind das Mindeste. Die Vorstellungen mit den anderen Rollen laufen ja währenddessen weiter, so dass auch nicht immer Zeit ist, um sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Eine andere Katerina, nämlich Leoš Janáčeks Katja Kabanova wendet eine ähnliche Situation nach innen und flüchtet schließlich in den Suizid, ohne sich vorher gewehrt zu haben. Die Geschichte der Katerina Ismailova könnte also auch als die einer starken Frau erzählt werden, die ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt, wenn auch mit schrecklichen Folgen. Ja, so könnte man das sehen. Es ist eine Frage des Charakters und der inneren und äußeren Möglichkeiten, wie wir unsere Träume umsetzen. Viele der Frauen, die ich auf der Bühne darstelle, können aus ganz verschiedenen Gründen ihre Stärke nicht ausleben. Diese Energie sucht sich dann einen Weg. Ob das die Färberin in der FRAU OHNE SCHATTEN von Richard Strauss ist oder Ortrud in Wagners LOHENGRIN, diese Frauen haben einen sehr starken Willen und wehren sich gegen ein Umfeld, in dem sie ihre Vorstellungen nicht umsetzen können. Nur Klytämnestra halte ich wirklich für hysterisch. Aber diese Rolle kommt erst später dran. Auf der Bühne strahlen Sie immer große Energie aus, woher nehmen Sie diese Kraft? Wie wichtig sind die Sängerkollegen auf der Bühne? Die Energie muss aus mir selbst kommen. Es gibt keine andere Quelle. Wenn man Glück hat, hat man Sängerkollegen und einen Dirigenten, die einem entgegenkommen und mit denen sich wie beim Tennis ein Schlagabtausch ergibt, bei dem die Mitspieler die Energie des Gegenübers nutzen können, um selbst Schwung zu gewinnen. Wenn das passiert, ist es ein großes Geschenk, weil dann viel Nähe stattfindet und auch sehr viel Unvorhergesehenes. Dann lebt die Musik in einer ganz anderen Weise auf. Wie diese Energie in mich hinein gekommen ist, das kann ich gar nicht sagen. Jeder Mensch hat ein eigenes Energieniveau und auch eine eigene Art, das auszuleben. Wer dramatische Rollen überzeugend auf die Bühne bringen will, braucht eine gute Kondition und außerdem auch psychische Kraft. Sonst geht das einfach nicht. Phantasie ist auch hilfreich. Meine Umgebung hat manchmal Probleme mit meinen sprunghaften Gedanken. Beim Erarbeiten einer Rolle fallen mir Klänge, Farben und Stimmungen ein, die alle in meine Gestaltung dieser Partien einfließen. Da hat sich im Laufe meiner Berufsjahre einiges angesammelt. Ich habe mir einen Gedanken- und Erfahrungsschatz erarbeitet, den ich nun benutzen kann. Ich muss nicht selbst gemordet haben, um auf der Bühne überzeugend zu morden. Aber ich muss wissen, welche Gefühlszustände einen Menschen zum Mord treiben können. Das muss selbstverständlich geordnet werden, denn ungeordnete Gedanken nutzen auf der Bühne überhaupt nichts, sondern zerstören die künstlerische Tätigkeit. Die Bühne ist ein Ort der Konzentration. Im Mittelpunkt Ihrer Gestaltung steht immer ein Charakterporträt durch die Musik. Man tritt Ihnen kaum zu nah, wenn man feststellt, dass Ihnen Glaubwürdigkeit der Bühnenfigur im Zweifelsfall wichtiger ist als gesangstechnische Perfektion. Wie wägen Sie diese Positionen gegeneinander ab? Da muss ich eine Gegenfrage stellen: Was ist eigentlich gesangstechnische Perfektion? Gibt es das überhaupt? Und wer oder was entscheidet darüber? Die Darstellenden Künste, zu denen die Oper auf jeden Fall gehört, entstehen immer durch Menschen in diesem einen Moment. Das kann gar nicht perfekt sein. Als Sänger befinden wir uns immer sehr nah an unseren eigenen Emotionen und müssen uns entscheiden, wie wir eine Balance erreichen.

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Evelyn Herlitzius in PARSIFAL © Matthias Baus

Uwe Friedrich studierte Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und Germanistik an der Freien Universität Berlin. Nach seiner journalistischen Ausbildung beim Bayerischen Rundfunk arbeitete er als Opernredakteur für den Saarländischen Rundfunk. Er ist als Musikjournalist und Moderator für verschiedene ARD-Radiosender, den Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur tätig.

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Als Künstlerin müssen Sie diese Entscheidungen täglich treffen. Wie gehen Sie mit der Verantwortung gegenüber der Partitur um, die Sie erst zum Leben erwecken? Ich habe zum Beispiel kürzlich angefangen, mir Giuseppe Verdis Lady Macbeth zu erarbeiten. Da kommen auch Triller vor, wie ich sie zuletzt im Studium gesungen habe. Ich saß also da, schaute in den Klavierauszug und dachte, „was fängst du jetzt damit an? Was bedeuten diese Triller im jeweiligen Zusammenhang, wie fülle ich sie mit Leben und Inhalt?“ Außer den paar Trillern der Brünnhilde kommt so etwas in meinen Rollen überhaupt nicht vor. Ich muss mir beispielsweise überlegen, wie ich in die Bruststimme wechsle, mit welcher Attacke und mit welchen Farben. Was will die Lady

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Macbeth an dieser oder jener Stelle erreichen und wie werde ich das musikalisch gestalten? Warum steht dort dieser Akzent, diese Dynamik und so weiter? Warum singe ich diese Rolle überhaupt? Wie will ich das szenisch darstellen, wie bewegt sich diese Figur? Da treffe ich immer wieder Entscheidungen, die ich wahrscheinlich in zwei Jahren teilweise wieder revidieren werde. Erst in der konkreten Aufführungssituation werde ich feststellen können, ob meine Entscheidung richtig war. Und immer wieder die Frage: Wie schaffe ich die optimale Balance zwischen Gesang und Darstellung, so dass beides ineinanderfließt und für den Zuschauer eine absolute Kongruenz stattfindet. Das ist ja auch ein ganz entscheidender Aspekt: Dass ich für mein Publikum singe, es einbeziehe in die Musik und die Innenwelt der Bühnenfigur. Der ideale Sänger schafft die Balance. Er holt das Optimum an Ausdruck und Schönheit aus der Musik und schafft es, das Publikum mit einzubeziehen. Mit dieser Aufgabe wird man im Laufe seiner Karriere nie fertig. Besonders wenn man charakterlich so aufgestellt ist wie ich und immer mit 100 Prozent dabei ist.

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Selbstverständlich muss ich mit meiner Gesangstechnik die Rolle überhaupt bewältigen können, das ist die unabdingbare Grundvoraussetzung. Ich muss einen Ton und eine musikalische Linie angemessen darstellen können. Das hat aber nicht immer etwas mit Ebenmaß zu tun. Manchmal verlangt der Ausdruck dessen, was in diesem Menschen vorgeht, eine andere Färbung, vielleicht eine Übertreibung, unter der die musikalische Linie auch mal leidet. Mir war und ist dabei immer wichtig, dass ich mit meinen Partien wachse und dass ich besser werde. Es gibt Rollen, bei denen ich vor einigen Jahren noch sehr viel Respekt vor bestimmten Stellen hatte und jetzt merke, wie selbstverständlich ich sie inzwischen bewältigen kann. Eine Stimme verändert sich im Laufe der Jahre. Die Stimmbänder funktionieren nicht wie ein Konzertflügel, bei dem man einfach den Stimmer kommen lässt, wenn er nicht mehr in Ordnung ist. Ich singe heute ganz anders als vor zwanzig Jahren. Früher habe ich mich selbst beim Singen nicht so stark kontrolliert, wie ich das heute mache. Ganz ausgeschaltet habe ich diese Selbstkontrolle nie, aber mein Gesang ist heute viel bewusster. Das geht so weit, dass auch Menschen zu mir gekommen sind und sagten: „Kannst du nicht mal wieder mehr die Sau raus lassen?“ Das habe ich als Kompliment verstanden, denn ich suche immer nach der Balance zwischen Kontrolle und Emotion. Darüber hinaus werden wir von Anfang an in der Hochschule dazu erzogen, ständig besser zu werden. Immer wieder heißt es, das war noch nicht gut genug. Alle guten Sänger haben das vollkommen verinnerlicht. Wir merken selbst, wenn etwas nicht glückt in einer Aufführung, wir grübeln ständig darüber, was wir noch verbessern können.

