39NULL NR.2 - DAS FREMDE

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das fremde Der Begriff des Fremden besitzt in der Alltagssprache eine Reihe von Bedeutungen und Konnotationen. Er beschreibt das, was uns als anders, unvertraut, unerforscht erscheint, im negativen wie im positiven Sinn. Es sind nicht nur Menschen, Einzelne oder Gruppen, die uns oft fremd anmuten, sondern auch Kulturen, Sprachen, Moralvorstellungen, die natürliche und die soziale Umwelt ... Das Fremde kann uns sowohl in Gestalt der benachteiligten, machtlosen Minderheit begegnen, die an unsere Türen klopft, es kann sich aber auch als Hegemonie beanspruchende Fremdherrschaft zeigen oder als faszinierende, zu entdeckende Landschaft. Was uns fremd erscheint und der Umgang damit, hat immer auch mit der eigenen Gesellschaft und Kultur zu tun und ist einem ständigen Wandel unterworfen. Fremdheit wirkt abgrenzend nach außen und identitätsstiftend, gemeinschaftsbildend nach innen. Das Fremde ist ein Konstrukt. Vielleicht sogar ein notwendiges Konstrukt, weil es uns Orientierung und Sicherheit vermittelt in einer immer komplexeren Welt? Sobald etwas Unbekanntes in das vertraute Eigene hereinbricht, fühlen wir uns bedroht. Der Fremde wird an den Pranger gestellt und vorschnell verurteilt. Was will er hier? Wie er aussieht! Wir kennen ihn nicht! Wir wollen ihn nicht! Es ist unsere Angst, die hier spricht. Manchmal wird sie von Faszination verdrängt. Dann heben wir den Fremden auf ein Podest, schauen ihn mit großen Augen an: Ist er nicht etwas Besonderes? Sein apartes Aussehen, seine farbenprächtige Kleidung, seine exotischen Bräuche! In beiden Fällen ziehen wir eine Grenze zwischen uns und dem Anderen. Doch warum neigen wir dazu, Differenzen stärker zu betonen als Gemeinsamkeiten? Welche Folgen hat eine solche Unterdrückung und Ausgrenzung des Fremden? Welche Chancen bieten Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Fremden, welcher Chancen berauben wir uns, wenn wir uns dem entziehen? Sind wir zu ängstlich? Halten wir das aus? Haben wir den Mut? Sind wir in der Lage, das Fremde nicht nur zu analysieren, sondern auch zu integrieren, wertzuschätzen sogar? In der zweiten Ausgabe von 39NULL richten wir den Blick nicht nur auf das sogenannte Andere, sondern auch auf uns selbst, auf das Fremde in uns und unter uns, auf Situationen und Momente des Alltags, in denen wir dem Fremden begegnen. Wir wagen uns an das Fremde heran, weil wir neugierig sind, und wir möchten Sie mit unserer Neugierde anstecken. Ihr 39NULL - Team


Inhalt

4 Der Walrossmann

U lr ic h l a d u r n er

8

das fremde è un diritto ...

rob er ta da pu n t

10

Grazie e Arrivederci!

LU I SA BRANDL

17

hERMES IS BLEEDING

Milen a ca r s ten s

24

A casa in terra straniera

Fr a n ca z a d r a

28 Die Prophezeiung erfüllt sich selbst A n d r e a s zic k

32

Neue alte Feindbilder

Ya s emin S hoo m a n

35, 47, 48, 49, 105 Neue fremde Wirklichkeit Till JANZ & h en d r ik S CHNEIDER

36 Rai und Ribisl

c h r i s ti a n zelg er


37 hoangÅrtn

78

V er a fi s c h er

sa r a h tr e v i s iol

l´alter nell´ego

42

Was heiSSt? Kaj pomeni? unsere sprachen

82

JOŽE M ES S NER

es fühlt sich richtig an

ARIANNE RO JA S PÉREZ

88 EXCEPTIONAL ENCOUNTERS 50 Lo spaesato

Pau l a Win k ler

fr a n c es co pa ler m o

95 54 ALLES VERLOREN Perdù Dut

r u t b er n a r di

97 Fremd ist, was fremd bleibt

56 Fremd Daheim

62

g eorg g rote

the jungle

Dimitr i s roko s

as many guys as i could get

Pau l a Win k ler

S ofi a wei ss en eg g er

100 VORBEI IST VORBEI

tatja n a k en n edy

106

traurige TROPEN

A nik a b u dd e

64 wenn die fremmen kemmen ...

70

pau l rö s c h

bruneck

N. C. K a s er

72

Fremdheit ist eine Begabung

Jo s eph Zod er er

112

der tod

a nita pic hler

115 ruah

paolo va len te

118

mitwirkende / collaboratori


Der Walrossmann FOTO Ulrich Ladurner

Italien in den Siebzigerjahren. Der Krieg ist seit fast drei Jahrzehnten vorbei, doch in den Kรถpfen der Menschen wirkt er noch nach. Die Geschwister mit deutschem Akzent sind am Strand von Formia nicht willkommen. Ulrich Ladurner erinnert sich an zwei Kindheitssommer in einer fremden Heimat.

U LRICH LAD U RNER

4


In den Siebzigerjahren habe ich zwei Sommer in Formia

Tullius Cicero. In Sichtweite von Formia liegt die Halbinsel

verbracht, einer Kleinstadt an der Küste zwischen Rom

von Gaeta, eine düstere Festungs- und Gefängnisstadt.

und Neapel. Unsere Eltern hatten eine Wohnung in einem

Salvatore war nicht die einzige missgelaunte Gestalt am

Neubau gemietet, ein paar hundert Meter vom Strand

Strand von Formia. Es gab eine ganze Reihe solcher Typen.

entfernt. Wir Kinder liefen morgens barfuß aus dem Haus

Es lag etwas Schweres in ihren Gesichtern, das sich

und kamen kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück,

manchmal wie ein Gewitter in lautem Geschrei entlud.

hungrig und glücklich. Den ganzen Tag über trugen wir

Dabei verzerrten sich ihre Züge zu einer Fratze. Eine

nichts anderes als ein T-Shirt und einen Badeanzug, in

Nichtigkeit reichte als Anlass. Die meiste Zeit aber

den die Mutter eine winzige Innentasche eingenäht hatte.

schwiegen sie und starrten auf das Meer hinaus.

Wir steckten unsere ersparten 100-Lira-Münzen hinein. Davon kauften wir uns Eis, Cola und Chips in einem Strandhäuschen. Der Betreiber hieß Salvatore. Er war über fünfzig Jahre alt, und er war nicht freundlich, wie man es von Italienern üblicherweise sagt, sondern mürrisch und unnahbar. Sein fleischiges Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, und sein Körper roch nach Fisch und Schweiß. Er erinnerte mich an ein Walross aus den nördli-

„Wir wurden schnell in eine Schublade gesteckt mit der Aufschrift ‚Deutscher‘. Wir gehörten nicht dazu, das ließen sie uns spüren.“

chen Eismeeren, die ich aus meinem Tierbuch kannte.

