Nordis Magazin, Germany, September 2022

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[ Nachhaltige Nachbarn ]

AU F DE R S U C H E NACH DEN GEHEI MNI SSEN DER BÄR EN

MEHR VERSTÄNDNIS FÜR ­M EISTER PETZ Der Klimawandel macht auch vor Schweden nicht Halt. Doch wie gehen Wildtiere mit den Veränderungen um? Die Biologin Andrea Friebe vom Skandinavischen Braunbär-Forschungsprojekt und »Björn & Vildmark« erforscht in der Provinz Dalarna das Verhalten von Braunbären. Engagierte Bürgerwissenschaftler aus ganz Europa helfen ihr dabei, die wichtigen Daten zu sammeln und auszuwerten.

© Andrea Friebe / Scandinavian Brown Bear Research Project

TEX T & FOTOS: C HRI ST I ANE FL EC H T NER

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[ Nachhaltige Nachbarn ]

 Paradiesisch: das Hylströmmen Naturreservat  Bärenexpertin Andrea Friebe  Bürgerwissenschaftlerin Evelyn Frey-Royston beim Vermessen einer Höhle  Spuren von Bärenjungen an einer Birke  Braunbären sind sehr scheu. Sie kriegt man selten zu Gesicht.

Anfang des 20. Jahrhunderts waren Braunbären in dem skandinavischen Land zwischen Norwegen und Finnland nahezu ausgerottet. Der »Björn«, wie der Bär auf Schwedisch heißt, hatte kaum eine Chance – stand er doch ganz oben auf der Abschuss­ liste des Menschen. Und so war die Anzahl der scheuen Tiere auf 130 Individuen ­gesunken. Doch eine Entscheidung des schwedischen Königs Gustav V. verhinderte 1927 ihre vollständige Ausrottung, als er ­bekannt gab, dass diese Tiere zu Schweden gehören und geschützt werden müssen. Seitdem steigt ihre Zahl wieder stetig an – 2013 waren es sogar über 3.000 Tiere. Um die Population jedoch zu bremsen, wird seit 1943 jedes Jahr eine bestimmte Anzahl von Braunbären zum Abschuss freigegeben. Mittlerweile durchstreifen wieder rund 2.800 Bären und Bärinnen tagtäglich – meist scheu und unbeachtet von den Men­ schen – die Wälder Mittelschwedens. Doch wo halten sie sich auf ? Wovon ernähren sie sich? Wie weit wandern sie? Wodurch ­werden sie gestört? In welchen Höhlen sind die Jungen am besten geschützt? Diesen und anderen Fragen geht Andrea Friebe vom Skandinavischen Braunbär-For­ schungsprojekt und dem angeschlossenen Aktivprojekt »Björn & Vildmark« auf den Grund. Sie leitet die Feldarbeit und verwal­ tet die Datenbank des Forschungsprojekts und erforscht seit nunmehr 25 Jahren in der Provinz Dalarna im Herzen Schwedens das Verhalten von Meister Petz. Unterstützung erhält die Biologin bei der Sammlung der wichtigen Daten von der Naturschutzorganisation »Biosphere Expe­ ditions«, die seit 1999 gemeinnützige und

ethische Expeditionsreisen im Naturschutz organisiert und seit 2019 mit dem Bären­ projekt zusammenarbeitet. Matthias ­Hammer, Gründer und Geschäftsführer der Organisation, erklärt: »Unser Planet steckt in der Krise. Noch nie stand die Natur so unter Druck. Auf unseren gemeinnützigen Expeditionsreisen befähigen wir Menschen, dies zu ändern – durch Bürgerwissenschaft, ethisches Volunteering und angewandten Naturschutz.« Die Wanderschuhe sinken tief ein, als das kleine engagierte Team sich auf Spuren­ suche von Meister Petz begibt. Ausgestattet mit GPS, Kompass, Zollstock und anderen

geschützt vor den eisigen Temperaturen in Schwedens Winter, ausgepolstert mit ­Moosen und Beerensträuchern, hat die zehnjährige Bärin diesen Ort zu einem ­gemütlichen Schlafplatz für sich selbst und ihre einjährigen Jungen gemacht. So ein­ gekuschelt, haben sie die dunklen, kalten Monate ungestört verbracht. »Bären sind faszinierende Lebewesen, von denen wir Menschen immer noch viel zu wenig wissen«, sagt die Biologin. »Aber das, was bereits bekannt ist, ist wirklich beein­ druckend: Nicht nur, dass Bären monate­ lang in Winterschlaf gehen, sondern vor ­allem, dass die Weibchen während dieser Zeit, also quasi ›im Schlaf‹ ihre Jungen zur Welt bringen und diese mehrere Monate lang säugen, ohne dabei Nahrung oder ­Wasser zu sich zu nehmen.«