Ihren Bühnendarstellungen ist die Lust an der Oper immer anzumerken. Können Sie sich überhaupt vorstellen, etwas ganz anderes zu machen? Ja sicher. Jetzt ist Singen dran, ganz klar, aber es gibt noch so viele anderen Dinge, die mich interessieren. Ich denke auch, man sollte als Sänger immer Plan B [oder C] in der Tasche haben, denn die Gefährdungen in diesem Beruf sind immens. Und es gibt auch ein Leben jenseits des Gesangs! Wenn sie sich diesen Raum nicht schaffen, stehen sie am Ende ihrer Karriere mit nichts da außer ihren Erinnerungen. Ich singe das hochdramatische Fach nun auch schon seit vielen Jahren und bin dafür unendlich dankbar. Wenn das aber irgendwann nicht mehr geht, dann mache ich etwas anderes. Das ist natürlich ein Widerspruch in sich, denn man muss alle Energie mobilisieren in diesem Beruf, sonst geht es nicht. Aber man muss auch eine Vision haben, was man danach machen möchte, sonst bleibt man zu sehr in der Eigendrehung gefangen. Tröstlicherweise gibt es ja für eine dramatische Sopranistin immer noch die Mütterrollen.

Das Gespräch führte Uwe Friedrich

Evelyn Herlitzius in GÖTTERDÄMMERUNG © Bettina Stöß

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Europa war sein Bayreuth Symposion zu Leben und Werk von Giacomo Meyerbeer 29. September – 1. Oktober 2014 In der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin Dinorah oder Die Wallfahrt nach Ploërmel Giacomo Meyerbeer [1791–1864] 1. Oktober 2014 Konzertante Aufführung in der Berliner Philharmonie Musikalische Leitung Enrique Mazzola Chöre William Spaulding Mit Patrizia Ciofi, Etienne Dupuis, Philippe Talbot, Jana Kurucová u. a.; Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin

Giacomo Meyerbeer © akg images

Meyerbeer an der Deutschen Oper Berlin Ein großer Opernkomponist wird wiederentdeckt: Lange waren die Opern Giacomo Meyerbeers nur eine Randerscheinung auf den Spielplänen der Opernhäuser. Doch jetzt wird der Meister der Grand Opéra wiederentdeckt und seine Werke als gleichwertige Gegenentwürfe zu den Musikdramen Wagners und Verdis begriffen. Als erstes Opernhaus der Welt wagt die Deutsche Oper Berlin nun ab 2015 einen Zyklus aus den drei Meisterwerken VASCO DA GAMA, DIE HUGENOTTEN und DER PROPHET. Und in diesem Jahr wird der 150. Todestag des Komponisten bereits mit einem dreitägigen Symposion und einer konzertanten Aufführung von DINORAH gewürdigt.

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Giacomo Meyerbeer, das „weltfreie“ Genie, und seine komplizierte Beziehungskiste mit Berlin

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Der Star aus der Spandauer Straße Weil beim Auftritt eines Soldaten-Balletts echte Munition verwendet wurde und ein glimmender Gewehrpfropfen Kostümhaufen entflammte, war am 19. August 1843 mit den Kulissen der Königlichen Oper das ganze Gebäude abgebrannt. Für die Eröffnung des eilends wiederherzustellenden Musentempels legt Friedrich Wilhelm IV. seinem neuen Generalmusikdirektor, dessen Bühnen-Hits international Furore machen, den eigenhändigen Entwurf eines friderizianischen Singspiels vor. Giacomo Meyerbeer ist von diesem Plot wenig begeistert, stößt dann aber in den Annalen des Siebenjährigen Krieges auf eine Flöten-Session des Alten Fritz am Rand der Schlacht – und beauftragt seinen Erfolgs-Texter Eugène Scribe, unter strenger Geheimhaltung, daraus eine Story zu entwickeln. Dass ein jüdischer Tonsetzer, dessen auswärtige Triumphe nach Ansicht seiner Gegner Vaterlandslosigkeit beweisen, den großen König mit Hilfe des Erbfeindes verewigt, darf niemand wissen! Die Öffentlichkeit vermutet als Autor der Festoper den Dichter Tieck, Alexander von Humboldt oder gar den Monarchen persönlich. Fürs Reimen des Librettos gewinnt Meyerbeer, der Vollender des Gesamtkunstwerks Grand Opéra, sogar seinen „Ratte“ genannten Kritikerfeind Ludwig Rellstab, der ihm oft undeutsche Oberflächlichkeit vorgeworfen hat. Bei der Uraufführung von EIN FELDLAGER IN SCHLESIEN am 7. Dezember 1844 verhindern provinzielle Intrigen, dass die „schwedische Nachtigall“ Jenny Lind in der für sie angelegten Partie auftritt. Rezensenten bemängeln, Friedrich II. erscheine zu unheroisch, und er werde durch eine Zigeunerin gerettet! Das Werk sei nur „ein Kratzfuß gegen die königliche Loge“. Trotzdem dominiert diesmal verhaltene Zustimmung die Blätter: „Eine Kanone, mit vier Pferden bespannt, ansehnliche Reiterei, Fußvolk und Bagage ziehen über die Bühne, während in dem Finale, mit dem durchklingenden Dessauer Marsche, mehrere Militär-Chöre und eine dreifache Musikbande auf der Bühne mit vollem Orchester zusammenbrausen.“ Echter Jubel kommt allerdings erst in späteren Vorstellungen auf, wenn Jenny Lind die Zigeunerin Vielka gibt. Fortan wird das Stück gern Staatsgästen vorgeführt; der Komponist schätzt es nicht, bringt jedoch als Showbiz-Praktiker eine umgestrickte Wiener Fassung [VIELKA] und Fragmente des Materials für seine ZarenOper DER NORDSTERN in Paris und London auf die Bühne … Das Menkenke um die einzige Berliner Opern-Uraufführung Jakob Meyer

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Beers, der sich seit Lehr- und Wanderjahren im Land des Belcanto Giacomo nannte, gehört zu seiner komplizierten Beziehungskiste mit der Heimatkommune. Als Erstgeborener des Zuckerfabrikanten Juda Jakob Beer hat Meyer, wie die Mama ihn rief, zwar 1791 in der Poststation Tasdorf das Licht der Mark Brandenburg erblickt, ist aber Original-Berliner. Hirtz Aaron Beer, ein Gründungspionier der hiesigen Jüdischen Gemeinde, ist sein Vorfahr; Liebmann Meyer Wulff, genannt „Crösus von Berlin“, sein Großvater mütterlicherseits. Mutter Amalie agiert als einflussreiche, großbürgerliche Salonière in der preußischen Hauptstadt. Bruder Wilhelm erwirbt Ansehen als Astronom und Abgeordneter; Michael, der Jüngste, erntet Ruhm als von Goethe gelobter Dichter. Der umtriebige Giacomo entflieht für 15 Jahre ohne Heimweh dem Mief der heimischen Musikszene, lässt sich aber 1826, bald nach Vaters Tod, durch eine flugs arrangierte Heirat mit Cousine Minna als Sippenoberhaupt in die Pflicht nehmen. Am Pariser Schwerpunkt seines Lebenswerkes residiert er weiterhin im Hotel; seine Frau, die oft auf Kur unterwegs ist, verpasst er häufig, überschüttet sie aber in fleißigen Briefen mit Beteuerungen [„Dein verliebter treuer Mohr“].

Die Handlung DINORAH Ploërmel ist ein Wallfahrtsort in der Bretagne, wo Dinorah den Zigenhirten Hoël ein Jahr vor Beginn der Handlung heiraten wollte. Seit ein Gewitter am Tag ihrer Hochzeit die Wallfahrtskirche und die Meierei ihres Vaters zerstörte und auch der Bräutigam verschwand, ist sie dem Wahnsinn verfallen. Mit ihrer Ziege erreicht sie beim Sonnenuntergang eine Hütte, in der sie dem Dudelsackpfeifer Corentin begegnet. Als es klopft, flieht sie durchs Fenster. Der Ankömmling ist aber kein anderer als Hoël, der nur deswegen ein Jahr verschwand, weil ihm ein alter Zauberer dafür einen Schatz in Aussicht stellte. An den Schatz allerdings ist ein Fluch gebunden: wer ihn als erster berührt, muss binnen eines Jahres sterben. Hoël findet in Corentin einen bereitwilligen Helfer, der nichts von dem Fluch weiß und so sicher ins Verderben gehen wird. Dinorah ist von traurigen Erinnerungen heimgesucht. Da bemerkt sie an einer Felswand ihren Schatten und beginnt, mit ihm zu tanzen. – In einer Felsenschlucht treffen sich alle drei; Hoël und Corentin folgten gemäß der Weissagung dem Glockenton einer Ziege, Dinorahs Ziege. Corentins Erzählung in Abwesenheit Hoëls weckt in ihr die Erinnerung an die alte Legende und er begreift nun, was Hoël vorhat. Er weigert sich, als erster in die Schlucht hinabzusteigen. Stattdessen versucht er Dinorah vorzuschicken. Ein Gewitter bricht los. beim Versuch ihre Ziege zu retten stürzt Dinorah in die Tiefe. An der Halskette, die sie dabei verliert, erkennt Hoël seine einstige Verlobte. Ein Baum hat den Sturz Dinorahs aufgehalten. Corentin und Hoël bringen sie bewusstlos zur Wallfahrtskirche. Es ist der Jahrestag der geplatzten Hochzeit. Als Dinorah erwacht ist die Erinnerung an das ganze Jahr des Irrens getilgt. Hoël bereut und heiratet nun endlich Dinorah.

