Aerztliches Journal, Germany, May 2018

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Ein Wolfsrevier erstreckt sich über durchschnittlich 250 Quadratkilometer.

Wolfsspuren

in der Heide Seit dem Jahr 2000 leben wieder Wölfe in Deutschland. Alleine in Niedersachsen wurden zehn Rudel gezählt – Tendenz steigend! Als so genannter „Bürgerwissenschaftler“ kann man hier jeden Sommer an der offiziellen Wolfsforschung teilnehmen. Oliver Gerhard (Text und Bilder)

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Theo Grüntjens erklärt Spuren.    2 Hundeführer Felix Böcker mit Spür­hund Riga     3 Baumhaushotel „Tree Inn“

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die zu jedem Fund angelegt wird, James misst den Haufen mit einem Zollstock und Abilasha packt Plastikhandschuhe und einen Becher mit Ethanol aus: Nur eine DNA-Probe liefert den endgültigen Beweis. „Oh Gott, ich glaube, ich kann das nicht“, sagt sie. Doch dann packt sie beherzt eine Probe und füllt sie in den Becher. Tag zwei ihres Forschungsurlaubs!

Begegnungen sind höchst selten Knapp 50 Naturfreunde aus aller Welt sind im vergangen Sommer nach Niedersachsen gereist, um – verteilt über vier Wochen – an der ersten offiziellen Wolfsexpedition von „Bürgerwissenschaftlern“ teilzunehmen: Yvette aus Texas, Major bei der US-Armee, träumt von

Schlafen bei den Wölfen Ein lautes Aufheulen, ein zweites, dann fällt das restliche Rudel mit ein: Im „Wolfcenter Dörverden“ zwischen Hannover und Bremen kann man Wölfe in Gehegen beobachten und durch Fotoklappen fotografieren. Teil der Anlage ist das hölzerne Baumhaushotel „Tree Inn“, das über den Wölfen schwebt. Be­ obachten kann man sie durch Panoramafenster, beim Picknick auf der Dachterrasse und sogar aus dem Whirlpool.  Infos: www.wolfcenter.de und www.tree-inn.de

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einem Job mit Tieren. Die IT-Beraterin Abilasha aus Indien möchte in den Ferien etwas Sinnvolles tun. Und der Stuttgarter Controller Michael hat gekündigt, weil er in der Natur arbeiten möchte. Einige bringen schon Erfahrung mit: Sie haben in Costa Rica Meeresschildkröten gezählt oder sind in Kirgisistan den Spuren der Schneeleoparden gefolgt. In ihren Augen ist die Wolfspirsch in der Lüneburger Heide nicht weniger exotisch, obwohl eine Begegnung mit dem Tier in freier Wildbahn so gut wie ausgeschlossen ist – daran lässt der Veranstalter „Biosphere Expeditions“ keinen Zweifel. Eine Woche als Forscher haben die Teilnehmer gebucht – mit Unterkunft in Zweibettzimmern und vegetarischer Vollverpflegung. Anfangs zwei Tage Crashkurs, den Umgang mit GPS-Gerät und Walkie-Talkie lernen. Die Teilmnehmer erfahren, wie man Wolfs- von Hundespuren unterscheidet, wie man einen

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Fotos: S. 06/07: Fotolia – creative nature; Oliver Gerhard (2), www.tree-inn.de (1)

Nebel hängt über der Lüneburger Heide. Die Kiefern lassen ihre Äste hängen, Regentropfen funkeln im Gras. Fünf Wanderer in Khaki und Oliv folgen dem breiten Forstweg, die Augen auf den Boden geheftet. Plötzlich eine aufgeregte Stimme: „Eine Spur, eine Spur!“ Alle laufen zusammen, doch Peter Schütte gibt Entwarnung: „Die Abdrücke sind zu klein – das kann kein Wolf gewesen sein.“ Enttäuschte Blicke! Fünfhundert Meter weiter der nächste Fund: ein Haufen verwitterter Losung, mit Haaren darin und kleinen Knochenstücken. War hier ein Wolf unterwegs? Schütte kniet sich hin, hält die Nase über den Haufen – und zuckt zurück. Die Augen seiner Begleiter leuchten: „Der Geruch von Wolfskot zieht Dir die Schuhe aus – es gibt nichts Brutaleres“, hatte der Wissenschaftler am Vortag erklärt. Jetzt sind alle gefordert: Nina lässt den Stift über die Checkliste flitzen,

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Expeditionsteilnehmerin Abilasha

Fund dokumentiert und DNA-Proben nimmt – für die Wissenschaft zählen nur eindeutige Fakten. Die Arbeitssprache ist Englisch. Alle brennen vor Ungeduld, als es endlich „ins Feld“ geht. Ein Team ist mit Theo Grüntjens unterwegs, Förster im Ruhestand, Jäger und Wolfberater des Bundeslandes – einer von rund 120 ehrenamtlichen Helfern, die als Ansprechpartner für die Bevölkerung dienen, Wolfssichtungen und Risse von Nutztieren dokumentieren. Grüntjens war der erste, der 2006 einem Wolf in Niedersachsen begegnete: „Ich war völlig perplex, als ich ihn sah“, er-

Eine Losung wird analysiert.

