P.M. Magazin, Germany, November 2020

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Wisse nschaft

DIE DEMOKRATISIERUNG DER WISSENSCHAFT

TEXT: ULF SCHÖNERT

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FOTO: ACTION PRESS

Kein Hochschulabschluss? Kein Problem! Citizen Science lädt ganz normale Bürger zum Mitforschen ein. Das bringt Erkenntnis – und macht vor allem Spaß

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ie Belohnung für die stundenlange Arbeit? Eine virtuelle Auszeichnung, genannt »Badge«, eine gute Platzierung im Tagesranking und ab und zu ein paar lobende Worte: »Super, du hast dein Ziel erreicht!« Mehr darf man nicht erwarten, wenn man bei »PlanktonID« mitmacht. Dabei ist die Arbeit für das wissenschaft­liche Projekt des Geomar-For­ schungs­zen­­

trums in Kiel durchaus mühsam. Qua­ dratische Schwarz-Weiß-Fotos, klein und zum Teil recht unscharf, gilt es zu identifizieren. Gruppenweise zu 16 Stück werden sie auf dem Bildschirm platziert. Nun müssen sie gesichtet und richtig ­zugeordnet werden. Die Fotos stammen von einem Tauchroboter, der sie vor der afrikanischen Küste in bis zu 6000 Meter Tiefe aufgenommen hat. Sie zeigen Planktonwesen unterschiedlicher Formen und

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Vor Sonnenaufgang aus dem Bett, um Tiere zu beobachten? Vogelfreunde machen das aus Neugierde und Leidenschaft. Diesen Einsatzwillen macht sich die Bürgerwissenschaft zunutze.

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Immer mehr Menschen verbringen ihre Freizeit auf diese Weise. Sie fotografieren Pilze, zählen Vögel, helfen beim Entziffern alter Schriften oder bei der Zu­ ordnung von Luftbildern. Ins Deutsche übersetzt wird Citizen Science meist mit Bürgerwissenschaft oder auch mit­Amateur- oder Laienwissenschaft. Manche sprechen auch von Mitmachforschung, von Offener Wissenschaft oder von Crowd-­Science. Es ist die Wissenschaft der vielen.

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Größen. 300 000 dieser Bilder kamen ­allein während der Afrika-Expeditionen im Jahr 2019 zusammen und müssen nun von Menschen in Augenschein genommen werden. Eine Menge Arbeit. Es sind ja auch wirklich sehr viele Bilder. Deshalb haben die Kieler Forscher vor zwei Jahren begonnen, sich Hilfe aus dem Netz zu holen. Unter planktonid.geomar.de können seitdem Freiwillige mitforschen. Fast fünf Millionen Bilder haben sie so bereits gesichtet und zugeordnet. »Einige von denen, die mitmachen, spielen sonst in ihrer Freizeit Sudoku. Bei uns können sie entspannen und gleichzeitig der ­Wissenschaft helfen«, sagt Rainer Kiko, Projektleiter von PlanktonID.

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inem Zeitvertreib nachgehen und gleichzeitig etwas für die Wissenschaft tun: Das ist das Prinzip von Citizen Science. Dieser Begriff, den es so erst seit ein paar Jahren gibt, steht für

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e­ inen neuen Aufbruch der Wissenschaft: raus aus den Universitäten, Forschungsinstituten und Laboren, hin zu den ganz normalen Menschen, den Bürgern. Alle, die Lust haben, sollen mitmachen können. Man muss keinen Doktortitel haben, man muss kein Hauptseminar besucht haben. Man braucht nicht mal einen Schulabschluss. Es zählt allein die Leidenschaft für das Thema.

JEDER ZWEITE NEU ENTDECKTE PLANET WURDE VON EINEM CITIZEN SCIENTIST GEFUNDEN.