GPS-HALSBAND UND BIOLOGGER LIEFERN DATEN Im Winterschlaf sinkt bei den Bären die Herzrate auf vier bis zehn Schläge pro ­Minute, doch die Körpertemperatur bleibt nur wenige Grad unter der sonst üblichen. »Außergewöhnlich ist, dass sie sich trotz der langen Zeit nicht wundliegen, kaum ­Muskelmasse abbauen und auch keine Thrombose und Osteoporose erleiden. All

»Bären sind faszinierende Lebewesen, von denen wir ­Menschen immer noch viel zu wenig wissen.« Messgeräten, heften sich die Bürgerwissen­ schaftler »an die Fersen« einer Bärin namens Bergsloga. Diese war schon einmal hier in diesem Gebiet: Wenige Kilometer entfernt von der Feldstation in Kvarnberg hat sie im vorletzten Winter ihr Ruhelager gebaut, um Winterschlaf zu halten und zwei Junge zu gebären. Im vergangenen Herbst ist die ­Bärin mit ihren Jungen in diese Region ­zurückgekommen. Der Winterbau befindet sich unter einer großen Wurzel. Drinnen Nordis 41

diese Besonderheiten machen diese Tiere einzigartig. Und diese besonderen Bären­ eigenschaften sind auch von größtem ­Interesse für die Humanmedizin und -wissenschaft«, erklärt Friebe. Die Erfor­ schung der Überlebensstrategien während des Bärenwinterschlafes könnte nicht nur Kranken und Alten helfen, die lange liegen müssen, sondern auch Astronauten, die ins All ­fliegen und dort normalerweise extrem viel Muskelmasse abbauen.


[ Nachhaltige Nachbarn ]  Andrea Friebe (l.) erklärt den engagierten Helfern, was sie bei der Vermessung der Bärenhöhle beachten müssen.

Andrea Friebe und ihr Team möchten ­außerdem mehr über die Länge des Winter­ schlafs, Reproduktionszahlen, Paarungs­ strategien und die Todesursachen erfahren. Welche Winterhöhlen und Nester bauen die Bären? Stellen die Bären eine Gefahr für die Menschen dar? Und vor allem: Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf das ­Verhalten und die Überlebenschancen von Meister Petz? Dafür statten sie eine bestimmte Anzahl von Bären jedes Jahr mit GPS-Halsbändern aus, um sie zu erforschen und zu wissen, wo sie sich aufhalten. »Seit Projektbeginn im Jahr 1984 wurde in unserem Projektgebiet in Dalarna das Verhalten von 578 Bären ­untersucht, mehr als 1.000 Winterhöhlen oder -nester vermessen und protokolliert und Tausende von Kotproben gesammelt und untersucht«, sagt die Biologin. In ­diesem Jahr sind es insgesamt 59 Tiere, die das Bärenteam mit einem GPS-Halsband ausgestattet hat. Jede Stunde sendet der Sender eine Position des Bären, im Winter­ schlaf einmal pro Tag. Das sind rund 1,3 Millionen Positionen pro Jahr. So weiß Andrea Friebe immer, wo »ihre« Bären sich gerade aufhalten. Außerdem erhalten einige Bären Biologger, die kontinuierlich den Herzschlag und die Körpertemperatur ­erfassen, um die Physiologie der Bären ­erforschen zu können.