Sie hatten allesamt nichts leichtfüßig Mediterranes an

An sehr heißen Tagen kam Salvatore aus seinem Häus-

sich. Sie waren der lebende Widerspruch zum Klischee

chen, stapfte über den Strand, watete ins Wasser, bis es

von „Bella Italia“. Diesem Kitsch, der damals schon von der

ihm über die Knie reichte, und starrte aufs Meer hinaus.

Tourismusindustrie genährt wurde, stand die Kälte dieser

Nach einigen Minuten kehrte er schnaubend zurück,

Menschen gegenüber. Wir versuchten sie zu meiden, wo

setzte seine riesigen Füße in den Sand und zog eine breite

immer es ging. Das war nicht einfach, aber es gelang uns

Spur hinter sich her. Wenn er redete, schimpfte er meist

leidlich. Wir blieben unter uns. Das störte uns nicht all-

über die Politiker, die Korruption, die Arbeit – vor allem

zu sehr, denn der Sommer bot alles, was wir begehrten,

aber über die Inflation, ein Wort, dessen Bedeutung wir

Sonne, Sand und Wasser. Doch abends, wenn ich im Bett

damals nicht verstanden, aber das irgendwas mit dem

lag und einzuschlafen versuchte, hatte ich immer den

Wert der Münzen zu tun hatte, die wir bei Salvatore ausga-

griesgrämigen Salvatore vor Augen und fragte mich, wa-

ben. Unser Geld nahm er ohne ein Wort entgegen. Er

rum er so abweisend war. Ich suchte nach Gründen, doch

grüßte uns nie, so als wären wir unsichtbar. Das war unan-

ich fand keine.

genehm. Wir hätten unser Eis gerne woanders gekauft,

Erst viel später glaubte ich, eine Erklärung für das Ver-

doch Salvatores Kiosk war der einzige in der Nähe.

halten der Menschen am Strand von Formia gefunden zu

An den Strand kamen vor allem Einheimische, die ihr eige-

haben. Wir waren die einzigen, die Deutsch sprachen. Un-

nes Essen mitbrachten und es an Ort und Stelle verzehr-

ser Italienisch war zwar recht flüssig, aber es war nicht

ten, wobei sie die Reste achtlos in den Sand warfen und

akzentfrei. Wenn uns jemand danach fragte, antworteten

zurückließen. Es gab Tage, da war der Strand mit Müll

wir wahrheitsgemäß, dass wir italienische Staatsbürger

übersät, und wir machten uns einen Spaß daraus, vom

seien und an der Grenze zu Österreich lebten. Doch so

Wind umhergewirbelten Plastiktüten nachzulaufen. Je

korrekt diese Information auch war, so wenig interessier-

höher sie in den Himmel stiegen, desto lauter johlten wir.

ten sich unsere Zuhörer dafür. Wir wurden schnell in eine

Urlauber aus dem Norden verschlug es nicht hierher. Das

Schublade gesteckt mit der Aufschrift „Deutscher“. Wir

Gebiet war für ausländischen Tourismus damals noch

gehörten nicht dazu, das ließen sie uns spüren. Die Er-

nicht erschlossen, und bis heute ist dieser Küstenab-

innerungen, die unsere Muttersprache in dieser Gegend

schnitt eher bei Römern als bei Frankfurtern, Münchnern

weckte, waren wohl ein Grund dafür.

oder Berlinern beliebt. In der Antike hatten wohlhabende

An einem heißen Sonntag im Juli machten wir einen Fa-

römische Patrizier hier ihre Villen, unter anderem Marcus

milienausflug in das Kloster Montecassino. Das mächtige

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U LRICH LAD U RNER


„Die Last der Geschichte war größer als meine kindliche Unschuld. Dabei war es nicht einmal unsere Geschichte.“ Gebäude liegt vierzig Kilometer von Formia entfernt

wollte. Das andere, das mussten wir Kinder selbst in

auf einem Berg im Hinterland, von wo aus man einen

Erfahrung bringen.

grandiosen Blick auf die darunterliegende Ebene und –

Und zu dem anderen gehörte auch die Tatsache, dass wir

an schönen Tagen – auch aufs Meer hat. Die Abbazia von

als deutschsprechende Kinder am Strand von Formia

Montecassino hat in der europäischen Geschichte eine

sehr abweisend behandelt wurden. In den frühen Siebzi-

bedeutende Rolle gespielt. Hier gründete der Heilige

gerjahren war der deutsche Tourist in dieser Gegend noch

Benedikt seinen Orden, der über viele Jahrhunderte das

nicht willkommener Devisenträger, sondern Angehöriger

europäische Christentum entscheidend mitprägte. Im

einer Nation, die für unendlich viel Leid und Zerstörung

Zweiten Weltkrieg wurde das Kloster bei einem Bomben-

verantwortlich war. Das für uns Kinder Verwirrende daran

angriff der Alliierten im Januar 1944 vollständig zerstört.

war, dass Deutschland uns vollkommen unbekannt war,

Der Berg von Cassino war Teil der sogenannten Gustav-

viel unbekannter als Italien. Ich war bis zu jenem Zeit-

Linie, welche die deutsche Wehrmacht von der Adriati-

punkt mit den Eltern zweimal in München gewesen, um

schen bis zu Tyrrhenischen Küste quer durch Süditalien

Freunde des Vaters zu besuchen. Stippvisiten, mehr waren

gezogen hatte. Zu Füßen des Berges verläuft schon seit

es nicht. Doch hier, in Formia, wurde ich als Deutscher

der Antike die zentrale Achse von Neapel nach Rom, die

identifiziert und behandelt wie ein Fremder barbarischer

Via Appia. Hier mussten die Alliierten vorbei, wenn sie Rom

Herkunft. Ich war damals gerade zehn Jahre alt, aber das

von den Nazis befreien wollten. So kam es im Anschluss

zählte nicht. Die Last der Geschichte war größer als meine

an die Bombardierung zu einem mehrere Monate dauern-

kindliche Unschuld. Dabei war es nicht einmal unsere

den, grausamen Kampf, der Schlacht um Montecassino.

Geschichte. Mein Vater war nach dem Sturz Mussolinis

Mir blieb von unserem Ausflug nicht so sehr das Kloster,

im Jahre 1943 eingezogen worden. Die Wehrmacht hatte

sondern der Soldatenfriedhof von Cassino in Erinnerung.