Die Charakter-Kontraste dieses „Windbeutels“ und „Schwarzsehers“, wie ihn seine Mutter gern verspottet, erscheinen plastisch und irritierend in seiner Korrespondenz. Meyerbeer ist begeisterungsfähig, sorgfältig, zielstrebig bei der Durchsetzung aktueller Projekte; darüber hinaus vergesslich und faul. Er reagiert gegenüber Bittstellern großzügig und mitfühlend, ist selbst extrem empfindlich und eitel; sehnt sich – obgleich reich, hübsch, talentiert und bald supererfolgreich – unersättlich nach Anerkennung, lebt eigentlich bescheiden. Er prahlt als Jüngling vor Freunden mit erotischen Abenteuern wie der Verführung durch drei liebe Damen, die keine Jungfrauen gewesen; sein Tagebuch schweigt von solchen Dingen. Sein Begehren, positives Berliner Feedback wenigstens von fern zu erhalten, drängt ihn so stark, dass die Familie ihm journalistisches „Hundegebell“ vorenthält, um keine psychosomatischen Anfälle zu provozieren. Seine Liebeselogen springen unverhofft vom zarten Kompliment zur breiten Schilderung eigener Wehwehchen und Gebrechen. Ihn beuteln Komplexe und Selbstüberschätzung, wie das einem leidenschaftlichen Künstler und exzentrischen Berliner anstehen mag. Berliner Wohnorte dieses europäischen Stars, der heute in seiner Stadt fast vergessen ist, markieren die lokale Verwurzelung seines Clans. Ab 1850 lebten Meyerbeers, soweit sie an der Spree weilten, Pariser Platz 6a im Schatten der Quadriga. Die Villa Beer, wo Mutter Amalia ab 1819 Hof hielt, lag in einem Teil des Tiergartens, Zuckerbusch genannt: „Am Exerzierplatz“, wo jetzt das Kanzleramt steht. Ab 1818 befand sich eine Zuckersiederei Vater Beers und seines Sohnes Wilhelm in der Friedrichstraße 138a. Anno 1789 war der Fabrikant aus Frankfurt /Oder zunächst ins Haus HeiligeGeist-Straße 4 eingezogen, die westlich der Spandauer Straße parallel verlief. Ab 1804 logierte die Familie im Block Spandauer Straße 72 / Ecke Papenstraße [heute: Karl-Liebknecht], wo zuvor Großvater Wulff gelebt hatte; der wechselte zur Königstraße 33 [heute: Rathausstraße] in ein Haus, das später Giacomo erbte. Auch die Salonière Rahel Levin, verheiratete Varnhagen, war in der Spandauer aufgewachsen; nahebei, an Nr. 68, hatten im

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Haus Moses Mendelssohns etliche Berliner Aufklärer ihre Adressen gehabt. In das Beersche Haus Nr. 72 kamen aufgeklärte Privatdozenten und Klavierlehrer für den jungen Meyer; hier wurde außerdem Zucker raffiniert und ab 1815 eine Reformsynagoge eingerichtet.

Das selbstbewusste Judentum des Kosmopoliten Giacomo erkennt die Nachwelt als ein Identitätsmerkmal – und als Projektionsfläche für seine Feinde. Nach dem Tod des Großvaters Wulff hatte der 21-Jährige gegenüber Mutter Amalie „das feierliche Versprechen“ abgelegt, „dass ich stets die Religion leben will, in welcher er starb“, da die Gewissheit, „dass seine Kinder den Glauben nie verlassen werden“, ihrem Vater das Totenbett versüßt hätten. Etwas gelitten hat diese Selbstgewissheit, als gegenüber Heinrich Heine, der sich dem paranoiden Prominenten für Schutzgeld als PR-Manager andient, im Jahr 1839 das Thema Judenfeindschaft zur Sprache kommt: „Was ist zu thun? … Nicht einmal das Bad der Taufe kann das Stückchen Vorhaut wieder wachsen machen, dass man uns am 8t. Tage unsres Lebens raubte; und wer nicht am 9t. Tage an der Operation verblutet, dem blutet sie das ganze Leben lang nach, bis nach dem Tode noch.“ Verkorkst wirkt das Verhältnis Meyerbeers mit Felix Mendelssohn Bartholdy. Während der getaufte Enkel des Juden Moses Mendelssohn seine persönliche Grand-OpéraAbneigung musikalisch begründet, bleibt Meyerbeers rätselhafte Mendelssohn-Phobie unbegründet. Hat der hochbegabte Nicht-Wunderknabe die Kritik des Wunderkindes Felix, die Konversionswege und Karrieren der anderen großen Familie als Bedrohung erlebt? Dass angesichts solcher Rivalitäten ausgerechnet Heinrich, der skurrile vierte Beer-Bruder und Versager der Familie, durch seine Heirat mit Felix’ Cousine Betty Meyer zwischen beiden Dynastien Blutsbande herstellt, ist eine tragikomischen Pointe. Während Meyerbeers Pariser Welterfolge die preußische Residenz verzögert erreichen und vom Publikum begeistert, von tümelnder Fachkritik à la Wagner zwiespältig aufgenommen werden, verknüpfen sich manche Randwerke des Musiktheater-Giganten mit seiner berlinischen Geschichte. Sein Bühnendebüt, das konventionelle Ballett „Viel Lärm um einen Kuß“ [1810], ein Vorgeplänkel künftiger französischer Kooperationen, ist bald wieder von den Brettern der Hofoper verschwunden. Sein in Abwesenheit des Sohnes durch elterliche Netzwerk-Aktivität zur Sing-Akademie-Aufführung gebrachtes Oratorium „Gott und die Natur“ [1811] zeigt den 19-Jährigen als Partner eines katholischen Librettisten, offen für interreligiös aufgeklärte Projekte, aber – beim Lesen der Rezensionen im fernen Mannheim – völlig unfähig, Kritik zu verarbeiten. Sein in Wien verfertigtes Patriotenspiel „Das Brandenburger Thor“ [1814], zu dem ein Rabbinersohn den Text liefert, kompensiert Gewissensbisse eines Ungedienten, der Napoleon nicht bekämpft hat; erst 1991 kommt es zur Uraufführung. Seine dritte italienische Arbeit EMMA VON ROXBURG, Meyerbeers erste Berliner Opernpremiere, wird 1820 kühl aufgenommen, wie ein fremdländischer, inhaltlsleerer Import. Mit „Struensee“ [1846] schließlich, der Schauspielmusik zu einem lange verbotenen Historiendrama des verstorbenen Bruders Michael, endet sein Einsatz als Generalmusikdirektor: Bald darauf weicht er – vor dem als Konservatoriums-Gründer berufenen „Todtfeind“ Mendelssohn Bartholdy – zurück nach Paris.