Wissenschaft mitzumachen. Und noch nie war es so leicht, Bürger in Forschungsprojekte einzubeziehen. Portale wie »Bürger schaffen Wissen«, »SciStarter« und »Zooniverse« sammeln Mitmachmöglichkeiten in riesigen Datenbanken (siehe Seite 84). Was motivierte Laien zu leisten imstande sind, zeigt vor allem das Mammutprojekt Wikipedia. Vor 20 Jahren erfand der US-amerika­ nische Programmierer Jimmy Wales das Online-Lexikon, bei dem jedermann mitschreiben durfte. Inzwischen ist daraus das größte Wissensprojekt der Weltgeschichte geworden (siehe Seite 56). Zunächst waren es vor allem Astronomen und andere Naturwissenschaftler, die online zum Mitforschen einluden. Zu den ­ersten großen Projekten gehörte »Seti@home«, ein Programm zum Aufspüren außerirdischer Intelligenzen anhand von Radiowellen, das normale PC-Nutzer auf ihren Privatrechnern ausführen konnten. Zwar wurden am Ende keine Aliens gefunden, doch das Prinzip hatte funktioniert. FOTO: ALAMY

Die Wissenschaftler des Geomar-Forschungszentrums in Kiel schaffen die Auswertung ihrer 300 000 Planktonfotos nicht. Also spielen Freiwillige für sie: Online ordnen sie Schwarz-WeißBilder bestimmten Merkmalen zu – beispielsweise »schwarzer Zellkern, unscharfer Rand«.

ur zum Teil geht es dabei darum, Forschern einfache Arbeiten ­abzunehmen, so wie bei Plank­ tonID. Immer häufiger ist der Anspruch höher. Denn Laien haben Experten gegenüber manchmal sogar Vorteile. Nicht nur, weil sie weniger voreingenommen an Fragestellungen herangehen. Sondern vor allem, weil sie schlicht in der Überzahl sind. Ein Mensch allein, und sei er noch so gebildet, kann nicht alles wissen. Bei einer großen Gruppe von Menschen aber ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass jemand dabei ist, der eine Fragestellung besser versteht oder die Antwort kennt. Es ist das Prinzip des ­Publikumsjokers bei »Wer wird Millionär?«. Manche nennen es auch kollektive Intelligenz oder Schwarmintelligenz. Diese Methode ist nicht neu. Schon die alten Griechen bedienten sich ihrer in wichtigen Fragen der Staatskunst. Politische Entscheidungen vertrauten sie nicht – wie die Perser oder die Ägypter – einem einzigen Herrscher an, sondern übertrugen sie auf die Masse der ganz normalen Leute. Auf Amateure, die gemeinsam entschieden. Sie nannten das Demokratie. Dass die Wissenschaft heute vermehrt auf Laien setzt, liegt vor allem am Internet. Dadurch, dass immer mehr Menschen digital miteinander vernetzt sind, lässt sich die Schwarmintelligenz immer besser nutzen. »Forschung in Elfenbeintürmen ist out«, heißt es auf der Website des Bundesforschungsministeriums. Noch nie war es so leicht, bei der

Fische wissen: Der Schwarm ist stärker als der Einzelne. Doch auch unter Menschen spricht sich das herum.

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Inzwischen gibt es weltweit Tausende ­Citizen-Science-Projekte, auf mehrere Millionen wird ihre Teilnehmerzahl ge­ schätzt. Manche loggen sich nur mal ­einen Tag ein, um ein paar Vögel zu ­zählen, anderen bleiben ihrem Projekt über ­Jahre treu. Manche erheben ledig­ lich ein paar Daten, während sich andere auch bei der Konzeption und bei der Auswertung einbringen. Die Fragen, die dabei untersucht werden, können sich am Rand des Sonnensystems abspielen, aber auch ganz praktisch sein. Wie viele Parkplätze gibt es in Berlin? An welchen Stränden liegt am meisten Plastikmüll? An welchen Orten in Indien ist es schon zu sexueller Gewalt gekommen? Im Corona-Jahr 2020 erlebte die Bürgerwissenschaft einen zusätzlichen Schub. Schon zu Beginn der Pandemie rief das Robert Koch-Institut Besitzer von Smartwatches und Fitnesstrackern zu »Datenspenden« auf, um den Verlauf der Pandemie besser verstehen zu ­können. Das schon einzuschlafen dro­ hende Projekt »Foldit«, bei dem Bürger­ wissenschaftler spielerisch an Bild­ schirmmodellen von Eiweißstrukturen

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basteln können, lud bereits kurz nach Beginn der Pandemie die Oberflä­ ­ chenstruktur von Sars-CoV-2 hoch und wurde von Inte­ ressierten förmlich überrannt. Das Citi­zen-­Science-Portal SciStarter meldete zeitweise einen An­ stieg der Mitarbeit um 480 Prozent. Selbst die Bundesregierung setzte im Verlauf der Corona-Pandemie auf Mit­ machforschung und lud zum Hackathon »#WirVsVirus« ein. Und Millionen in­ stallierten die Corona-App, um das ­Virus zu bremsen. Die Botschaft: Jeder kann etwas tun, jeder kann mithelfen.