Italien besetzt und betrachtete die Südtiroler nun als

Mehr als 20 000 deutsche Soldaten sind hier begraben,

Deutsche mit entsprechenden Kriegspflichten, obwohl

alles Männer, die im Jahr 1944 nach der Landung der Alli-

sie genau genommen italienische Staatsbürger waren.

ierten auf dem südlichen italienischen Festland gefallen

Mein Vater hätte sich nur durch Desertion entziehen

waren. Als wir dem Vater durch die Gräberreihen folgten,

können.

beschlich mich der Verdacht, dass er nicht wegen des

Natürlich hätten wir Kinder uns gewünscht, dass Salvatore

Klosters hierhergekommen war, sondern wegen des

und all die anderen uns besser behandelt hätten, viel-

Friedhofes. Er war als Soldat bei der Wehrmacht gewesen.

leicht sogar als einen der Ihren. Nicht weil wir Italiener

1944 wurde er eingezogen. Wenige Monate später wurde

sein wollten, wir hatten ja keinen Begriff davon, was dies

er bei Florenz gefangengenommen, unter welchen Um-

bedeuten könnte, sondern weil wir ein Teil der Welt sein

ständen, das wollte er bis zu seinem Tod niemals im Detail

wollten, die uns umgab, ein Teil des Strandes von Formia.

berichten. Vom Krieg sagte er nur, dass er hoffe, es werde

Was Vergangenheit war und was Zukunft, davon wussten

ihn nie wieder geben. Das war alles, was er uns mitgeben

wir nichts. Wir lebten ausschließlich im Moment. Wenn

U LRICH LAD U RNER

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Salvatore uns unfreundlich behandelte, dann war die

Gewiss, in den vielen Jahren nach den Sommern von

Welt unfreundlich zu uns – und würde es immer bleiben.

Formia habe ich „Bella Italia“ kennengelernt, das leicht-

Der mürrische Salvatore, der uns ohne jede Rücksicht

lebige, mediterrane Land, das jeden, der es besucht,

spüren ließ, dass er uns nicht mochte, weil wir die Spra-

verzaubert. „Wer die Menschheit liebt, der muss die Ita-

che der Soldaten sprachen, die in dieser Gegend gewü-

liener lieben“, schreibt die französische Schriftstellerin

tet hatten, prägt bis heute mein Bild von Italien. Dabei bin

Marguerite Duras in ihrem Roman „Der Matrose von Gib-

ich mir nicht sicher, ob Salvatore einen aufrichtigen

raltar“. Sie hat recht. Zur Menschheit gehört aber auch

Grund für seinen Hass hatte. Es könnte durchaus sein,

Salvatore, der Walrossmann von Formia. Er hat sich in

dass Salvatore während des Krieges nicht ein Wider-

den Schichten meines Unterbewusstseins eingenistet.

standskämpfer, sondern selbst ein Faschist war, der

Wann immer ich Italien als meine Heimat betrachten

rechtzeitig die Seiten wechselte. Seine übertriebene, zur

möchte, taucht er auf wie eine gefährliche, riesige Klippe,

Schau gestellte Abwehr gegen alles „Deutsche“ diente

und zwingt mich, meinen Kurs zu ändern. Salvatore setzt

vielleicht dazu, seine eigene problematische Vergan-

sein Werk der Entheimatung unerbittlich fort.

genheit zu verbergen. Es wäre zumindest möglich. Denn sehr, sehr viele Italiener sind damals Faschisten gewesen und haben sich über Nacht in Antifaschisten verwandelt.

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U LRICH LAD U RNER


das Fremde è un diritto di proprietà che a me non è concesso, poiché mi conosco.

ROBERTA DAPU NT

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Lontana sono dal mondo, ciò che vedo, leggo è tempo scorso, minuti finiti. Che sempre, fuori così tanto succede fino al racconto e ogni volta io sono stata assente.

Sì, tu che mi leggi, tu sai il movimento rapido degli occhi che accade quando inverte il punto di fissazione dello sguardo. È il momento imprevedibile di chi scopre e non sa di farlo. Scuotere è il verbo che mi sta mangiando mente e labbra. Congiuntura amara tra la vita e il pensiero di un’altra.

fame Eppure credimi, ogni notte io perdo di vista i sogni dentro agli occhi chiusi ho un vivere concreto. Giorno reale, reale apparire. Spuntano da sotto le ciglia le atrocità dell’indigenza, così, mentre riposano gli arti sul caldo dormire - e mi pare di riferirti cosa ormai vecchia sento profonda la fame, tremendo stordire il mio vizio capitale. Non morire, non ora, nel mio dolce stare tengo al chiuso la tua carestia.

il dissidio

Mi rivolgi l’inferno nelle parole, il tuo giudizio, nulla ho sentito di più diabolico. È rancido maledire il tuo, ormai le abitudini, quarant’anni e ti rimango figlia di fronte a te che non mi guardi. So però il colore del tuo disprezzo, l’iride spenta e le palpebre chiudono in sé l’indifferenza. Ed è irrisolta esistenza la tua, a pestare forte i miei punti d’arrivo, tu possidente di giorni e ore che non ti ho mai dato. Ho compassione di te, dei tuoi sputi che non sai controllare, ho anche il bene che ti lascio alla fine di ogni pianto. Alla fine, ogni volta.

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ROBERTA DAPU NT


Fl端chtlingslager in Mineo, Sizilien; Aus der Serie Hermes is Bleeding, Milena Carstens

LU I S A BRANDL

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Zuwanderer sind in Europa nicht willkommen. Auch in Italien fehlt eine effiziente Integrationspolitik. Dabei liegen die MigrantInnen dem Staat nicht auf der Tasche, im Gegenteil: Sie sind eine wichtige Ressource für Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Eriträer, eine Kolumbianerin, ein Roma und eine Ukrainerin erzählen von ihrem Leben in Rom und dem Gefühl, in der neuen Heimat fremd zu sein. Stern-Reporterin Luisa Brandl hat die Gespräche für 39NULL aufgezeichnet.

Grazie e Arrivederci!

