39NULL NR.1 – Kommen, Bleiben, Gehen

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Nr.1 Fr端hjahr 2013

Kommen, Bleiben, Gehen Landflucht der Kreativen?


Impressum

39NULL Magazin für Gesellschaft und Kultur Kommen, Bleiben, Gehen Landflucht der Kreativen? Nr. 1 Frühjahr 2013

Idee und Konzeption Barbara Weithaler, Julia Egger, Lukas Marsoner, Martin Santner Herausgeber Lukas Marsoner kognitiv - Verein für Wahrnehmung Chefredaktion Martin Santner Redaktion / Presse / Vertrieb Barbara Weithaler Redaktion / Koordination Lukas Marsoner Textredaktion / Lektorat Martina Wunderer Lektorat Italienisch Manuela Schöpf Lektorat Englisch Cathrin Schaer

Art Direktion / Grafik Julia Egger Foto Alexander Gehring Maria Gapp Illustration Gabriela Oberkofler Cover Foto Pier Paolo Pellegrini Presserechtlich verantwortlich Maren Schöpf Druck Longo AG - BZ Kontakt 39NULL@kognitiv.info Web www.kognitiv.info


Landflucht der Kreativen?

Ein Magazin vom Kommen, Bleiben, Gehen Kultur ist ein komplexes, dynamisches und spannungsgeladenes Gebilde. Sie ist niemals statisch und homogen, sondern befindet sich in einem fortwährenden Prozess der Veränderung. Dieser Prozess ist variantenreich und oft auch widersprüchlich, er wird kontinuierlich von den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft reflektiert und gestaltet, das Zusammenleben wird täglich neu verhandelt, alte Denkmuster und Praktiken werden hinterfragt und neue erprobt. Kunst und Literatur spielen dabei eine zentrale Rolle: Sie erkunden mit feinem Gespür und hellwachem Blick den Zeitgeist und Zustand einer Gesellschaft und können die Verhältnisse nachhaltig beeinflussen, indem sie das Verständnis für kulturelle Unterschiede fördern und andere, neue Sichtweisen eröffnen, ohne jedoch lokale Traditionen aufzugeben. Das Zusammentreffen von Tradition und Moderne, Altem und Neuem, Eigenem und Fremden verläuft dabei nicht immer konfliktfrei, birgt aber Chancen für alle, denn genau aus diesem Spannungsfeld erwächst großes kreatives Potenzial, um sich als Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Kreativität ist ein Vermögen, das jeder Mensch besitzt. Sie stiftet Sinn, will eine neue Welt im Kleinen erschaffen, etwas ins Leere, Undefinierte hineinstellen. Dazu muss sie sich in freien Räumen entfalten können und darf nicht als Instrument für Politik und Religion missbraucht werden. Kreativität meint nicht nur die schöpferische Kraft von Berufskünstlern, sondern sämtliche Fähigkeiten und Ideen, die sowohl in individueller als auch in akkumulierter Form als geistiges Kapital, als Ressource für Innovation und Fortschritt einer Gesellschaft zur Verfügung stehen. Jeder Einzelne steht in der Verantwortung, die Welt um sich herum zu hinterfragen, am Gestaltungsprozess mitzuwirken und seine eigene Kreativität zu nutzen, denn Vielfalt und Unverwechselbarkeit sind wichtige Aspekte, um innerhalb einer globalisierten Welt zu bestehen. Südtirol ist reich an kulturellen Einflüssen und Traditionen. Die jahrtausendealte Kulturgeschichte prägt seit jeher das Land und seine Menschen. Die Region weiß um dieses besondere Erbe und ist bemüht, es zu bewahren, weiterzuentwickeln und mit anderen Menschen zu teilen. Davon zeugen nicht nur die Vielzahl der in den letzten Jahren gegründeten kulturellen Einrichtungen (Franzensfeste,

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Landflucht der Kreativen?

