Wanderlust, Germany, October 2016

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Umdenken

Kirgisistan

Mit Kamerafallen hat Biosphere Expeditions nachgewiesen, dass Schneeleoparden im Kyrgyz-AlatooGebirge umherstreifen: Ein erster Schritt zum Schutz der weitgehend unbekannten Population.

Schneeleoparden-Schutzprojekt

Geist der Berge!

Der

Seit 2014 haben interessierte Laien die Möglichkeit, mit der gemeinnützigen

Forschungsorganisation Biosphere Expeditions aktiv im Schneeleoparden-Schutz in Kirgisistan mitzuarbeiten. Zusammen mit NABUs Anti-Wilderereinheit „Gruppa Bars“ sind sie im Kyrgyz-Alatoo-Gebirgskamm im Rahmen einer ArtenschutzExpedition unterwegs. wanderlust-Autor Sam Mittmerham war mit dabei. Text: Sam Mittmerham

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G

ezackt ragen die Türme des Hauptkamms bis zu 5.000 Meter in den Himmel. Grau-weiße Finger ins stechende Blau. Darunter grüne Wiesen, getupft mit Blumen in allen Farben. Kein Weg, kein Steg, keine bemalten Felsen oder Schilder mit Stundenangaben, die die Richtung weisen. Kein Mensch weit und breit. Keine Kuhglocken oder Almwiesen. Keine Heidi. Kein Alpen-Disneyland. Und das ist gut so, denn der Geist der Berge, wie die Einheimischen hier den Schneeleoparden nennen, mag seine Ruhe. Ruhe und Fels statt Schnee. „Eigentlich

Kirgisistan sollte er Felsleopard heißen“, sagt Dr. Volodymyr Tytar, der Wissenschaftler und Feldbiologe unserer Expedition. „Fels und Nahrung braucht er – Steinböcke, Argali-Schafe, Murmeltiere. Und in seinen riesigen Jagdrevieren so wenig Störung durch den Menschen wie möglich.“

Augen und Ohren offen halten Aber wo sind diese Jagdreviere, wo die Rückzugsgebiete? „Genau dafür brauchen wir unsere freiwilligen Helfer“, erklärt Dr. Tytar.

„Denn es gibt keine Technik, die mir sagen kann, wo der Schneeleopard und seine Beutetiere leben. Keinen Satelliten, den ich fragen kann. Um diese Fragen zu beantworten, brauche ich Augen und Ohren im Feld. Menschen, die Täler ablaufen, Spuren suchen, die Kämme per Feldstecher absuchen, Hirten befragen, Kamerafallen aufstellen, Batterien und SD-Karten wechseln. Gute, alte Handarbeit!“ Dr. Tytar lacht und lässt die Hand am Kamm neben unserem Basislager auf 3.000 Metern entlangschweifen. „Nach zwei Tagen Ausbildung an Karte, Kompaß, GPS, Datenblättern,

Kamerafalle, Geländewagenfahren usw. habe ich dann meine Helfer, die in kleinen Gruppen ausschwärmen und mir jeden Tag eine Fülle von Daten zurückbringen. Kleine Teile eines Puzzles, die sich nach mehreren Monaten mit mehreren Gruppen zu einem Gesamtbild zusammensetzen, aus dem Biosphere Expeditions, der NABU und ich eine Schutzstrategie für den Geist der Berge entwickeln können.“ So hat Dr. Tytar es vor acht Tagen bei der Einführung erklärt. Davor war ich noch in einer anderen Welt. Dann der Flug von Deutschland nach Bishkek via Russland

Schneeleopardenland: Bis zu 4.855 Meter ragen die Gipfel des Kyrgyz-AlatooGebirges in den Himmel. Der Kamm erstreckt sich über 454 Kilometer quer durch Kirgisistan bis nach Kasachstan.

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Kasachstan

Mongolei Kirgisistan China


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Infos & Kontakt Biosphere Expeditions ist eine gemeinnützige, mehrfach ausgezeichnete Naturschutzorganisation und Mitglied des IUCN und des Umweltprogrammes der UN. In Kirgisistan kooperiert Biosphere Expeditions mit dem Naturschutzbund NABU. Für Biosphere Expeditions basiert erfolgreicher Naturschutz auf Zusammenarbeit. Freiwillige Helfer aus aller Welt arbeiten Hand in Hand mit Feldforschern und den Menschen vor Ort für den Erhalt der Artenvielfalt. Die Schaffung eines Schutzgebietes für Schneeleoparden im Altai ist nur ein Beispiel für Erfolge aus der jüngsten Vergangenheit. Weitere Informationen zu Biosphere Expeditions gibt es unter: www.biosphere-expeditions.org

Expeditionen in den Tian Shan zusammen mit NABUs Gruppa Bars finden jährlich von Juni bis August statt. Für jeweils zwei Wochen kann sich jeder aktiv in die Schneeleoparden-Forschung einbringen. Die einzigen Voraussetzungen sind Englischkenntnisse, denn die Expeditionssprache ist Englisch, und die Bereitschaft, tägliche Bergtouren mit fünf bis 15 Kilometern Länge und zwischen 2.000 und 3.500 Höhenmetern zu wandern. Weitere Informationen zur Kooperation mit dem NABU und den Expeditionsmöglichkeiten gibt es (auf Englisch) unter: www.biosphere-expeditions.org/tienshan

Das Biosphere-Expeditions-Basislager auf 3.200 Metern Höhe auf der unerschlossenen Südseite des KyrgyzAlatoo-Gebirges.