Sofonias Meiaku „Ich sitze oft an der belebten Piazza

beschloss ich, auch nach Rom umzuziehen, und besorgte

Venezia in Rom auf einer kalten Marmorbank, der Verkehr

für uns beide ein Touristenvisum. Als wir ankamen, sagte

tobt, und ich habe das Gefühl, dass mich niemand sieht.

mein Mann, er habe eine andere Frau. Da stand ich mit

Dann kommen die schrecklichen Bilder zurück: Unser

meinem Kind auf der Straße, in einem fremden Kontinent,

Aufbruch nach Europa, sudanesische Schlepper pferchen

ohne Geld, ohne die Sprache zu können, und fing wieder

meine Mutter und mich in einen Minibus, sie bringen uns in

bei Null an.“

eine Art Militärcamp, sperren uns in einen kahlen Raum ein. Ich sehe meine Mutter zum letzten Mal. Bewaffnete Soldaten kommen, ich muss mit verschränkten Armen

Kemo Hamidovic „Ich habe mich mit 16 Jahren beim

hinter dem Kopf niederknien. Sie schlagen mich mit ihren

Salsatanzen in eine Italienerin verliebt. Sie wollte, dass

Gewehrkolben bewusstlos. Als ich wieder aufwache, liege

ich bei ihr lebte. Deshalb verließ ich das Roma-Camp an

ich auf einer Holzpritsche, mit gefesselten Händen und

der Viale Marconi. Für meine Eltern war das schlimm, es

einem Verband um den Leib. Sie haben mir die linke Niere

bedeutete Verrat. Sie leben mit fast hundert Angehörigen

entnommen. Meine Wunde brennt höllisch. Organraub auf

eng zusammen, die Familie ist alles für sie. Es ist wie unter

der Flucht, so ein Trauma kann sich in Europa niemand

Kindern, die zusammen spielen. Wenn du ausscherst,

vorstellen. Die Europäer denken, wir lungern bloß in ihren

bist du der Spielverderber. Ich erinnere mich noch gut an

Städten herum, dabei wissen sie nichts von uns.“

die erste Nacht meines Lebens in einer Wohnung. Es kam mir merkwürdig still und einsam vor. Im Campo bist du nie allein im Raum.“

Margarita Perea Sanchez „Mein Mann war nach Italien ausgewandert, um Geld zu verdienen. Er arbeitete als Altenpfleger bei einem römischen Ehepaar. Unser Sohn

Halyna Yurkouska „Eine Freundin zu Hause in Lwow

war damals sieben Jahre alt und vermisste ihn sehr. Also

hatte mir erzählt, dass man in Italien leicht Arbeit als

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LU I S A BRANDL


Betreuerin findet. Und so geschah es. Ich habe einen alten

Vater war in der Kirche aktiv. Er und mein älterer Bruder

Mann, Herrn Domenico, zweieinhalb Jahre lang gepflegt.

wurden verhaftet. Da wollte meine Mutter uns in Sicher-

Er ist vor kurzem mit 91 Jahren gestorben. Vor einem Jahr

heit bringen. Ich war 22 Jahre alt und wusste nicht, wie

hat Herr Domenico die Aufenthaltsgenehmigung für mich

gefährlich die Flucht sein würde. Die sudanesischen

beantragt, aber die Papiere sind noch nicht da. Bis sie

Schlepper stießen mich irgendwo mitten in der Wüste

eintreffen, bin ich illegal in Italien. Ich kann mich nicht

aus dem Wagen. Sie sagten mir nicht, warum ich diese

anmelden und nicht krankenversichern. Einmal bin ich

große Wunde quer über der linken Seite des Bauches

mit Zahnschmerzen zur Notaufnahme gegangen. Sonst

hatte. Ich schlug mich nach Khartum durch. Als mir die

werde ich nicht krank. Ich fühle mich wie in einem Krieg,

Ärzte im Krankenhaus dort sagten, was mir angetan

da denkt man auch nicht daran, krank zu werden.“

worden war, brach ich zusammen. Doch ich dachte: bloß nicht aufgeben. Europa, das war das kleine Licht am Ende des Tunnels. Eine vage Vorstellung von Frieden, ei-

Sanchez „Ich fing als Putzfrau bei einer Reinigungsfirma

nem Dach überm Kopf, vielleicht Arbeit. Als ich viele Mo-

an, aber ich hatte Glück. Ich bewarb mich auf eine Stelle als

nate später im September 2012 übers Meer die Insel

Schneiderin beim Atelier des Modeschöpfers Valentino. Es

Lampedusa erreichte, dachte ich: Gott hat mich gerettet.“

war, als hätte ich das große Los gezogen. Den großen Meister habe ich zwar nicht kennengelernt, aber seine rechte Hand, Simona. Sie erkannte mein Talent und

Hamidovic „Ich bin ein guter Barmann, mache alles von

schickte mich auf die Modeschule Centro Moda. Ich be-

Cappuccinos bis Cocktails. Aber ich sage nicht, dass ich

kam ein Stipendium. Der Staat hat mir nicht geholfen,

Roma bin. Sonst glaubt jeder sofort zu wissen, wer es

aber einzelne Italiener, die mir etwas zugetraut haben;

war, wenn Geld in der Kasse fehlt. Mit diesem Stigma bin

und ich hatte keine Angst, etwas Neues zu beginnen. Ich

ich groß geworden. Als Junge war ich mal mit einem

fürchte nur eines: den Herrgott und sein Urteil.“

Freund in einem Schuhgeschäft. Er wollte ein Paar anprobieren. Der Verkäufer sagte, dass dürfe er nicht, weil er die Schuhe klauen wolle. So was prägt sich ein, zu

Meiaku „Ich bin Christ. Meine Familie wurde in Eritrea

meinen italienischen Freunden sage ich gern im Scherz:

wegen ihres Glaubens verfolgt. Wir flohen nach Äthiopien.

Passt bloß auf eure Sachen auf, wenn ihr mit mir zusam-

Als dort der Krieg ausbrach, mussten wir zurück. Mein

men seid. Das ist Ironie aus Selbstschutz.“

Faktenblock I – Italiens harte Einwanderungspolitik In Italien leben mehr als 59 Millionen Menschen. Davon sind gut vier Millionen Flüchtlinge und Migranten, das entspricht 7,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Damit liegt der Mittelmeerstaat in etwa im EU-Durchschnitt von 6,6 Prozent Ausländeranteil. Dennoch hat Italien eines der strengsten Einwanderungsgesetze in der EU. Die illegale Einwanderung ist 2009 zur Straftat erklärt worden. Es drohen sogar Haftstrafen. Auch wer in Not geratenen Flüchtlingen hilft, macht sich strafbar. Insgesamt sind 2013 mehr als 300 000 Menschen eingewandert, das entspricht einem Plus von 8,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die meisten von ihnen sind sogenannte „overstayers“, die mit einem Touristenvisum einreisen und nach dessen Ablauf bleiben. Nur zehn Prozent erreichen Italien übers Mittelmeer. Und die Hälfte der 30 000 Bootsflüchtlinge will weiterflüchten nach Nordeuropa und versucht, oft unter Lebensrisiko, der Registrierung zu entgehen. Denn wer zuerst in Italien europäischen Boden betritt, darf nur dort einen Asylantrag stellen und muss im Land bleiben. Dabei sind die Auffanglager in Italien überfüllt, und politische Flüchtlinge bekommen keine Geld- oder Sachleistungen vom Staat.