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ass normale Bürger forschen, einfach aus Neugier, ist eigent­ lich nichts Neues. Bereits in der Antike lernten Bauern oder Seeleute Geometrie und Astronomie. Nicht nur um sich die Arbeit zu erleichtern, son­ dern um die Welt – oder den Kosmos, wie sie sie nannten – besser zu verstehen. Auch im Mittelalter forschten die Men­ schen abseits von Universitäten und Klöstern, aus reiner Liebhaberei: Im 15. Jahr­hundert zeichneten Shinto-Pries­ ter etwa ­regelmäßig das Zufrieren eines

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Biologin Doreen Werner bekommt jeden Tag tote Mücken zugeschickt. Ohne die Einsendungen wüsste sie viel weniger über die Ausbreitung der einzelnen Arten. F O T O S : S C I E N C E M U S E U M L O N D O N , D PA P I C T U R E - A L L I A N C E , B P K , A KG - I M A G E S , VA R I O I M A G E S

Gleich nach dem Corona-Ausbruch im Frühjahr 2020 lud die Bundesregierung zum Hackathon »#WirVsVirus« ein, an dem sich Freiwillige aus allen Fachrichtungen ­beteiligen konnten. Die Resonanz war überwältigend: Mehr als 130 Projekte sind so entstanden, zum Beispiel medizinische Hilfsangebote und digitale Lernplattformen.

nen, hatte das allerdings nichts zu tun. Citizen Science als Gemeinschaftsarbeit kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, als Ornithologen in Großbritannien erstmals Wildvogelbestände flächen­ ­ deckend mittels freiwilliger Helfer er­ fassten. Beobachtungen aus allen Lan­ desteilen wurden per Brief oder Postkarte eingesandt und zentral ausge­ wertet. Jahrzehntelang ging das so – bis die digitale Revolution begann. Heute funktioniert Citizen Science mit Smart­ phone-Apps, interaktiven Websites und editierbarem Kartenmaterial viel leich­ ter und schneller.

­ estimmten Sees auf, finnische Kauf­ b leute das Aufbrechen des Eises in einem wichtigen Fluss. Eine Datensammlung, die keinen vordergründigen Sinn hatte, heutigen Forschern aber bei der Rekon­ struktion früherer klimatischer Bedin­ gungen hilft. Selbst Genies wie Albert Einstein, ­Alexander von Humboldt oder Charles Darwin waren im weitesten Sinne Bür­ gerwissenschaftler. Zwar waren sie alle akademische Gelehrte. Doch ihre größ­ ten Leistungen entwickelten sie außer­ halb des Wissenschaftsbetriebs, als Frei­ zeitforscher. Humboldt war eigentlich kein Naturforscher, sondern Staats­ rechtler. Darwin hatte ursprünglich Me­ dizin und Theologie studiert. Einstein schrieb die Relativitätstheorie auf, als er im Patentamt in Bern angestellt war. Mit der modernen, vernetzten Bür­ gerwissenschaft, wie wir sie heute ken­

ückenforscherin Doreen Wer­ ner hatte schon Dutzende In­ sektenfallen in ganz Deutsch­ land aufgestellt. Doch einen echten Überblick, welche Mückenarten wo im Land wie gehäuft auftreten, bekam sie dadurch nicht. Sie hatte einfach zu weni­ ge Fallen. Als sie aber übers Internet dazu aufrief, selbst erlegte Mücken an ihr Labor nach Müncheberg in Branden­ burg zu schicken, kamen die Proben zu Tausenden per Post – allein im vergange­ nen Jahr waren es 2254 Einsendungen. Erstmals hatte Werner nun Tiere aus wirklich allen Ecken Deutschlands zur Verfügung und konnte damit sogar nachzeichnen, wie sich die bei uns ei­ gentlich gar nicht heimische Tigermü­ cke in immer mehr Regionen ausbreitet. Zu bahnbrechenden Erkenntnissen haben Bürgerwissenschaftler bereits beigetragen – zum Beispiel bei der Ent­ deckung von Exoplaneten. Jeder zweite neu entdeckte Planet wurde von einem Bürgerwissenschaftler gefunden. Citi­ zen Scientists tauchen inzwischen regel­ mäßig als Mitautoren renommierter Fachartikel auf. Über Erkenntnisgewinn und preis­ werte Zuarbeit hinaus hat Bürgerfor­ schung für wissenschaftliche Einrich­ tungen einen weiteren Effekt: Publicity. Aufrufe zur Mitarbeit sind immer gleich­ zeitig auch Öffentlichkeitsarbeit, denn sie machen den Forschungsgegenstand