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17 16 Beisetzung Meyerbeers auf dem Jüdischen Friedhof, Schönhauser Allee © akg images

Die von Galawagen der königlichen Familie begleitete Beerdigung findet am 9. Mai 1864 auf dem Friedhof Schönhauser Allee statt. Meyerbeers herrlichster Nachruf war schon lange davor erschienen, in einer Theaterzeitschrift, inspiriert durch DIE HUGENOTTEN. Diese Musik sei „mehr sozial als individuell“, hatte damals Heinrich Heine gelobt: „Die dankbare Gegenwart, die ihre inneren und äußeren Fehden, ihren Gemütszwiespalt und ihren Willenskampf, ihre Not und ihre Hoffnung in seiner Musik wiederfindet“, feiere hier „ihre eigene Begeisterung“. Plötzlich sei „Signor Giacomo“ wieder ein Deutscher geworden: habe sich „nicht an das alte, morsche, abgelebte Deutschland des engbrüstigen Spießbürgertums, sondern an das junge, großmütige, weltfreie Deutschland einer neuen Generation, die alle Fragen der Menschheit zu ihrer eigenen gemacht hat“, angeschlossen. Heine nennt Meyerbeer ein „ängstliches Genie“. Vor 200 Jahren, im Siegesspurt der Befreiungskriege, bekannte dieser Zagende seinem aufgeklärten Lehrer Wolfssohn: Lieber schösse er sich eine Kugel in den Kopf, als ohne soldatische Verdienste nach Berlin zurückzukehren! 1815 fühlt er sich, nach einem antriebslosen Pariser Jahr, am Ende. Er vegetiere nur. Eben flackere ein kreatives Fünkchen auf, „wird es nicht bald wieder erlöschen? Und ich bin erst 25 Jahre alt!! Welch fürchterliche Perspektive!!“ Dann erlebt er den Massentaumel der Metropole: „Abends auf den Boulevards spazieren gegangen, welches jetzt das Interessanteste aller Theater ist.“ Er leiht sich in der Bibliothek eine Schrift des Berliner Gelehrten Engel „Über die musikalische Malerei“. Setzt eigene Gedanken zur Orchester-Nachahmung von Realität dagegen. „Alles ist Musik! Alles ist Theater! Es geht ohne echte Patronen. Oper ist schöner als Krieg.“ Thomas Lackmann ist Redakteur im Berlin-Ressort des Tagesspiegels. Er promovierte in katholischer Kirchengeschichte und verfasste mehrere Bücher, u. a. die Familienbiographie „Das Glück der Mendelssohns“ und „Jewrassic Park. Wie baut man [k]ein Jüdisches Museum in Berlin“. Er ist im Vorstand der Mendelssohn-Gesellschaft, die die Geschichte der Nachkommen Moses Mendelssohns erforscht.

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Thomas Lackmann

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Béjart Ballet © Francette Levieux

Hymnen auf die Liebe DOB_TGS_Beileger_AUG_14_15.indd 18

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Das Béjart Ballet Lausanne, die Deutsche Oper Berlin und das Staatsballett Berlin präsentieren gemeinsam choreografische Meisterwerke von Maurice Béjart 17. –19. Oktober 2014 Ce que l’amour me dit Musik von Gustav Mahler [Sinfonie Nr. 3 d-Moll, 4., 5., 6. Satz] Choreografie Maurice Béjart Kostüme Judith Gombar, Henri Davila Licht Roger Bernard 17., 18. Oktober 2014 Le Sacre du printemps Musik von Igor Strawinskij Choreografie Maurice Béjart Bühne Pierre Caille Kostüme Pierre Caille, Henri Davila Licht Dominique Roman 19. Oktober 2014 Boléro Musik von Maurice Ravel Choreografie Maurice Béjart Licht Dominique Roman Musikalische Leitung Donald Runnicles / James Feddek [19. Oktober] Chöre William Spaulding Mit Ronnita Miller Béjart Ballet Lausanne, Tänzer des Staatsballetts Berlin, Chor, Kinderchor und Orchester der Deutschen Oper Berlin

„Verloren sei uns der Tag, wo nicht ein Mal getanzt wurde!“ schrieb Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“. Dieses Diktum war für den Choreografen Maurice Béjart ein Lebensmotto – bis zuletzt. Der charismatische BallettErneuerer starb im November 2007 im Alter von 80 Jahren in Lausanne. Doch seine Compagnie existiert weiter und hält das künstlerische Erbe des Jahrhundert-Choreografen lebendig. Davon kann man sich jetzt bei den drei Abenden des Béjart Ballet Lausanne überzeugen, das auf Einladung und in Zusammenarbeit mit dem Staatsballett Berlin und der Deutschen Oper Berlin im Tempodrom gastiert. Nach dem Tod Béjarts hat sein langjähriger Startänzer und Assistent Gil Roman die künstlerische Leitung des berühmten Tanzensembles übernommen. Der Meister hatte es so gewollt. Roman war es natürlich bewusst, in welch große Fußstapfen er treten würde. Unter ihm wird das Repertoire auf höchstem Niveau gepflegt – und auf Gastspielen in aller Welt wird das Béjart Ballet Lausanne immer noch gefeiert. In guter Erinnerung ist Maurice Béjarts letzter Auftritt in Berlin im Jahr 2003 – da war er schon eine wandelnde Legende des modernen Tanzes. Das Béjart Ballet Lausanne tanzte damals die Choreografie „Ballet for Life“, in der der Meister zwei männlichen Diven ein Denkmal gesetzt hat. Das PopBallett mit Songs von Queen war eine Hommage an Béjarts früh verstorbenen Lebensgefährten, den Tanzstar Jorge Donn. Dessen Biografie

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wurde mit der des Queen-Sängers Freddie Mercury überblendet, der ebenfalls an AIDS starb. Seine heitere Choreografie wollte Béjart als „Exorzismus“ und als eine Feier des Lebens verstanden wissen. Zu Berlin hatte Béjart eine besondere Verbindung. Hier erregte er schon in den fünfziger Jahren Aufsehen bei seinen Auftritten im Titaniapalast. Als das Staatsopern-Ballett in den neunziger Jahren einen neuen künstlerischen Leiter suchte, wurde der Franzose heftig umworben. Er schickte Michael Denard als seinen Statthalter – und verblieb selbst in der Schweiz, wo er seit 1987 das Béjart Ballet Lausanne leitete. Dennoch verdankt Berlin ihm einige wichtige Kreationen: Vor allem das Wagner-Spektakel „Ring um den Ring“, das 1990 für die Deutsche Oper entstand und von Vladimir Malakhov triumphal wiederaufgenommen wurde.

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Das Béjart Ballet zu Gast im Tempodrom

Auf ein Gastspiel des Béjart Ballet Lausanne mussten die Berliner lange warten. Doch nun können sie sich auf hochkarätige Aufführungen freuen – und zwar in tänzerischer wie in musikalischer Hinsicht. Die Lausanner Compagnie wird nämlich von Berliner Tänzern und Musikern tatkräftig unterstützt. Während bei dieser Produktion normalerweise die Musik Strawinskijs, Mahlers und Ravels vom Tonband läuft, wird im Tempodrom das Orchester der Deutschen Oper Berlin live spielen – und Chefdirigent Donald Runnicles wird die ersten beiden Vorstellungen dirigieren. Das Programm umfasst drei der wichtigsten Werke Béjarts aus drei Jahrzehnten: „Boléro“ [uraufgeführt 1959], „Le Sacre du printemps“ [1961] und „Ce que l’amour me dit“ [1974]. Beim „Boléro“ tanzen nicht nur Herren des Staatsballetts Berlin mit. Hier ist ein regelrechter Coup gelungen. Polina Semionova, die frühere Starballerina unter Vladimir Malakhov, wird am 19. Oktober den Solo-Part tanzen und auf den runden roten Tisch steigen – das bedeutet 17 Minuten erotische Spannung. Für ihr Berliner Comeback hätte sie sich kein besseres Stück auswählen können. B wie Béjart und „Boléro“ Ravels 1928 entstandenes Stück hat immer wieder die Fantasie der Choreografen angeregt. Béjarts Version, die 1961 in Brüssel uraufgeführt wurde, ist nicht nur ein Klassiker der Moderne, sondern gilt als eines der erotischsten Ballette der Tanzgeschichte überhaupt. „Bei Boléro dachte ich weniger an Spanien, das man mit dem Titel verbindet, als an den Orient, der in der Partitur versteckt ist“, schreibt Maurice Béjart in seinen Memoiren „Ein Augenblick in der Haut eines anderen“. „Mir lag daran, die Melodie herauszuholen, die sich immer wieder vordrängt und unermüdlich wie eine Welle heranrollt. Der Rhythmus, dem die Melodie als Anreiz dient, lässt sich verlocken, macht Versprechungen und steigert so Volumen und Intensität. Alle Kraft ist verbraucht, wenn am Ende der Rhythmus die Melodie verschlingt. Der Boléro ist eine Geschichte der Begierde.“ Ravel selber äußerte über den Boléro, er sei ein „reines Orchesterstück ohne Musik“, nichts als ein „langes, progressives Crescendo“. Das spanischarabische Thema wird weder variiert noch entwickelt, sondern stetig wiederholt – insgesamt 18 Mal. Dadurch gewinnt es eine „insistierende Kraft“, wie der Komponist selbst anmerkt. Ravel hatte den Boléro im Auftrag der Tänzerin und Mäzenin Ida Rubinstein komponiert. Das Musikstück war also von Anfang an für die Ballettbühne konzipiert. In der Original-Choreografie von von Bronislawa Nijinska verkörperte die 43-jährige Rubinstein eine Flamenco-Tänzerin, die in einer spanischen Taverne auf dem Tisch tanzt und die Männer in Wallung bringt. Mit ihren erotisch-lasziven Bewegungen schockierte und faszinierte Rubinstein das Pariser Publikum. Bei Béjart scheint die ursprüngliche Konzeption von Solistin und Gruppe noch durch. Das Bühnenbild wirkt in seiner Abstraktion ungemein effektvoll: Die Solistin /der Solist tanzt auf einem überdimensionalen Tisch, der einen leuchtend roten Kreis bildet – einen Kreis der Begehrens. Béjart hat sein Ballett von aller andalusischen Folklore gereinigt. Was übrig bleibt, ist der pure Akt der Verführung. Die erotische Wirkung war durchaus beabsichtigt. „Ich benutzte einige psychologische Striptease-Elemente [der Körper, der sich scheinbar anbietet] und fand ein Ritual wieder, von dem der Striptease nur eine lächerliche Entgleisung ist“, schreibt Béjart.

