2009.03 - BdV-Blickpunkt

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BdV-Blickpunkt

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Ausgabe März 2009

Bund der Vertriebenen · Vereinigte Landsmannschaften Landesverband Bayern · Am Lilienberg 5 · 81669 München

Turbulenzen um Bundesstiftung in Berlin Kulturpreis für Gruppe „Birkenhain“ in Oberfranken Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte


Grußwort

Liebe Landsleute, liebe Leserinnen und Leser! Selten zuvor ist der BdV so stark im Focus der Öffentlichkeit gestanden, wie derzeit. An der Entsendung unserer Präsidentin Erika Steinbach in den Stiftungsrat der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ scheiden sich die Geister. Der unverhohlene Versuch polnischer Politiker und Medien sich in die ureigensten Angelegenheiten unseres Landes einzumischen, die Diffamierung unserer Präsidentin durch den polnischen Deutschlandbeauftragten Wladyslaw Bartoszewski und die Weigerung von SPD-Kabinettsmitgliedern einer Berufung Erika Steinbachs in den Stiftungsrat zuzustimmen, müssen uns alarmieren. Der polnische Botschafter Marek Prawda hat im ZDF das offenbart,

um was es seinem Land in Wirklichkeit geht: Die Verhinderung einer Erinnerungsstätte für die Millionen Deutschen, die nach dem 2. Weltkrieg aus ihrer Heimat grausam vertrieben wurden. Marek: „Wir sehen nicht so richtig, dass der Grundbegriff Vertreibung im Zentrum der geschichtlichen Betrachtung sein soll!“ Polen sieht damit glatt darüber hinweg, dass es Ziel der Stiftung ist, Flucht und Vertreibung ausdrücklich in Kontext der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik sowie ihrer Folgen darzustellen. Für den BdV geht es nun darum, einen Weg zu finden, um die Errichtung einer Gedenkstätte in Berlin voranzutreiben ohne Aufgabe ihres Rechts auf einen Besetzungsvorschlag und ihrer Position. Ziel Polens und Teilen der SPD, vor allem ihrer Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten Gesine Schwan, ist es offenkundig, das Projekt zu stoppen, um es bei veränderten politischen Mehrheiten endgültig zu beerdigen. Das ist der Hintergrund für die Entscheidungen die getroffen werden mussten und für die wir auch um Verständnis in den eigenen Reihen werben müssen. In der heutigen Ausgabe des Blickpunkts wenden wir uns aber auch dem „Tabuthema“ Restitution von privatem Vermögen in den Vertreibungsgebieten zu. Die Veröffentlichung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Analyse eines Mitarbeiters der Konrad-Adenauer-Stiftung, sollen zur Versachlichung der Diskussion und

zur Einschätzung der Möglich- und Notwendigkeiten beitragen. Unabhängig von den genannten Komplexen wird der BdV Bayern in den nächsten Monaten die politischen Gespräche mit den im Bayerischen Landtag vertretenen Parteien fortführen. Dabei ist es zu begrüßen, dass die beiden großen Fraktionen CSU und SPD mit den Abgeordneten Christa Matschl und Christa Naaß ihre vertriebenenpolitischen Sprecher benannt haben. Hoffnungsvoll waren auch die ersten Äußerungen unseres neuen Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer und seiner Sozialministerin Christine Haderthauer in unsere Richtung. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob die Bayerische Staatsregierung wie in der Vergangenheit an der Seite der Heimatvertriebenen stehen wird. In diesem Zusammenhang sei auch an die klare Haltung unseres ehemaligen Ministerpräsidenten Dr. Günther Beckstein und Sozialministerin Christa Stewens erinnert. Der BdV dankt diesen beiden Persönlichkeiten in ganz besonderer Weise, schließt aber auch alle Abgeordneten die aus dem Maximilianeum ausgeschieden sind und sich für unsere Belange eingesetzt haben mit ein. Ihr

Christian Knauer BdV-Landesvorsitzender

BdV-Landesversammlung 2009 und zentrale Gedenkveranstaltung »Wahrheit und Gerechtigkeit – Ein starkes Europa!« Sonntag, 13. September 2009, in München Liebe Landsleute, die zentrale Gedenkveranstaltung in München soll ein unübersehbarer Beweis unserer Verbundenheit zur alten Heimat sein. Deshalb bitten wir, dass sich möglichst viele Landsleute daran beteiligen. Alle Landsmannschaften sind auch mit ihren Orts-, Kreis- und Bezirksgruppen, ihren Heimatortsgemeinschaften und Arbeitskreisen dazu aufgerufen. Besonders erfreulich wäre es, wenn möglichst viele Trachtenträger und Fahnenabordnungen vertreten wären, damit wir der Öffentlichkeit wieder ein eindrucksvolles Bild vermitteln.

Impressum Herausgeber:

Bund der Vertriebenen, Vereinigte Landsmannschaften Landesverband Bayern e. V., Am Lilienberg 5, 81669 München, Telefon (0 89) 48 14 47, Fax (0 89) 48 26 21 Redaktion: Christian Knauer (verantwortlich), Walter Föllmer Texte: Christian Knauer, Annette Königes, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Stephan Raabe, Heidi Lacher Jochen-Konrad Fromme, Hans Kampen Gesamtherstellung: H.P. Werbeverlag + Medienvorlagen, Botengasse 6, 86551 Aichach, Telefon (0 82 51) 5 1100, Fax (0 82 51) 5 17 06


Gedenkstätte

„Wir wollen die nicht durch uns verursachte Blockade auflösen“ BdV-Präsidium lässt einen Stiftungssitz demonstrativ unbesetzt Zur Besetzung des Stiftungsrates der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ hat das Präsidium des Bundes der Vertriebenen einstimmig beschlossen: Durch die BdV-Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN (ZgV) haben die deutschen Heimatvertriebenen seit dem Jahr 2000 das Klima für die Gründung der Bundesstiftung geschaffen. Staatsminister Bernd Neumann (CDU) hat das Verdienst, die Stiftungsgründung der Bundesregierung im Koalitionsvertrag von Union und SPD verankert zu haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich an ihre Zusage gehalten, dass der Bund der Vertriebenen in die Planungen und in die Arbeit der Bundesstiftung eingebunden wird. Sie machte im Gespräch mit dem BdV-Präsidium sehr deutlich, dass die Vertriebenen nicht wie Angehörige behandelt werden dürfen, derer man sich schämt. Persönlichkeiten aus dem Geistesleben und aus allen demokratischen Parteien

Erlebnisgeneration am Ende ihres häufig sehr schweren Lebens mit traumatischen Belastungen bis zum heutigen Tage das tröstliche Gefühl zu geben, dass ihr Sonderschicksal nicht vergessen ist und einen festen Platz im historischen Gedächtnis des eigenen Landes gefunden hat. Das Präsidium des BdV will, dass die Bundesstiftung baldmöglichst – nach fast vier Jahren Vorbereitungszeit inner-

ren Vertreter an ihrer Stelle benennen und will diese Position demonstrativ unbesetzt lassen, um deutlich zu machen, dass es sich sein originäres Besetzungsrecht von niemandem vorschreiben lässt, weder von der SPD noch von sonst jemandem. Der Bund der Vertriebenen erwartet, dass die Bundesregierung nunmehr zügig das Benennungsverfahren einleitet und das Dokumentationszentrum in Berlin bald-

Erstaunen über SPD haben sich für das Anliegen der Vertriebenen, eine Dokumentationsstätte in Berlin zu schaffen, engagiert, unter ihnen auch der leider viel zu früh verstorbene Sozialdemokrat Peter Glotz und weitere Sozialdemokraten. Um so erstaunlicher ist es nun, dass sich heute SPD-Politiker von Rang weigern das Recht des BdV, drei Vertreter für den Stiftungsrat der Bundesstiftung frei zu benennen, umzusetzen. Sie verhalten sich damit gegen den Inhalt des Gesetzes, der ein solches Einspruchsrecht nicht vorsieht und machen eine Beschlussfassung der Bundesregierung unmöglich. Einmaliger Vorgang Das ist ein in der Bundesrepublik Deutschland einmaliger Vorgang, der fehlendes Demokratieverständnis deutlich macht! Alle Argumente der Sozialdemokraten und Grünen gegen die vom BdV nominierte Präsidentin Erika Steinbach sind an den Haaren herbeigezogen und nicht stichhaltig. Ein Land, das unfähig ist, über eigene Opfer zu trauern, wird nicht ehrlich Anteil nehmen an den Leiden anderer Völker. Es ist überfällig und notwendig, der

Die bayerischen Präsidiumsmitglieder von links: Albrecht Schläger, Dr. Bernd Fabritius, Stephan Mayer, MdB, Christian Knauer und Adolf Fetsch.

halb der Bundesregierung – ihre Arbeit möglichst realisiert. Im 60. Jahr der Bunaufnehmen kann, und dass das Schick- desrepublik Deutschland ist es höchste sal der rund 15 Millionen heimatvertrie- Zeit, das Schicksal der Vertriebenen in benen Deutschen mit nahezu zwei Mil- den Erinnerungsbogen unseres Vaterlandes dauerhaft auflionen Toten im Geist Zum aktuellen Thema zunehmen und diesen der Wahrheit in Berlin dokumentiert und lesen Sie mehr in unserer weißen Fleck in der Gedenkstättenkonsichtbar wird. Nur nächsten Ausgabe zeption mit wahrhafdurch Wahrheit gelingt Versöhnung. Das BdV-Präsidium tigen Inhalten zu füllen. Es ist nötig, im mit seiner Präsidentin Erika Steinbach Dialog mit den Nachbarländern gegenwill nicht der billige Vorwand dafür sein, seitiges Verständnis und Mitgefühl für das Stiftungsgesetz nicht in die Tat um- menschliche Schicksale zu wecken. Das zusetzen und so die Stiftung auf den letz- wird einer dauerhaften und tragfähigen ten Metern noch zu verhindern. Nichts Versöhnung mehr helfen als die derzeiwürde den Gegnern des Projektes mehr tigen Abwehrreflexe. Der BdV mit seinen StiftungsratsmitFreude bereiten. „Wir wollen die nicht durch uns verur- gliedern will und wird daran kompetent sachte Blockade auflösen“ ist die deutli- und engagiert mitwirken. che Botschaft des BdV. Nur aus diesem Das Präsidium dankt den vielen MenGrunde hat sein Präsidium das Angebot schen, die uns in unzähligen engagierseiner Präsidentin Erika Steinbach ange- ten und anrührenden Zuschriften ihre nommen, sie vorläufig nicht für den Stif- Solidarität bekundet haben. Wir bitten sie alle, unsere Entscheidung um der Satungsrat zu benennen. Es wird aber ganz bewusst keinen ande- che willen zu unterstützen.

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Aussiedler

Aussiedler – Ein Gewinn für unser Land Zu der Studie „Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland“ des Berlininstituts für Bevölkerung und Entwicklung erklärt BdV-Präsidentin Erika Steinbach MdB: Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind in Bezug auf die Aussiedler eindeutig. Sie belegen: Aussiedler sind ein Gewinn für unser Land. Es ist gut, dass nun endlich belastbare Fakten vorliegen. Aussiedler sind nach den hochqualifizierten Wirtschaftsmigranten aus den weiteren Ländern der EU 25 (ohne die südeuropäischen Gastarbeiternationen) diejenige Gruppe, die die besten Integrationswerte zeigt. Deutlich ist danach, dass die Aussiedler schon mit einem vergleichsweise hohen Bildungsstand nach Deutschland gekommen sind und sich auch hier um weitere Bildung und Ausbildung bemühen und daher gut auf dem Arbeitsmarkt zurechtkommen. Ihr akti-

ves Bemühen um die Integration in Deutschland wird dadurch belohnt, dass sich die Generation der in Deutschland Geborenen gegenüber der ihrer Eltern in jeder Hinsicht deutlich verbessert. Für uns, unsere Verbände und deren unzählige ehrenamtliche Aussiedlerbetreuer ist dieses Ergebnis aber keine ÜberraKeine Überraschung für BdV schung. Aus der jahrzehntelangen Begleitung der verschiedenen Aussiedlergruppen wissen wir, dass allgemein Fleiß, beruflicher Ergeiz, starker familiärer Zusammenhalt und auch kirchliche Verwurzelung zu diesem Erfolg beitragen. Nicht zuletzt haben auch die staatlichen Förderprogramme ihren Beitrag dazu geleistet. Gute Erfolge werden ebenfalls dadurch erzielt, wenn den Aussiedlern in der Anfangszeit Landsleute mit gleichen Erfahrungen mit Rat und Tat bei-

stehen, so wie unser Verband das seit Jahrzehnten praktiziert. Die in der Presse immer wieder herausgestellten negativen Beispiele jugendlicher Straftäter unter den Spätaussiedlern sollen nicht verharmlost werden. Auch diese negativen Beispiele gibt es, aber sie sind die Ausnahme und nicht die Regel. Die Studie ist vor allem sehr hilfreich, weil sie nach Herkunftsgruppen differenziert und damit ermöglicht, das Instrumentarium für eine bessere Integration auf die spezifischen Gruppen zuzuschneiden und so zu besseren Ergebnissen zu gelangen. So ist es z. B. gerade im Hinblick auf die Deutschen aus Russland notwendig, eine bessere Anerkennung ihrer in ihren Herkunftsgebieten erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüsse zu erreichen. Hier sind gerade im Hinblick auf die medizinischen und pflegerischen Bereiche dringend Verbesserungen erforderlich.

Jugend und Studentenring der Deutschen aus Russland in Bayern gegründet Der 1. Advent 2008 hat den Deutschen aus Russland zwei herausragende Veranstaltungen in Augsburg geschenkt: Während die Erwachsenen eine hervorragende Aufführung des Russlanddeutschen Theaters Niederstetten besuchen konnten, versammelten sich Jugendliche aus neun bayerischen Städten zur Gründung des Landesverbandes des Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russland (JSDR). Herzlich begrüßt durch den Vorsitzenden der Landesgruppe Bayern der Landsmannschaft, Eduard Neuberger und die Bundesjugendreferentin Ludmila Kopp, wurden die Jugendlichen bei der Gründungsversammlung von ihren erfahrenen Altersgenossen unterstützt. JSDRBundesvorsitzende Elena Bechtold und ihre Stellvertreterin Julia Scheidt leiteten die Kennenlernrunde und die Wahlversammlung. Heftige Diskussionen und ein richtiger Wahlkampf zeugten vom hohen Engagement der Teilnehmer. Auch ihre große gegenseitige Sympathie und die warme und offene Atmosphäre ließen den Abend des 29. Novembers zu einem

Die Mitglieder des Landesvorstandes des JSDR (von links): Alexander Hermann, Veronika Wald, Thomas Kromer, Anna Baron, Yuriy Batrun (hinten) und Paul Fast.

würdigen Vorabend des 1. Advents werden. Zum 1. Vorsitzenden wurde Alexander Hermann aus Landshut gewählt, zu seinen Stellvertretern Veronika Wald (Regensburg) und Paul Fast (Neutraubling). Schatzmeister wurde Yuriy Batrun aus

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Fürth, zu Beisitzern wählte man Galina Kornev (Ingolstadt), Thomas Kromer (Augsburg) und Anna Baron (Bad Abbach). Die Maßnahme fand statt mit Unterstützung von djo – Deutsche Jugend in Europa, Landesverband Bayern. Hans Kampen


Aktuell

Nationaler Gedenktag bleibt Anliegen Die Bayerische Staatsregierung will ihre Bemühungen an die Opfer von Flucht und Vertreibung mit einem „Nationalen Gedenktag“ zu erinnern nicht aufgeben. Dies teilte der Bayerische Ministerpräsident dem Kelheimer CSU-Landtagsabgeordneten Martin Neumeyer mit. Bereits 2003 hatte Bayern im Bundesrat erfolgreich eine entsprechende Initiative gestartet, die jedoch von der damaligen rot-grünen Bundesregierung auf Ablehnung stieß. Die Regierung Schröder hatte damals damit argumentiert, dass am Volkstrauertag auch der Opfer von Flucht und Vertreibung gedacht werde. Bundespräsident Horst Köhler verwies in seinem Antwortschreiben an Ministerpräsident a. D. Dr. Edmund Stoiber, dass die Proklamation eines Nationalen

Gedenktages eine breite Zustimmung der Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung voraussetze. Nur wenn ein breiter Konsens bestünde, sehe er sich in der Lage, einen solchen Gedenktag zu proklamieren. Für die Bayerische Staatsregierung habe das „Sichtbare Zeichen gegen Vertreibungen“ in der großen Koalition vorrangige Priorität gehabt. Nunmehr wolle man auf der Ebene informeller Gespräche versuchen, einen Konsens mit der SPD auch in dieser Frage zu erreichen. Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat seinem Landtagskollegen zwischenzeitlich schriftlich versichert, dass er sich auch weiterhin für die Einführung des Gedenktages einsetzen werde.

Wir gedenken unseren Verstorbenen

Prof. Dr. phil. Walter Jaroschka * 31. 07. 1932

† 23. 12. 2008

Präsident der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaft und Künste von 1997 bis 2007. Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns a. D. Träger des Bayerischen Verdienstordens und des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse.

Unser Spendenkonto:

BdV-Landesverband Bayern HypoVereinsbank München Konto 803 (BLZ 700 202 70)

60 Jahre „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ Vor 60 Jahren verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Damit erkannte die Staatengemeinschaft an, dass jeder Mensch über gleiche und unveräußerliche Rechte und Freiheiten verfügt, und dass diese universal sind. Diesem Meilenstein folgte dann schrittweise der weitere Ausbau der rechtlichen Garantien. Für die deutschen Heimatvertriebenen,

die während ihrer Vertreibung am eigenen Leib erfahren mussten, was Rechtlosigkeit bedeutet, war und ist diese Entwicklung von großer Bedeutung. Sie haben sich stets eindeutig aus voller Überzeugung an die Seite aller Opfer von Menschenrechtsverletzungen gestellt. Nach Auffassung von BdV-Präsidentin Erika Steinbach, MdB, müsse es zum jetzigen Zeitpunkt darum gehen die Menschenrechte international wirksa-

mer als bisher zu implementieren und sicherzustellen, dass die Normen auch in die Tat umgesetzt werden. Deshalb begrüße der Bund der Vertriebenen den Antrag „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – Grundlage für 60 Jahre Menschenrechtsschutz“ der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Es müsse der Völkergemeinschaft gelingen, Vertreibungen weltweit entgegenzuwirken und zu verhindern.