LU I S A BRANDL

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„Ausländische Arbeitskräfte zahlen mehr in die Staatskasse ein, als der italienische Staat für Zuwanderer ausgibt.“

Yurkouska „Die Italiener sehen auf Fremde herab. Wenn

anerkannt, doch eine ärztliche Behandlung habe ich noch

ich mit meinen ukrainischen Freundinnen auf der Wiese

nicht bekommen. Es gibt keinerlei staatliche Hilfe für

im Park picknicke, bekommen wir abschätzige Bemer-

mich. Ich bin schockiert, so hatte ich mir die Demokratie

kungen von Passanten zu hören. Das ist demütigend. Wir

nicht vorgestellt. Ich möchte nach Kanada oder Nordeu-

haben keine Chance, sie kennenzulernen, und sie wissen

ropa ziehen, aber ich muss in Italien bleiben.“

nicht, wer wir sind. Wir essen ja nicht zum Spaß draußen auf dem Boden. Wir leben alle bei italienischen Familien und können in unserer freien Zeit keine Freunde empfan-

Sanchez „Dass ich es geschafft habe, war Glück. Eine

gen. Wir sind eine große Gruppe von 15 Frauen. Eine von

Mitschülerin vom Centro Moda hat mir 6 500 Euro Start-

uns ist Kinderärztin. Sie ist besser ausgebildet als dieje-

kapital für meine Änderungsschneiderei geliehen. Als

nigen, die sich über uns erheben. In Italien zählt vor allem

Mädchen wollte ich Ärztin werden, deshalb nannte ich

der soziale Status eines Menschen. Es kommt sehr auf

mein Geschäft „Clinica dei vestiti“. Ich fing mit einer Näh-

Äußerlichkeiten an.“

maschine an, die Kunden kamen vom ersten Tag an. Im zweiten Jahr hatte ich schon drei Maschinen, eine davon ist computergesteuert und hat 3 500 Euro gekostet. Ich

Hamidovic „Ich bin sehr fixiert auf meinen Look. Das fing

habe einen festen Kundenstamm, viele kommen aus

schon mit zwölf an, als ich begann, Salsa zu tanzen, und

eleganten Vierteln wie dem Parioli zu mir. 2011 wurde ich

noch im Camp lebte. Ich wollte draußen akzeptiert werden,

als

wenn ich in ein Tanzlokal ging. Mit den Jahren legte ich

MoneyGram Award ausgezeichnet. Ich wurde in Talkshows

immer mehr Wert auf Körperpflege und elegante Klei-

eingeladen. Ich bin so was wie eine Vorzeige-Migrantin.

dung. Das hat sich bei mir beinahe zu einer Krankheit

Wenn es anderen hilft, bin ich es gerne.“

beste

ausländische

Unternehmerin

mit

dem

entwickelt, einer krankhaften Suche nach Anerkennung.“ Hamidovic „Mein Problem ist, dass ich keinen Arbeitsvertrag bekomme. Ich habe in vielen Bars gearbeitet, Meiaku „Als ich in Lampedusa landete, fragte niemand

aber meistens schwarz. Ich bin schon außerhalb der

nach meiner Gesundheit. Sie dachten nur daran, meine

Regeln auf die Welt gekommen, denn ich habe keine

Fingerabdrücke zu nehmen. Ich war schockiert. Ich hätte

Geburtsurkunde, weil meine bosnischen Eltern damals

gleich einen Facharzt sehen müssen. Wenn ich 15 Minuten

keine Ausweise hatten. Meine Aufenthaltsgenehmigung

stehe, fange ich am ganzen Leib zu zittern an. Das hängt

ist abgelaufen. Ich kann sie nur verlängern, wenn ich

damit zusammen, dass meine Wunde nicht fachgerecht

eine Anstellung habe. Aber eigentlich ist das ja absurd,

behandelt worden ist. Inzwischen bin ich als Flüchtling

da ich doch in Italien geboren bin.“

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LU I S A BRANDL


Halyna Yurkouska, 55, Ukrainerin, sucht eine neue Stelle als Pflegerin in einer italienischen Familie. Ihr letzter Arbeitgeber hat vor mehr als einem Jahr die Aufenthaltsgenehmigung für sie beantragt, aber Yurkouska wartet noch immer auf das Dokument. Inzwischen ist der Arbeitgeber verstorben und Yurkouska arbeitslos. Als Arbeitslose bekommt sie nur noch eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr anstatt zwei Jahre. Wenn sie innerhalb dieser Frist keine Stelle findet, wird sie aus Italien ausgewiesen. Foto: Giuseppe Carotenuto

Sofonias Meiaku, 28, Eriträer, möchte auf dem Foto nicht erkennbar sein, weil er Repressalien gegen seine Angehörigen in Asmara befürchtet. Seine Familie wird dort wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt. Meiaku ist seit anderthalb Jahren in Italien. Er spricht noch kein Italienisch und kaum Englisch. Eine Dolmetscherin übersetzt für ihn. Bis zur Anerkennung als politischer Flüchtling im Juni 2013 lebte er in einem Auffanglager. Als er seinen Flüchtlingsausweis bekam, wurde er auf die Straße gesetzt. Die Gleichgültigkeit der Italiener, sagt er, schockiere und verletze ihn. Foto: Giuseppe Carotenuto

LU I S A BRANDL

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Margarita Perea Sanchez, 50, Kolumbianerin, hat sich vor neun Jahren in Rom mit einer Änderungsschneiderei selbstständig gemacht. Das Geschäft läuft gut, aber reich wird sie nicht davon. Sie teilt sich eine Zweizimmerwohnung mit ihrem 20-jährigen Sohn und einem alten Mann, der in ihre Haushaltskasse einzahlt: Sie versorgt ihn, er tritt ihr seine Rente ab, so kommen sie über die Runden. Sanchez ist mit ihrem Leben in Italien zufrieden. Sie hätte nie gedacht, sagt sie stolz, dass sie einmal in einem fremden Land eine Schneiderei eröffnen würde. Foto: Isabella de Maddalena

Kemo Hamidovic, 25, Bosnier, ist in einer Roma-Siedlung in Rom aufgewachsen. Als er 15 Jahre alt war, verlangte sein Vater, dass er ein Mädchen aus dem Camp heiratete. Hamidovic weigerte sich und zog drei Jahre später weg. Er jobbte in verschiedenen Bars, doch hatte fast nie einen Arbeitsvertrag. Einen festen Job zu finden, sei heute schwer für die Italiener, sagt er, wer wolle da schon einem Roma helfen? Meistens verschweigt Hamidovic, zu welcher Ethnie er gehört. Foto: Giuseppe Carotenuto

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LU I S A BRANDL


Faktenblock II – Wirtschaftsfaktor Migration Ausländische Arbeitskräfte zahlen mehr in die Staatskasse ein, als der italienische Staat für Zuwanderer ausgibt. Der Gewinn: 1,4 Milliarden Euro allein im Jahr 2011. Ausländische Arbeitnehmer zahlten in dem Jahr 13,3 Milliarden Euro an Steuern und Sozialabgaben – mehr als die 11,9 Milliarden Euro Ausgaben für Notrettung, Erste Hilfe und Auffanglager. Die Hälfte der Migranten kommt aus Europa, die meisten aus Osteuropa. Mehr als zwei Millionen Zuwanderer sind angestellt, das entspricht zehn Prozent der Beschäftigten in Italien. Hinzu kommt eine halbe Million ausländischer Betriebe, das entspricht 7,8 Prozent der niedergelassenen Unternehmen. Sie erwirtschaften einen Mehrwert von sieben Milliarden Euro. Der private Pflegebereich wird fast vollständig von Ausländerinnen abgedeckt. 830 000 Pflegerinnen betreuen eine Million italienischer Rentner. 90 Prozent sind Migrantinnen. Weniger als die Hälfte (38 Prozent) hat einen Arbeitsvertrag. Eine Minderheit (20 Prozent) verdient mehr als 1 000 Euro im Monat. Wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit in Italien sind 2011 insgesamt 32 000 Migranten in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Die Rückwanderung riss ein Loch von 86 Millionen Euro in die Staatskassen.