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Die Solistin verkörpert bei Béjart die Melodie. Auf der dunklen Bühne sind anfangs nur die Hände der Tänzerin zu erkennen. Sie hebt in hypnotischer Langsamkeit beide Arme und streicht mit den Händen über ihren Leib. Umringt wird sie von 40 jungen Männern mit nacktem Oberkörper und in schwarzen Hosen, die auf drei Stuhlreihen sitzen – rechts, links und hinter der roten Scheibe. Dabei lassen sie die Solistin nicht aus den Augen. Das erotische Moment der Musik liegt in der langsamen Steigerung der Intensität bis zum Höhepunkt. Diese Steigerung hat Béjart auch choreografisch umgesetzt. Die Bewegungen der Solistin werden immer drängender und lasziver, auch einige Ballettfiguren werden hinzugefügt. Sie lockt, stachelt die Menge auf und bleibt doch unerreichbar. Wenn in der Musik eine neue Instrumentengruppe beginnt, stehen jeweils zwei Tänzer auf. Sie lassen sich von dem federnden Rhythmus mitreißen, wiegen sich in den Hüften. Mehr und mehr junge Männer scharen sich um die Tanzgöttin in der Mitte. Die suggestive Choreografie mutet an wie ein Initiations-Ritus. Dabei gelingen Béjart starke Bilder: Die blutrote Scheibe erinnert an eine glühende Sonne, um die die Tänzer mit ihren bloßen Oberkörpern einen hellen Ring bilden. Oder sie erinnert an ein Rad mit Speichen. Am Ende knien die Männer nieder und bilden eine Kette. Beim Schlussakkord gibt es kein Halten mehr. Die Jünglinge springen auf den Tisch und begraben die Angebetete unter sich. Das lodernde Verlangen wird bei Béjart in geometrische Formen wie Kreis und Viereck gebannt. Es ist diese Verbindung aus Abstraktion und Sinnlichkeit, die Béjarts Meisterschaft ausmacht. Am Ende steigert sich der „Boléro“ zu einer kollektiven Trance – und auch der Zuschauer kann sich seiner hypnotischen Wirkung nicht entziehen. Das Ballett ist wie geschaffen für die Apotheose des Solisten. Tanzstars wie Maya Plisetzkaya, Suzanne Farrell und Sylvie Guillem haben den Boléro interpretiert auf je eigene Weise. „Bei jeder Tänzerin spielte die eigene Psychologie und das persönliche Universum mit“, schreibt Béjart in seinen Memoiren. „Jede sah die Rolle anders und machte sie sich so zu eigen.“ Das Ingeniöse Béjarts zeigt sich daran, dass er gleich mehrere Versionen des „Boléro“ geschaffen hat. Wie kein anderer hat er den Männertanz aufgewertet. Also drehte er den Spieß um und ließ den Solopart von einem Mann tanzen, der entweder von 40 Mädchen angehimmelt wird oder von 40 Jünglingen. Durch diese Umbesetzung verschieben sich auch die Bedeutungen – Béjart zelebriert die unterschiedlichen Formen des Begehrens. Für seinen Protagonisten Jorge Donn war es eine der zentralen Rollen.

Béjart Ballet © LaureN Pasche

Die Vorwegnahme der sexuellen Revolution Gut ein Jahr vor dem „Boléro“ gelang Maurice Béjart bereits ein sensationeller Erfolg mit dem Strawinskij-Ballett „Le Sacre du printemps“ – es wurde zum Markenzeichen jenes Ensembles, dass sich bald „Ballett des 20. Jahrhunderts“ nennen sollte. Strawinskij hatte seinem Werk den Untertitel „Bilder aus dem heidnischen Russland“ gegeben. Damit konnte Béjart aber nichts anfangen. „Ich dachte, dass der Frühling nichts mit diesen alten Russen zu tun hätte, die ein junges Mädchen ansahen, als sei sie Susanna im Bade“, schreibt er. „Und ich fand es ernsthaft dumm, mit dem Tod zu schließen, und das sowohl aus persönlichen Gründen als auch, weil die Musik genau das Gegenteil aussagte.“ Seine Neudeutung gab dem Ballett eine positive Wendung. Béjart schuf kein Opferritual, sondern einen zeitlosen Fruchtbarkeitsritus, der die Sexualität feiert. „Ich wollte die vitale Kraft zeigen, die die Spezies drängt, sich fortzupflanzen“, schreibt er. Der Choreograf trennt die Männer und die Frauen. Der Fokus liegt auf dem auserwählten Paar, das sich am Ende in einem stilisierten Geschlechtsakt vereinigt – was in einem kollektiven Taumel mündet. Fast ein Jahrzehnt vor der 68er Revolte nahm Béjart in seiner Version des „Sacre“ die sexuelle Befreiung vorweg, – wie groß der Schock damals war, kann man sich heute kaum noch vorstellen.

Maurice Béjard © Philippe Pache

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„,Sacre‘ ist ein Ballett, in dem die Rohheit dominiert“, äußerte Béjart. Er ersann Bewegungen, die für die damalige Zeit sehr gewagt waren, weil sie das Animalische, die Macht der Instinktive betonten. Die Jungen verharren anfangs in kniender Haltung, später gehen sie wie brünstige Hirsche

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21 20 Béjart Ballet © Francette Levieux

aufeinander los. Die Mädchen liegen zuerst mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen auf dem Boden, sie heben erst ihren Oberkörper und später ihr Becken. Und erinnern auch schon mal an Knospen, die sich öffnen. Béjart wollte keine Psychologie, er wollte Schenkel, Bäuche und durchgedrückte Rücken. „Die Tänzer mussten gehindert werden, ihre persönlichen Gefühle auszudrücken“, schreibt er über die Proben. „Mein Ziel war, dass sie einen tierischen Ausdruck hatten. Sie mussten eine Kraft ertragen, die über sie hinausging.“ Die Erwählte – so lässt sich leicht erkennen – ist eine Vorläuferin der Solistin im „Boléro“. Sie steht im Grand plié in der zweiten Position und heizt ihr Gefolge an. Béjart ersann keinen tänzerischen Primitivismus, die Modernität seiner Choreografie springt noch heute in die Augen. Die Spannung resultiert daraus, dass die animalische Energie in abstrakten Linien festgehalten wird. Auch wenn er als großer Erneuerer gefeiert wurde, die Grundlage Maurice Béjarts war stets das akademische Ballett. „Die Schritte im ,Sacre‘ scheinen z. B. überraschend und dem freien oder modernen Tanz entnommen“, notiert er, es sind aber akademische Schritte, die ich nur transformiert, edel deformiert habe. Diese Schritte gehen immer von klaren, sauberen akademischen Positionen aus. Erst danach verschiebe ich gewisse Körperpartien, um das herauszuarbeiten, was ich will.“ Seine präzisen Körper-Architekturen, die Behandlung des Corps de ballet – sie faszinieren bis heute. Sinnlichkeit und Spiritualität „Ce que l’amour me dit“ gehört zu der Reihe der sinfonischen Ballette Béjarts, die mit Beethovens Neunter Sinfonie begann. Béjart gibt eine choreografische Interpretation der Musik Gustav Mahlers in ihrer Beziehung zur Philosophie Nietzsches – der für seine eigene intellektuelle Entwicklung stets eine Schlüsselfigur blieb. Musikalische Basis des Abends sind Sätze aus Mahlers dritter Sinfonie. Der erste Teil „Was der Mensch mir erzählt“ ist ein Nocturno auf die Verse des Zarathustra [O Mensch, gib acht]. Der männliche Protagonist sitzt anfangs im Schneidersitz auf der Bühne, während die Solistin hinter ihm ihre Arme ausbreitet wie eine Priesterin. Béjart verbindet hier auf unnachahmliche Weise Sinnlichkeit und Spiritualität. Der Mann verkörpert das Erwachen der Welt und die Suche nach dem Licht. Doch auch der weibliche Part ist mit großem Raffinement gestaltet. Der virtuose Pas de deux ist zunächst