Tschechien muss Benes-Dekrete thematisieren Im vergangenen Jahr hat sich der UNMenschenrechtsausschuss zum wiederholten Male mit den Möglichkeiten der Restitution des im Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen konfiszierten Eigentums in der Tschechischen Republik beschäftigt. Dabei wurde erneut festgestellt, dass die in der Tschechischen Republik bestehenden Regelungen mit dem Völkerrecht nicht konform gehen. In der Tschechischen Republik gäbe es keine ausreichenden gesetzlichen Grundlagen und Rechtsbehelfe, um Verfahren über das im Zuge der Vertreibung konfiszierte Eigentum innerstaatlich ordnungsgemäß durchzuführen. Ferner wird darauf verwiesen, dass heute noch die Benes-Dekrete bei der Bestätigung des Status quo angewandt werden.

Bereits im Herbst 2001 hat sich der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen mit dem im Jahr 1992 geschaffenen tschechischen Restitutionsgesetz (Gesetz 243/1992) befasst und dessen diskriminierende Wirkungen aufgezeigt. Seinerzeit war das Gesetz zur Restitution von Vermögen so geändert worden, dass der ununterbrochene Fortbestand der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft bis 1990 zur Grundvoraussetzung für eine Restitution wurde. Dies wurde als diskriminierend gegenüber Flüchtlingen und Vertriebenen, die zuvor schon durch die Anwendung der Benes-Dekrete ihre Staatsbürgerschaft verloren hatten, kritisiert. Mit dem jüngsten Beschluss des UNMenschenrechtsausschusses ist wieder einmal deutlich geworden, dass der Fort-

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bestand der Teile der Benes-Dekrete, die sich mit den deutschen und den ungarischen Bevölkerungsgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei befassen, weder mit dem Völkerrecht noch mit den Rechtsgrundsätzen der Europäischen Union konform gehen. Nach Ansicht des BdV-Landesvorsitzenden Christian Knauer wäre es daher ein großer Fortschritt für das Rechtsund Wertesystem der Europäischen Union, wenn die Tschechische Republik ihre bisher starre Haltung in Bezug auf den Fortbestand der Benes-Dekrete aufgeben würde. Bedenklich sei auch, dass in Prag ein neues Institut zur Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit des Landes eröffnet worden ist, wobei laut Medienberichten die Jahre 1945 bis 1948 keine Behandlung erfahren sollen.


Aus dem Verband CSU-Landesgruppe hatte eingeladen:

Im Herzen unserer Demokratie Mit dem BdV-Landesverband Bayern besuchten Landsleute Berlin Ein Reisebericht von Annette Königes Mitglieder des Landesverbandes Bayern des Bundes der Vertriebenen (BdV) besuchten vom 1. bis 4. Dezember die Bundeshauptstadt. Auf Einladung des Parlamentarischen Geschäftsführers der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Hartmut Koschyk, erlebte eine Gruppe von 50 politisch interessierten Vertretern der verschiedensten Landsmannschaften aus Bayern eindrucksvolle und informative Tage im politischen Zentrum unseres Landes. Schwerpunkte unserer Reise waren die Besichtigung politischer Zentren, aber auch Gespräche mit hochrangigen Politikern. Es ist ein besonderes Erlebnis, sich im Gebäude des Deutschen Bundestages, dem Herzen unserer Demokratie, zu befinden. Der Deutsche Bundestag ist mit rund drei Millionen Besuchern pro Jahr das meistbesuchte Parlament der Welt. Überraschend und erfreulich ist die Offenheit und Transparenz dieses Hauses, sowohl architek-

tonisch als auch organisatorisch. Jeder kann Einblick gewinnen in die Arbeit der Parlamentarier. „Öffentlichkeit gehört zur Demokratie wie die Luft zum Atmen“, heißt es in einer Informationsbroschüre zum Deutschen Bundestag. Gerade für uns, die wir in einer Diktatur aufgewachsen sind, ist diese Tatsache besonders hervorzuheben. Unseren ersten offiziellen Empfang hatten wir in der Bayerischen Vertretung. Interessante Begegnungen Das bayerische Bier und die knusprigen Brezen schmeckten auch in Berlin. Aichach-Friedbergs Landrat Christian Knauer, der Vorsitzende des BdV-Landesverbandes Bayern, sprach Gruß- und Dankesworte. Es folgte eine Vorstellungsrunde der Teilnehmer und selbstverständlich die Begrüßung durch einen Vertreter der „Bayerischen Botschaft“. Wir wurden mit der Geschichte und der

Architektur des Hauses vertraut gemacht und über die Aufgaben der Bayerischen Vertretung informiert. Der zweite Tag begann mit einer dreistündigen Stadtrundfahrt. Ein Stadtführer erklärte uns politisch relevante Orte der Bundeshauptstadt und brachte uns die bewegte Geschichte dieser Stadt näher. Wer seine Eindrücke noch vertiefen wollte, konnte die Ausstellung „Wege, Irrwege, Umwege – Die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland“ im Deutschen Dom am Gendarmenmarkt besichtigen. Am Nachmittag ging es in das alte Reichstagsgebäude, Sitz des Bundestages. Im Sitzungssaal des Fraktionsvorstandes der CDU/CSU-Fraktion empfing uns der stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgruppe Vertriebene und Flüchtlinge der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und Mitglied des Präsidiums des Bundes der Vertriebenen, Stephan Mayer. Nach einem ein-

Gastgeber Hartmut Koschyk MdB (2. von rechts), CSU-Landesgruppenvorsitzender Dr. Peter Ramsauer MdB (7. von rechts) und Stephan Mayer MdB (1. von links) mit der Delegation des Bundes der Vertriebenen.

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Aus dem Verband führenden Vortrag über seine Aufgaben und Ziele konnten die Teilnehmer Fragen stellen und ihre Anliegen vorbringen. Ähnlich verliefen auch die Begegnungen mit den anderen Politikern. Im Paul-Löbe-Haus, einen Steinwurf entfernt vom Reichstagsgebäude, empfing uns die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und Vorsitzende der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“, Erika Steinbach. Einmal mehr überzeugte sie durch ihre Persönlichkeit, Sachkompetenz und Einsatzbereitschaft, aber auch durch ihren Pragmatismus. Frau Steinbach ist es zu verdanken, dass am gleichen Tag im Bundestag ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Einrichtung eines „sichtbaren Zeichens gegen Flucht und Vertreibung“ im Deutschlandhaus im Zentrum Berlins ermöglicht. Der Nachmittag des dritten Reisetages war für Potsdam reserviert. Auf Schloss Cecilienhof erhielten wir eine Sonderführung zum Potsdamer Abkommen, das hier unterzeichnet wurde. Erschütternd auch die Besichtigung des ehemaligen Stasi-Gefängnisses mitten in Potsdam; kaum vorstellbar die vor allem psychisch zermürbenden Methoden der hochdotierten Stasi-Offiziere, aber nicht minder grausam die Methoden des sowjetischen Geheimdienstes, der in den ersten Nachkriegsjahren die Räume dieses Gefängnisses nutzte. Schließlich ein Politmarathon am letzten Tag im Jakob-Kaiser-Haus, dem größten Parlamentsneubau. Über 2.000 Menschen arbeiten in diesem Komplex, der durch Transparenz, dezent eingesetzte Kunst und atemberaubende Perspektiven aus verglasten Stockwerken besticht. Der Bundesbeauftragte für Aussiedlerfragen und Nationale Minderheiten, Ministerpräsident a. D. Dr. Christoph Bergner, überzeugte durch seine profunden Kenntnisse der Geographie, Geschichte und Politik der osteuropäischen Länder, für deren Minderheiten er sich mit Überzeugung einsetzt. Dabei betonte er, dass besonders die sprachliche Förderung der Minderheiten, vor allem der Russlanddeutschen oberste Priorität habe. Auch die Siebenbürger Sachsen sind dem CDU-Politiker bestens vertraut, unter anderem durch zahlreiche Reisen und persönliche Kontakte. Einige erinnern sich wohl noch an seine eindrucksvolle Rede 2006 in Dinkelsbühl beim Pfingsttreffen der Siebenbürger Sachsen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Hartmut Koschyk war unser nächster Gespräch-

spartner. Da seine Eltern aus Oberschlesien stammen, war es für ihn ein Grund mehr, sich bereits in seiner Jugend für die Anliegen der Vertriebenen zu engagieren. Er war zunächst Bundesvorsitzender der Schlesischen Jugend und bereits mit 28 Jahren Generalsekretär des Bundes der Vertriebenen. Dieses Amt übte er bis 1991 aus. Koschyk ermunterte uns, die Herkunftsgebiete mit unseren Kindern zu bereisen und die Jugend auch auf diese Weise für die Vertriebenen- und Aussiedlerthematik zu

sensibilisieren. Den politischen Reigen beendete Dr. Peter Ramsauer, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Aus seinem Wahlkreis Traunstein mit den Problemen der Vertriebenen und Aussiedlern bestens vertraut, gewann er mit Temperament und Humor schnell die Sympathie der Zuhörer. Ein herzlicher Dank geht an Hartmut Koschyk und Christian Knauer. Wir haben Politik menschlich, kompetent, engagiert und transparent erlebt.

Neues aus den Verbänden

Eduard Neuberger wurde auf der letzten Landesversammlung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zum neuen Landesvorsitzenden gewählt. Er tritt die Nachfolge von Dr. Arthur Bechert an. 앲 Beim Tag der Heimat in Augsburg wurde am 15. November 2008 der langjährige BdV-Kreisvorsitzende von Augsburg, Willi Reisser, in Würdigung seiner Verdienste um die Anliegen der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler in der Schwabenmetropole zum Ehrenvorsitzenden ernannt.

Im Amt bestätigt wurde der Bezirksvorsitzende der Landsmannschaft Ostund Westpreußen in Schwaben Johannes Georg Behrendt, Augsburg. Ihm zur Seite steht Ute Immel, Burgau, als Stellvertreterin. 앲 Alexander Bock heißt der neue BdVKreisvorsitzende im oberbayerischen Rosenheim. Er löst Paul Rohkst ab, der den Verband kommissarisch geführt hatte. Zum Kreisverband Rosenheim gehören auch die Regionen um Bad Aibling und Wasserburg. 앲 In jüngere Hände hat die langjährige und verdienstvolle BdV-Kreisvorsitzende von München Stadt und Land, Ingeburg Milenovic, die Führung des Verbandes gelegt. CSU-Landtagsabgeordneter Andreas Lorenz wurde zu ihrem Nachfolger gewählt. 앲

Noch ein BdV-Vize In unserem Bericht unter dem Titel „Christian Knauer neuer BdVVizepräsident“ ist uns ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. Bei der Aufzählung der neu gewählten Vizepräsidenten wurde der hessische Landesvorsitzende Alfred Herold versehentlich nicht genannt. Wir bitten dieses Missgeschick zu entschuldigen.

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Seit 15. Dezember 2008 arbeitet der Friedberger Rechtsanwalt Walter Föllmer als Landesgeschäftsführer des BdV Bayern. Bis zum Eintritt in den Ruhestand war er Syndikus bei MAN-Diesel in Augsburg.


Kultur

Kulturpreis aus Baden-Württemberg geht an Gruppe „Birkenhain“ nach Oberfranken Die mit 2.500 Euro dotierte Eh- und durch den besonderen Zusammen- operation zwischen der djo – Deutsche rengabe bei der Verleihung des halt der Bewohner erhalten. Hinzu Jugend in Europa und der LandsmannRusslanddeutschen Kulturpreises kommt ein die Identität des Dorfes kenn- schaft der Deutschen aus Russland. Heudes Landes Baden-Württemberg zeichnendes Zusammenspiel unter- te verfügt das Ensemble über ein Re2008 ging an das Tanzensemble schiedlicher Faktoren, von denen bei„Birkenhain“ aus Oberfranken mit spielhaft genannt seien: das gemeinsame Werbeträger für djo seiner Leiterin Nadja Fuchs für sei- Schicksal als Deportierte und/oder unne jahrelange Popularisierung des ter Kommandantur stehende und/oder in nommé, das als vorbildlich gelten kann. russlanddeutschen Brauchtums auf die Arbeitsarmee abkommandierte und „Das Ensemble ist im In- und Ausland lange diskriminierte Deutsche.“ Und dies aktiv und sorgt dafür, dass russlandBühnen im In- und Ausland. Bereits seit zwölf Jahren wird deutsche Themen und Tradider Russlanddeutsche Kultionen nicht vergessen werden. turpreis in den Kategorien BilGleichzeitig ist die Gruppe um dende Kunst, Literatur, MuNadja Fuchs ein bedeutender sik und Darstellende Künste Werbeträger nicht nur für djo verliehen. Der mit 5000 Euro und Landsmannschaft, sondern dotierte Hauptpreis wurde der auch und vor allem für Perso1959 in Issilkul, Gebiet Omsk, nen, die aus der ehemaligen geborenen und in Köln leUdSSR nach Deutschland gebenden Drehbuchautorin und kommen sind oder deren FaRegisseurin Irene Langemann milienmitglieder von dort zuerkannt. Mit dem Förderstammen“, so Hilkes. preis (2500 Euro) wurde die Da die Kosten für Reisen, Aus1980 in Kasachstan geborestattung und Auftritte nicht alne und in Ludwigsburg lelein „ehrenamtlich“ getragen bende Regisseurin Anna Hoffwerden können, ist auch „Birmann geehrt. kenhain“ auf Unterstützung Der Philologe und Pädagoge von außen angewiesen. Und Peter Hilkes, Landeskoordihier ist neben der djo und der Mitglieder des Ensembles „Birkenhain“ nach der Preisvernator des Bayerischen Jugend- leihung im Stuttgarter Neuen Schloss. Mit auf dem Bild Lau- Landsmannschaft sowie der rings, stellte das Ensemble dator Peter Hilkes (vorne 2. von links), der Vorsitzende der Evangelischen Kirchenge„Birkenhain“ in einer leiden- Landesgruppe Bayern der Landsmannschaft, Eduard Neu- meinde Aschbach-Hohn, dem schaftlich gesprochenen Lau- berger (vorne 2. von rechts), und Olga Knaub. In der Mitte BLSV und der Friedlandhilfe die Leiterin des Ensembles, Nadja Fuchs. Bild: H. Kampen insbesondere die Technomix datio vor. Das 2004 gegründete TanAG in Pommersfelden zu nenzensemble „Birkenhain“ mit seiner Lei- haben die Ensemblemitglieder, die heuterin Nadja Fuchs kommt aus Ober- te „Birkenhain“ repräsentieren, mit nach Dank an Sponsoren franken/Bayern. Es besteht aus jungen Deutschland gebracht. Leuten, die aus dem deutschen Dorf Pod- Schlüsselfeld in Oberfranken hat beson- nen, die Auftritte im In- und Ausland sososnowo („das Dorf unter den Kiefern“) ders viele Personen aus Podsosnowo zu- wie die Anfertigung der Trachten gein der westsibirischen Kulunda-Steppe sammengeführt und dafür gesorgt, dass fördert hat. Dass sich ein global agiestammen. Dort hat das Tanzensemble Ideen zur Pflege bzw. Wiederbelebung rendes Unternehmen in Deutschland und seine Wurzeln, und „mit ihm sind auch russlanddeutscher Traditionen in konkrete sein Vorstandsvorsitzender Dieter Breuer persönlich für ein russland- deutsches Pläne mündeten. Ensemble interessieren und einsetzen, Jugend aus Podsosnowo Das Ensemble hält die Volkstänze und ist ausgesprochen lobenswert. Ohne dieErinnerungen an den Birkenhain in Pod- das Brauchtum, die in der deutschen ses zuverlässige Engagement wären die sosnowo verbunden, dem damit eine Siedlung in Sibirien gepflegt wurden, Arbeit und der Erfolg von „Birkenhain“ identitätsstiftende Funktion zukommt“, lebendig und vermittelt sie der deut- nicht möglich. schen Öffentlichkeit durch bundeswei- „Die Ehrengabe von ,Birkenhain‘ beim betonte Peter Hilkes. Russlanddeutschen Kulturpreis des Lan„Seinen herausragenden Stellenwert un- te Auftritte. ter Russlanddeutschen nicht nur in Westsibirien hat Podsosnowo durch seine Geschichte, sein Entwickeln von und Festhalten an spezifisch russlanddeutschen Traditionen, an der deutschen Sprache, d. h. auch an den im Dorf jahrzehntelang gepflegten Dialektformen

Nadja Fuchs, die „Birkenhain“ seit 2004 leitet, hat ihre Arbeit vor zehn Jahren mit dem Ensemble „Grazie“ begonnen und ist in Projekten wie „Integration durch Sport“ fest verankert. Mit der Unterstützung von Olga Knaub und Jakob Fischer begann eine erfolgreiche Ko-

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des Baden-Württemberg ist Ausdruck besonderer Wertschätzung. Es ist nicht selbstverständlich, dass Personen ehrenamtlich vieles anpacken, bewältigen und auf einem beachtlichen Niveau dabei so erfolgreich sind“, sagte Peter Hilkes abschließend. Hans Kampen