»ZIEL IST ES, DEN TRANSFER ZWISCHEN FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT WEITER ZU STÄRKEN.« Bundesforschungsministerium

bekannt. Sie sind außerdem ein Signal nach außen: Unsere Institution ist nicht abgehoben, so die Botschaft. Wir befür­ worten Partizipation. Klassische Wissen­ schaftler und Bürger arbeiten bei uns eng zusammen. Schon vor dem Aufkommen des Citi­ zen-Science-Booms hatten sich viele Universitäten dem Prinzip der Offenen Wissenschaft verschrieben. Manche,

zum Beispiel in Düsseldorf, haben »Bür­ geruniversitäten« eröffnet, die den ­Kontakt zur nicht akademischen Bevöl­ kerung intensiveren sollen. Wissen­ schaftliche Arbeit soll dadurch transpa­ renter und nachvollziehbarer für alle sein. In solche Konzepte passen mitfor­ schende Bürger natürlich hervorragend. Zumal sich gezeigt hat, dass Citizen Science auch Menschen anzieht, die in der etablierten Wissenschaft sonst eher untergeordnete Rollen spielen, zum ­Beispiel ethnische Minderheiten oder Menschen mit einem schwachen sozio­ ökonomischen Hintergrund. Die Politik unterstützt das nach Kräften. »Bürgerforschung ermöglicht der Zivilgesellschaft, an Wissenschaft ­teilzunehmen, neue wissenschaftliche Fragestellungen zu entwickeln und spe­ zielles Wissen und neue Impulse in die Wissenschaft zu tragen«, heißt es aus

Auch Alexander von Humboldt war im weitesten Sinne Amateurforscher: Ausgebildet war er nämlich nicht etwa als Biologe, sondern als Staatswissenschaftler. Der Erforschung der Natur wandte er sich aus Liebhaberei in seiner Freizeit zu.

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dem Bundesministerium für Bildung und Forschung. »Ziel ist es, den Wissens­ transfer zwischen Forschung und Gesell­ schaft weiter zu stärken, um somit ­einerseits die Wissenschaftsmündigkeit der Bürger zu fördern und anderseits Wissen und Impulse für ­Forschung und Entwicklung zu generieren.« Auch auf EU-Ebene, in den USA, Australien, Neu­ seeland, Österreich und China werden Citizen-Science-Projekte durch staat­ liche Gelder kräftig gefördert.

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F O T O S : T H E O G R Ü N TJ E N S , M AT T H I A S H A M M E R ( 4 ) , B I O S P H E R E E X P E D I T I O N S

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ängst laden nicht mehr nur Uni­ versitäten, sondern auch Museen und Naturschutzverbände zum Mitforschen ein. Projektmanager küm­ mern sich um die Organisation, PR-­ Leute machen Öffentlichkeitsarbeit und werben neue Freiwillige an. Auf Konfe­ renzen und Festivals vernetzen sich die Forschungsprojekte und lernen von­ einander, wie man sich bekannter macht und Freiwillige bei der Stange hält. Denn Geld bekommt niemand für diese Arbeit. Es sind Menschen, die Zeit haben, die sich freiwillig melden. Men­ schen. denen es zu langweilig ist, den ganzen Tag am PC zu zocken. Die etwas erleben und etwas Sinnvolles machen wollen. »Diese Leute haben Zeit und sind neugierig« sagt Rainer Kiko. Aber was treibt sie an? Um vier Uhr aufstehen, um Vögel zu beobachten? Die Nacht durchmachen, um Nachtigallengesänge aufzuzeichnen? Den Urlaub drangeben und durch niedersächsische

DEN WÖLFEN HINTERHER

Manche Citizen Scientists opfern sogar ihren Urlaub der Wissenschaft. 1  In der Lüneburger Heide begeben sie sich auf die Spur frei lebender Wölfe. 2  Wirklich gefährlich ist die Arbeit nicht, aber Vorsicht ist durchaus geboten.  3  Leibhaftige Tiere bekommen die Forscher nur selten zu Gesicht. 4  Die Spuren der Tiere sind aber häufig zu finden.  5  Inzwischen reisen Wolfsfans aus der ganzen Welt an.  6 Nach der Expedition teilen sie ihre Erkenntnisse mit staatlichen Wolfsforschern.