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sehnsuchtsvoll-innig, dann geradezu euphorisch – am Ende tritt ein Knabe hinzu und das Paar verwandelt sich in ein zärtlich liebendes Trio. Das Mahler-Ballett zeigt den Choreografen auf der Höhe seines Schaffens. Béjart nutzte all die tänzerischen und expressiven Möglichkeiten der jungen Tänzer des „Ballet du XXe siècle“. In den frühen siebziger Jahren hat Béjart den Elan der Jugend, ihre Suche nach sich selbst, festgehalten und in eine verführerische Form gegossen. Der unerschütterliche Optimismus von „Ce que l‘amour me dit“ ist auch heute noch ansteckend. Das Berlin-Programm ist dem Ekstatiker Béjart gewidmet. Dem großen Verführer. Béjart feiert die unterschiedlichen Spielarten der Liebe. Die Hymne auf den Eros und den Tanz – sie ist sein Vermächtnis an die Welt.

Sandra Luzina

Sandra Luzina studierte Philosophie, Germanistik und Soziologie an der FU Berlin. Sie schreibt über Tanz und Theater für den Tagesspiegel und arbeitet für den Fernsehsender ARTE.

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Kein wahres Hören im falschen

Matthew Herbert © Lalo Borja

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The Recording 18. – 24. September 2014 „Open Space“ in der Tischlerei jeweils 16.30 – 22.00 Uhr 25. September 2014 Record-Release-Party 20.30 Uhr

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Man könnte im ersten Moment fast glauben, dass Matthew Herbert es liebt, zu provozieren. So rigoros, wie er in seinem „Manifesto“ vor Jahren seine Anforderungen an Neue Musik formuliert hat. Und so extrem, wie die klanglichen Grundlagen und Aufnahmemethoden manchmal sind, die er sich für seine Musik aussucht. Die Geräuschkulisse aus dem Lebens- und Leidensweg eines Schweins vom Stall über den Schlachthof bis zum Verspeistwerden beispielsweise, die er für sein bekanntestes Stück „One Pig“ verarbeitet hat. Und den Lärm eines Bombenangriffs in Libyen, der im letzten Jahr das Material für „The End of Silence“ bildete. Oder auch die Idee, für seine Rekomposition von Mahlers zehnter Sinfonie Mikrofone im Innern eines Sarges zu postieren, um den jenseitigen Charakter dieser Musik akustisch umzusetzen.

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Der britische Klangkünstler Matthew Herbert macht die Tischlerei zum Aufnahmestudio

Der Ernst und die Akribie, mit denen der 42-jährige Brite bei seinen Aktionen zu Werke geht, lässt freilich sehr schnell den Eindruck des Exzentrischen oder Provokativen vergessen – dass Matthew Herbert seit Jahren als einer der weltweit interessantesten Musiker und Klangkünstler gilt, rührt vielleicht gerade daher, dass er Visionen hat und in der Lage ist, sie auch umzusetzen. Und es fällt meist schwer, sich seiner Argumentation zu entziehen: Zu Mahlers Zeit hätte ein Komponist eine Flöte eingesetzt, um das Gezwitscher eines Vogels abzubilden – heute aber könne man einfach mit einem Aufnahmegerät hinausgehen und den Originalton einfangen, um ihn zu benutzen. „Komponisten“, insistiert Herbert, „waren früher Beobachter, heute sind sie Dokumentierer“. Um so wichtiger ist für ihn, dass das Dokumentierte original ist – schon in seinem „Manifesto“ hatte der damals noch vorwiegend in der House- und Electro-Szene Bekannte kategorisch den Einsatz vorgefertigter Klangprodukte und Samples ausgeschlossen. Und auch für „One Pig“ hatte sich Herbert an alle Orte des Schweinelebens aufgemacht, um die echten Geräusche einzufangen – es gibt eben für ihn kein wahres Hören im falschen. Dass sich ein Künstler mit so puritanischen Grundüberzeugungen irgendwann der Klassikszene annähern würde, wundert nicht: Denn Mahler und Co werden schließlich noch in authentischer Handarbeit der Musiker aufgeführt, jede Aufführung ist hier echt und bietet mithin taugliches Grundmaterial für den Herbertschen Verarbeitungsprozess. Zuletzt hatte er im April an der Studiobühne des Londoner Royal Opera House sogar eine Oper herausgebracht, in der er versuchte, Instrumentalmusik, Gesang und von den Besuchern via Handy erzeugte musikalische Signale zu kombinieren. Und in seinem neuen Projekt „The Recording“ soll die Beteiligung des Publikums nun noch mehr im Mittelpunkt stehen. Für sieben Tage will er die Tischlerei der Deutschen Oper Berlin in ein Tonstudio verwandeln – und jeder Besucher ist eingeladen, nicht nur Herbert und seiner Band zuzuhören, sondern hier einen akustischen Beitrag welcher Art auch immer zu hinterlassen. „Ich möchte das Publikum mit dem Prozess der Musikwerdung konfrontieren“, erklärt Herbert. „Es soll erleben, welche Tragweite kreative Entscheidungen haben können und was sie auf allen Ebenen bewirken.“ Ob ein Vortrag, eine wissenschaftliche Untersuchung, eine EngineeringMeisterklasse oder ein Konzert. Alles Material, das an diesen Tagen entsteht, ist Material für das akustische Endprodukt. Innerhalb von nur einer Woche soll so ein neues Album quasi from scratch entstehen und am achten Tag vorgestellt werden. Und „The Recording“ kulminiert in einer RecordRelease-Party.

Jörg Königsdorf

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In Transit Eine Stückentwicklung von Eva-Maria Abelein, Mischa Tangian und Sängern des Opernensembles Uraufführung am 6. November 2014 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin Weitere Vorstellungen am 8., 9., 17., 18., 19. November 2014 Inszenierung Eva-Maria Abelein Komposition, Arrangement Mischa Tangian Bühne, Kostüme Lisa Däßler Dramaturgie Sebastian Hanusa Mit Alexandra Hutton, Christina Sidak, Elbenita Kajtazi, Gideon Poppe, Jörg Schörner, Carlton Ford, Alvaro Zambrano, Lukas Truninger; Mitglieder des Orchesters der Deutschen Oper Berlin Eva-Maria Abelein und Mischa Tangian © Thomas Aurin

Alles außer Oper DOB_TGS_Beileger_AUG_14_15.indd 24

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Immer in Bewegung. Nie wirklich angekommen. Das ist das Grundgefühl der Gegenwart. Wir sind Durchreisende mit festem Ziel vor Augen, aber stets zwischen den Stationen: im U-Bahnhof, am Flughafen, an der Bushaltestelle. „Orte, an denen man sich begegnet oder weiter geht“, so EvaMaria Abelein. „Wo wir viel Zeit unseres Lebens verbringen“. Die Regisseurin hat sich von diesen Transiträumen zu einem ungewöhnlichen Projekt in der Tischlerei der Deutschen Oper inspirieren lassen. Um Übergangssituationen geht es: im Leben, in der Musik. Mit IN TRANSIT spürt Abelein zusammen mit dem Komponisten Mischa Tangian einem Zustand nach, der zugleich unbehaust und für alle Möglichkeiten offen ist. Der wird nicht nur realistisch genommen, sondern darf surreal und assoziativ ausgreifen. Ein siebenköpfiges, international gemischtes Sängerensemble wagt dabei den Aufbruch ins Ungewisse. „Es ist nicht wie die TOSCA, an die man mit einem klaren Konzept geht“, lächelt die Regisseurin, „das macht es so spannend“. Ihre Projektentwicklung sprengt den Rahmen des regulären Opernbetriebs, weil sie keine vorgeschriebene Partitur bietet. Keine Arien oder Rollen, an denen sich die Solisten festhalten könnten. Stattdessen sind sie als Multitalente gefordert, werden anders sichtbar. „Jeder bringt zum Thema Transit etwas ein, das mit seinem Kulturraum oder den künstlerischen Anfängen zu tun hat“, so Komponist Tangian. Alles ist erlaubt – bloß nicht die normale Oper! Es wird keine Geschichte mit klassischer linearer Erzählung geben. Wohl aber einen dramatischen Bogen und Bühnenfiguren, die in verschiedenen Schattierungen ausgeleuchtet werden – auf einer episodischen Reise, die über die bloße Nummernrevue hinausgeht. Was die Auswahl von Musik und Texten betrifft, ist das Projekt noch in der heißen Findungsphase. Klar ist für Abelein, dass sie kein Interesse an Typen hat, „sondern an Menschen“. Schließlich sei Transit ein existenzielles Thema. „Wir alle sind doch unser ganzes Leben lang auf der Suche danach, wohin wir gehören“.