Kultur

Bunte Brauchtumsvielfalt bei Förderverein „Geretsrieder Heimatmuseum“

Der Förderverein „Geretsrieder Heimatmuseum“ feierte im vergangenen Jahr sein 10-jähriges Bestehen. Als Vereinszweck wurde damals in die Satzung aufgenommen: „Das Heimatmuseum Geretsried soll eine, die besondere Geschichte der Stadt dokumentierende Stätte der Forschung, Information und Bildung werden. Um in Zukunft die verschiedenen Sammlungen aus den Herkunftsgebieten und der neuen bayerischen Heimat darstellen zu können, ist eine Erweiterung der Räumlichkeiten und der Sammlungen dringend erforderlich. Dies ideell und materiell zu fördern ist die Aufgabe des Vereins.“ Nun, zehn Jahre später, stellen sich viele Vereinsmitglieder die Frage „hat der Verein alle Ziele erreicht?“ Die Antwort ist mehrschichtig: Forschung, Bildung und Information wird aktiv betrieben. Die Trägergemeinschaft der Landsmannschaften leisten einen nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag, indem deren Vertreter sonntags, außerhalb der Ferienzeiten, ehrenamtlichen Ausstellungsdienst im Museum leisten. Bei der angestrebten Erweiterung der Ausstellungsräume dagegen ist keinerlei Fortschritt erreicht worden. Im Vorfeld des 10-jährigen Vereinsbestehens hatte sich der Vorstand gefragt, ob ein feierliches Erinnern an diesen Zeitraum sinnvoll ist und kam zur Antwort „Ja“! Zeitzeugen aus der jüngeren Geretsrieder Geschichte stünden immer

weniger für Auskünfte und Informationen über frühere Zeiten zur Verfügung. So wurde die Idee entwickelt, einen Nachmittag der Sprach-, Mundart- und Brauchtumsvielfalt in Geretsried durchzuführen. Im November war es dann so weit. Bereits eine halbe Stunde vor Programmbeginn waren alle Plätze im großen Saal der Ratsstuben belegt. Nach der Begrüßung durch den 1. Vorsitzenden Helmut Hahn, überbrachte die 1. Bürgermeisterin Cornelia Irmer die Grüße der Stadt. Mit der Kindertanzgruppe der Siebenbürger Sachsen wurde das eigentliche Thema des Nachmittags eröffnet. Der weitere Programmverlauf wurde, bis auf eine Ausnahme, in der Reihenfolge gestaltet, in der die Vertriebenen, Griechen waren mit dabei Flüchtlinge, Spätaussiedler und Gastarbeiter und deren Nachfahren in Geretsried ankamen. Damit alle Besucher die Darbietungen, die zum Teil in doch nicht einfach zu verstehenden Mundarten vorgetragen wurden, zweifelsfrei verstehen konnten, waren die meisten Beiträge, sowohl in Mundart und auch in „hochdeutscher Übersetzung“ in einem Programmheft niedergeschrieben, das Doris Nejedly liebevoll gestaltete. Für die Egerländer Gmoi ging als erste Inge Klier ans Rednerpult. Hans Gruber berichtete in echtem Originaldialekt über „Wir Egerländer“ und Werner Sebb brachte mit seinem Gedicht „Der Herr

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Transformator“ wieder Heiterkeit unter die Gäste. Die MischMaschMusi der Musikschule hatte bereits den musikalischen Empfang der Gäste übernommen und erfreuten mit weiteren Musikstücken. Helga Jantzen trug die Gedichte „Die Zeit“ und „Sonntach Mittach“ vor; gefolgt von Franz Wagner mit dem Bericht „Wie es früher beim Kukrutzschälen war“. Beide gaben damit tiefen Einblick wie es früher im Banat und Ungarn war. Erika Ongert und Johanna Schenk brachten im besten Dialekt der Siebenbürger Sachsen das Lied „d’Astern“ zum Vortrag, Johanna Kretel präsentierte die Eigen-dichtung „Was konnoch hescher sen“? und Kerstin Helwig beendete mit dem Gedicht „Subtraktion“ den Teil dieser Volksgruppe. Mitglieder der Griechischen Gemeinde Geretsrieds boten ein buntes Tanz- und Geschichtenpotpouri. Die „Gmoi Schrammln“ umrahmten musikalisch den weiteren Programmablauf. Für die Deutschen aus Russland, erzählte Tatjana Dirksen Geschichten. Gustav Riefert intonierte auf seiner Harmonika Volkslieder, darunter das Lied der Wolga. Mit Auszügen schlesischer Kultur erfreuten Eva Stefanidis und Beate Wenzl. Mit dem Sketch „Pauline geht schloofn“ beendeten Eva Stefanidis und Peter Wieder die Vorträge der Landmannschaften. Sigi Berger übernahm mit dem 2. Teil der eingangs erwähnten, „wie’d Welt auf’d Welt kam“, den Abschluss.


Aktuelles

Riesengebirgs-Trachtengruppe München beim Oktoberfest

Traditionell hat die Riesengebirgs-Trachtengruppe München wieder die schlesische Fahne beim Oktoberfestzug in München hoch gehalten. Dank der Mitarbeit zahlreicher freiwilliger Helfer erinnerten sie mit dem Festwagen „Grünberger Wein“ an die einst gepflegten und geschätzten guten Tropfen aus dem niederschlesischen Land. Ein „Weinberg“ wurde gebaut und aufgeschüttet, Wein-

reben in Erde auf den Wagen gepflanzt sowie Fässer und Dekorationsmaterial besorgt und fachmännisch befestigt. Mit Zugnummer 31 b war die Gruppe diesmal weit vorne platziert. Dies bedeutet aber auch, früh aufzustehen, um pünktlich und natürlich in korrekter Tracht am Aufstellungsplatz zu sein. Hinter der Fahne und dem handgeschnitzten Vereinstaferl scharte sich eine be-

achtliche Kindergruppe um ein Leiterwagerl in dem auch die kleinsten Trachtenträger dabei waren. Begeistert beklatscht wurde von den Tausenden von Zuschauern die Trachtenträger die natürlich auch ihren großen weißgelben Bänderbaum dabei hatten. An dem Festzug hatte auch der Bayerische Ministerpräsident teilgenommen. Heidi Lacher

Massenvergewaltigungen 1945 erstmals als Spielfilm thematisiert

Wir gedenken unseren Verstorbenen

Von Jochen-Konrad Fromme, MdB

Ingeborg Hammerschmidt

Erstmals wird das Phänomen der Massenvergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkrieges in einem deutschen Spielfilm thematisiert, der auf dem Erfolgsbuch „Anonyma“ basiert. Damit werden – 63 Jahre nach Kriegsende – Schicksal und Scham der Hunderttausenden von betroffenen Frauen in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit wahrgenommen und anerkannt. Der Film stützt sich auf die Tagebuchaufzeichnungen von Marta Hiller, die bis zu ihrem Tod 2001 als Autorin anonym gebliebenen war. Die ehemalige Berliner Journalistin ist die einzige Frau, welche aus eigenem Erleben über die bis heute überwiegend tabuisierten Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee 1945 berichtet hat. In der sowjetischen Besatzungszone waren Schändungen von Frauen bis 1947 alltägliche Realität. Historiker ge-

hen von bis zu zwei Millionen Opfern, darunter auch Kinder und Greisinnen, aus. Ihr Tagebuch stellt deshalb ein einzigartiges historisches Dokument dar, das weltweit Aufsehen erregte und nach seiner deutschen Neuauflage im Jahre 2003 alle Bestsellerlisten stürmte. Es ist daher überfällig, nach dem Filmstart eine bisher fehlende historisch-kritische Ausgabe des Tagebuches zu veröffentlichen! Die Universität Greifswald startet jetzt eine groß angelegte Studie mit Frauen aus Vorpommern, Mecklenburg und Berlin-Brandenburg, die Opfer von Kriegsvergewaltigungen wurden. Ziel der Untersuchung ist es, die psychischen Spätfolgen betroffener Frauen besser beurteilen zu können und geeignete Behandlungsmethoden zu entwickeln. Interessierte Frauen können sich über das Studienhandy 01 76 / 87 25 43 06 für eine Befragung anmelden.

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* 15. 03. 1925

† 26. 12. 2008

45 Jahre Schriftführerin in der KG Augsburg der Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen. Trägerin des Treueabzeichens der Landsmannschaft Ostpreußen und Ehrenmitglied ihrer KG.

Reintraut Rassat * 19. 02. 1928

† 26. 09. 2008

22 Jahre Vorsitzende der OG Augsburg der Landsmannschaft Ostpreußen, Schatzmeisterin im BdV-Bezirksverband Schwaben. Trägerin des Landesehrenzeichens und Ehrenvorsitzende ihrer Ortsgruppe.

Wolfgang Egerter * 04. 12. 1930

† 08. 09. 2008

Staatssekretär a. D. und Vorsitzender der Stiftung Sudetendeutsches Sozial- und Bildungswerk. Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse.


Aktuelles

Erstmals deutsche Schilder in Polen Ein großer Erfolg für deutsche Minderheiten BdV-Landesvorsitzender Christian Knauer hat die erstmalige Aufstellung zweisprachiger Ortsschilder in Oberschlesien als „großen Erfolg für die deutsche Minderheit und sichtbares Zeichen für ein entspanntes Zusammenleben der beiden Volksgruppen“ gewertet. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Lubowitz solche Schilder auf-

gestellt. Für die deutschen Minderheiten in Polen ist diese Entscheidung von besonderer Bedeutung. Zwar besteht die Möglichkeit, zweisprachige Ortsschilder seit 2005 aufzustellen; von dem damals verabschiedeten polnischen Gesetz wurde indes nie Gebrauch gemacht. In erfreulicher Weise, so Knauer, mehren sich die Zeichen der Annäherung und das Bewusstsein einer gemeinsamen Ge-

schichte. Das Bekenntnis zur gesamten Geschichte einer Stadt oder eines Ortes sei kein unzumutbares Zugeständnis an Deutschland als Nachbarn. Das Bekenntnis zur gesamten Geschichte mache letztlich alle reicher. Darauf habe er auch bei seinen Aufenthalten in Polen hingewiesen. Dem Beispiel Lubowitz will ein Dutzend weiterer oberschlesischer Orte folgen.

Hinweise bei fehlerhafter Steueridentifikationsnummer Betroffene sollten sich an Meldebehörde wenden Bei der neuen Steueridentifikationsnummer kommt es leider immer noch zu teilweisen falschen Eintragungen in den Mitteilungsschreiben. So wurde bei einigen Vertriebenen ein ausländischer Geburtsort eingetragen, obwohl sie im damaligen Deutschen Reich geboren wurden und damit Deutsche sind. Hintergrund der falschen Eintragungen ist, dass das Bundeszentralamt für Steuern, das für die Erstellung der Mitteilungsschreiben zuständig ist, die Daten hierfür von den Meldebehörden über-

mittelt bekommt und diese verwendet, ohne sie auf Richtigkeit zu überprüfen. Die fehlerhaften Daten in den Schreiben beruhen also auf ursprünglich falschen Eintragungen bei den Meldebehörden. Auf die Vergabe der Identifikationsnummer hatten diese Daten jedoch keinen ursächlichen Einfluss. Mit der Bekanntgabe sollte die einmalige Chance aufgegriffen werden, allen Bürgern mitzuteilen, welche Eintragungen über sie bei den Meldebehörden gespeichert sind, um ihnen die Möglichkeit einer Korrektur zu geben.

Da das Bundeszentralamt nicht zur Berichtigung der Meldedaten befugt ist, müssen sich die Bürger an die im Mitteilungsschreiben unter „Rücksendeadresse“ genannte Stelle – im Regelfall ist das die für sie zuständige Meldebehörde bei der Gemeinde oder Stadtverwaltung – wenden und eine Korrektur der Daten verlangen. Die Meldebehörde übermittelt diese dann elektronisch an das Bundeszentralamt für Steuern, womit die Aktualität der dortigen Datenbank ebenfalls gewährleistet ist.

Ehe die Spuren vergehen Emilie Geiger gehört zu der letzten Generation der Donauschwaben, die in der Ebene zwischen Donau und Theiß, in der Woiwodina, das Licht der Welt erblickte. Dieser deutschen Kolonie wurde durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges ein gewaltsames Ende gesetzt. In ihrem mit zahlreichen Photos, Briefen und Dokumenten aus dem Nachlass ihrer Eltern bebilderten Buch verbinden sich Kindheitserinnerungen, persönliche Erlebnisse und Wissenswertes aus der Geschichte der Donauschwaben, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Emilie Geiger erzählt vom Dorf- und Familienleben in ihrer donauschwäbischen Heimat, berichtet von Vertreibung, Flucht durch den Bombenhagel in den deutschen Städten, von Gefangenschaft, Internierungslagern und der Armut der Nachkriegszeit auf einem Allgäuer Bauernhof, vom Neuanfang in den fünfziger und sechziger Jahren sowie von den weiteren Stationen und Herausforderungen ihres Lebens. Eine bewegende Familiengeschichte in einer dramatischen, ereignisreichen und wechselhaften Zeit von 1938 bis 2005. 160 Seiten mit vielen Abbildungen. ISBN 978-3-927374-58-4 12,80 €, zzgl. Versandkosten. Zu bestellen über: Emilie Geiger, Waldstraße 10, 91616 Neusitz, Tel. 09861/4910

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Rechtsprechung

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Vierte Sektion, 07.10.2008

ENTSCHEIDUNG über die Individualbeschwerde Nr. 47550/06

Preußische Treuhand GmbH & Co. KG a. A. gegen Polen Entscheidung über die Zulässigkeit der Individualbeschwerde Nr. 47550/06 Preußische Treuhand GmbH & Co. KG a. A. gegen Polen Nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen Quelle: Bundesministerium der Justiz, Berlin Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Vierte Sektion) hat in seiner Sitzung am 7. Oktober 2008 als Kammer mit den Richtern • Nicolas Bratza, Präsident, • Lech Garlicki, • Giovanni Bonello, • Ljiljana Mijovic, • David Thor Bjorgvinsson, • Ledi Bianku, • Mihai Poalelungi, • und Lawrence Early, Sektionskanzler, im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 15. November 2006 eingereicht wurde, nach Beratung wie folgt entschieden:

Gliederung SACHVERHALT A) Der Hintergrund der Rechtssache B) Historischer Hintergrund 1. Von den deutschen Behörden angeordnete Evakuierung der deutschen Zivilbevölkerung 2. Enteignung deutschen Eigentums durch Polen C) Der Hintergrund der Rechtssache 1. Sachverhalt in Bezug auf die einzelnen Beschwerdeführer 2. Preußische Treuhand GmbH & Co. KG a. A. D) Das einschlägige Völkerrecht und innerstaatliche

SACHVERHALT

1. Internationale Rechtsinstrumente a) Die Konferenz von Jalta b) Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 c) Kriegsreparationen für Polen d) Verträge zwischen Polen und der ehemaligen DDR über die Festlegung der Grenzen e) Warschauer Vertrag von 1970 zwischen der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland und Polen. f) Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Beseitigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen vom 14. November 1990 2. Polnisches Recht a) Das Gesetz von 1945 b) Das Dekret von März 1946 c) Das Dekret von September 1946 d) Das Dekret vom November 1946

1. Die Beschwerdeführerin, die Preußische Treuhand GmbH & Co. KG a. A. (die beschwerdeführende Gesellschaft) ist eine deutsche juristische Person, eine Kommanditgesellschaft, mit eingetragenem Geschäftssitz in Düsseldorf. Sie betrieb die Individualbeschwerde im Namen von 23 natürlichen Personen („die einzelnen Beschwerdeführer“), ihrer Anteilseigner, die alle deutsche Staatsangehörige sind und die Beschwerdeführerin bevollmächtigten, in dem Verfahren vor dem Gerichtshof in ihrem Namen zu handeln; die Beschwerde bezieht sich auf Vorfälle, die diese natürlichen Personen betreffen. Ihre Namen und Personalien sind in einem Anhang zu dieser Entscheidung aufgeführt. Die Beschwerdeführerin wurde vor dem Gerichtshof von Herrn T. Gertner, Rechtsanwalt in Bad Ems, vertreten.

A) Der Hintergrund der Rechtssache Die einzelnen Beschwerdeführer tragen vor, selbst Personen oder Rechtsnachfolger von Personen zu sein, die vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Gebiet des deutschen Reichs in den nationalen Grenzen bis zum 31. Dezember 1937, d. h. in den Provinzen Ostpommern, Ostbrandenburg, Schlesien und Ostpreußen lebten, oder polnische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit gewesen zu sein, die im polnischen Hoheitsgebiet in den polnischen Grenzen des vorbezeichneten Datums lebten. Der zuletzt genannte Personenkreis lebte überwiegend in von dem Deutschen Reich getrennten Gebieten, als der polnische Staat nachdem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder hergestellt wurde, d. h. in den Regionen von Posen (auf polnisch Pozna), Pommern (auf polnisch Pomorze), Bromberg (auf polnisch Bydgoszcz) und Ostoberschlesien, dem Gebiet um Kattowitz (auf polnisch Katowi-

RÜGEN RECHTLICHE WÜRDIGUNG A) Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Angelegenhei B) Vereinbarkeit ratione personae C) Vereinbarkeit ratione temporis 1. Allgemeine Grundsätze aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs 2. Anwendung der genannten Grundsätze in der vorliegenden Rechtssache D) Vereinbarkeit ratione materiae

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Rechtsprechung ce), Tarnowitz (auf polnisch Tarnowskie Góry) und Königshütte (auf polnisch Chorzów) oder in der ehemaligen Freien Stadt Danzig (auf polnisch Wolne Miasto Gdask).

3. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Grenze zwischen Deutschland und Polen entlang der Oder-Neiße-Linie gezogen wurde, wurden diese Gebiete dem polnischen Hoheitsgebiet zugeordnet. Die Zuordnung dieser Gebiete stand in Zusammenhang mit den nach der Konferenz von Jalta und dem Potsdamer Abkommen getroffenen Vereinbarungen (siehe auch Rdnrn. 31–32, unten), insbesondere der Frage der Kriegsreparationen für Polen und der Festlegung der polnischsowjetischen Grenze entlang dem Bug. Dahinter lagen die – oft als „Grenzland“ (Kresy) bezeichneten – polnischen Ostprovinzen aus der Vorkriegszeit, die in die Sowjetunion eingegliedert wurden; damit ging eine „Repatriierung“ der dort ansässigen polnischen Bevölkerung nach Polen aufgrund der vom 9. bis 22. September 1944 zwischen dem Polnischen Komitee der Nationalen Befreiung (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego) und den ehemaligen Sozialistischen Sowjetrepubliken Ukraine, Weißrussland und Litauen getroffenen sogenannten „Umsiedlungsvereinbarungen“ (Republican Agreements – umowy republikanskie)1 – einher. Die ehemaligen deutschen Gebiete östlich der OderNeiße-Linie, die die kommunistischen polnischen Behörden als „Wiedergewonnene Gebiete“ (Ziemie Odzyskane) bezeichneten, wurden als Teil der Kriegsreparationen und „Wiedergutmachung“ für die von der Sowjetunion annektierten polnischen Ostprovinzen angesehen (siehe auch Rdnrn. 31–33, unten). Im Zuge der damals von den polnischen Behörden verfolgten Politik sollten aus den Gebieten östlich des Bug „repatriierte“ polnische Staatsangehörige in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ – nach der Vertreibung der dort ansässigen Deutschen – angesiedelt werden (siehe Rdnr. 40, unten und auch Rechtsache Broniowski/Polen (Begründetheit) [GK] Individualbeschwerde Nr. 31443/96, Rdnrn. 10–12 und 43 EGMR 2004-V).

B) Historischer Hintergrund 1. Von den deutschen Behörden angeordnete Evakuierung der deutschen Zivilbevölkerung 4. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erstellten die NSBehörden Pläne zur Evakuierung der deutschen Zivilbevölkerung aus Osteuropa, auch aus Gebieten des heutigen West- und Nordpolens östlich der Oder-Neiße-Linie. Mit der Durchführung wurde zu verschiedenen Zeitpunkten begonnen. Die Evakuierung erfolgte im Wesentlichen von Januar bis März oder sogar im April 1945. Die Evakuierung Ostpreußens wurde in drei Abschnitten vorgenommen. Der erste Abschnitt fand im Juli 1944, der zweite im Oktober 1944 statt. Die Bevölkerung wurde nach Pommern und Sachsen evakuiert. Der dritte Abschnitt setzte am 20. Januar 1945 während der sowjeti1 diese könnten laut der polnischen Abteilung des Sprachdiensts des Auswärtigen Amts mit „Republican Agreements“ gemeint sein – Anm. d. Üb.

schen Offensive ein und wurde den ganzen Monat über weitergeführt. Die Hauptstadt Königsberg ergab sich den Sowjets am 9. April 1945. Die Rote Armee übernahm im Mai 1945 die Kontrolle über dieses Gebiet. Es wurde dann von der Sowjetunion annektiert und gehört heute zur Russischen Föderation. Die Evakuierung Pommerns begann im Januar 1945 wurde aber verschoben und (Ende Februar 1945) ausgesetzt, weil aus Ostpreußen evakuierte Menschenströme in das Gebiet gekommen waren. Die Evakuierung Schlesiens setzte am 19. Januar 1945 ein. Die Bevölkerung wurde nach Sachsen und Böhmen evakuiert. Die Evakuierung von Ostbrandenburg (Neumark) und Großpolen (Wielkopolska) begann am 20. Januar 1945. 2. Enteignung deutschen Eigentums durch Polen 5. Der polnische Staat enteignete durch mehrere von 1945 bis 1946 erlassene Vorschriften formal deutsches Eigentum, das im Zuge der Evakuierung oder Vertreibung zurückgelassen worden war, oder Deutsche, die noch auf ihrem Grund und Boden in den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie geblieben waren. Die Enteignungsvorschriften betrafen land- und forstwirtschaftliche Flächen, Industrie und Unternehmen sowie sonstiges ehemals (!) deutsches Eigentum. Dazu zählten Vorschriften, die nicht ausschließlich Deutsche betrafen, z. B. Dekrete zur Übernahme bestimmter Waldgrundstücke in das Eigentum des Staates sowie das Verstaatlichungsgesetz von 1946, nach denen das Eigentum der meisten Privateigentümer entweder (mit oder ohne Entschädigung) vollständig enteignet wurde oder nur ein bestimmter Eigentumsanteil behalten werden konnte. Deutsche wurden jedoch anders behandelt, weil Größenbegrenzungen nicht zulässig waren und ihr Eigentum entschädigungslos enteignet wurde. Die zweite Kategorie von Vorschriften stellte insbesondere auf die Übernahme deutschen Eigentums ab; sie ging mit einem eigenen Regelwerk für die „Wiedergewonnenen Gebiete“ und die Einziehung von Vermögen einher, das Personen – Deutschen oder anderen – gehörte, die sich während des Krieges gegenüber dem polnischen Staat oder der polnischen Nation illoyal verhalten hatten: Dazu gehörten das Gesetz vom 6. Mai 1945 über das verlassene und aufgegebene Vermögen (ustawa o majątkach opuszczonych i porzuconych, „das Gesetz von 1945“), das Dekret vom 8. März 1946 über das verlassene und ehemals deutsche Vermögen (dekret o majątkach opuszczonych i poniemieckich, „das Dekret von März 1946“), das Dekret vom 6. September 1946 über Landreform und Ansiedlung in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ und in der ehemaligen Freien Stadt Danzig (dekret o ustroju rolnym i osadnictwie na obszarze Ziem Odzyskanych i byłego Wolnego Miasta Gdańska, „das Dekret von September 1946“) und das Dekret vom 15. November 1946 über die Beschlagnahme des Vermögens der Staaten, welche sich in den Jahren 1939 bis 1945 mit dem polnischen Staat im Kriegszustand befanden, und des Vermögens juristischer Personen und Angehöriger

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Rechtsprechung nicht in ihre Heimatregion zurückkehren und Restitution wird versagt.

dieser Staaten sowie über die Zwangsverwaltung dieser Vermögen (dekret o zajęciu majątków państw pozostających z Państwem Polskim w stanie wojny w latach 1939–45 i majątków osób prawnych i obywateli tych państw oraz o zarządzie przymusowym nad tymi majątkami).

C) Der Hintergrund der Rechtssache 6. Der von den einzelnen Beschwerdeführern vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen. 1. Sachverhalt in Bezug auf die einzelnen Beschwerdeführer (1) Frau Z. 7. Die Beschwerdeführerin wurde in Breslau (dem heutigen Wroclaw) geboren; sie trägt vor, dass sie ab 1938 wegen ihrer jüdischen Herkunft unter dem Druck der Nazis gestanden habe. Als deutsche Staatsangehörige sei sie nach Westberlin geflohen, als die Rote Armee Breslau besetzt habe. Später habe sie vier Jahre in New York und anschließend in Israel gelebt, ehe sie nach Deutschland zurückgekehrt sei. Derzeit wohnt sie in Berlin. Der Vater der Beschwerdeführerin, V. G., verstarb am 27. April 1947; ihre Mutter, E. G., sei wegen ihrer jüdischen Herkunft nicht mit den Deutschen aus Polen deportiert worden. Sie habe dort bis zu ihrem Lebensende gelebt. Nach ihrem Tod sei das Familienvermögen eingezogen worden. Die Beschwerdeführerin trägt vor, dass der polnische Staat es ihr bis heute nicht gestattet habe, den Besitz an ihrem Eigentum wiederzuerlangen, weil nach dem Dekret von März 1946 das gesamte unbewegliche und bewegliche Vermögen, das seine Eigentümer wegen des am 1. September 1939 begonnenen Kriegs verloren und vor Inkrafttreten des Dekrets nicht wiedererlangt hatten, als verlassen gelte. Da die Eltern der Beschwerdeführerin an der Ausübung ihres Eigentumsrechts gewaltsam gehindert worden seien, sei das Eigentum auf den polnischen Staat übergegangen. Bisher würden ihr Rehabilitation und Restitution versagt. Die Beschwerdeführerin hat keine Unterlagen oder andere Beweise vorgelegt, die belegen, dass sie etwaige derartige Ansprüche an die polnischen Behörden gestellt hat. (2) Frau D. 8. Am 4. März 1945 mussten die Mutter der Beschwerdeführerin, ihre Großmutter und ihre Schwester vor der heranrückenden Roten Armee nach Massow (das heutige Maszewo) und dann in den Kreis Naugard (das heutige Nowogard) in Pommern fliehen und wurden zunächst nach Hagenow in Mecklenburg evakuiert. Da sie überstürzt aufbrechen mussten, konnten sie nur sehr wenig mitnehmen und ließen sogar wichtige Dinge (z. B. Dokumente) zurück, weil sie davon ausgingen, bald nach Hause zurückkehren zu können. Die Beschwerdeführerin selbst wurde zum Arbeitsdienst herangezogen und arbeitete damals in Bayern. Die Beschwerdeführerin und ihre Familie dürfen immer noch

(3) Herr L. 9. Als die Familie des Beschwerdeführers erfuhr, dass die Alliierten beabsichtigten, Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen, verließ sie vor der Ankunft der heranrückenden Roten Armee im Januar 1945 ihren Bauernhof in Dammfelde (das heutige Dąbrowka Mała), der dem Vater des Beschwerdeführers, H. L., gehörte. Sie erreichte die britische Besatzungszone. Der Beschwerdeführer trägt vor, dass er immer noch nicht in seine Heimatregion zurückkehren dürfe und ihm die Restitution seines Grundeigentums versagt werde. (4) Herr B. 10. Die Mutter des Beschwerdeführers, M. B., wurde von ihrem Familienhof in Rohnstock (dem heutigen Roztoka) vertrieben und starb am 12. oder 16. April 1945 auf der Flucht. Der Beschwerdeführer darf als Erbe seiner Mutter immer noch nicht in das Haus der Familie zurückkehren und die Restitution seines Grundeigentums wird ihm versagt. (5) Frau B. 11. Ende Januar 1945 verließen die Beschwerdeführerin, ihre Brüder und Schwestern sowie eine Tante und ihre Familie ihren Wohnort Wiesenthal-Röhrsdorf (das heutige Osowa Sień) im Bezirk Fraustadt (dem heutigen Bezirk Wschowa) in Niederschlesien, um vor der heranrückenden Roten Armee zu fliehen. Sie und die anderen Deutschen hatten eine Stunde Zeit, um sich einem Treck mit Pferdewagen im Nachbarort Röhrsdorf anzuschließen. Der Großvater der Beschwerdeführerin, E. G., wurde nach der erzwungenen Flucht der Beschwerdeführerin und ihrer Familie von den sowjetischen Truppen auf seinem eigenen Hof erschossen oder zu Tode geprügelt und die Hofgebäude wurden in Brand gesetzt. Das Haus blieb jedoch erhalten. Nach langem Marsch und erlittener großer Not erreichten die Beschwerdeführerin und ihre Familie Sachsen. Sie dürfen immer noch nicht in ihre Heimatregion zurückkehren und ihnen wird Restitution versagt. (6) Herr S. Ende Januar oder Anfang Februar 1945 mussten der Beschwerdeführer und seine Familie ihren Bauernhof in Ziegelscheune (dem heutigen Wszewilki) verlassen. Jede Person durfte nur einen Koffer mitnehmen. Von dem Bahnhof in Militsch (dem heutigen Milicz) aus wurden sie in Viehwaggons westwärts verbracht und erlebten unterwegs die Bombardierung Dresdens. Der Beschwerdeführer und seine Familie erreichten schließlich Altenroda (Thüringen). Im Juni 1957 verließ er die ehemalige Deutsche Demokratische Republik und zog in die Bundesrepublik Deutschland. Er darf immer noch nicht auf seinen Hof zurückkehren und ihm wird Restitution versagt.

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Rechtsprechung (7) Herr D. 13. Am 4. März 1945 mussten die Eltern des Beschwerdeführers und ihre Kinder ihr Haus in Massow (dem heutigen Maszewo) verlassen, weil die Rote Armee auf ungefähr 20 Kilometer herangerückt war und ihre Evakuierung angeordnet wurde. Gleichwohl kehrten sie danach nach Massow zurück, wo – wie der Beschwerdeführer es in eigenen Worten ausdrückt – Plünderung, Vergewaltigung, usw. an der Tagesordnung gewesen seien. Im September/Oktober 1945 kamen die ersten Polen und übernahmen ihre Wohnungen und Höfe. Ende Oktober 1945 wurde der Familienhof von der polnischen Miliz konfisziert. Der Vater des Beschwerdeführers wurde später von Polen festgenommen und grundlos zur Polizeidienststelle Stettin (das heutige Szczecin) verbracht, wo er sechs Wochen Misshandlungen erlitt. Er wurde dann einem Richter vorgeführt und auf freien Fuß gesetzt. Der Beschwerdeführer selbst, dessen Festnahme auch geplant war, wurde zur unentgeltlichen Arbeit ohne jegliche Hilfe auf dem Bauernhof gezwungen. Anfang 1946 begannen die Polen, die Deutschen aus Stolzenhagen (dem heutigen Szczecin-Glinki) zu deportieren. Da die Aufenthaltsgenehmigungen der Familie am 31. Mai 1946 abliefen, begab sie sich zuerst nach Odermünde und dann nach Pölitz und erreichte schließlich im Juli 1946 die Britische Besatzungszone. Die Familie darf immer noch nicht auf ihren Hof zurückkehren und ihr wird Restitution versagt. Sie ließ auch in Stettin-Stolzenberg (dem heutigen Szczecin-Stołczyn) Vermögen zurück. (8) Herr J. 14. Im Januar 1945 wurden die Großeltern des Beschwerdeführers aus Zoppot (dem heutigen Sopot) vertrieben. Sie zogen auf dem Landweg westwärts. Der Beschwerdeführer darf immer noch nicht in die Wohnung seiner Familie zurückkehren und Restitution wird versagt. (9) Frau H. 15. 1946 wurden die Mutter der Beschwerdeführerin und ihre Familie von der polnischen Miliz von ihrem Bauernhof in Ober Ohlisch (dem heutigen Olszówka Górna) vertrieben. Sie durften nichts mitnehmen. Die Beschwerdeführerin und ihre Mutter gingen zunächst zu polnischen Nachbarn, die ihnen ein Zimmer zur Verfügung stellten. Die Mutter der Beschwerdeführerin war zuvor angezeigt und falsch beschuldigt worden, einem Polen ein Pferdegeschirr entwendet zu haben. Sie musste sich drei Wochen lang täglich bei der Miliz melden, wo sie den Tag mit der Reinigung der Toiletten und anderer Räume in der Baracke verbrachte und mit ansehen musste, wie andere Deutsche vernommen und geschlagen wurden. Die Beschwerdeführerin und ihre Mutter kehrten in ihr Haus zurück, das inzwischen einem anderen Polen

überlassen worden war. Ihnen wurde das Zimmer zur Verfügung gestellt, in dem die Großmutter noch wohnte; sie durften aber weder die Toilette benutzen noch Wasser verbrauchen; durch ihr Fenster wurden Steine geworfen. Sie mussten auch Miete zahlen. Nachdem sie eine andere Unterkunft gefunden hatten, zogen sie 1956 endlich aus. Sie blieben bis zum 24. Juni 1989 in Polen; dann reisten sie mit einem Besuchervisum in die Bundesrepublik Deutschland und beschlossen, dort zu bleiben; sie leben immer noch in Deutschland. Die Beschwerdeführerin trägt vor, dass sie bei den polnischen Behörden wiederholt einen Antrag auf Restitution ihres Eigentums gestellt hatten; dieser sei jedoch abgewiesen worden, weil sie als Deutsche nicht rehabilitiert seien. Die Beschwerdeführerin hat keine Unterlagen oder andere Beweise vorgelegt, die belegen, dass sie ihre Ansprüche an eine polnische Justiz-, Verwaltungs- oder sonstige Behörde gestellt hat. (10) Herr D. 16. Im Mai 1946 wurden der Vater des Beschwerdeführers und seine Familie in ihrem Haus in Bad Charlottenbrunn (dem heutigen Jedlina Zdrój) von polnischen Milizionären aufgesucht; ihnen wurde mitgeteilt, dass sie unverzüglich deportiert werden sollten. Sie hatten etwa eine Stunde Zeit, um das Notwendigste zu packen; jeder durfte nur etwa 20 Kilo Gepäck mitnehmen. Sie marschierten fünf Kilometer zum Bahnhof und wurden in offene Güterwagen verladen. Unterwegs wurden viele Menschen ihrer letzten Habe beraubt. Es wurden wiederholt körperliche Durchsuchungen vorgenommen, und den Deutschen wurde unter Androhung schwerer Strafe bei Nichtbefolgung per Lautsprecher befohlen ihre Wertsachen, z. B. Sparbücher, usw., abzugeben. Dem Vater des Beschwerdeführers und seiner Familie gelang es schließlich, die westliche Besatzungszone zu erreichen. Der Beschwerdeführer darf immer noch nicht in das Haus seiner Familie zurückkehren und ihm wird Restitution versagt. (11) Herr K. 17. Am 20. Januar 1945 flüchteten der Beschwerdeführer und andere Familienangehörige aus ihrer Heimatregion, nachdem die Deutschen angewiesen worden waren, Stołężyn zu verlassen und sich in Schwarzacker zu melden. Sie machten in Czarnikau (dem heutigen Czarnków) halt; dort waren alle Straßen gesperrt und ein Weiterkommen war nicht möglich. Plötzlich tauchten Rotarmisten auf und wollten den Beschwerdeführer erschießen – sogar alte Menschen und Kinder waren getötet worden, nur weil sie Deutsche waren – aber ein Pole schritt ein, um ihn zu schützen. Ihre gesamte Habe wurde ihnen weggenommen, aber die Familie entkam und überlebte. Am 23. Januar 1945 befahlen die Sowjets der Fa-