»URLAUBER« HELFEN BEIM DATEN-SAMMELN Evelyn Frey-Royston aus München und Neil Goodall aus England sind zwei der ­engagierten »Urlaubsforscher« und seit e­ iner halben Stunde unterwegs zu einer Winter­ höhle von Bärenweibchen Klackmyra. Die Koordinaten für die Höhle haben sie von Andrea Friebe erhalten. Die Bärin wird erst seit einem Jahr beobachtet und hat an ­diesen Koordinaten monatelang ihren ­W interschlaf verbracht, bevor sie aus un­ bekannten Gründen gestört wurde und ihr Winterquartier wechselte. »Etwa 20 Pro­ zent der Bären hier in Schweden wechseln im Winter ihre Winterhöhle. Sie können möglicherweise durch Jäger mit ihren Hun­ den gestört worden sein, die im Winter auf Elchjagd unterwegs waren«, erläutert die

Biologin den beiden engagierten Helfern. »Hat sie sich zu sehr gestört gefühlt, ist sie an einen anderen Winterschlafplatz ­umgezogen?«, fügt sie hinzu. Der Weg zur Winterhöhle ist beschwerlich. Es geht querfeldein durch schwieriges ­Terrain. Der Boden ist weich wie ein Tep­ pich – voller Moosen und Büschen von Krähenbeeren. Zwischendurch sumpfig feucht, umschwirren die beiden freiwilligen Helfer zahlreiche Moskitos. Die Wander­ schuhe sinken ein und erzeugen schmatzen­ de Geräusche beim nächsten Schritt. »Kein Wunder, dass wir nie einen der Bären zu Gesicht kriegen«, sagt Evelyn. »Uns hört man kilometerweit.« Die Koordinaten, die Andrea Friebe ihnen gegeben hat, passen: Quasi am »Nullpunkt« befindet sich die ­Bärenhöhle. Klackmyra hatte es sich im Winter unter einem Baumstumpf gemütlich gemacht, die Höhle mit Moosen und ­kleinen Ästen ausgepolstert. »Richtig ­gemütlich ist es hier unten«, sagt Evelyn, die im ­»richtigen Leben« als Dolmetscherin ­tätig ist.

HOLZWIRTSCHAFT GREIFT IN DIE NATUR EIN Die nächste Höhle, die die beiden Bürger­ wissenschaftler Karin und Ulrich Klingner unter die Lupe nehmen und vermessen, ist von Bärin Näckila in einem alten Ameisen­ haufen gebaut worden. »Selbstgegrabene 42 Nordis

Höhlen, vor allem in alten ausgestorbenen Ameisenhügeln sind für Bären besonders gut geeignet. Diese sind wesentlich besser isoliert als Winterquartiere unter Steinen oder Baumwurzeln«, erklärt die Biologin den beiden. »Wir haben herausgefunden, dass die Jungen größer und widerstands­ fähiger sind, wenn sie in gut isolierten ­Höhlen alter Ameisenhügel ihre ersten ­Lebensmonate verbringen«, erklärt die 51-Jährige. Doch diese gäbe es immer ­seltener, denn sie würden durch die Forst­ wirtschaft zerstört, wenn die riesigen ­Harvester (Holzvollernter) die Bäume für die Holzproduktion ernten. Dennoch, die Provinz Dalarna ist dünn ­besiedelt und bietet einen guten Lebens­ raum für die Bären. Das Wort »Dalarna« bedeutet »die Täler«, was sich auf die wald­ reiche, hügelige Landschaft beziehen lässt. Doch die Provinz ist auch stark durch die Holzindustrie geprägt. Das fällt auch ­Evelyn und Neil auf, als sie im Gebiet ­unterwegs sind, um eine Winterhöhle des Bärenmännchens Kyrk zu vermessen. Das Gebiet ist komplett zerstört und gleicht ­einer Kriegslandschaft. Dort hat der Bär ein Winternest an das emporstehende Wurzel­ geflecht eines umgestürzten Baumes gebaut. »In ganz Schweden gibt es nur noch etwa drei Prozent unberührten Wald. Alles ande­ re dient der Holzproduktion«, erklärt die Biologin. So würden nur Kiefern und Fich­ ten angepflanzt und die von selbst wachsen­


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© Andrea Friebe / Scandinavian Brown Bear Research Project