Kurz vor der Rückkehr entdeckt Nina schließlich große Pfotenabdrücke. Das Team schwärmt aus zum Messen, Zählen, Fotografieren. Charakteristisch für Wölfe ist die Gangart des „geschnürten Trabs“, bei dem die Hinterpfoten in die gleichen Abdrücke treten wie die Vorderpfoten – die Tiere können so auf geraden Strecken Entfernungen von bis zu 70 Kilometern am Tag zurücklegen. „Ein Wolf mit zwei Jungen“, analysiert Theo den Fund des Tages. Der Jäger ist fasziniert von den Tieren: „Wölfe haben eine wunderbare Sozialstruktur, sie gehen ‚menschlicher‘ miteinander um, als wir das mit unseren Mitbürgern machen.“ Für Grüntjens können die Rückkehrer dazu beitragen, eine ausgeglichene Wilddichte herzustellen.

innert er sich. „Der Wolf wohl auch. Er rannte in die eine Richtung und ich in die andere. Gleichzeitig dachte ich: Was für ein Blödsinn, jetzt kann ich ihn ja gar nicht beobachten.“ Seither ist der 64-Jährige nie mehr ohne Kamera unterwegs – seine besten Aufnahmen sind in einem Bildband erschienen. Die Gruppe marschiert über einen Forstweg, im Schlamm zeichnen sich Spuren von Füchsen und Dachsen, von Waschbären und Mardern ab. Einmal ist der Boden zerwühlt von Hufspuren. „Rotwild!“, sagt Grüntjens. „Sie zeigen keine Unruhe – ein Zeichen, dass kein Wolf in der Nähe war.“

Viele Jäger würden lieber schießen statt schützen en!

Biosphere Expeditions Der Veranstalter ist eine mehrfach ausgezeichnete, gemeinnützige Organisation, die proaktive Naturschutz-  expeditionen als Abenteuer mit Sinn für Laien organisiert. Die Projekte sind keine Touren, Fotosafaris oder Exkursionen, sondern echte, handfeste Forschungs-  projekte, an denen jeder teilnehmen kann, der ein bisschen Schulenglisch  beherrscht, auch ohne biologische oder irgendwelche anderen Vorkenntnisse oder besondere Fitness. Die Wolfs­ expedition ist nur eine aus einer ganzen Bandbreite wie z.B. Großkatzen in Südafrika, Wale auf den Azoren, Schneeleoparden im Tien Shan oder Korallenriffe und Walhaie der Malediven. Infos: www.biosphere-expeditions.org 1. Preis: Wolfsexpedition nach  Niedersachsen 1 Woche lang mit einheimischen Wissenschaftlern Wölfe erforschen, die Spuren der Tiere lesen und verfolgen

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inn zu Gew

lernen und so wichtige Daten sammeln. Diese Forschung leistet einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der streng geschützten Wölfe in Europa. Infos: www.biosphere-expeditions.org/ germany (Englisch) 2. Preis: Schnuppertag mit  „Biosphere Expeditions“ Ein aufregender Tag, um das Feldforscher­leben kennenzulernen.  Als Teil eines kleinen Teams erlernt und testet der Gewinner Seite an Seite mit einem Naturführer und Expeditionsleiter Techniken und Fertigkeiten im Naturund Artenschutz. Schnuppertage finden in einigen der schönsten Nationalparkflecken Deutschlands statt, u.a. im Nationalpark Berchtesgaden an der österreichischen Grenze. Infos: www.biosphere-expeditions.org/ schnuppertage

Viele seiner Kollegen sehen das anders: Die Landesjägerschaft, die in Niedersachsen das Wolfsmonitoring koordiniert, hat sich gegen das Projekt von „Biosphere Expeditions“ ausgesprochen. Nicht wenige ihrer Mitglieder wünschen sich, dass die Wölfe in Deutschland zum Abschuss freigegeben werden. Doch die Rückkehrer stehen unter strengem europäischem und deutschem Schutz. „Der Wolf ist ein Konkurrent“, sagt Grüntjens. „Aber es ist machbar, mit ihm zu teilen. Weil das Wild seinen gewohnten Tagesrhythmus ändert, müssten die Jäger wieder lernen, Spuren zu lesen: „Ich kann nicht mehr sicher sein, dass das Wild Punkt 17.24 Uhr aus dem Wald tritt. Es wird anstrengender, aber das sehe ich als sehr spannend an und schieße auch nicht weniger.“ 2017 war ein Jahr der Wölfe in Deutschland: In mehreren vorher wolfsfreien Regionen wurden Tiere gesichtet. Bayern meldete den ersten Nachwuchs seit 150 Jahren. Mehrfach sorgten überfahrene und erschossene Wölfe

Fotos: Wolfgang Gerhard (2), Biosphere Expeditions (1)

Den Wölfen auf der Spur Zu gewinnen gibt es einen Platz als Teilnehmer bei einer Wolfsexpedition  in Niedersachsen im Wert von ca.  1840 EUR.  Wie? Online-Bewerbung bis zum 1. Juni einreichen: www.biosphere-expeditions. org/competition-wolf (Englisch) Wichtig: Teilnahmevoraussetzungen sind Englischkenntnisse und die Bereitschaft auf einer echten Naturschutz­ expedition (keine Luxusreise!) aktiv mit anzupacken. Neben dem Hauptgewinn gibt es  einen Schnuppertag mit „Biosphere Expeditions“ zu gewinnen.