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Rechtsprechung milie, in ihre Heimatregion zurückzukehren, wo sie am 25. Januar 1945 ankamen. Das Haus war geplündert worden. Im Februar 1945 vertrieben polnische Milizionäre sie erneut, und sie wurden in ein Internierungslager in Elsenau (dem heutigen Damasławek) eingewiesen; dort wurde ihnen ihre letzte Habe weggenommen und sie wurden schwer misshandelt. Schließlich wurden sie gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Sie dürfen immer noch nicht in ihre Heimatregion zurückkehren und ihnen wird Restitution versagt. (12) Herr W. 18. Die Großmutter des Beschwerdeführers, P. N., wollte auf dem Familienhof in Ridbach (dem heutigen Rzeck) bleiben, aber der Beschwerdeführer, seine Mutter und seine Schwester hatten die Region 1945 vor der Ankunft der Roten Armee auf dem Seeweg verlassen. Die Großmutter wurde kurz darauf von Rotarmisten auf dem Hof erschossen. Seit Kriegsende dürfen der Beschwerdeführer und andere Familienangehörige nicht in ihre Heimatregion zurückkehren und ihnen wird Restitution versagt. (13) Herr L. 19. Im August 1946 wurden der Vater des Beschwerdeführers und seine Familie mit Waffengewalt aus ihrem Haus und von ihrer Gärtnerei in Bad Charlottenbrunn (dem heutigen Jedlina-Zdrój) in Niederschlesien vertrieben. Polnische Milizionäre wiesen sie an, sich innerhalb einer Stunde abreisefertig auf der Straße einzufinden. Sie marschierten mit anderen Menschen unter Polizeibewachung zum etwa fünf Kilometer entfernt liegenden Bahnhof; unterwegs wurden ihnen verschiedene Gepäckstücke gestohlen. Sie wurden in Güterwagen nach Waldenburg (dem heutigen Wałbrzych) verbracht, wo sie wieder durchsucht wurden und weitere Habe verloren. Sie wurden in Richtung Oder-Neiße-Grenzübergang und von dort aus in die sowjetische Besatzungszone verbracht. Der Beschwerdeführer darf immer noch nicht in seine Heimatregion zurückkehren und Restitution wird versagt. (14) Herr N. 20. Der Beschwerdeführer trägt vor, dass die Namen seiner Eltern als Eigentümer zu je ½ von zwei Häusern im Grundbuch Beuthen (dem heutigen Bytom in Polen) eingetragen worden waren. Sie lebten gegen Ende des Krieges in ihrer Wohnung in Königsberg (dem heutigen Kaliningrad in Russland) und waren nicht geflohen. Der Beschwerdeführer konnte nie klären, was seiner Mutter beim Einmarsch der Roten Armee in Königsberg zugestoßen war. Vermutlich wurde sie zur Zwangsarbeit verurteilt und verstarb 1947. Der Beschwerdeführer darf immer noch nicht in sein Haus zurückkehren und Restitution wird versagt.

(15) Frau S. 21. Im Februar 1945 lebten die Großeltern der Beschwerdeführerin noch auf ihrem Bauernhof in Ober-Görisseiffen (dem heutigen Płóczki Górne) in einem bereits von sowjetischen Truppen besetzten Gebiet. Eines Abends eröffneten Flugabwehrgeschütze in der Region das Feuer und die Großeltern wurden aufgefordert in Richtung Osten aufzubrechen. Sie packten das Notwendigste und machten sich heimlich auf den Weg in Richtung Westen; sie hofften, andere Familienangehörige zu treffen, die dem abziehenden deutschen Heer folgten. Bei Kriegsende am 8. Mai 1945 kehrten sie nach Löwenberg (das heutige Lwówek Śląski) zurück, wo nur ihr Haus noch nicht geplündert war. Ende Juni 1945 wurden sie weggebracht, nachdem ihnen Zeit gelassen worden war, nur das Allernotwendigste zu packen. Wer bleiben wollte, wurde verhaftet oder sofort erschossen. Nachdem sie unterwegs an verschiedenen Orten Halt gemacht hatten, erreichten sie schließlich den Westen und kamen bis zum Rheinland. Die Beschwerdeführerin darf immer noch nicht in ihr Heimatland zurückkehren und ihr wird Restitution versagt. (16) Herr Z. 22. Am 3. März 1945 flohen der Beschwerdeführer und seine Eltern mit anderen Grundeigentümern von ihrem Grundeigentum in Pommern, um der anrückenden Roten Armee zu entkommen. Sie erreichten Testorf in Holstein am 23. März 1945. Der Beschwerdeführer darf immer noch nicht in seine Heimatregion zurückkehren und ihm wird Restitution versagt. (17) Herr W. 23. Bis Kriegsende lebte die Mutter des Beschwerdeführers auf ihrem Bauernhof in Schönhorst (dem heutigen Gniazdowo) im Gebiet der ehemaligen Freien Stadt Danzig. Am 24. Januar 1945 wurde ihr befohlen, die Region zu verlassen. Sie floh mit Karren Richtung Westen und erreichte schließlich im März 1945 Sittensen im Bezirk Bremervörde. Die Beschwerdeführerin darf immer noch nicht in das Haus ihrer Familie zurückkehren und Restitution wird versagt. (18) Frau K. 24. Die Beschwerdeführerin und ihre Familie mussten ihre Wohnung in Treuburg (dem heutigen Olecko) verlassen, um der anrückenden Roten Armee im Januar 1945 zu entkommen. Sie flohen und kamen schließlich nach Berlin. Sie gingen noch weiter Richtung Westen und wurden in Mecklenburg von sowjetischen Truppen überholt. Sie dürfen immer noch nicht in ihre Heimatregion zurückkehren und ihnen wird Restitution versagt.

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Rechtsprechung (19) Frau S. 25. Am 9. Juli 1947 wurden der Vater der Beschwerdeführerin und seine Familie gezwungen, ihr 27,14 Hektar großes Gut in Lokau (dem heutigen Tłokowo) zu verlassen. Die Beschwerdeführerin darf immer noch nicht in ihre Heimatregion zurückkehren und ihr wird Restitution versagt.

um nachzusehen, ob es ihren Hof noch gab; aber die Polen, die ihn bereits in Besitz genommen hatten, meldeten ihre Ankunft unverzüglich den sowjetischen Stellen in Treuburg. Da ihnen mit Erschießung gedroht wurde und sie ihren Hof nicht zurückfordern konnten, blieb ihnen erneut nur die Flucht. Der Familie wird Rehabilitation und Restitution versagt.

(20) Herr L. 26. Der Beschwerdeführer trägt vor, dass seine Familie zu den Deutschen gehörte, die nicht von den Sowjets deportiert worden waren, sondern am 27. Juni 1945 von den Polen aus östlich der Oder gelegenen Gebieten vertrieben wurden. Sie durften nur das Allernotwendigste mitnehmen. Der Onkel des Beschwerdeführers (der dann am 31. Dezember 1945 für tot erklärt wurde), war damals nicht in Stolzenfelde (dem heutigen Stołeczna); seine Ehefrau war dort am 20. Februar 1945 verstorben. Sie haben die Vertreibung im Gegensatz zu dem Beschwerdeführer und den überlebenden Angehörigen, denen Rehabilitation und Restituton bisher versagt werden, nicht erlebt.

(23) Herr H. 29. Um der anrückenden Roten Armee zu entkommen, flohen der Beschwerdeführer und seine Eltern am 29. Januar 1945 aus ihrer Wohnung in Heilsberg (dem heutigen Lidzbark Warmiński) zunächst·nach Heiligenbeil (das heutige Mamonowo) und anschließend Anfang Februar 1945 nach Danzig. Beim Einmarsch der Roten Armee am 27. oder 28. März 1945 wurden alle Flüchtlinge wieder nach Hause geschickt. Ende Mai 1945 machte die Familie sich mit einem Handwagen zu Fuß auf den Weg zu ihrer Wohnung in Heilsberg. Die Häuser der Eltern waren noch von sowjetischen Truppen besetzt, und die Flüchtlinge wurden von Angehörigen aufgenommen. Ende Juli 1945 wurden sie aus Polen vertrieben und in Güterwagen über Bischofsstein (das heutige Bisztynek) nach Berlin verbracht; unterwegs wurden ihnen verschiedene Sachen gestohlen. Schließlich kamen sie am 1. Februar 1946 in Beckum in Westfalen an. Dem Beschwerdeführer werden ebenso wie seinen verstorbenen Angehörigen Rehabilitation und Restitution versagt.

(21) Herr K. 27. Die Großtante des Beschwerdeführers und ihre Familie überlebten den schweren Luftangriff auf Swinemünde (das heutige Świnoujście) am 12. März 1945 und blieben auch nach Ankunft der Roten Armee am 5. Mai 1945 unverletzt. Am 6. Oktober 1945 übernahm Polen Swinemünde und polnische Zivilisten begannen Deutsche zu überfallen und zu berauben. Im April 1946 befahl die polnische Miliz dem Beschwerdeführer und seiner Mutter das Gebiet zu verlassen und nur die notwendigste persönliche Habe mitzunehmen. Die Großtante und Großmutter des Beschwerdeführers wollten zunächst bleiben, aber die Gewaltandrohung ließ ihnen keine Wahl; im Sommer 1947 erreichten sie schließlich Stralsund. Der Beschwerdeführer und seine Mutter waren bereits im April 1946 nach Stralsund geflohen. Allen Familienangehörigen werden Rehabilitation und Restitution fortwährend versagt. (22) Frau H. 28. Am 22. Oktober 1944 flohen die Beschwerdeführerin und ihre Eltern aus ihrem Heimatort Moschnen (dem heutigen Możne) im Kreis Treuburg (dem heutigen Kreis Olecko). Sie erreichten den Kreis Sensburg (dem heutigen Kreis Mrągowo) in Ostpreußen, kamen aber nicht weiter, weil alle Straßen von Flüchtlingen blockiert waren. Sie beschlossen zu der Unterkunft, die sie im Kreis Sensburg gefunden hatten, zurückzukehren; dort sahen sie deutsche Zivilisten, die bei der Ankunft der Roten Armee ermordet worden waren. Eines der Opfer war der Vater der Beschwerdeführerin, der Anfang Februar 1945 erschossen worden war. Im Juni 1945 machten die Beschwerdeführerin und ihre Mutter sich auf den Weg zu ihrem Heimatort Moschnen,

2. Preußische Treuhand GmbH & Co. KG a. A. 30. Die „Preußische Treuhand“ wurde 2000 als eine Selbsthilfeorganisation „der Vertriebenen für deutsches Vermögen in den Vertreibungsgebieten“ gegründet. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Restitution des konfiszierten Eigentums der Deutschen, die aus Gebieten vertrieben worden waren, welche nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedene osteuropäische Staaten, einschließlich Polens, eingegliedert wurden, zu sichern und durchzusetzen. Die „Preußische Treuhand“ erklärt, die Eigentumsansprüche Einzelner zu vertreten und zu fördern, und macht diese rechtlich und wirtschaftlich geltend.2

D) Das einschlägige Völkerrecht und innerstaatliche Recht 1. Internationale Rechtsinstrumente a) Die Konferenz von Jalta 31. Die Konferenz von Jalta, die vom 4. bis 11. Februar von den alliierten Staatschefs Churchill, Roosevelt und Stalin abgehalten wurde, war dem militärischen Vorgehen in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs sowie der vorgesehenen künftigen Besatzung Deutschlands gewidmet. Vereinbart wurde, die neue Grenze zwischen Polen und der Sowjetunion entlang der Curzon-Linie zu 2 Die Beschreibung basiert auf Angaben, die die Beschwerdeführerin selbst auf ihrer Internetseite (www.preussische-Treuhand.org) macht.

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Rechtsprechung ziehen; damit sollte die polnische Ostgrenze teilweise entlang dem Fluss Bug festgelegt werden, dessen zentraler Lauf Teil dieser Grenzlinie war; ferner sollten die polnischen Ostprovinzen (Teile des heutigen Weißrusslands, Litauens und der Ukraine) in die Sowjetunion eingegliedert werden (siehe auch Rdnr. 3, oben). Als Ausgleich sollte Polen Gebiete im Westen bekommen. Stalin schlug die Oder-Neiße-Linie als neue deutsch-polnische Grenze vor, aber diese Frage sollte schließlich auf der Folgekonferenz in Potsdam entschieden werden. b) Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 32. Das Potsdamer Abkommen, ein Abkommen der drei Regierungschefs der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken („die Drei Mächte“) über die Politik hinsichtlich der Besatzung und des Wiederaufbaus Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945, legte unter anderem die Grundsätze für Kriegsreparationen aus Deutschland (Kapitel III, „Reparationen aus Deutschland“), die Grenzziehung zu Polen (Kapitel VIII Buchstabe B, „Westgrenze Polens“) und die Repatriierung deutscher Staatsangehöriger nach Deutschland (Kapitel XII „Ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile“) fest. Das Kapitel „Reparationen aus Deutschland“ hat, soweit maßgeblich, folgenden Wortlaut: „1. Die Reparationsansprüche der UdSSR sollen durch Entnahmen aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden. 2. Die UdSSR wird die Reparationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an den Reparationen befriedigen.“ Das Teilkapitel „Westgrenze Polens“ hat, soweit maßgeblich, folgenden Wortlaut: „Die Häupter der drei Regierungen stimmen darin überein, dass bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens, die früher deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, einschließlich des Teils Ostpreußens, der nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in Übereinstimmung mit den auf dieser Konferenz erzielten Vereinbarungen gestellt wird, und einschließlich des Gebietes der früheren Freien Stadt Danzig, unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen.“ Das Kapitel „Ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile“ hat, soweit maßgeblich, folgenden Wortlaut: „Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile

derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“ Da der Zustrom einer großen Zahl Deutscher nach Deutschland die Lasten vergrößern würde, die bereits auf den Besatzungsbehörden ruhen, halten sie es für wünschenswert, dass der alliierte Kontrollrat in Deutschland zunächst das Problem unter besonderer Berücksichtigung der Frage einer gerechten Verteilung dieser Deutschen auf die einzelnen Besatzungszonen prüfen soll. Sie beauftragen demgemäß ihre jeweiligen Vertreter beim Kontrollrat, ihren Regierungen so bald wie möglich über den Umfang zu berichten, in dem derartige Personen schon aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland gekommen sind und eine Schätzung über Zeitpunkt und Ausmaß vorzulegen, zu dem die weiteren Überführungen durchgeführt werden könnten, wobei die gegenwärtige Lage in Deutschland zu berücksichtigen ist. Die tschechoslowakische Regierung, die Polnische Provisorische Regierung und der Alliierte Kontrollrat in Ungarn werden gleichzeitig von Obigem in Kenntnis gesetzt und ersucht, inzwischen weitere Ausweisungen der deutschen Bevölkerung einzustellen, bis die betroffenen Regierungen die Berichte ihrer Vertreter an den Kontrollausschuss geprüft haben.“ c) Kriegsreparationen für Polen 33. Die Frage der Kriegsreparationen für Polen, dessen Ansprüche nach dem Potsdamer Abkommen aus dem Anteil der Sowjetunion befriedigt werden sollten (siehe Rdnr. 32, oben), wurde durch einen bilateralen Vertrag zwischen der Sowjetunion und Polen, d. h. dem Vertrag zwischen der Polnischen Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit und der Regierung der UdSSR vom 16. August 1945, über die Entschädigung für die während der deutschen Besatzung erlittenen wirtschaftlichen Verluste (Umowa między Tymczasowym Rządem Jedności Narodowej RP a Rządem ZSRR o wynagrodzeniu szkód finansowych wyrządzonych przez okupację niemiecką) geregelt. Nach diesem Vertrag trat die UdSSR

ihre sämtlichen Ansprüche auf deutsche Vermögenswerte, die im polnischen Hoheitsgebiet sowie in dem Teil des deutschen Gebiets östlich der Oder-Neiße-Linie, der an Polen fallen sollte, gelegen waren, an Polen ab. Es wurde davon ausgegangen, dass dieser Vertrag ein Instrument zur Durchführung des Potsdamer Abkommens und eine Grundlage für die polnische Übernahme von deutschem Eigentum darstellte, das in Polen innerhalb der von dem Vertrag festgelegten Grenzen gelegen war. d) Verträge zwischen Polen und der ehemaligen DDR über die Festlegung der Grenzen (i) Das Görlitzer Abkommen von 1950 34. Der sogenannte „Görlitzer Vertrag“, das Abkommen über die Markierung der festgelegten und bestehenden deutschpolnischen Staatsgrenze, wurde am 6. Juli 1950 von dem Präsidenten der Volksrepublik Polen und dem Präsiden-

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Rechtsprechung

(ii) 35.

e) 36.

f)

37.