Museion) und Initiativen im Bereich der zeitgenössischen Kunst (Transart, Manifesta, Tanz Bozen/Bolzano Danza u.a.), sondern auch das große Engagement der zahlreichen lokalen Kunst- und Kulturvereine (Meraner Gruppe, M10, kognitiv u.a.), um Menschen für moderne und zeitgenössische Kunst zu sensibilisieren. Wer aber sind die AkteurInnen, die in der Südtiroler Kunst- und Kulturszene mitdenken, mitreden und handeln? Wie ist es hierzulande um Freiräume und Förderung bestellt? Welchen Einfluss hat die lokale Politik auf die Kunst und Kultur? Warum verlassen gerade junge KünstlerInnen und Kulturschaffende das Land? Gehen sie deshalb, weil sie in urbanen Zentren bessere Ausbildungsmöglichkeiten und Jobperspektiven haben? Weil sie dort mehr Raum für Selbstverwirklichung sowie eine anregende Umgebung vorfinden, wo sie sich mit Gleichgesinnten vernetzen und austauschen können? Bietet Südtirol ihnen zu wenige Anreize, zu wenige Möglichkeiten und Perspektiven? Kann man überhaupt von einer „Landflucht der Kreativen“, von einem Braindrain sprechen, wenn nicht nur viele Südtiroler nach Jahren im Ausland und um wertvolle Erfahrungen reicher zurückkehren, sondern auch Tausende hochqualifizierte und hochmotivierte Migranten jährlich nach Südtirol einwandern? Warum wird dieses Potenzial oft übersehen? Welche langfristigen Auswirkungen hat dies auf die gesellschaftliche Entwicklung der Region? In seiner ersten Ausgabe geht 39NULL – Magazin für Gesellschaft und Kultur diesen Fragen nach und präsentiert eine spannende Sammlung persönlicher Lebensgeschichten von Südtiroler Kunst- und Kulturschaffenden im In- und Ausland. In Interviews, Essays, Briefen und Zeichnungen erzählen sie, weshalb sie gegangen, geblieben, (wieder-)gekommen sind, von ihren Hoffnungen und Visionen eines Lebens in Südtirol oder anderswo. Wir bedanken uns für Ihr Vertrauen und wünschen Ihnen viel Freude mit der ersten Ausgabe unseres Magazins. Ihr 39NULL - Team

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Inhalt

6 „Braindrain: Weitwinkel und Nabelschau“

56 „Um kreativ zu sein, braucht es keine Metropolen“

Andreas Tschurtschenthaler

Selma Mahlknecht

59 „Das einzig Südtirolerische an mir ist die Liebe zum Handwerk“

9 Andare, tornare, restare Lucio Giudiceandrea

Dimitrios Panagiotopoulos

13 Die Geburt der Gegenwart

66 „Man scheitert immer dort, wo es am schwierigsten ist“

Hans Karl Peterlini

18 „Die Freiheit fanden wir woanders“

Sven Sachsalber

70 „Wenn uns etwas retten wird, dann ist es die Schönheit“

Martina Untersteiner

21 „Den Fluss in alle Richtungen offen halten“

Othmar Prenner

74 Haltet sie! Kreative am Land

Toni Bernhart

27 „Un artigiano della memoria“

Elisabeth Mayerhofer

78 „... wenn man sie nur lässt!“

Claudio Rocchetti

Elisabeth Mayerhofer

30 „Ich habe Sehnsucht nach Amerika“

81 „Kultur steht in Südtirol überhaupt nicht ,hinten an‘ “

Maxi Obexer

36 „Ich bin lieber auf dem Sprung“

Peter Paul Kainrath

Ingrid Hora

86 „A22“

40 „Die Zufälle, sage ich, oder auch die Notwendigkeiten“

Hannes Egger

Sabine Gruber / Sepp Mall

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91 „Unsere Kultur ist eine sprudelnde Inspirationsquelle“

