Der Adel und vergleichbaren traditionelle Eliten in den Ansprachen von Papst Pius XII

Page 1

. t V,"·-~ I
cy }(• , /rt(, 7. ,-/..,ll. 1 7 /' l/l .!/-'/;7ZZ,l c l <f? a.f'ti't~-a ,1;·, rJ/ 11°,,t?:,7,r1/11t1/-c:, , _. ' r" c''/',~ / ( 1 -/////, ·, l ,7t,. /1 t;(_., ,I Ct/t-ce e- ,,/· o/~,7 tlt . C.~1,• ,,, ler, ,/l,' ,,_, ,,~ '..- <r ;,//,., ,J:7;/1~-.7,,,z..,_; '

Der Ade( und die ver9Ceicli6aren traditione[en Eliten

in druAnspradien von Papst Pius XII. an das Patriziat und an den Ade( von Rom

Plinio Correa de Oliveira

Der Ade( und die ver9feidi6aren traditioneUen E(iten

in den.Ansprachen von Papst Pius XII. an das Patriziat wuf an den.Ade[ von Rom

ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT ZUM SCHUTZ VON TRADITION , FAMILIE UND PRIVATEIGENTUM - TFP

Um sc hlagbild:

Papst P ius XI I. im Petersdom a uf de r Sed ia gesta tor ia (Tragsessel) u m gebe n von der Nobe lgarde und k irc h lich en Wü rden träge rn

B ild Se ite 2 :

Der Vati kan - d ie Basi lika in de r Dä m meru ng, im Vo rdergrund d ie Brüc ke Sa ni ' Angelo ü ber den Tibe r

Bild S e ite 8 :

Dam asus- Hof im Aposto l ischen Palast, e in j u nger Re kru t d er Sch w e ize r Ga rde sc h wört am 6. Mai 1992 nach al tem Zere mo n ie ll dem Pa pst die Treue

• Der Autor hat für alle in d iese m Buch z itierten Tex te die Verantwortung übernommen.

• Die Hervorheb u ngen de r kurs iv- ode r fe tt ged ruck ten Stellen in d e n Zitaten stammen vom A utor.

He ra usgeb e r:

Österreich ische Gese llschaft zu m Sc h utz vo n Tradi tion. Fa m il ie u nd

Pri vate igen tu m - TF P

Wohllcbcngassc 6 EG - 1040 Wien Tel.: 5038238 - Fax: 5038238-12 o ffi ce@ tfp.at www.tfp.at

ISBN 978- 3-9501846- 1-7

Tite l de r po rtu g ie sische n Orig in a l ausga be : Nobreza e e li tcs trad icion ais a nalogas nas a loc uc;;öes de Pio X II ao Patriciado c ä Nob rcza rom ana.

Übe rse tz ung : Alfred J oseph Ke ll er

Dieses Werk w u rde 1993 a uch in Ita lien isch, Spanisch und Englisc h herausgege ben.

G es ta ltun g: Felipe Barandiaran

Dr u c k und Bi ndun g: Co m panhia Editora do Min ho. S.A Barcelos - Portugal

Jofiannes Paul II. 1978 nacfi seiner WaJil zum Nacfifo~er vonJofiannes Paul I.

Sein offizieUer Titel lautet: Biscftof von Rom

Ste[vertreterJesu Cfuisti

Nacfifo~er des Apostelfürsten

06erliaupt der universalen Kirche Patriarcfi des .A.6endLuu!es

Primas von Italien

Erzfiiscfiof wuf Metropolit der Kirchenprovinz Rom

Souverän des Staates der Vatifumstaat

Diener der Diener Gottes

Der rteU9ewälifte Papst erteilt der Stadt Rom wuf der Welt seinen Segen „Ur6i et Or6i"

Inhaltsverzeichnis

' ) t\n den Leser

I S Vorwort des Prinzen

219 Anhang III

Regierungsformen im Lichte der Luiz von Orleans und Braganza kirch lichen Soziallehre: Theor ie und Praxis