ten der Deutschen Demokratischen Republik („der ehemaligen DDR“) in Görlitz (Zgorzelec) unterzeichnet. Damit wurde die Oder-Neiße-Linie in Anlehnung an das Potsdamer Abkommen als Grenze zwischen Polen und der ehemaligen DDR anerkannt. Obwohl der Vertrag von den Vertragsstaaten als rechtsgültig und verbindlich angesehen wurde, wurde er von den Behörden der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland nicht anerkannt. Der Vertrag von 1989 über die Abgrenzung der Seegebiete Der Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen über die Abgrenzung der Seegebiete in der Oderbucht vom 22. Mai 1989 war eine Nachfolgeübereinkunft zur Durchführung des Vertrags von Görlitz über die deutsch-polnische Staatsgrenze. Er betraf die Abgrenzung der Territorialgewässer, des Festlandsockels und der Fischereizonen beider Staaten. Warschauer Vertrag von 1970 zwischen der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland und Polen. Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen, auch als „Warschauer Vertrag“ bezeichnet, war ein zwischen der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland und Polen „am 7. Dezember 1970 geschlossener Vertrag. Er wurde am 17. Mai 1972 vom Bundestag ratifiziert. Nach diesem Vertrag verpflichteten sich die Parteien zur Gewaltlosigkeit und erklärten, dass ihre Streitfragen mit friedlichen Mitteln zu lösen seien, sie sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten und Schritte zur vollen Normalisierung und umfassenden Entwicklung ihrer gegenseitigen Beziehungen unternehmen. Artikel 1 des Vertrags lautet: „(1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen stellen übereinstimmend fest, dass die bestehende Grenzlinie, deren Verlauf im Kapitel IX der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 van der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der Lausitzer Neiße und die Lausitzer Neiße entlang bis zur Grenze mit der Tschechoslowakei festgelegt worden ist, die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet. (2) Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität. (3) Sie erklären, dass sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden.“ Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Beseitigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen vom 14. November 1990 Nach der deutschen Wiedervereinigung aufgrund des Einigungsvertrags vom 31. August 1990 wurde die Grenze zwischen Polen und Deutschland, die nach dem Pots-

damer Abkommen festgelegt war und durch weitere Verträge mit den ehemals getrennten deutschen Staaten bestätigt worden war, durch den Vertrag vom 14. November 1990 wie folgt bestätigt: „Artikel 1 Die Vertragsparteien bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze, deren Verlauf sich nach dem Abkommen vom 6. Juli 1950 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Republik Polen über die Markierung der festgelegten und bestehenden deutschpolnischen Staatsgrenze und den zu seiner Durchführung und Ergänzung geschlossenen Vereinbarungen (Akt vom 27. Januar 1951 über die Ausführung der Markierung der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen; Vertrag vom 22. Mai 1989 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen über die Abgrenzung der Seegebiete in der Oderbucht) sowie dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen bestimmt. Artikel 2 Die Vertragsparteien erklären, dass die zwischen ihnen bestehende Grenze jetzt und in Zukunft unverletzlich ist und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer Souveränität und territorialen Integrität. Artikel 3 Die Vertragsparteien erklären, dass sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden.“ 2. Polnisches Recht a) Das Gesetz von 1945 38. Nach Artikel 1 des Gesetzes von 1945 wurde jedes bewegliche und unbewegliche Vermögen, das sich infolge des am 1. September 1939 begonnenen Krieges nicht im Besitz des Eigentümers, seiner Rechtsnachfolger oder von Personen befand, die seine Rechte vertreten, als verlassenes Vermögen angesehen. Artikel 2 bestimmte, dass jegliches bewegliche und unbewegliche Vermögen, das im Eigentum oder Besitz des deutschen Staates stand und im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes von 1945 noch nicht von den polnischen Behörden übernommen worden war sowie das Vermögen deutscher Staatsangehöriger oder von Personen die zum Feind übergelaufen waren, aufgegebenes Vermögen im Sinne dieses Gesetzes war. Nach Artikel 5 des Gesetzes von 1945 wurde sämtliches verlassene und aufgegebene Vermögen unter staatliche Verwaltung gestellt. Im Gegensatz zu deutschem – aufgegebenen – Eigentum konnte verlassenes Vermögen von dem Eigentümer oder seinen nahen Angehörigen auf seinen Antrag wieder in Besitz genommen werden. b) Das Dekret von März 1946 39. Das Gesetz von 1945 wurde durch das Dekret von März 1946 ersetzt. Es trat am 19. April 1946 in Kraft und wurde am 1. August 1985 aufgehoben.

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Rechtsprechung Was die darin bezeichneten beiden Arten von Vermögen betrifft, umfasste „verlassenes“ Vermögen überwiegend jüdisches Eigentum in Polen, dessen Besitz die Eigentümer infolge des Krieges und des Holocausts verloren hatten, während „ehemals deutsches“ Vermögen – aus dem Eigentum des Deutschen Reichs und deutscher natürlicher und juristischer Personen bestand. „Verlassenes Vermögen“ wurde in Artikel 1 des Dekrets von März 1946 definiert. Diese Vorschrift lautete, soweit maßgeblich, wie folgt: „1 (1) Verlassenes Vermögen im Sinne dieses Dekrets ist jedes Vermögen (bewegliches und unbewegliches), dessen Eigentümer im Zusammenhang mit dem am 1. September 1939 begonnenen Krieg den Besitz ihres Vermögens verloren und ihn später nicht wiedererlangt haben.“ Nach Artikel 15 ff. konnte Eigentümern verlassenen Vermögens auf Antrag der Besitz wiedereingeräumt werden. Diese Anträge konnten bis zum 31. Dezember 1948 gestellt werden. Der Staat erwarb das Eigentum an solchem Vermögen durch Verjährung (hinsichtlich beweglicher Sachen nach Ablauf von fünf Jahren und hinsichtlich der Liegenschaften nach Ablauf von zehn Jahren), wobei die Frist „vom Ende des Kalenderjahres an, in dem der Krieg beendet wurde“, gerechnet wurde. Nach Artikel 2 ging das ehemals deutsche Vermögen in das Eigentum des Staates über; es wurden weder Entschädigungs- noch Verfahren zur Wiedereinräumung des Besitzes angewandt. Artikel 2 lautet, soweit maßgeblich, wie folgt: „2 (1) Kraft Gesetzes geht gänzlich in das Eigentum des Staates über jegliches Vermögen: a) des Deutschen Reichs und der ehemaligen Freien Stadt Danzig; b) von Angehörigen des Deutschen Reichs und Bürgern der ehemaligen Freien Stadt Danzig; c) von deutschen und Danziger juristischen Personen mit Ausnahme von juristischen Personen des öffentlichen Rechts; d) von durch deutsche Staatsangehörige oder Danziger Bürger oder durch die deutsche oder Danziger Verwaltung kontrollierten Gesellschaften; e) von zum Feind übergelaufenen Personen. 2 (2) Von den Vorschriften des vorigen Absatzes sind unerlässliche persönliche Gebrauchsgegenstände, die den unter Buchst. a) und b)3 genannten Personen gehören, nicht betroffen.“ c) Das Dekret von September 1946 40. Das Dekret von September 1946 trat am 14. Oktober 1946 in Kraft und ist trotz mehrfacher Änderungen noch nicht aufgehoben worden. Nach Artikel 1 wurden alle land- und forstwirtschaftlichen Flächen (letztere, wenn sie 25 Hektar überstiegen4 mit Ausnahme derjenigen, die bereits im Eigentum natür3 so der EGMR; gemeint sind aber Buchstabe b) und e). 4 so der EGMR; das Dekret sah aber vor, dass die Wald- und Forstgebiete über 25 Hektar nicht zum Bodenvorrat gehören.

licher Personen standen, zur Bildung eines Bodenvorrats für polnische Staatsangehörige bestimmt, die im Rahmen der von den Behörden gelenkten „Ansiedlungsaktion“ in diese Gebiete kamen. Die Aktion betraf überwiegend Personen, die aus den von der Sowjetunion annektierten ehemaligen polnischen Ostprovinzen östlich des Flusses Bug umgesiedelt wurden (siehe Rdnr. 3, oben). d) Das Dekret vom November 1946 41. Mit diesem Dekret wurde die Enteignung deutschen Eigentums endgültig geregelt. Damit sollte die rechtskräftige Übernahme des Eigentums, das von den früheren Enteignungsvorschriften ggf. nicht erfasst worden war, sichergestellt werden.

RÜGEN 42. Die beschwerdeführende Gesellschaft und die einzelnen Beschwerdeführer rügten im Wesentlichen eine Verletzung des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention. Sie stützten sich auf zahlreiche Argumente, die sich inhaltlich wie folgt zusammenfassen lassen. Die Beschwerdeführer trugen zunächst vor, dass sie oder ihre Rechtsvorgänger nach dem 19. Oktober 1944, dem Tag, an dem die Rote Armee die Reichsgrenze überschritten hatte, kollektiv und extralegal ohne gerichtliche Verurteilung von den polnischen Behörden bestraft und aus ihrer Heimat vertrieben worden seien, wodurch sie Opfer ethnischer Säuberungen – wenn nicht sogar von Völkermord – geworden seien, die bereits damals als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verboten gewesen seien. Ihres Erachtens sollte der Gerichtshof bei der Prüfung der Verantwortlichkeit Polens für die behauptete Verletzung von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 im Hinblick auf das Eigentum der einzelnen Beschwerdeführer oder ihrer Rechtsvorgänger in Polen die Grundsätze der Verantwortlichkeit des Staates nach dem Völkerrecht berücksichtigen. Gestützt auf das Urteil Loïzidou/Türkei (Rechtssache Loïzidou/Türkei (Begründetheit), Urteil vom 18. Dezember 1996, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996VI) betonten die Beschwerdeführer, dass es nicht darauf ankomme, ob die gerügte Tat von einem völkerrechtlich anerkannten Staat oder von nur einem nach dem Völkerrecht illegitimen Regime verübt worden sei, sondern ob das staatliche Handeln zum maßgeblichen Zeitpunkt gegen zwingende Normen des Völkerrechts verstoßen habe. Die Vertreibung der Betroffenen und die Beschlagnahme ihres Eigentums, die mit der genannten ethnischen Säuberung einhergingen, stellten einen schwerwiegenden Verstoß gegen zwingende Normen des Völkerrechts dar, eine „zusammengesetzte Handlung“ im Sinne von Artikel 15 der Artikelentwürfe der Völkerrechtskommission – über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen („die ILC-Ar-

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Rechtsprechung tikel“)5. Da Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ihre Folgen nicht verjährten, entfalteten derartige Handlungen „Dauerwirkung“. Polen habe gegen zwingende Normen des Völkerrechts verstoßen, als es damit begonnen habe, Reichsdeutsche und deutsche Volkszugehörige zu vertreiben, um sie von seinem Sozialsystem in Friedenszeiten auszuschließen. Nach Artikel 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge stelle dies eine Straftat dar, die die Verantwortlichkeit des polnischen Staates im Sinne von Artikel 12 der ILC-Artikel6 auslöse. Folglich dürfe der polnische Staat die Folgen dieser Maßnahmen im Hinblick auf das von ihm enteignete Vermögen nicht perpetuieren, sondern sei nach Artikel 35 der ILC-Artikel zur Restitution verpflichtet, sofern dies „materiell möglich“ sei. Ein durch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschaffener Zustand könne nicht als rechtmäßig angesehen werden. Die massenhafte Deportierung von Deutschen, die mit Gewalthandlungen einhergegangen sei, welche der Beschlagnahme ihres Eigentums dienten, stelle eine Kollektivstrafe dar, soweit sie unterschiedslos gegen alle Deutschen verhängt worden sei. Wenn eine bestimmte Gruppe entschädigungslos enteignet werde und diese Maßnahme unmittelbar oder immanent mit gegen diese Gruppe verübtem Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammenhänge, sei die Beschlagnahme ihres Eigentums nach dem Völkerrecht ebenso rechtswidrig wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Folglich habe die Einziehung deutschen Eigentums in den ehemaligen deutschen Ostgebieten durch Polen gegen das Völkerrecht verstoßen, das im fraglichen Zeitpunkt Gültigkeit gehabt habe und bis heute gelte. Dafür habe keine Rechtsgrundlage bestanden und sie bestehe bis heute nicht; dies führe zu einer andauernden Verletzung der nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 geschützten Eigentumsrechte. 43. Die Beschwerdeführer rügten überdies, dass, obwohl die Menschenrechte der Betroffenen durch Deportation körperliche und seelische Misshandlung und nicht selten

5 Entwurf von Artikeln (2001) über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen im Jahrbuch der Völkerrechtskommission, 2001, Band II, (Zweiter Teil). Artikel 15 (Verletzung durch eine zusammengesetzte Handlung) lautet: „1. Die Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung eines Staates durch eine Reihe von Handlungen oder Unterlassungen, die in ihrer Gesamtheit als rechtswidrig definiert werden, tritt ein, wenn die Handlung oder Unterlassung stattfindet, die zusammen mit den anderen Handlungen oder Unterlassungen ausreicht, um einen deliktischen Tatbestand zu erfüllen. 2. In einem solchen Fall erstreckt sich die Verletzung über den gesamten Zeitraum, der mit der ersten Handlung oder Unterlassung beginnt, und dauert so lange an, wie diese Handlungen oder Unterlassungen wiederholt werden und nicht im Einklang mit der völkerrechtlichen Verpflichtung stehen.“ 6 Artikel 12 (Vorliegen der Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung) lautet: „Eine Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung seitens eines Staates liegt vor, wenn eine Handlung dieses Staates nicht im Einklang mit dem steht, was die Verpflichtung, unabhängig von ihrem Ursprung oder ihrem Wesen, von ihm verlangt

durch Internierung und Tod gravierend verletzt worden seien, das polnische Parlament sich weigere, ein Rehabilitierungsgesetz, mit dem die Einziehung ihres Eigentums rückgängig gemacht wird sowie ein Restitutionsgesetz das den Folgen dieser Einziehung hinsichtlich ihrer Eigentumsrechte abhilft, zu verabschieden. 44. Die Beschwerdeführer trugen abschließend vor, dass die auf die vorgenannten Gründe gestützten Rügen zulässig seien, auch wenn keiner der einzelnen Beschwerdeführer versucht habe, bei den polnischen Gerichten Rehabilitation und Restitution zu erwirken. Nach polnischem Recht gebe es für derartige Ansprüche keine rechtliche Grundlage und den Beschwerdeführern könne nicht zugemutet werden, kostspielige Verfahren anzustrengen, die offensichtlich keinerlei Erfolgsaussicht hatten. Obwohl die gerügte Vertreibung und Einziehung vor Inkrafttreten der Konvention und des Protokolls Nr. 1 für Polen erfolgt seien, stellten die von den polnischen Behörden angewandten vorgenannten Methoden der ethnischen Säuberung, die mit Eigentumseinziehungen einhergegangen seien, schließlich schwere Verstöße gegen das Völkerrecht dar, die keine einmaligen Akte gewesen seien, sondern Dauerwirkung entfaltet hätten.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG 45. Die Beschwerdeführer rügten, dass sie oder ihre Rechtsvorgänger zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach dem 19. Oktober 1944, dem Tag, an dem die Rote Armee die Grenzen des 3. Reichs überschritt, von den polnischen Behörden gezwungen worden seien, ihr Grundeigentum und ihre Wohnungen, die heute innerhalb der Grenzen Polens gelegen seien, unter Umständen zu verlassen, die einer ethnischen Säuberung – wenn nicht gar einem Völkermord – sowie einer extralegalen Kollektivstrafe und letztendlich einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkämen (siehe Rdnr. 42 und 44). Dies mache die gerügten Handlungen immanent rechtswidrig und stelle eine andauernde Verletzung von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention dar, der wie folgt lautet: „Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“ 46. Die Beschwerdeführer rügten ferner, dass der polnische Staat keine Gesetze erlassen habe, die es den Opfern der vorstehend bezeichneten rechtswidrigen Maßnahmen ermöglicht hätten, ihre Rehabilitation zu begehren und eine finanzielle Wiedergutmachung für das enteignete Eigentum zu erlangen (siehe Rdnr. 43).

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Rechtsprechung

A) Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Angelegenheit 47. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die beschwerdeführende Gesellschaft nicht behaupten kann, selbst Opfer der vermeintlichen Verstöße zu sein. Opfereigenschaft können die einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft geltend machen. Er stellt ferner fest, dass die Gesellschaft in dem Verfahren nach der Konvention für ihre Mitglieder als Vertreterin tätig ist (siehe auch Rdnr. 1). 48. Nach Artikel 35 Abs. 3 der Konvention, in dem die Zulässigkeitsvoraussetzungen genannt sind, hat der Gerichtshof bei der Prüfung einer nach Artikel 34 erhobenen Individualbeschwerde zunächst festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Vereinbarkeit einer Beschwerde mit der Konvention und den Protokollen dazu steht unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen an erster Stelle; sie ist also eine Voraussetzung sine qua non für die Zuständigkeit des Gerichtshofs für eine Befassung mit der Angelegenheit. Artikel 35 Abs. 3 lautet wie folgt: „(3) Der Gerichtshof erklärt eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde für unzulässig, wenn er sie für unvereinbar mit dieser Konvention oder den Protokollen dazu, für offensichtlich unbegründet oder für einen Missbrauch des Beschwerderechts hält.“

B) Vereinbarkeit ratione personae 49. Die einzelnen Beschwerdeführer machten mehrheitlich geltend, dass entweder sie selbst oder nahe Angehörige gezwungen worden seien, ihr Eigentum, das heute innerhalb der Staatsgrenzen Polens gelegen sei, unter Umständen zu verlassen, die einer ethnischen Säuberung gleichgekommen und mit einem Völkermord vergleichbar, wenn nicht gleichbedeutend gewesen seien (siehe Rdnr. 40–44). 50. Diese Rügen fallen in den Anwendungsbereich von Artikel 2 (Recht auf Leben) und Artikel 3 (Folterverbot) der Konvention. Der Gerichtshof muss zuerst feststellen, ob die Verantwortung für die gerügten Vorkommnisse dem polnischen Staat zugerechnet werden kann. 51. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nur ein Teil der einzelnen Beschwerdeführer geltend machte, dass ihre Familien zu verschiedenen Zeitpunkten in den Jahren 1945 und 1946 von den polnischen Behörden aus ihren Wohnungen vertrieben worden seien (siehe Rdnr. 13, 15–17, 19,21 und 25–29) oder, wie Frau Z. vorbrachte, dass ihr Eigentum später vom polnischen Staat entschädigungslos eingezogen worden sei (siehe Rdnr. 7). Die Familien der übrigen Beschwerdeführer hatten ihr Eigentum in der Zeit von Januar bis März 1945 verlassen, um vor der heranrückenden Roten Armee zu fliehen (siehe Rdnr. 8–12, 14, 18 und 22–24). Einer der Beschwerdeführer, Herr N., trug vor, dass seine Eltern im maßgeblichen Zeitraum in Königsberg, heute Kaliningrad in Russland, geblieben seien und dass er nie erfahren habe, was aus ihnen geworden sei, nachdem sich die Stadt am 9. April 1945 der Roten Armee ergeben hatte (siehe Rdnr. 3 und 20).