Meiaku „Nachdem ich aus dem Auffanglager Mineo in

Rente bekomme. Dann ist mein Sohn ausgebildeter Inge-

Sizilien entlassen worden war, kam ich nach Rom. Ich

nieur und wird mich unterstützen.“

schlief am Bahnhof Termini auf einem gefalteten Pappkarton. Eine Äthiopierin hat mich aufgenommen, um mir

Meiaku „Ich besuche an zwei Nachmittagen einen Italie-

zu helfen. Um sie nicht zu stören, gehe ich jeden Morgen

nischkurs bei der katholischen Laienorganisation

um sechs Uhr früh aus dem Haus und stromere durch die

Sant’Egidio. Dort gibt es auch freies Essen und Unter-

Stadt. Frühstück habe ich nie. Mittags frage ich in den

künfte. Sie haben mir einen Platz in einem Vierbettzim-

Restaurants nach Abfällen oder gehe zur Armenspei-

mer in ihrem Männerwohnheim zugesagt. Ich möchte

sung. Wegen der Niere darf ich eigentlich kein Salz zu mir

mich um meine Gesundheit kümmern, die Sprache lernen

nehmen, doch darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.

und Arbeit finden. Mein Traum ist es, eine Familie zu

Ich muss essen, um satt zu werden.“

gründen.“

Yurkouska „Ich verdiente bei Herrn Domenico rund 900

Hamidovic „Ich träume davon, eine eigene Bar zu haben.

Euro im Monat. Davon behielt ich 300 Euro. Den Rest

Ich möchte morgens aufstehen und sehen können, was

schickte ich meinen beiden erwachsenen Kindern und

ich mit meiner Arbeit aufgebaut habe. Ich sehe mich

meiner Mutter nach Lwow. Da ich, ohne angemeldet zu

dann morgens einen Kaffee machen und in mein Ge-

sein, kein eigenes Konto eröffnen konnte, musste ich jedes

schäft fahren.“

Mal eine ukrainische Freundin darum bitten, ihr Konto für eine Überweisung benutzen zu dürfen. Das war um-

Sanchez „Ich bekomme sehr viel Anerkennung, aber das

ständlich. Wenn meine Kinder dringend Geld brauchten,

Geld reicht nicht. Mein Jahresumsatz beträgt 22 000

versteckte ich die Scheine in einem Paket und gab es dem

Euro. Es bleiben mir weniger als 1 000 Euro im Monat zum

Reisebus nach Lwow als Beiladung mit.“

Leben. Die Demokraten von der PD erschienen neulich in meinem Laden und fragten, ob ich in die Politik einstei-

Yurkouska „Die italienischen Familien brauchen Frauen

gen möchte. Na klar, habe ich denen gesagt. Zuerst nehme

wie mich. Ich finde Arbeit, aber oft bieten sie zu wenig

ich die italienische Staatsbürgerschaft an. Dann möchte

Geld an. Ich bin aber zuversichtlich, dass ich eine neue

ich Politikerin werden und mich für Eingliederungshilfen

Stelle finde und auch meine Papiere bekomme. Ich

für Ausländer einsetzen, denn das sind Investitionen in

möchte noch drei Jahre in Italien arbeiten, bis ich meine

die Zukunft Italiens.“

LU I S A BRANDL

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hERMES IS BLEEDING

Hermes – so heißt nicht nur der Schutzgott des Verkehrs und der Reisenden in der griechischen Mythologie, sondern auch die Operation der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, um den Einwandererstrom aus Nordafrika übers Mittelmeer nach Italien zu unterbinden. Die Fotografin Milena Carstens reiste an die Außengrenzen der Festung Europa, um die Abschottung vor den Fremden und die Willkür politischer Grenzen in Bildern festzuhalten. Ein Fotoessay.

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M ILENA CAR S TEN S








FOTO Maria Gapp

Fremdheit ist eine Begabung J O S EPH ZO D ER ER

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Der Schriftsteller Joseph Zoderer ist im Leben und Schreiben zur Fremdheit begabt. Wie kein anderer versteht er es, das Fremde aufzuspüren und in Worte zu fassen. Im Interview mit 39NULL spricht er über Ver- und Entwurzelung, Heimat und Entfremdung und über die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten als existentielle Herausforderung.

Herr Zoderer, Sie bezeichnen sich selbst als „deutschsprachigen Autor mit österreichischer kultureller Prägung mit italienischem Pass“. Ist es Ihnen wichtig, einem Land, einer Nation, einer Kultur anzugehören? Ja, ich möchte nicht identitätslos sein. Wir nehmen unsere Gegenwart leider immer als totales Jetztbewusstsein wahr. Dabei gründet dieses Jetztbewusstsein auf unserer Vergangenheit, unseren Wurzeln. Jemand, der neugierig ist auf die Welt, wird nie seine Wurzeln vergessen, aber er wird von ihnen nicht niedergerafft oder festgehalten. Für mich bedeutet Fremdsein Aufbrechen, Annehmen, Neusein müssen, aber nicht Verzicht auf Wurzeln. Fremdsein ist für mich Herausforderung, Herausforderung durch das Andere, in allen Formen. Sie anzunehmen, musste ich erst lernen, und das war schmerzhaft, aber auch ein angehender Boxer muss zuerst lernen, einzustecken. Das macht ihn stärker, so wie mich das Heimweh, an dem ich schon als elfjähriger Internatsschüler litt, stärker gemacht hat. Fremdsein ist für mich zu einer existentiellen Grunderfahrung geworden, sie ermöglichte es mir, viele Heimaten zu haben. 1939 optierte Ihr Vater für das Deutsche Reich, die Familie verließ Südtirol und zog nach Graz. Sie waren damals vier Jahre alt. Wie erlebten Sie die Zeit in der neuen, fremden Heimat? Meine Eltern waren damals im Grunde Wirtschaftsflüchtlinge. Wir hatten nichts in Südtirol, keinen Hof, keinen Betrieb, und so mussten wir gehen, nicht die Bauern, nicht die Grundbesitzer, nicht die Propagandisten, nicht die Advokaten, sondern die kleinen Beamten, die Angestellten oder, wie mein Vater, die Arbeitslosen. Ich erinnere mich, dass ich als Kind auf einer Matratze auf dem nackten Erdboden schlief, in einem alten Bauernhaus, in dem wir eingemietet waren, und dass mein Vater die alten Möbel zertrümmerte, weil wir Brennholz benötigten. Wir waren wahrscheinlich eine der Familien, die im Januar 1940 in den ersten Zugwaggons wegkamen. Die erste Station war Innsbruck, in einer Kirche auf der Maria-Theresien-Straße waren Matratzen ausgelegt. Die Eltern mussten sich darum kümmern, wie es weiterging, für mich aber hatte ein Abenteuer begonnen. Ich war ein sorgloses, furchtloses Kind. Sogar, als die Engländer 1943 mit den Bombenangriffen auf Graz, wo wir gestrandet waren, begannen, hatte ich keine Angst. Ich lauschte darauf, wie es krachte, war neugierig und wollte nach draußen, kaum dass es vorbei war. Ich habe Leichen gesehen, wie sie abgepackt in Bündeln da auf dem