Wälder schleichen, um Wolfskot zu sam­ meln (biosphere-expeditions.org)? Und wie bekommt man Menschen, die nicht gerade Planktonforscher sind, dazu, sich Bilder von Plankton anzuschauen und sie auch noch zu sortieren? Am besten stundenlang, tagelang? Eine Studie der Universität von Portsmouth hat das untersucht. Dem­ nach ist die größte Motivation der Citi­ zen Scientists der eigene Wissenshunger. Es geht ihnen darum, Neues zu lernen. Direkt danach folgt der Wunsch, Teil ei­ ner Community zu sein. Quasi eine Art Selbstaufwertung durch die Teilhabe am wissenschaftlichen Betrieb. »In Zeiten, in denen es in der Wissenschaft viel zu viel um ökonomische Interessen geht, ist diese pure Lust am Wissen unglaublich befreiend«, sagt der Wissenschaftstheo­ retiker Peter Finke (mehr dazu im Inter­ view mit ihm auf Seite 78). Besonders für Schulen ist das inte­ ressant. Immer mehr Lehrer vermitteln ihren Schülern anhand von Citizen Science, was in der Wissenschaft wichtig ist: Sorgfalt. Dass man Regeln beachten muss und dass Zusammenarbeit wichtig ist. Dass man dafür Material einsetzen und zuweilen hart arbeiten muss. Dass man »Scientific Literacy« braucht: eine wissenschaftliche Art zu denken. Zumindest solange Menschen noch selber denken müssen. Denn inzwischen bekommt Citizen Science immer mehr nicht menschliche Konkurrenz. Com­ puterprogramme mit Künstlicher Intel­ ligenz können Aufgaben erledigen, die bislang Bürgerforschern vorbehalten waren. Beim Projekt »Artigo« verschlag­ worten Freiwillige zurzeit noch Kunst­ werke von Hand. Doch die automatische Bilderkennung von Computern macht große Fortschritte, bald werden dazu deutlich weniger Menschen gebraucht. Ähnliches droht dem Eiweißprojekt Fold­it, bei dem Algorithmen inzwischen genauso gute Ergebnisse beim Falten von Eiweißmolekülen ­ erzielen wie Men­ schen. In manchen Projekten, etwa »Radio Galaxy Zoo«, helfen Citizen ­

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»IN ZEITEN, IN DENEN ES VIEL ZU VIEL UM ÖKONOMISCHE INTERESSEN GEHT, IST LUST AM WISSEN UNGLAUBLICH BEFREIEND.« Peter Finke, Wissenschaftsforscher

Scientists schon dabei, Künstliche Intel­ ligenzen zu trainieren. Arbeiten sie da­ mit an ihrer eigenen Abschaffung?

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ein, wenn man Wissenschaftlern der University of Minnesota glaubt. Die haben kürzlich die Ar­ beitsergebnisse von Citizen Scientists und Computeralgorithmen bei der Aus­ wertung von Kamerafallenbildern ver­ glichen. Ergebnis: Computer sind besser bei der Grobsortierung, die Bürger aber besser bei der Feinjustierung. »Die Tech­ nik des maschinellen Lernens erlaubt es den Ökologen, die Bildeinteilung zu be­ schleunigen«, sagt Studienleiter Marco Willi. »Dann muss eben nicht jedes Bild von vielen Freiwilligen eingeordnet wer­ den, das macht der Rechner. Und ein oder zwei Freiwillige überprüfen die Feineinstellungen des Computers. Der Rest der menschlichen Kraft kann zu­ künftig für noch viel größere Citizen-­ Science-Projekte genutzt werden.«

Kompakt   Die Wissenschaft verabschiedet sich aus dem Elfenbeinturm: In aller Welt öffnen sich Forschungsprojekte für die Mitarbeit von ganz normalen Bürgern. Davon profitiert die gesamte Gesellschaft.

Ulf Schönert nutzt am PC am liebsten Open-Source-Programme wie Libreoffice oder Firefox. Auch sie leben von der Unterstützung ehrenamtlicher Helfer.

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