 Erfolgreiches Team von

den Birken entnommen. Und alle 80 oder 90 Jahre werde eine große Fläche abgeholzt. Biodiversität bei den Bäumen ist in der Holzindustrie leider oft unerwünscht. »So habe ich das Land noch nie betrachtet«, sagt Evelyn. »Der Wald galt für mich immer als wunderschön. Hier war für mich die Natur noch intakt, natürlich gewachsen. Doch das stimmt nicht. Deshalb bestehen die Wälder hauptsächlich aus Monokulturen. Es ist sehr erschreckend, dass es kaum ein Fleckchen gibt, wo die Natur in Ruhe gelassen wird und einfach wachsen kann«, fügt Evelyn hinzu. Um Bären besser zu schützen und Verständ­ nis für die braunen, scheuen Waldbewohner

Biosphere Expeditions  Bärentatzen sind perfekt für den Waldboden Schwedens.  Dieser Stumpf diente als Bären-Kratzbaum.

Kontakt stehe, können wir uns gegenseitig unterstützen. Das gilt auch für die Forst­ industrie. Wenn die Mitarbeiter dort wissen, wie wichtig alte Ameisenhügel für die ­Reproduktion der Bären sind, können sie vermeiden, mit ihren schweren Harvestern darüber zu fahren«, fügt sie hinzu. Reden und Information tragen eben zum besseren Verständnis untereinander bei. Um den Menschen das Leben vom Ursus arctos näherzubringen, veranstaltet Andrea Friebe auch immer wieder Projekttage für Schulklassen und interessierte Gruppen. »Es ist wichtig zu erklären, dass der Braun­ bär vor ihrer Haustür nicht gefährlich ist, sondern Menschen lieber aus dem Weg

»Es ist wichtig zu erklären, dass der Braunbär vor ihrer Haustür nicht gefährlich ist, sondern Menschen lieber aus dem Weg geht.« aufzubauen, steht Andrea Friebe auch in ­regelmäßigem Austausch mit den schwedi­ schen Behörden, der Forstwirtschaft und den Jägern. »Es werden pro Jahr etwa zehn Prozent der Braunbären-Population zum Abschuss freigegeben«, sagt sie. »Wir haben zu vielen Jägern einen guten Kontakt. Hier und da passiert es jedoch, dass ein Bär mit einem GPS-Halsband geschossen wird, ­unter anderem, da man von der Ferne nicht immer sehen kann, dass ein Bär ein GPSHalsband trägt. Indem ich mit ihnen in

geht«, sagt die Bärenwissenschaftlerin. »Hier ist die Akzeptanz für Bären im Allge­ meinen sehr hoch – anders als im benach­ barten Norwegen, wo es viel mehr Konflikte mit Schafsbesitzern gibt. Die Menschen in Schweden leben mit Elchen, Wölfen, ­Füchsen und eben auch mit Bären in der unmittelbaren Nachbarschaft und viele freuen sich sogar, wenn sie den scheuen Waldbewohner auch mal zu Gesicht ­bekommen. Er gehört hierher und es ist normal, dass er hier irgendwo herumstreift, Nordis 43

auch wenn man ihn nur höchst selten sieht.« Die Bürgerwissenschaftler von Biosphere Expeditions nehmen auch viele wichtige Erkenntnisse mit nach Hause: »Das Projekt hier hilft ungemein, mehr Verständnis und mehr Respekt für Bären entgegenzubrin­ gen«, sagt Ulrich Klingner. »So konzentriert für eine Spezies so viel zu erreichen – die Chance hat man nicht oft.« Und Evelyn fügt hinzu: »Ich hoffe, dass unsere Daten­ sammlung auch zu größerer Akzeptanz für diese besonderen Tiere führt. Wenn wir mit der Forschung zeigen können, welche ­Bedürfnisse die Bären an ihren Lebensraum haben und welche große Rolle der Natur­ schutz dabei spielt, dann können wir die Menschen und die Behörden auffordern, ihr Verhalten zu verändern. Vielleicht gibt es in Schweden auch bald mehr unberührte ­Natur. Dem Land und seinen tierischen und pflanzlichen Bewohnern würde das extrem guttun und Schweden bereichern.« n EXPEDITIONEN Wer seine Urlaubszeit sinnvoll gestalten möchte, kann an den nächsten Natur- und Artenschutzexpeditionen teilnehmen und Naturschutz hautnah erleben und unterstützen. www.biosphere-expeditions.org Infos zum Bärenprojekt gibt es unter www.bjorn-vildmark.com.


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