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„Es gibt die Fremdheit der Liebe, selbst in der tiefsten, innigsten Verbundenheit, diese Momente, in denen man einander nicht mehr versteht.“ Boden lagen, hie und da hing ein Oberschenkel raus, aber

York gewachsen. Ich reiß mir sozusagen die Brust auf und

das war seltsamerweise kein Albtraum für mich. Ich habe

sag: Schau mir in mein Herz, wir sind alle gleich schwach,

diese Kriegszeit als erste Fremdheit erlebt, ohne sie be-

ich bin ein genauso armer Scheißer wie du.

wusst wahrzunehmen. Es war die Zeit, in der ich begonnen hatte, in der Fremde Heimaten zu gewinnen. 1949

Die Figur Jul im Roman Der Schmerz der Gewöhnung

sind meine Eltern wieder nach Südtirol zurückgekehrt,

beschreibt sich selbst als „einheimischer Fremder“.

ich hingegen bin in ein Schweizer Internat gekommen.

Inwiefern trifft das auch auf Sie zu?

Das war nicht einfach, denn ich war nicht nur das Kind von Kriegsverlierern, ich musste auch die Anschuldigun-

Ich bin nun seit mehr als vierzig Jahren Mitbesitzer eines

gen von den braven Schweizer Bürgersöhnen ertragen:

Bergbauernhofs hier im Pustertal, lebe aber als Stadt-

„Ihr Östricher, ihr Nazis, Heil Hitler.“ Ich fühlte mich wie

mensch, als Lebenswanderer zwischen den Welten und

der einzige Fremde, ich verstand noch nicht mal ihre

komme nur sonntags herauf. Ich gehe selten in die Kirche,

Sprache.

bin in keinem Verein, singe nicht im Chor. Hier im Dorf haben wir wie überall in Südtirol ein sehr enggestricktes,

Wie wichtig sind Zugehörigkeiten, um sich in der Ge-

gut funktionierendes soziales Netz. Für die Mehrheit ist

sellschaft zurechtzufinden? Wie viel „Heimat“ braucht

das wunderbar, aber ich will mich dem nicht unterwerfen,

der Mensch?

und deshalb bin ich in ihren Augen ein Fremder. Es gibt verschiedene Schattierungen von Fremdheit: die Fremd-

Wir kommen als Fremde auf die Welt. Der erste Schrei,

heit aufgrund von Entfernung, aber auch jene Fremdheit,

den wir tun, ist ein Schmerzensschrei. Es fällt uns schwer,

die aufgrund von Nähe entsteht, nämlich die Fremdheit

den Bauch der Mutter, dieses Nest, diese Heimeligkeit zu

der Liebe, selbst in der tiefsten, innigsten Verbundenheit,

verlassen. Und viele versuchen, an diesem Gefühl der

diese Momente, in denen man einander nicht mehr ver-

Behütetheit festzuhalten. Darauf gründen auch die

steht, nicht mehr versteht, warum man mit dem geliebten

Stammtische: auf dem Bedürfnis, sich in eine Ecke zu

Menschen hautnah herumliegt. Das ist ein Ausdruck der

kuscheln, mit den vertrauten Blicken, Gesten, Schelme-

Erschöpfung, einer nicht ungefährlichen Fremdheit – da

reien und Gewohnheiten. Alles, was von außen kommt,

kann vieles kaputtgehen. Wir brauchen immer wieder Kraft

wird als Bedrohung wahrgenommen. Wir sind zwar keine

und Mut zur Nähe, wir kommen ja nicht in Gemeinschaft

Bauerngesellschaft mehr, doch mehrheitlich sind wir in-

zur Welt, sondern immer einzeln. Vielleicht fürchten wir uns

nerlich Bauern und Bäuerinnen geblieben und reagieren

deshalb vor zu viel Nähe. Noch viel erstaunlicher ist jedoch

immer gleich: in der Ecke sitzen bleiben und bloß nichts

das Fremde in uns selbst. Wir verdrängen es, das Andere in

offenlegen, nicht zu viel sagen, weil jedes Wort zu viel ist

uns, das plötzlich auftaucht, etwas ganz Dunkles. Ich habe

mehr als zu viel. Ich hingegen bin als Straßenbub in Graz

zehn Jahre lang als Gerichtsreporter in Wien gearbeitet,

und als Weltneugieriger zwischen Meran, Wien und New

und dabei habe ich Entsetzliches gesehen und gehört.

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Doch das Erste, das die Angeklagten bei Mordprozessen

Das ist ein längst fälliger Schock für Europa. Was haben

über ihre Opfer sagten, war: „Es war der beste Mensch,

wir immer getönt, wir sind alle Brüder, was haben wir

es war das Paradies, es waren die schönsten Jahre mei-

Beethovens 9. gesungen (Beethovens Sinfonie „An die

nes Lebens.“ Wie kann man dann zum Messer greifen? In

Freude“ steht für die europäischen Werte Freiheit, Frie-

uns allen steckt ein virulenter, gefährlicher Stolz, der je-

den und Solidarität sowie für die Einheit Europas in der

derzeit ausbrechen kann; ob in der U-Bahn oder um vier

Vielfalt. Anmk. des Redakteurs), aber nie war diese Hym-

Uhr morgens, wenn du in deinem Innersten aufgestört

ne verlogener als heute. Wir verbarrikadieren uns noch

und unerträglich verletzt bist, kann es passieren, dass

immer hinter der gegenseitigen Absicherung am Stamm-

die Hölle in dir losbricht. Und du hast immer gemeint, du

tisch: Du kennst den Noggler, du kennst den Maier, hier

bist Pazifist, du bist Grüner, du liebst sogar Kanarienvö-

kennen wir einander und jeden, hier sind wir sicher, des-

gel und nicht nur Schäferhunde, und trotzdem, plötzlich

halb bauen wir Stacheldrahtzäune und Mauern auf.