Das Treffen von Einheimischen gehört ebenso zum Expeditionsalltag wie die Arbeit mit Karte, Kompass, Spuren und das Aufstellen der Kamerafallen.

Istanbul. Asien. Hochgebirge. Unser Expeditionsleiter holt mich und zehn andere Helfer in vier Geländewagen in der Stadt ab. Andy (42), der Banker aus Sydney, Shane (36), die Lehrerin aus Manchester, Paul (56), der Arzt aus San Francisco, Ute (28), die Krankenschwester aus Wien – unsere Lebensläufe könnten unterschiedlicher nicht sein, aber das Interesse am Naturschutz und die Tage in den Bergen schweißen uns zusammen. Fünf Stunden im Geländewagen bis zum Basislager. Wir werden auf der Fahrt durchgeschüttelt und dann zwei Tage lang fit gemacht für all die Geräte und Forschungsprozeduren. Unser Klassenzimmer ist ein weites Bergtal, an dessen Eingang eine einsame Jurte steht. Ein Bergbach murmelt uns jeden Abend in den Schlaf. Adler drehen hoch über uns ihre Kreise durch den stahlblauen Himmel. Wildpferde ziehen vorbei.

Hirten haben ihn gesehen Nach zwei Tagen ist Europa weit, weit weg. Wir haben unsere Aufträge. Jeder Gang in die Berge hat seinen Sinn, alles wird kartiert, aufgeschrieben, festgehalten. Jeder Weg muss mit Karte und Kompass selbst gefunden werden. Jeder Schritt fühlt sich an wie der eines Pioniers. Das Wort „Expedition“ füllt sich mit Sinn und wird greifbar. Vor einigen Tagen haben wir Befragungen mit Hirten durchgeführt und dabei von zwei Angriffen auf Fohlen in zwei verschiedenen entlegenen Tälern erfahren. Die Hirten waren

Wildpferde gibt es zuhauf. Oft ziehen große Herden am Expeditionslager vorbei und beeindrucken durch ihre agilen, lebenslustigen Bewegungen. Die Suche nach Spuren, Rissen und anderen Anzeichen von Schneeleoparden – zu Fuß und mit allen Sinnen. Keine Technologie kann diese Arbeit ersetzen.

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Kirgisistan Links: Kamerafalle Rechts: Das Ergebnis: Ein Schneeleopard ist in die Falle getappt.

sich einig, dass es wahrscheinlich Schneeleoparden auf Jagd nach Beute waren. Auch der Kadaver eines der toten Fohlen (das andere überlebte verletzt und wurde von unserem Expeditionstierarzt versorgt) sagt uns: „Schneeleopard“. Die Bisswunden am Hals sind typisch. Also besorgen wir uns Pferde von den umliegenden Hirten und teilen uns in zwei Gruppen auf, je eine pro Tal. Die, die reiten können, reiten. Die anderen laufen buchstäblich unbeschwert, denn die Pferde tragen unser Gepäck. Autos, selbst mit Allrad, haben in diesem Gelände keine Chance. Nach einigen Stunden verlassen wir die Wiesen. Die Sonne scheint, der Ausblick ist atemberaubend. Vor uns Gletscher und zerklüftete Felsen. Schneeleopardenland!

Die Gruppa Bars hilft uns, geeignete Plätze für Kamerafallen zu finden. Wir platzieren drei in jedem Tal. Als eine Gruppe die Kamera fertig anbringt, werden weiter oben im Fels kleine Steine losgetreten und poltern ins Tal. Unsere Blicke und die Feldstecher richten sich nach oben. Nichts. Aber dann das typische Schneeleoparden-Fauchen. Es wird vom Kehlkopf produziert und klingt wie Husten. Trotz aller Anstrengungen sehen wir jedoch nichts. Aber die Kamerafallen sind jetzt in Position und können weitere Puzzleteilchen für Dr. Tytar sammeln. „Wenn ihr nicht gewissenhaft Daten für mich sammelt, könnt ihr euch auch an den Strand legen“, hatte Dr. Tytar gesagt. Die Daten seien unser Erbe. Jeder hat diese Botschaft verstanden und die Kamerafallen helfen hoffentlich mit einem Teil der Erbschaft. Eine Erbschaft für Dr. Tytar und die Menschheit. Denn ohne den Geist der Berge fehlt diesem Gebirge und der Menschheit die Seele.

Eine Expeditionsteilnehmerin befragt mithilfe von Bildern einen berittenen Hirten über seine Sichtungen von Schneeleoparden.

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Fotos: Biosphere Expeditions, Martin Forster, Liss Myras, Melissa Shepstone

Man hört ein Fauchen


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