123 franzmagazine vi racconta un’ Altra Adige

Lukas Siller

Kunigunde Weissenegger / Anna Quinz / Tessa Moroder

95 „Ich bin kein Querdenker – ich bin ein Freigeist!“

128 „If I am here, this is what I am“ Martha Jiménez Rosano

Konrad Meßner

132 „L’ Alto Adige deve maturare“

100 „Wer es hier schafft, schafft es überall“

Giovanni Melillo Kostner

Katharina Hohenstein / Gudrun Esser

137 „Wir sind gekommen, um zu bleiben“

111 „Auf der Suche nach den Orten der Einhauchung“

Verena Wisthaler

Sonja Steger

142 Mitwirkende / collaboratori

117 „Ich bin noch immer viel zu neugierig auf die Welt“ Ronny Trocker

120 Kontextverschiebung (Moonlight Classic) Ulrike Bernard

48 Haus, Baum, Zaun

106 Lieblingsorte

Gabriela Oberkofler

Gestaltung: Maria Gapp

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„Kreativ ist man von Geburt an, und wird doch sein Leben lang nicht damit fertig, es zu werden.“ Ulrich Bröckling


„Braindrain: Weitwinkel und Nabelschau“ FOTO Martina Jaider

Andreas Tschurtschenthaler ist in Schleis bei Mals aufgewachsen, in Meran zur Schule gegangen, für sieben Jahre nach Berlin gezogen und mit der Rückkehr dem herben Charme des Vinschgaus erlegen. Ein Plädoyer für das Kommen, Bleiben, Gehen.

Südtirol ist ohne Zweifel ein schönes Land, anmutig seine Landschaft, kontrastreich zwischen Gipfeln und Weinbergen, zwischen verwurzelt scheinenden Tälern und halbwegs experimentierfreudigen Städten, zwischen eigensinnigen Traditionalisten und offenen, risikobereiten Weltbürgern, ökonomisch erfolgreich mit Tecnoalpin als globalem Marktführer und europäische Spitze beim durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen. Eigentlich unverdächtig, stolz und sicher dastehend trotz unsicherer und ständig wechselnder Zukunftsprognosen für die als sicher geltenden Teile der Welt. Und dieses Dazwischensein oder Etwasvonbeidemhaben ist interessant, vielleicht nicht einzigartig, aber für viele auf jeden Fall einen Besuch wert, und für die meisten, die immer schon da waren, da sind, ein Grund zu bleiben. Südtirol ist sozusagen eine sichere Bank. Irgendwann zwischen Pubertät, Matura und ersten Praktika bricht sie sich Bahn bei vielen Südtirolern, die Frage: Was nun? Und parallel dazu bohrt eine Frage existenzieller Natur: Gehen oder bleiben? Sie haben schließlich keinen Grund, Südtirol zu verlassen, auf den ersten und zweiten Blick ist alles gut. Das Haar in der Suppe kann man auch daheim suchen, die Steine im Brett haben oder ans eigene Bein pinkeln. Die meisten von denen, die Südtirol verlassen, tun dies wohl eher halbherzig, sie sind ja nicht auf der Flucht oder der Suche nach dem Paradies. Anders sind Südtiroler-Heim in Wien, Südtiroler-Treff in London, Heimatfernentreffen und Dauerpräsenz von weltweit in urbanen Zentren verstreut lebenden Südtirolern auf den „Adabei-Seiten“ Südtiroler Gesellschaftsmagazine nicht zu erklären. Bei der Antwort auf die Frage nach dem Bleiben halte ich es mit den sprachlichen Untiefen der Elektronikheilsversprecher Saturn und/oder Mediamarkt: „Alles muss raus.“ Nein, hier soll nichts zu Dauertiefstpreisen verscherbelt, sondern die Ladenhüter sollen aus den gemütlichen Regalen gefegt werden. Natürlich gibt es kein bequemeres Nest als an Berghängen aufgefädelte Dörfer mit übersichtlich