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1 Alle Funde werden kartiert.    2 Jungwölfe müssen ein eigenes Revier suchen.

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zahlen die Bundesländer Entschädigungen. Seit der Rückkehr der Wölfe flossen dafür rund 500.000 Euro in Deutschland. Zum Vergleich: Die Schäden durch Wildunfälle im Autoverkehr betrugen alleine 2016 mehr als 680 Millionen Euro, durch Marderbisse mehr als 60 Millionen Euro – Zahlen, über die jedoch kaum jemand spricht. Am nächsten Tag unterstützt Spürhund Riga das Team, sie ist auf Wölfe abgerichtet. „Such Wolf!“, ruft Hundeführer Felix Böcker immer wieder, während Riga an einer zehn Meter langen Leine vorausläuft, die Nase hochhält oder zwischen Heidekraut und Preiselbeerbüschen schnuppert. Wenn sie fündig wird, setzt sie sich hin und blickt erwartungsvoll zu ihrem Herrchen: Immerhin gibt es dann eine Belohnung – für Riga ein Stück Fleisch, für die Jungforscher Arbeit.

Info

Abends ziehen die Teilnehmer Bilanz: Sie erzählen, präsentieren Funde, schnuppern an Tüten mit Fellfunden und Losung, zeigen Fotos und markieren die Fundorte in einer großen Landkarte. Expeditionsleiter Peter Schütte sortiert: Eine Probe geht ins Labor, eine andere ist nicht frisch genug. Eine Spur ist eindeutig, eine andere nicht lang genug: Die Kriterien sind streng. Nach dem Abendessen klingt der Tag am Lagerfeuer aus. Fledermäuse flattern durch den nachtschwarzen Himmel über dem historischen Landgut. Einige Forscheraugen sehen schon müde aus, andere leuchten noch bei den Anekdoten des Tages. „Eigentlich bin ich ganz froh, dass wir heute keine Losung gefunden haben“, gesteht Abilasha. „Das Einsammeln wäre bestimmt wieder mein Job gewesen.“

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AUSKÜNFTE www.bfn.de: Infos des Bundesamtes für Naturschutz www.dbb-wolf.de: Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes www.der-wolf-in-niedersachsen.de: Portal des Niedersächsischen Umweltministeriums www.nabu.de: Infos und Flyer, Filme und Unterrichtsmaterial über Wölfe www.lausitz-wolf.de: Website des „Freundeskreises freilebender Wölfe“ www.wolfsmonitoring.com: News über Wolfssichtungen, Nutztierrisse und getötete Wölfe

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Fotos: Oliver Gerhard (1), Theo Grüntjens (1)

VERANSTALTER Das 1-wöchige Programm von Biosphere Expeditions findet 2018 an mehreren Zeitfenstern im Juni und Juli statt. Im Preis von 1840 EUR/ Pers. sind Unterkunft und Verpflegung inklusive. Der Erlös des  gemeinnützigen Unternehmens fließt direkt in die Forschung.  Infos: www.biosphere-expeditions.org.

Fotos: Cornelia Ganitta (1), © Team Horsthuis (1), © Ruben Hamelink (1)

für Schlagzeilen. In Niedersachsen wird jedes vermeintlich überfahrene Tier in den Computertomographen geschoben, manchmal kommt dabei Munition zu­ tage – der Wolf hat viele Feinde. Konservative Politiker rufen regelmäßig nach einer Lockerung des Schutzes. Und Wolfsgegner versuchen, die Meinung mit Fake News zu beeinflussen: Sie behaupten, Wölfe würden heimlich von Tierschützern ausgesetzt. Sie sagen, die Tiere könnten sich unkontrolliert verbreiten und würden sich überwiegend von Nutztieren ernähren. Und sie verbreiten, Wölfe würden angeblich Hunde reißen. Umso wichtiger sind Herdenschutzmaßnahmen und Wolfsforschung. Das letzte Monitoring 2017 zählte in Deutschland 60 Wolfsrudel, 13 Paare und drei sesshafte Einzelwölfe. Ein Revier erstreckt sich über rund 250 Quadratkilometer. Hier leben durchschnittlich zehn Wölfe, alle Jungtiere müssen weiterwandern. Das „Senckenberg-Forschungsins­ titut“ ermittelte, das Nutztiere nur weniger als ein Prozent der Wolfsnahrung ausmachen – der Wolf zieht Wild vor. Kommt es dennoch zu Nutztierrissen,

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