52. Der Gerichtshof stellt als historische Tatsache fest, dass die nationalsozialistischen deutschen Behörden an mehreren Tagen im Januar und Februar 1945 in Zusammenhang mit der sowjetischen Offensive die Evakuierung deutscher Zivilisten befahlen, die ihre Wohnungen in Ostpommern, Ostbrandenburg, Schlesien, Großpolen und Ostpreußen – ebenso wie die betroffenen Beschwerdeführer oder deren Angehörige – in den Monaten von Januar bis März und sogar noch im April 1945 verlassen und sich auf den Weg in die westlichen Landesteile des 3. Reichs machen mussten (siehe Rdnr. 2–3). Diese Beschwerdeführer trugen auch selbst vor, dass sie oder ihre Familien wegen des drohenden Heranrückens der siegreichen Roten Armee und aus Furcht davor geflohen seien (siehe Rdnr. 8–12, 14, 18 und 22–24). Es kann also nicht gesagt werden, dass der polnische Staat, der seinerzeit weder de jure noch de facto die Kontrolle über die damals noch deutschen Gebiete hatte, die nach und nach von den sowjetischen Truppen eingenommen wurden und dem die Verwaltung der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie erst nach dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 übertragen wurde (siehe Rdnr. 32), für die behaupteten Gewalthandlungen und Vertreibungen, wie sie von den obengenannten Beschwerdeführern vorgetragen werden, verantwortlich gemacht werden kann. Auch die Umstände, unter denen im damaligen Königsberg in Ostpreußen, dem heutigen Kaliningrad in Russland, die Familie von Herrn N. verschwand und ihr Eigentum verloren ging, können nicht dem polnischen Staat zugerechnet werden, denn dieses Gebiet befand sich weder zur maßgeblichen Zeit noch irgendwann danach unter polnischer Verwaltung, sondern wurde von der ehemaligen Sowjetunion erobert und dann annektiert und gehört heute zur Russischen Föderation (siehe Rdnr. 4). 53. Die Beschwerde ist folglich hinsichtlich der genannten Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 ratione personae mit der Konvention unvereinbar und muss nach Artikel 35 Abs. 4 zurückgewiesen werden.

C) Vereinbarkeit ratione temporis 54. Unter Berücksichtigung seiner oben getroffenen Feststellung bezüglich der Frage, inwieweit der polnische Staat nach der Konvention ratione personae verantwortlich ist, wird der Gerichtshof prüfen, ob die gerügten Vorkommnisse, insbesondere die behauptete Eigentumsentziehung, soweit die Beschwerde als gegen Polen gerichtet angesehen werden kann, ratione temporis unter seine Zuständigkeit fallen. 1. Allgemeine Grundsätze aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs 55. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs ratione temporis erstreckt sich nur auf den Zeitraum nach der Ratifikation der Konvention oder der Protokolle dazu durch den beschwerdegegnerischen Staat. Ab dem Tag der Ratifikation gilt, dass alle behaupteten Handlungen und Unterlassungen des Staates mit der Konvention und den Protokollen dazu vereinbar sein müssen und alle sich

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Rechtsprechung danach ergebenden Sachverhalte in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallen, auch wenn sie bloß Dauerwirkungen eines bereits vorhandenen Zustands sind (siehe z. B. Broniowski/Polen [GK], (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 31443/96, Rdnr. 74 ff., ECHR 2002-X, mit weiteren Verweisen). Demzufolge ist der Gerichtshof für die Prüfung des Sachverhalts der vorliegenden Rechtssache auf seine Vereinbarkeit mit der Konvention nur insoweit zuständig, als er sich nach dem 10. Oktober 1994, dem Tag der Ratifikation des Protokolls Nr. 1 durch Polen, zugetragen hat. Er kann den Sachverhalt vor der Ratifikation jedoch berücksichtigen, soweit davon ausgegangen werden kann, dass durch ihn ein Zustand geschaffen wurde, der über diesen Tag hinaus andauert, oder, soweit er für das Verständnis von Sachverhalten, die sich danach zugetragen haben, erheblich ist (a.a.O.). 56. Eine andauernde Verletzung der Konvention – ein Zustand, der vor dem Inkrafttreten der Konvention geschaffen wurde, aber noch nach diesem Tag andauert – hat Auswirkungen auf die zeitlichen Schranken der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Unter diesen Begriff können insbesondere Zustände fallen wie die andauernde und totale Verweigerung der Nutzung und Achtung von Eigentum, des Zugangs dazu und der Verfügungsgewalt darüber sowie jeglicher Entschädigung für die Eigentumsentziehung, auch wenn sie auf Ereignisse oder Gesetze aus der Zeit vor der Ratifikation der Konvention oder des Protokolls zurückgehen (siehe u. a. Loïzidou/Türkei (Begründetheit und gerechte Entschädigung) Urteil vom 18. Dezember 1996, Entscheidungssammlung 1996-V1, Rdnr, 41 f. und Zypern/Türkei [GK] Individualbeschwerde Nr. 25781/94, Rdnr. 187–189, ECHR 2001-IV). 57. Wie der Gerichtshof jedoch in seiner ständigen Rechtsprechung insbesondere in Bezug auf Enteignungsmaßnahmen in Zusammenhang mit der Regelung von Eigentumsverhältnissen nach dem Krieg entschieden hat, ist die Entziehung des Eigentums oder eines anderen dinglichen Rechts grundsätzlich ein einmaliger Akt und schafft keinen Dauerzustand einer „Entziehung eines Rechts“ (siehe u. v. a. Malhous/die Tschechische Republik [GK] (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 33071/ 96, ECHR 2000-XI 1; Smoleanu/Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 30324/96, 3. Dezember 2002, Rdnr. 46; Bergauer u. a./die Tschechische Republik (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 17120/04,4. Mai 2004 und M. u. a/Deutschland [GK] (Entsch.), Individualbeschwerden Nr. 71916/01, 71917/01 und 10260/02, Rdnr. 74, ECHR 2005-V). 2. Anwendung der genannten Grundsätze in der vorliegenden Rechtssache 58. Die Beschwerdeführer erkannten an, dass die gerügte Enteignung stattfand, ehe die Konvention und das Protokoll Nr. 1 für Polen in Kraft traten. Sie waren jedoch der Auffassung, dass die polnischen Behörden in Zusammenhang mit der Einziehung ihres Eigentums Methoden der ethnischen Säuberung ange-

wendet hätten, die schwere Verstöße gegen das Völkerrecht dargestellt hätten und damals wie heute immanent rechtswidrig gewesen seien. Es seien keine einmaligen Akte gewesen, sondern es sei ein Dauerzustand geschaffen worden (siehe Rdnr. 42 und 44). 59. Wie bereits festgestellt wurde, verloren die Beschwerdeführer oder ihre Rechtsvorgänger den Besitz an ihrem heute in Polen gelegenen Eigentum unter verschiedenen Umständen und in unterschiedlichen Zeitpunkten ab Januar 1945 (siehe Rdnr. 51–52). Obwohl die Beschwerdeführer keine Angaben dazu gemacht haben, ob und gegebenenfalls wann von den Behörden formelle Enteignungen vorgenommen wurden, die zur Übertragung des Eigentums an ihren Grundstücken auf den polnischen Staat geführt haben, stellt der Gerichtshof auf der Grundlage der ihm vorliegenden Unterlagen fest, dass Polen in der Zeit vom 6. Mai 1945 bis 15. November 1946 eine Reihe von Gesetzen zur Übernahme von privatem und staatlichem deutschen Eigentum in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie erlassen hat. Zunächst wurde nach dem Gesetz von 1945 deutsches Eigentum unter staatliche polnische Verwaltung gestellt; später jedoch wurde auf der Grundlage der Dekrete von 1946 das Eigentum aller Deutschen, auch das der Beschwerdeführer, enteignet (siehe Rdnr. 5 und 38–41). Erlassen wurden diese Rechtsvorschriften nach der Konferenz von Jalta, dem Potsdamer Abkommen und den DreiMächte-Vereinbarungen über Reparationen für Polen, die in Übereinstimmung mit den einschlägigen völkerrechtlichen Übereinkünften aus dem ehemals deutschen Eigentum befriedigt wurden, das auf polnischem Gebiet einschließlich der Regionen östlich der Oder-Neiße-Linie belegen war (siehe Rdnr. 31–33). Es ist somit offenkundig, dass die Eigentumsentziehungen in der vorliegenden Rechtssache, die dem polnischen Staat zuzurechnen sind und nach den von ihm erlassenen Rechtsvorschriften vorgenommen wurden. Überwiegend im Jahr 1946 und, was Frau Z. betrifft, die nicht angegeben hat, an welchem Tag, das Eigentum ihrer Eltern enteignet wurde, an einem nicht näher bezeichneten Tag vor der Aufhebung des Dekrets vom März 1946, d. h. vor dem 1. August 1985, stattfanden (siehe Rdnr. 7 und 39). 60. Die Beschwerdeführer behaupteten nicht, dass der polnische Staat in irgendeinem Zeitpunkt danach für weitere Eingriffe in die Rechte der einzelnen Beschwerdeführer aus dem Protokoll Nr. 1 verantwortlich gewesen sei. Aber sie verglichen ihre Lage mit der in der Rechtssache Loïzidou und erklärten, dass die Einziehung deutschen Eigentums in den ehemaligen deutschen Ostgebieten durch Polen völkerrechtswidrig gewesen sei und eine Rechtsgrundlage dafür nicht bestanden habe und bis heute nicht bestehe; dies habe folglich zu einer andauernden Verletzung der Eigentumsrechte geführt (siehe Rdnr. 42 und 44). 61. Der Gerichtshof schließt sich dieser Auffassung nicht an. Erstens liegen der Rüge der Beschwerdeführer bestimmte Ereignisse zugrunde, d. h. einzelne Gewalt-

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Rechtsprechung handlungen, Vertreibungen, Besitzentziehungen und Beschlagnahmen oder Einziehungen von Vermögen, die teilweise dem polnischen Staat nicht zugerechnet werden können (siehe Rdnr. 57, Bergauer u. a., a.a.O., und M. u. a., [GK] (Entsch.), Individualbeschwerden Nr. 71916/01, 71917/01 und 10260/02, Rdnr. 74, ECHR 2005-V, Rdnr. 80 ff.). Zweitens ergab sich in der Rechtssache Loïzidou die immanente Rechtswidrigkeit der Maßnahmen, mit denen der Beschwerdeführerin die Eigentumsrechte entzogen wurden, aus der Tatsache, dass die betreffenden Enteignungsgesetze im Sinne der Konvention nicht als rechtsgültig angesehen werden konnten, weil sie von einem Rechtsträger stammten, der völkerrechtlich als Staat nicht anerkannt war und für dessen Annektierung und Verwaltung des betroffenen Gebiets eine völkerrechtliche Grundlage nicht gegeben war. Es konnte folglich nicht gesagt werden, dass formelle Akte einer Enteignung stattgefunden haben (siehe Loïzidou, a.a.O., Rdnr. 41 ff.). In der vorliegenden Rechtssache liegen die Dinge anders. Es steht außer Zweifel, dass die ehemals deutschen Gebiete, in denen sich das Eigentum der einzelnen Beschwerdeführer befand, dem polnischen Staat nach dem Potsdamer Abkommen rechtmäßig übertragen wurden (siehe Rdnr. 32), und dass die in diesem Abkommen bezeichnete deutsch-polnische Grenze später in einer Reihe von zweiseitigen Verträgen zwischen Polen und den beiden ehemals getrennten deutschen Staaten und schließlich zwischen Polen und der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland bestätigt wurde (siehe Rdnr. 34–37). Die Auffassungen der Beschwerdeführer hinsichtlich des Vorliegens von Verstößen gegen das Völkerrecht sowie einer damit einhergehenden „immanenten Rechtswidrigkeit“ der von den polnischen Behörden getroffenen Enteignungsmaßnahmen und der Dauerwirkungen, die diese bis zum heutigen Tag entfalten, sind folglich zurückzuweisen. Hinzu kommt, dass der polnische Staat nach der Einziehung des Eigentums der Beschwerdeführer weder vor, noch nach der Ratifizierung der Konvention gesetzliche Restitutions- oder Entschädigungsvorschriften erlassen hat, nach denen eine Rückgabe des nach der früheren Regelung enteigneten deutschen Eigentums vorgesehen war und die ein neues nach dem Protokoll Nr. 1 geschütztes Eigentumsrecht begründen würden (siehe, a contrario, Broniowski (Begründetheit), a.a.O., Rdnr. 122–125, und von Maltzan u.a., a.a.O. Rdnr. 74 in fine). Unter diesen Umständen liegt eine andauernde Konventionsverletzung, die Polen anzulasten wäre und die für die zeitlich begründete Zuständigkeit des Gerichtshofs im oben genannten Sinne erheblich sein kannte, nicht vor (siehe Rdnr. 55–57). 62. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 ratione temporis mit der Konvention und den Protokollen dazu unvereinbar ist und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückgewiesen werden muss.

D) Vereinbarkeit ratione materiae 63. Der Gerichtshof hat nunmehr noch die Rüge der Beschwerdeführer zu prüfen, dass Polen keine Rehabilitations- oder Restitutionsvorschriften erlassen habe, die das von den einzelnen Mitgliedern und ihren Familien erlittene Unrecht wiedergutmachen und sie für den Verlust ihres Eigentums entschädigen würden (siehe Rdnr. 43). 64. Der Gerichtshof möchte darauf hinweisen, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht dahingehend ausgelegt werden kann, als verpflichte er die Vertragsstaaten generell zur Rückgabe von Eigentum, das an sie übergegangen ist, bevor sie die Konvention ratifiziert haben. Ebenso wenig beschränkt diese Bestimmung die Freiheit der Vertragsstaaten bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs von Rechtsvorschriften über die Rehabilitation oder Restitution von Eigentum. Die Staaten können über die Bedingungen, unter denen sie zu einer Rückübertragung von Eigentumsrechten an frühere Eigentümer bereit sind, frei entscheiden, und die Konvention verpflichtet sie nicht ausdrücklich zur Wiedergutmachung von „Unrecht oder Schäden, die entstanden sind, bevor sie die Konvention ratifiziert haben (siehe M u. a., [GK] (Entsch.), Individualbeschwerden Nr. 71916/01, 71917/01 und 10260/02, Rdnr. 74, ECHR 2005- V, Rdnr. 74, und Kopecký/Slowakei [GK], Individualbeschwerde Nr. 44912/98, Rdnr. 35 und 37–38, ECHR 2004-IX). Der polnische Staat ist folglich nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht zum Erlass von Rechtsvorschriften verpflichtet, die eine Rehabilitation oder Restitution von eingezogenem Eigentum bzw. eine Entschädigung für Eigentum vorsehen, das die einzelnen Beschwerdeführer verloren haben. 65. Daraus folgt, dass die Beschwerde im Übrigen im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 ratione materiae mit der Konvention und den Protokollen dazu unvereinbar ist und nach Artikel 35 Abs 4 zurückgewiesen werden muss. Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Beschwerde einstimmig für unzulässig.