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schönen Häusern oder zwischen Apfelwiesen passend hineingepuzzelte größere Dörfer mit schon mehreren, aber immer noch übersichtlich schönen Häusern oder kleine Städte, deren schöne Häuser sich nie unter Einsatz von Schultern und Ellenbogen Abstand und Freifläche erkämpfen müssen. Und weiter draußen der handgemachte Zaun mit Handlauf, der die Nabelschau reibungslos vonstattengehen lässt. Es ist auch wahr, dass die Welt ein Dorf ist und die Distanzen zu Metropolen, Partyinseln und fernen Ländern kürzer geworden sind, dass überall und immer alles verfügbar ist, dass mehr oder weniger jeder viele Freunde oder -innen hat, dass fast alle Fans sind oder haben, die überall und immer alles wissen, dass sich sogar Vergangenheit und Zukunft schwungvoll über die Timeline gescrollt wie Gegenwart anfühlen und sowieso alles nur eine Frage der Perspektive ist. Es ist noch gar nicht lange her, da war es in Südtirol noch leicht, aus der Hüfte heraus mit Schwarz und Weiß, Berg und Tal, Deutsch oder Italienisch und mit Links und Rechts zu argumentieren, die wenigen Quadratkilometer Südtirols als Gesellschaft – sozusagen als nicht immer einfach abzubildenden Körper der politischen Geometrie – zu beschreiben und auch verstanden zu wissen, und in dem Wissen um diesen unumstößlichen Grundsatz entweder

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„Das Haar in der Suppe kann man auch daheim suchen, die Steine im Brett haben oder ans eigene Bein pinkeln.“


„Für Südtirol ist es besser, sich dem Vergleich mit anderen zu stellen, als in reiner Selbstbespiegelung mit großen Worten zu glänzen.“ dafür oder dagegen zu sein – wofür und wogegen auch immer –, und dabei war es auch vollkommen irrelevant, welchen Standpunkt oder Standort der Betrachter hatte. Bei lediglich zwei Seiten gab es kein Bedürfnis nach einer differenzierteren Sichtweise. Für alles gab es klare Signale, Blickwinkel, Abgrenzungen, Motive, Argumente und Gegenargumente, welche das Recht der einen Seite und das Falsch der anderen Seite auf ewig festlegten. Mittlerweile wird aber selbst in Südtirol der ständige Kampf um Deutungshoheit nur noch in den Hinterzimmern größerer und kleinerer Parteien aus Gewohnheit gefochten. Die Gesellschaft als identifizier- und beschreibbarer soziokultureller Bewegungsraum ist verschwunden, zeit-, lokal- und interessensgebundene Teilmengen widersetzen sich heute und hier eindeutigen Zuschreibungen. Und gerade deshalb gibt es die andauernde Pflicht, mit kritischem Blick und von außen, unten, oben und möglichst vielen Seiten auf dieses Land zu schauen. Und für Südtirol ist es besser, sich dem Vergleich mit anderen zu stellen, als in reiner Selbstbespiegelung mit großen Worten, selbstgezimmerten Ranglisten, Parametern und Rekorden zu glänzen. Doch dieses sich Erfinden, Behaupten, Neuerfinden, Vergleichen und Verwerfen ist weder ein Automatismus noch Ergebnis kontinuierlicher Selbstbeweihräucherung oder systemimmanenter Prozessoptimierung. Es ist hart erarbeitet, unter Mithilfe auch oder besonders derer, die dem Außen genug Raum gegeben, sich aus dem Südtirol-zentrischen Weltbild geschält und mit gutem Gewissen, Erfahrung, jugendlichem Leichtsinn, Alterswahnsinn und Unvernunft alles auf den Prüfstand gestellt haben. Und es ist eine interessante Frage, ob wir für die Dinge, die wunderbar funktionieren, ohne dass wir uns von der Ofenbank erheben müssten, einen durchdringenden, sezierenden und sondierenden Blick brauchen oder die große geschlungene Klammer derer, die sich in ihrer Mitte wohlfühlen.

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