bist du es, der nach dem Küchenmesser greift … Sie haben einmal gesagt, dass es „keine Fremdheit ohne ein Zuhause“ gibt. Was genau meinen Sie damit? Anders gesagt: Ich kenne keine Fremdheit ohne Wurzeln. Die Fremdheit ist überall, mit uns und in uns, es gibt sie in vielen Formen, aber in erster Linie ist Fremdheit eine Be-

„Ich reiß mir sozusagen die Brust auf und sag: Schau mir in mein Herz, wir sind alle gleich schwach, ich bin ein genauso armer Scheißer wie du.“

wusstseinsangelegenheit, ich würde sogar sagen,

Dieser Egoismus ist tief in uns verwurzelt, dieser Trieb,

Fremdheit ist eine Begabung. Nicht jeder Mensch ist be-

nur zwei, drei Gesichter multipliziert mit maximal zehn

gabt zur Fremdheit. Aber ich möchte nie auf sie verzichten,

als Heimat zu dulden, dass man alles andere ausgrenzt

das hat mit meiner Würde, meiner Individualität zu tun,

und in Gedanken niederschießt. Im Grunde schreit es in

ich will die Würde des Total-Bewusstseins, auch um den

mir jeden Tag, die Situation selbst schreit danach, dass

Preis des Leidens. Ich lasse mich nach meinem Tod auch

wir nicht länger hinter der Glaswand sitzen bleiben, son-

nicht einäschern, nein, ich will von den Würmern zerfres-

dern auf die Straße gehen, uns solidarisieren sollten.

sen werden, ich bin von der Erde, ich komme zur Erde. Es geht mir, in all meinen Büchern, immer um die Auseinan-

Glauben Sie, dass das Gefühl von „Heimat“, von Sicher-

dersetzung mit der eigenen Existenz. Es geht mir um das

heit und Wohlstand von der Politik oftmals instrumen-

Geheimnis, um das Irrationale. Man darf sich widerspre-

talisiert wird zum Zweck des Machterhalts?

chen, man soll sich widersprechen. Man soll doch Mensch sein können. Wenn er nicht zu Gewalt führt, tole-

Natürlich. Hier in Südtirol reden wir noch immer von einer

riere ich jeden Widerspruch.

Sammelpartei, doch im Grunde ist das ein einziges Lügenpaket. Wer von der Südtiroler Volskpartei geht denn zu

Vor allem in der Figur des Flüchtlings tritt der Fremde in

sozialistischen oder sozialdemokratischen Kongressen?

Erscheinung und dient den Rechtspopulisten als Sün-

In Wirklichkeit ist in der SVP die Wirtschaft vertreten und

denbock für die anhaltende wirtschaftliche und soziale

das, was von der Bauernwirtschaft übrig geblieben ist. Es

Krise in Europa. Die medialen Bilder von überfüllten

sitzen dort nur eine Handvoll Menschen, die das Land

Flüchtlingsbooten sollen in dramatisierender Weise

schon immer besessen haben, ob es nun Bauern oder

die Masseneinwanderung zeigen, uns vor Überfrem-

Hoteliers oder Industrielle sind. Wir leben heute in einer

dung warnen. Dabei nimmt Europa nur einen Bruchteil

Verschleierungsgesellschaft, und es ist nur eine kleine

der Flüchtlinge weltweit auf, die meisten werden vor

Minderheit, die intelligent genug ist, das zu durchschauen,

der Grenze abgewiesen oder bekommen kein Asyl, ob-

die Mehrheit applaudiert den Mächtigen. Fast immer

wohl sie mehrheitlich politisch Verfolgte oder Kriegs-

sind das die Populisten. Früher waren das die Nazis, in

flüchtlinge sind.

Italien die Faschisten, jetzt haben wir die sogenannten

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Freiheitlichen und die Südtiroler Freiheit. Als ob eine Eva

steht alles, was wir zum Verstehen unseres Existenz-

Klotz wüsste, was Freiheit ist, als ob Freiheit für Südtirol

abenteuers brauchen, alles über Liebe und Tod; aus der

darin bestünde, sich Österreich anzuschließen, das

Literatur lernen wir von früher Jugend an die Kunst des

nichts von uns wissen will, oder sich als Freistaat unab-

Verstehens, das Hinterfragen des Lebenssinns. Aber

hängig zu machen. Wir würden sofort aus der Eurozone

auch alle anderen Kunstformen, wie die Musik, die

fliegen und müssten Jahrzehnte darum kämpfen, wieder

Schönheiten und Provokationen der darstellenden

aufgenommen zu werden, und währenddessen wären wir

Kunst, retten uns vor geistiger Blindheit und Stumpfsinn.

längst ausgeblutet.

Ich hoffe, dass unser jüngster Kulturlandesrat viel gelesen hat, von Tolstoi und Goethe und von Hemingway bis

„Ignoranz kann uns zu Barbaren machen, empfänglich für den Lockruf der Populisten.“

Anita Pichler. Wer wenig Lesekultur hat, dem fehlt, fürchte ich, ein Weltbewusstsein aus Vergangenheit und Gegenwart; woher soll er Visionen zaubern? Das Wichtigste, was wir in diesem Land brauchen, ist die Kultur, will sagen: Verantwortungssinn für die Werte unserer Geschichte und Aufgeschlossenheit für das Neue, das uns naturgemäß immer fremd ist.

Das Interview führten Martina Wunderer und Martin Santner

Fürchten Sie sich vor dem Vormarsch der Rechtspopulisten, der überall in Europa zu beobachten ist? Sicher, weil ihre Strategie so einfach wie erfolgreich ist: die Menschen mit falschen Versprechen einlullen. Das war immer schon so. Und die Mehrheit der Leute lässt sich von diesem Populismus gerne gängeln. Das liegt auch am Niedergang der Lesekultur im Zuge der rapiden Digitalisierung. Auch wenn du heute digital noch so vernetzt und up to date bist, bist du noch lange nicht gebildet. Dann bist du ein reiner Abruftechniker. Bildung und Kultur müssen wachsen, sie lassen sich nicht ersetzen durch per Mausklick abrufbares Wissen. Und Ignoranz kann uns zu Barbaren machen, empfänglich für den Lockruf der Populisten. Könnte uns die Kultur retten? Was denn, wenn nicht Kultur! Kultur ist das Beste der Vergangenheit und das geistige Erdreich, aus dem unsere Zukunft wächst. In literarisch hochwertigen Büchern

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