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Bei IN TRANSIT zeigen sich die Sänger des Ensembles von einer ungewohnten Seite

Gideon Poppe © Thomas Aurin

Wovon sich schon rein biografisch auch Mischa Tangian angesprochen fühlt. Der Musiker wurde 1988 in Moskau geboren, zog mit seinen Eltern bereits als Zweijähriger nach Deutschland. Von dort ging es nach Frankreich und wieder zurück. „Ich bin weder Russe noch Deutscher“, so Tangian. „Meine Vorfahren stammen aus Armenien, aber dazu habe ich auch keinen Bezug“. Ein Gefühl von Heimatlosigkeit und Fremdsein, das einerseits Unsicherheit

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schafft. Auf der anderen Seite kann er mit Überzeugung sagen: „Ich bin Kosmopolit“. Tangian – Preisträger des Kompositionswettbewerbs „Neue Szenen II“ der Deutschen Oper und der Musikhochschule Hanns Eisler – hat Geige in Düsseldorf und London studiert und konzertiert international. Daneben aber hat er beispielsweise mit dem Breakdancer AirDit Performances aufgezogen, die erfolgreich in der Jahrhunderthalle in Bochum oder im Plenarsaal Bonn liefen und Grenzen überschritten. Transit – das meint eben auch den Übergang zwischen den Genres. Mit Jazz- und Musical-Material sind sie in das Projekt gestartet. Nach und nach kamen durch die Sänger andere Klänge hinzu. Romantische Lieder von Schubert oder Hugo Wolf. Südamerikanische Cumbia. Balkanbeats. Mischa Tangian wird vieles neu komponieren, arrangieren und verfremden. Gearbeitet wird mit akustischen Instrumenten wie Geige, Klavier, Posaune oder Kontrabass, auch ein Elektromusiker ist live dabei, der mit Beats und Samples den „state of the art“ des Zeitgenössischen beisteuert. Die Herausforderung sei es, so Tangian, „Verbindungen zu schaffen zwischen den sehr verschiedenen Stilen“. Vom südamerikanischen Feeling ins urbane Berlin zu gelangen. Vom Boléro zum Berghain. Tangian selbst wird Geige spielen, vielleicht auch singen. Umgekehrt sind die Sänger auch als Musiker gefordert. Es ist ein Seitenwechsel-Unternehmen, das neue Perspektiven schafft. „Wir wollen auch ein Spotlight auf den einzelnen Künstler werfen“, beschreibt Regisseurin Abelein. Zwar würden die Sänger nicht nur biografisch aus ihrem Leben erzählen, aber der Natur des Projektes gemäß viel Privates einbringen. Es ginge darum, die Sänger „umfassend als Persönlichkeiten vorzustellen“. Nicht nur als Tenor oder Bariton. Die Entdeckungsmöglichkeiten sind dabei reich, die Lebenswege erfreulich verschieden. „Jeder geht anders mit seiner Vergangenheit oder Herkunft um“, so Tangian. Alvaro Zambrano stammt aus Chile. Der Tenor, an der Deutschen Oper in Produktionen wie DER LIEBESTRANK, DIE ZAUBERFLÖTE oder FALSTAFF zu erleben, hat schon mit acht Jahren Klavier zu spielen begonnen. Sein Vater ist ein Musiknarr, der selbst nie die Möglichkeit hatte zu studieren. Mit einem Stipendium für Kinder aus armen Verhältnissen ausgestattet, kam Zambrano ans Konservatorium in La Serena, wo er von einer kubanischen Klavierlehrerin ausgebildet wurde. „Bei ihr musste ich unglaublich viel improvisieren“, erzählt er, „das schult!“ Entsprechend schreckt ihn heute keine Arbeit, bei der er sich nicht an Noten festhalten kann, im Gegenteil. Zambranos musikalischer Weg: Er hat neben dem Klavierstudium Dirigent gelernt. Und trat als 17-Jähriger eine feste Stelle in einem Chor in Santiago de Chile an. Kammermusik hat er dort gesungen, Bach, Mendelssohn, Madrigale. Dann bot sich ihm die Chance, sein Studium in Deutschland fortzusetzen. In Freiburg im Breisgau. Zambrano liebt die Bächle-Stadt bis heute. Wie den meisten Transitreisenden des internationalen OpernBetriebs fällt es ihm schwer zu sagen, wo er eigentlich zuhause ist: „Wenn ich in Deutschland bin, sehne ich mich ein wenig nach Chile. Wenn ich in Chile bin, zieht es mich nach Berlin zurück, wo meine Arbeit und Freunde sind“, sagt er. Aber zu Freiburg ist eine besondere Bindung geblieben: „Meine Heimat ist der Schwarzwald!“, lacht der Chilene. Wenn man ihn fragt, ob sein Lebensweg auch eine gänzlich andere Richtung hätte nehmen können, muss er nicht lange überlegen. Es genügt ein Wort: „Fußball“. Er hat schon als Kind leidenschaftlich gern gespielt. Und gut obendrein. Ist immer noch so. Kürzlich hat Zambrano im Turnier der Berliner OrchesterMannschaften mit der Deutschen Oper den dritten Platz belegt, an dem Mann ist definitiv ein Profi verloren gegangen. Dass er in seiner Jugend zudem Skateboard gefahren ist, hat wiederum viel zu seiner Sängerkarriere beigetragen. Zambrano zeigt auf eine lange Narbe: „Ich habe mir beim Skaten zwei Mal den Arm gebrochen. Deswegen konnte ich ein Jahr nicht Klavier spielen und habe angefangen, im Chor zu singen“.

Alvaro Zambrano © Thomas Aurin

Vielleicht weisen die Felder Sport und Musik ja ohnehin mehr Gemeinsamkeiten auf, als man gemeinhin denkt. „Es gibt sehr viele Parallelen zwischen

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Mit dem Begriff des Transits können die beiden Tenöre viel anfangen. „Für mich ist das ein Zustand, in dem man sehr gut nachdenken kann. In dem einem vieles klar wird“, sagt Poppe. Vordergründig nichts zu tun, „bedeutet für mich keineswegs Stillstand“. Für Zambrano sind die Transiträume nicht zuletzt Orte der Begegnung. Bieten die Chance, auch mit Fremden ins Gespräch zu kommen. „Ich versuche das auf jeder Reise“, erzählt er. Wenngleich die Offenheit im Zeitalter der Smartphones nicht gerade gestiegen sei. Leider.

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Oper und Leistungssport“, ist Gideon Poppe überzeugt. „Man muss sehr diszipliniert sein, täglich trainieren und die Abläufe verbessern“. Der Tenor – seit der Spielzeit 2013/2014 festes Ensemblemitglied der Deutschen Oper – weiß wovon er spricht. Er hat zwar früher Cello gespielt und stammt aus einem Haushalt, in dem klassische Musik schon durch die Mutter, eine Geigerin, prägend präsent war. Aber studiert hat Poppe Sportwissenschaft an der renommierten Hochschule in Köln. „Ich wollte Journalist werden, die Redaktionsarbeit hätte mich gereizt“, sagt er. „Ich weiß allerdings nicht, ob ich in dieser Welt Fuß gefasst hätte“. Durch einen Freund wurde sein Interesse an Jazzgesang geweckt. Während eines Praktikums in einer Sportwerbeagentur in Hamburg begann Poppe, privat Unterricht zu nehmen. Der Lehrer bestärkte ihn darin, eine klassische Ausbildung zu versuchen. Also bewarb er sich an verschiedenen Musikhochschulen. Mit dem Vorsatz: „Wenn es bei einer klappt, probiere ich es aus“. Zwei von vieren wollten ihn. Poppe hat die Romantik ins Projekt gebracht. Mit Schubert und Hugo Wolf. Das deutsche Kunstlied ist eine seiner großen Lieben neben der Oper. „Dichterliebe“, „Schöne Müllerin“, „das sind tolle Geschichten, Stationenreisen“, schwärmt er. „Jedes Lied ist ein Zyklus für sich“. Die szenisch umzusetzen, würde ihn sehr reizen. Alvaro Zambrano wiederum weiß noch gar nicht, welches seiner Talente er bei IN TRANSIT zur Geltung kommen lassen wird. Er spielt Kontrabass in einer Band. Kann vorzüglich kochen [chilenische Spezialitäten, versteht sich, wie Empanadas oder Maiskuchen]. Und er tanzt ausgezeichnet Salsa. Wie es sich für einen Südamerikaner gehört, hat er’s noch von seiner Mutter gelernt, nicht in der Schule. Wobei er betont: „Wenn ich in Berlin in eine Salsathek gehe, staune ich, wie gut die Deutschen die Schrittfolgen beherrschen. Ich habe davon gar keine Ahnung, ich mach’s nach Gefühl!“