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Lawrence Early Kanzler

Nicolas Bratza Präsident

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Eigentumsfrage

Restitutionsansprüche abgewiesen – was nun? Von Stephan Raabe, Leiter des Auslandsbüros in Polen der Konrad-Adenauer-Stiftung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 7. Oktober die Zulässigkeit der von der so genannten „Preußische Treuhand“ vertretenen Klage von 23 Vertriebenen gegen Polen auf Rückgabe von Eigentum oder Schadensersatz abgelehnt. Damit ist eine von politischer Seite schon länger sehnlich erwarte Entscheidung gefallen, die ein brisantes deutsch-polnisches Problem zunächst einmal entschärft. Begründet wurde das Urteil vor allem mit dem Umstand, dass Polen der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1953 erst mit der Ratifizierung 1994 beigetreten ist. Die Konvention verpflichte Staaten jedoch grundsätzlich nicht rückwirkend. Deshalb seien Klagen vor dem Menschenrechtsgerichtshof gegen Konfiszierungen in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg unzulässig, der Gerichtshof nicht zuständig. Das Gleiche gelte auch für den Vorwurf einiger Kläger, Polen habe mit den Vertreibungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gegen das Grundrecht auf Schutz des Lebens und gegen das Folterverbot verstoßen. Menschenrechtsverletzungen im Jahr 1945, so der Gerichtshof, könnten nicht dem heutigen polnischen Staat angelastet werden. Dieser habe zum Zeitpunkt der Vertreibungen weder juristisch noch tatsächlich Kontrolle über die deutschen Territorien im heutigen Polen gehabt. Die Aktivitäten der im Jahre 2000 gegründeten „Preußischen Treuhand“, die im November 2006 schließlich Klage beim Gerichtshof in Straßburg einge-

reicht hatte, führten in den vergangenen sechs Jahren zu erheblichen Dissonanzen im polnisch-deutschen Verhältnis. Die Ursachen für dieses Problem reichen aber weiter zurück und sind bis heute nicht beseitigt. Deutschland hatte im gleich nach der Wiedervereinigung am 14. November 1990 abgeschlossenen Deutsch-Polnischen Grenzvertrag die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen beiden Ländern anerkannt. Damit war der Grenzstein endgültig gewälzt. Weder der Grenzvertrag noch der am 17. Juni 1991 folgende Nachbarschaftsvertrag mit Polen enthielten aber eine Anerkennung früherer polnischer Enteignungsmaßnahmen seitens der Bundesrepublik. Vielmehr hielt die Bundesregierung an der stets von Deutschland vertretenen Rechtsauffassung fest, dass die Vertreibung und entschädigungslose Enteignung deutscher Staatsangehöriger im Widerspruch zum Völkerrecht erfolgte und sie demzufolge nicht auf individuelle Ansprüche von Deutschen verzichte. Diese „Offenhaltungspolitik“ bedeutete vor 1990, dass man die betroffenen Flüchtlinge und Vertriebenen auf den im Potsdamer Abkommen vom August 1945 enthaltenen Vorbehalt einer endgültigen Friedensregelung vertröstete und sie nach Widerspruch zum Völkerrecht der Friedensregelung auf die Geltendmachung von Ansprüchen auf dem Rechtsweg in den jeweiligen Ländern oder internationalen Institutionen verwies, die Rechtsansprüche der eigenen Bürger in der Regel aber aus außenpolitischen Rücksichten nicht aktiv unterstützte. Andererseits verweigert Deutschland den eigenen Vertriebenen aber auch eine Entschädigung, wie sie etwa Polen seinen knapp zwei Millionen „Repatrianten“ aus den polnischen Ostgebieten, die von der Sowjetunion enteignet und vertrieben wurden, durch Naturalausgleich oder bescheidene Geldzahlung zuerkennt. Der Lastenausgleich in Deutschland, der den ungleichen Vermögensverlusten durch den Krieg Rechnung tragen sollte, berührt ausdrücklich nicht die Vermögensrechte der Geschädigten und hatte eine mehr sozialpolitische Bedeutung als Eingliederungsunterstützung. Die „Haupt-

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entschädigung“ bei Vermögensverlusten betrug bis Mitte der 80er Jahre 27,4 Milliarden DM (14 Mrd. €), das ist nur ein gutes Fünftel des Finanzvolumens des Lastenausgleichs insgesamt. Nachdem die Debatte um ein in Deutschland geplantes „Zentrum gegen Vertreibungen“ im Sommer 2003 in Polen eskalierte, sahen sich im Oktober 2003 Bundespräsident Rau und Polens Staatspräsident Kwaniewski veranlasst, in einer „Danziger Erklärung“ dazu aufzurufen, dass es „heute keinen Raum mehr für Entschädigungsansprüche, für gegenseitige Schuldzuweisungen und für das Aufrechnen der Verbrechen und Verluste“ geben dürfe. Ein Jahr später erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes am 1. August 2004 in Warschau, dass die Bundesregierung die Geltendmachung zwischenstaatlicher Ansprüche von Deutschland gegen Polen eindeutig ausschließe, sie diese Ansprüche als „rechtsgrundlos“ betrachte und auch individuelle Forderungen nicht unterstützen werde, soweit sie dennoch geltend gemacht würden. Dieser Auffassung schloss sich auch die nachfolgende CDU geführte Regierung Angela Merkels im Grundsatz an. Der Bund der Vertriebenen (BdV) in Deutschland unter seiner Präsidentin Erika Steinbach distanzierte sich ebenfalls wiederholt von den Klagen der „Preußischen Treuhand“. In ihrer Presseerklärung vom 6. August 2004 zur Warschauer Rede des Bundeskanzlers verwies Steinbach aber auch auf die geltende Rechtslage in Deutschland, nach der die Frage des Vermögens- und Entschädigungsrechts der Vertriebenen weiter offen sei. Dementsprechend warf sie der deutschen Politik „Doppelbödigkeit“ vor, da sie die Rechtslage nicht verändere und damit die Verantwortung für die Klagen trage. Steinbach verwahrte sich dagegen, für einzelne Klagen in Verantwortung genommen zu werden und betonte: „Die überwältigende Mehrheit der deutschen Heimatvertriebenen will keine Entschädigung oder Rückgabe ihres Eigentums; die meisten hatten überhaupt keinen Grundbesitz.“ Sie erinnerte an die alte Forderung des BdV zur Wiedergutmachung des Vertreibungsunrechts inklusive der Konfiskationen „gemeinwohlverträgliche Lösungen un-


Eigentumsfrage ter Einbeziehung unserer Nachbarn zu schaffen“. Das psychologisch verständliche Festhalten auf Seiten des BdV an der Schimäre eines „gemeinwohlverträglichen Wiedergutmachung“ ist aber ein Teil des Problems. Denn indem nicht genauer gesagt wird, wer denn auf welche Weise wiedergutmachen soll, wird der Konflikt ins Ungefähre hinein perpetuiert und richtet außenpolitischen Schaden an. Der Hinweis auf eine Änderung der deutschen Rechtslage deutet allerdings eine mögliche Lösung an. Das hieße aber, dass die deutsche Politik selbst die Polnische Parlamentsresolution bis dato offen gehaltene unangenehme Frage der Wiedergutmachung gegenüber den Vertriebenen beantworten müsste. Diesbezüglich stimmt offenbar die in Polen so verfemte Erika Steinbach mit den polnischen Forderungen überein. In Polen verabschiedete das Parlament am 10. September 2004 nach hitzigen öffentlichen Debatten mit 328 Stimmen ohne Gegenstimme – 132 Abgeordnete fehlten oder blieben der Abstimmung fern - eine Resolution zu „den Rechten Polens auf deutsche Kriegsreparationen sowie zu den in Deutschland vorgebrachten unrechtmäßigen Forderungen gegenüber Polen und polnischen Bürgern“. Dies war eine Reaktion auf Forderungen der „Preußischen Treuhand“, die in Polen bis heute Empörung hervorrufen. Die Sejmresolution spiegelt einerseits tatsächlich vorhandene Befürchtungen, anderseits aber auch populistische Tendenzen gegen Deutschland wider. Die damaligen Linksregierungen in Polen und Deutschland waren sich allerdings weiterhin einig, dass es keine offenen Vermögensfragen mehr im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg zwischen den Ländern gebe und die bilateralen Beziehungen durch dieses Thema nicht belastet werden sollten. Um diese Position zu untermauern, gaben die Regierungen ein Rechtsgutachten in Auftrag. In ihm kamen die Autoren, der deutsche Völkerrechtler Jochen Frowein und sein polnischer Kollege Jan Barcz, im November 2004 zum Ergebnis, dass bezüglich der Enteignungen 1945 und unmittelbar danach keine Rechtsansprüche auf Restitution bestünden und Versuche, Ansprüche rechtlich geltend zu machen, als aussichtslos bezeichnet werden könnten. In einem

weiteren vom Deutschen Bundestag auf Initiative der Gruppe der „Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler“ in der CDU/ CSU-Fraktion in Auftrag gegebenen Gutachten kam dagegen der Völkerrechtler Eckart Klein Anfang 2005 zu der Auffassung, dass potentielle Rechtsansprüche gegen Polen aufgrund der völkerrechtswidrigen Vertreibung und Konfiskation weiter bestünden. Ihre Durchsetzung, darin stimmte Klein dem Gutachten von Frowein/Barcz zu, erscheine aber auf internationaler und nationaler Ebene aussichtslos. Gleichwohl sei der von Bundeskanzler Schröder erklärte Verzicht völkerrechtlich unwirksam. Aus seiner Verzichtserklärung ergäben sich deshalb zwar keine Entschädigungsansprüche, aber eine generelle Verweigerung des Auslandschutzes bei Restitutionsklagen sei verfassungswidrig. Unterstelle man hingegen, der Bundeskanzler habe völkerrechtlich verbindlich auf die Ausübung des diplomatischen Schutzes verzichtet, stehe den Geschädigten sogar „ein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff zu“ (Wichtigste Ergebnisse, Nr. 21, 22 sowie Seite 118 des Gutachtens vom 15.2.2005). Wolle Deutschland, so der Gutachter Klein in seinem Schlusssatz, „Polen wirksam aus seiner völkerrechtlichen Verpflichtung entlassen, wird es die polnische Wiedergutmachungspflicht durch eine eigene angemessene Entschädigungsregelung zu substituieren haben“. Unter dem Titel: „Geschichte vor den Richter! Entschädigungsforderungen im deutsch-polnischen Verhältnis“ veröffentlichte im Januar 2005 die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik eine Klagechancen gering Analyse von Burkhard Hess vom Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg. Darin heißt es: • „Die Erfolgschancen für Klagen deutscher Vertriebener sind in Deutschland, Polen oder in den USA gering. Reparationsforderungen an Deutschland von polnischer Seite sind aus Sicht des Völkerrechts aussichtslos. • Individualansprüche deutscher Kläger richten sich an polnische Gerichte und werden höchstwahrscheinlich wegen fehlender Rechtsgrundlage abgewiesen. Eine reelle Chance auf Entschädigung oder Rückgabe des Eigentums haben nur Spätaussiedler. • Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben

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wenig Erfolgsaussichten. Die Enteignungen nach dem Zweiten Weltkrieg liegen außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs der Menschenrechtskonvention.“ Die Entschädigungsdebatte, so der Jurist Hess, sei weniger ein rechtliches als ein gesellschaftspolitisches Problem, das nur im gesellschaftlichen Dialog bewältigt werden könne. Die im Herbst 2005 in Polen an die Regierung gekommene nationalkonservative Koalition unter Führung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bediente sich jedoch dieses gesellschaftlichen Dialoges in einer mehr als unguten Weise. Aus ideologischen und parteitaktischen Gründen goss sie zusätzlich Öl ins Feuer und nutzte die in Deutschland nahezu vollständig geächtete „Preußische Treuhand“, um Ängste zu schüren und polnische Reparationsforderungen zu lancieren. Staatspräsident Lech Kaczyski orakelte über eine ernste Gefahr, „die einige sehr gefährliche Mechanismen auslösen könnte“ und forderte die deutsche Regierung auf, dem Treiben ein Deutschland soll entschädigen Ende zu machen, Deutschland als Opfer des Zweiten Weltkrieges darzustellen. Sein Zwillingsbruder Jarosław Kaczyski vertrat als Premier die These von einem „neuen Typus nationaler Ideologie“ der in Deutschland um sich greife. Mit dem Regierungswechsel zur liberalkonservativen „Bürgerplattform“ (PO) im Herbst 2007 änderte sich der Ton in diesem Konflikt. Aber auch die Regierung von Donald Tusk hielt an der Forderung fest, dass Deutschland für die Entschädigungsansprüche der Deutschen aufzukommen habe und verlangte wiederholt eine diesbezügliche Erklärung vom Nachbarland. Zu einer solchen Erklärung war die Bundesregierung nicht bereit, da sie fürchtete, dadurch Restitutionsklagen auf sich selbst zu ziehen. Sie vertrat vielmehr den Standpunkt, die Vertreibungen und Konfiskationen seien zwar völkerrechtswidrig gewesen, politisch gebe es aber keinen Raum und juristisch keine Rechtsgrundlage für Restitutionsansprüche, deshalb auch keinen weiteren Regelungs- oder Erklärungsbedarf. Man setzte darauf, dass die Klagen vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wie auch künftige Klagen abgewiesen würden. Mit dem Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes sollte nun aus dem hypothetischen und politisch instrumentalisier-


Eigentumsfrage ten Streit eigentlich die Luft heraus sein. Doch wie die Kommentare in Polen zeigen, ist dem leider nicht ganz so. Dort war die Entscheidung des Gerichtshofs in den Medien wie zu erwarten ein prominentes Thema, das die Schlagzeilen der Titelblätter bestimmte. In Deutschland wurde das Urteil dagegen nur am Rande wahrgenommen. Der polnische Regierungschef Tusk (PO) freute sich bei seinem Besuch in Berlin über die „erwartete definitive Lösung“, auf die beide Regierungen seit 2004 hingearbeitet hätten. Dagegen sieht Parlamentspräsident Bronisław Komorowski (PO) die Angelegenheit noch nicht abschließend gelöst. Er fordert, Polen solle weiter darauf bestehen, dass der deutsche Staat die Ansprüche übernimmt, wobei er voraussetzt, dass es berechtigte Ansprüche gibt. Auch für Präsidentenberater Marek Cichocki ist die Angelegenheit noch nicht abgeschlossen. Er bePolnische Furcht bleibt fürchtet, die Preußische Treuhand werde jetzt nach anderen Wegen suchen, Ansprüche durchzusetzen, und voraussichtlich verstärkt auf Klagen von Spätaussiedler setzen, die von dem Urteil nicht betroffen sind. In den polnischen Zeitungen war die Kommentierung je nach politischer Couleur unterschiedlich. Während die liberal konservative Polska schreibt, die Figur des „bedrohlichen Deutschen“ werde jetzt aus dem Vokabular polnischer Politiker verschwinden, einziger verbleibender Streitpunkt sei noch die OstseePipeline, sieht die nationalkonservative Rzeczpospolita nur einen Etappensieg in den deutsch-polnischen Beziehungen. Sie warnt, die Polen müssten sich weiter um die Stilisierung der Täter zu Opfern des Weltkrieges sorgen. Die TäterOpfer-Klassifizierung ist eine Kernfrage im historischen Disput der Nationalkonservativen in Polen mit Deutschland. Dagegen heißt es in der liberalen Gazeta Wyborcza, das Urteil sei nicht nur eine Niederlage für die Kläger, sondern auch für all diejenigen politischen Kräfte in Polen, die versucht hätten, die von vornherein aussichtslose Klage für innenpolitische Zwecke auszunutzen. Der Chef der „Preußischen Treuhand“, Rudi Pawelka, wird in der Rzeczpospolita mit der Einschätzung wiedergeben, die Entscheidung sei ein „politisches Urteil“. Man werde nun die Bundesregierung verklagen wegen Vernachlässigung des Schutzes ihrer Bürger und vor US-Ge-

richte ziehen. Letzterem räumen Rechtsexperten wie Burkhard Hess jedoch ebenfalls nur außerordentlich geringe Chancen ein, da ein Bezug der Enteignungen in Polen zu den USA fehle und die amerikanische Regierung sehr wahrscheinlich aus politischen Gründen von einer Rechtsverfolgung in den USA abraten werde (DGAPanalyse 1/2005, 7 f.). Unterdessen birgt das in Polen in Vorbereitung befindliche Entschädigungsgesetz der durch die Volksrepublik Polen enteigneten polnischen Eigentümer neuen Zündstoff. Polen hat das Gesetz nicht wie andere ehemalige Ostblockstaaten vor dem EU-Beitritt erlassen, so dass nun die Rechtsmaßstäbe der EU zu beachten sind. Zudem drohen erneute Klagen vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wegen eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot wegen unzureichender Einbeziehung etwa von Deutschen in das nationale Wiedergutmachungsgesetz (Art. 14 Europäische Menschenrechtskonvention). So gerne man also das Problem von Restitutionsansprüchen nach dem Entscheid des Europäischen Gerichtshofes endgültig ad acta legen würde: es wird zu einem gewissen Grade weiter seine Virulenz entfalten und nicht vor Gerichten, sondern am Ende nur durch politische Lösungen, das heißt durch Entscheidungen der Gesetzgeber zu lösen sein. Die Zurückhaltung der Gerichte bei der Schaffung von weit reichenden Restitutionsregelungen ist hier auch ein Gemeinwohlveträgliche Lösung Gebot der Gewaltenteilung, der richterlichen Selbstbeschränkung. Für die politische Lösung der brisanten Entschädigungsfragen bedarf es aber eines sachgerechten Dialoges, ohne Zorn und Eifer, mit der nötigen Empathie und dem Blick auf die historischen Zusammenhänge. Restitutionsansprüche gegen Polen würden die Geschichte in der Tat in grober Weise auf den Kopf stellen. Geschichte würde aber auch auf den Kopf gestellt, wenn man die Opfer von Flucht und Vertreibung nicht zur Kenntnis nähme und die über Jahrzehnte aus politischen und juristischen Gründen offen gehaltene Frage einer Wiedergutmachung für diese Opfer nicht endlich ohne Doppelbödigkeit durch eine deutsche Regelung beantwortete. Gibt es dazu keinen politischen Willen, sollte man die Dinge gegenüber den Betroffenen klar benennen: Eine „gemeinwohlverträgliche Lösung“ wird es nicht geben; für Kla-

gen besteht kaum eine Grundlage; es ist an der Zeit, sich von der Fiktion bestehender Rechtstitel zu verabschieden. Nichts anderes haben die deutschen Regierungen in den letzten 18 Jahren über die Parteigrenzen hinweg auch gemacht, allerdings in unterschiedlicher Deutlichkeit. Die „Danziger Erklärung“ der Staatspräsidenten von 2003 behält jedoch auch mit Blick auf das Gedenkjahr 2009 – 70 Jahre Kriegsbeginn, 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall – ihre Gültigkeit: „Wir müssen der Opfer gedenken und dafür sorgen, dass es die letzten waren. Jede Nation hat das selbstverständliche Recht, um sie zu trauern, und es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Erinnerung und Trauer nicht missbraucht werden, um Europa erneut zu spalten.“ Ein Schlussstrich muss unter Entschädigungsansprüche, Schuldzuweisungen und Aufrechnungen gezogen werden. Die Aufgabe der Wiedergutmachung gegenüber den Opfern ist damit nicht beendet. Sie verlangt auch weiterhin nach einer gemeinsamen Anstrengung in Deutschland, mit Polen in Europa.

ist eine christlich demokratische Stiftung, die sich weltweit für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit einsetzt. Sie wird durch Steuergelder finanziert. In Polen eröffnete die KAS bereits am 10. November 1989 ihr Büro als Ausdruck der Anerkennung des polnischen Freiheitskampfes, der wesentlich zur Überwindung der kommunistischen Diktatur und der Trennung Europas beitrug. Die Arbeit der KAS in Polen konzentriert sich auf die Entwicklung guter Beziehungen zwischen Deutschland und Polen, auf die Förderung der europäischen Integration und der Zivilgesellschaft, auf den parteipolitischen Dialog sowie auf die Diskussion von politischen Fragen, sozialer Verantwortung, Werteorientierung und Erinnerungskultur. Dazu organisiert die KAS mit einer Vielzahl von polnischen Partnern Konferenzen, öffentliche Debatten, Seminare und Dialogprogramme; sie veröffentlicht Berichte und Publikationen, vergibt Stipendien und fördert politische Bildungsprojekte im ganzen Land.



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