Ja da wär es halt gut, wenn man Englisch könnt, bisserl mehr noch als how do you do. Hermann Leopoldi

Kommunikation – auch das wird ein großes Thema auf der Bühne der Tischlerei sein. „Wir kommunizieren heute unentwegt“, so Regisseurin Eva-Maria Abelein. „Nur eben nicht mit den Menschen, die uns umgeben“. Andererseits schafften Handy und Internet heute die Möglichkeit, „mit Leuten verbunden zu bleiben, die das Leben von uns wegtreibt. Die uns aber am Herzen liegen“. Transit hat stets zwei Seiten. Abeleins Anliegen ist es ja nicht, zu werten oder Kritik an den Entwicklungen der Moderne zu üben. Sie sieht ihren Job bei diesem Projekt vor allem darin, „die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Menschen sich öffnen können und man von ihnen fasziniert wird“. Die gebürtige Bayerin – seit 2012 Spielleiterin an der Deutschen Oper – geht zum ersten Mal das vielversprechende Wagnis einer solchen Stückentwicklung ein. Auch darin liegt ein Moment des Transits. Impuls war Abeleins Wunsch, „etwas ganz anderes zu machen, als ich es gewohnt bin“.

Patrick Wildermann

Patrick Wildermann, geboren 1974 in Münster, lebt als freier Kulturjournalist in Berlin. Er schreibt unter anderem für den Tagesspiegel, das tip-Magazin und die Zürcher SonntagsZeitung. Die Schwerpunkte liegen auf Theaterkritiken, Portraits und kulturpolitischen Berichten.

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Repertoire-Tipps

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© Hans Joerg Michel

FALSTAFF – Giuseppe Verdi 29. November; 4., 11. Dezember 2014 Musikalische Leitung Stefan Solyom Inszenierung Christof Loy Mit Markus Brück, John Chest, Alvaro Zambrano, Martina Welschenbach, Elena Tsallagova, Jana Kurucová, Dana Beth Miller u. a.

© Mathhias Horn

© Bettina Stöß

TANNHÄUSER UND DER SÄNGERKRIEG AUF WARTBURG – Richard Wagner 7., 13. Dezember 2014

CARMEN – Georges Bizet 28. November; 2., 8. Dezember 2014

Musikalische Leitung Axel Kober Inszenierung Kirsten Harms Mit Ain Anger, Peter Seiffert, Markus Brück, Petra Maria Schnitzer u. a.

Musikalische Leitung Jacques Lacombe Inszenierung Søren Schuhmacher nach Peter Beauvais Mit Clémentine Margaine, Elena Tsallagova, Yosep Kang / Roberto Alagna [Dezember], Marko Mimica u. a.

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29 28 © Bettina Stöß

HÄNSEL UND GRETEL Engelbert Humperdinck 16., 23. [14.00, 18.00 Uhr], 28. [14.00, 18.00 Uhr] Dezember 2014 Musikalische Leitung Donald Runnicles / Moritz Gnann [28. Dezember] Inszenierung Andreas Homoki Mit Jana Kurucová /Stephanie Lauricella, Heidi Stober / Martina Welschenbach u. a.

© Monika Rittershaus

DER LIEBESTRANK – Gaetano Donizetti 22., 29., 31. [14.00, 19.30 Uhr] Dezember 2014 Musikalische Leitung Nicholas Carter Inszenierung Irina Brook Mit Seth Carico / Noel Bouley [29., 31. Dezember], Saimir Pirgu / Alvaro Zambrano [29., 31. Dezember], Olga Peretyatko / Heidi Stober [29., 31. Dezember] u. a.

© Marcus Lieberenz

© Bettina Stöß

LOHENGRIN – Richard Wagner 21., 25. Dezember 2014

DER ROSENKAVALIER – Richard Strauss 14., 17., 20. Dezember 2014

Musikalische Leitung Donald Runnicles Inszenierung Kasper Holten Mit Ain Anger, Roberto Saccà, Heidi Melton, John Lundgren, Petra Lang, Bastiaan Everink u. a.

Musikalische Leitung Donald Runnicles Inszenierung Götz Friedrich Mit Michaela Kaune, Albert Pesendorfer, Elīna Garanča, Elena Tsallagova u. a.

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© Marcus Lieberenz

DER BARBIER VON SEVILLA – Gioacchino Rossini 30. Januar; 12. Februar 2015 Musikalische Leitung William Spaulding Inszenierung Katharina Thalbach Mit Matthew Newlin, Markus Brück, Stephanie Lauricella, John Chest u. a.

© Bettina Stöß

DIE HOCHZEIT DES FIGARO Wolfgang Amadeus Mozart 16., 24., 28. Januar 2015 Musikalische Leitung Nicholas Carter Inszenierung Götz Friedrich Mit John Chest, Olga Bezsmertna, Martina Welschenbach, Jana Kurucová, Seth Carico u. a.

© Simon Pauly

© Bettina Stöß

Sinfoniekonzert 14. Januar 2014

TOSCA – Giacomo Puccini 15., 18. Januar 2015

Dirigent Donald Runnicles Orchester der Deutschen Oper Berlin

Musikalische Leitung Donald Runnicles Inszenierung Boleslaw Barlog Mit Anja Harteros, Marcelo Álvarez, Ivan Inverardi u. a.

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Berliner Philharmonie 14. September 2014 – Sonderkonzert im Rahmen der Musikfests Berlin 1. Oktober 2014 – Dinorah oder Die Wallfahrt nach Ploërmel [konzertant] 14. Oktober 2014 – Ariadne auf Naxos [konzertant] 5., 11. November 2014 – Roberto Devereux [konzertant] Tischlerei 1. September 2014 – 1. Tischlereikonzert „Zwischen Spiel und Chaos“ 18., 19., 20., 21., 22., 23., 24., 25. September 2014 – The Recording 29., 30. September; 1. Oktober 2014 – Meyerbeer-Symposion 12. Oktober 2014 – 2. Tischlereikonzert „Im Zeichen der Königlichen Kunst“ 6., 8., 9., 14., 17., 18., 19. November 2014 – In Transit 7. November 2014 – 3. Tischlereikonzert „Spotlights“

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Kasse mit Abo-Service [Eingang: Götz-Friedrich-Platz oder Bismarckstraße 35] Mo bis Sa 11.00 Uhr bis 1,5 Stunden vor der Vorstellung; an freien Tagen bis 19.00 Uhr; So 10.00 –14.00 Uhr Abendkasse ohne Abo-Service [Bismarckstraße 35] 1 Stunde vor Beginn Anfahrt U-Bahn: U2 Deutsche Oper / U7 Bismarckstraße Buslinien: 101 und M49

Tempodrom 17., 18., 19. Oktober 2014 – Béjart Ballet Lausanne [Gastspiel in Zusammenarbeit mit dem Staatsballett Berlin] Haus der Berliner Festspiele 14., 16. November 2014 – Die Schändung der Lucretia

Restaurant Deutsche Oper Reservierung / Pausenbewirtung: Tel 030-343 84 670 oder www.rdo-berlin.de

Deutsche Oper Berlin Bismarckstraße 35, 10627 Berlin Karten und Infos 030-343 84 343 www.deutscheoperberlin.de

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Auswärtssaison

Parkhaus Deutsche Oper 9., 12., 13., 15., 16. September 2014 – Oresteia

Parkhaus Deutsche Oper Einfahrt Zillestraße Operntarif € 3,– [ab 2 Stunden vor Beginn bis 2.00 Uhr ]

Auch auf:

Shop „Musik & Literatur“ Tel 030-343 84 649 oder www.velbrueck-shop.de

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