TEIL 1

247 Anhang IV

Die Aristokratie im Denken e in es um st r ittenen, jedoch unbedenk lichen

2 7 Kapitel I Kardinals des 20. Jahrhunderts

Beseitigung von Vorbehalten

II 1 Kapitel II TEIL III

D ie universelle Reichweite der Dokumente I Ansprachen von Papst Pius X II. an das

261 Patriziat und an d e n Ade l von Rom

II 9 Kapitel III

Ansprachen von Papst Pius XII. an da s Patriziat und an den römi sc hen A del

287 Dokumente II

Vo lk und Masse - Freiheit und G leichheit: ursprüngliche Begriffe und Ansprache Benedikts XV. an das revo lutionäre Begriffe in einem Patriziat und an den römisch e n Ade l vom demokratischen Regie rungssystem

5 .5 Kapitel IV

5. Januar 1920

291 Dokumente III

Der Adel in einer christlichen Spezielle Verpflichtungen der Gese llschaft Gesellschaft -Die Fortdauer seines dem verarmten Ade l gegenüber Auftrages und seines Prestiges in der 293 Dokumente IV

heutigen Welt Ade l ige Herkunft, ei ne we11vo lle

75 Kapitel V Gabe Gotte s

E l iten, natür liche Ordnung, Familie

299 Dokumente V und Tradition, Ar istokratische Die kirchliche Lehre über die sozialen Institutionen in den Demokratien Unterschiede

91 Kapitel VI

309 Dokumente VI

Relevantes Zusammenwirken des Adels Die unentbehrliche Harmonie zwischen und der tradition e llen E li ten zur Lösung wahrer Tradi tion und wahrem Fortschritt der Krise unserer Tage

313 Dokumente VII

107 Kapitel VII Das alte Rom - ein aus de r Entstehung des Adels, seine Sendung in pat r iarchalischen Gesellschaft der Vergangenheit und in unseren Tagen hervorgegangener Staat

157 Abschluß

319 Dokumente VIII

Auf dem Gipfel der re lig iö se n , De r Feudalismus is t das Werk der s ittlichen und id e o logischen Krise mittelalterlichen Fami lien der heutigen We lt: für den Adel

321 Dokumente IX und die tradi t ione llen Eliten ein

Der fami l iäre Charakter der feudalen gee ignet e r Mom e nt zum Hande ln Re g ie r un gs form -d e r Kön ig a ls Vater

TEIL II

323 seines Volkes Dokumente X

165 Anhang I

Der väterliche Charakter der Ents tehung , Entwicklung und tradition e llen Monarchie

Niedergang des "Landade ls"

325 Dokumente XI

in Brasilien in der Ko lonialzeit, im Was Päpste , Heil ige , Kirchenle hre r und Kaiserreich und in der Rep ublik Theologen über die Zulässigkei t des

209 Anhang II Krieges denken

D ie revolutionäre Dre ihe it

329 Dokumente XII

Ist es unvereinbar mit der Heiligkeit, in den Äußerung e n adelig zu sein und das Leben eines verschiedener Päpste Adeligen z u führen?

"Freihei t, Gleichheit, Brüde r lichkeit"

' .. (i} , .. '& , ~ ,. r, 1 ..

ERKLÄRUNG

A ls dieses Buch zum ersten Mal dem Publikum präsentiert wurde , erklang in europäischen Ohren noch der Ausdruck „vorrangige Option für die Armen". Schon während der Zweiten Lateinamerikan ischen Bischofskonferenz im kolumbianischen Medellfn (1968) in Umlauf gebracht, wurde dieser Ausspruch in der Schlußerklärung der Dritten Lateinamer ikanischen Bischofskonferenz in Puebla, Mexiko (1979) wieder verwendet und später dann auch von Papst Johannes Paul II. im laufe der ersten Jahre seines Pontifikates ge legentlich benutzt.

Der falsche Gebrauch dieser Ausdrucksweise durch die "Befreiungstheologen" brachte diese Redewendung in Verruf, und deshalb ist sie heute fast in Vergessenheit geraten. Die „ Befreiungstheologie " hat dem Ausspruch zugunsten des Klassenkampfes eine marx istische Auslegung angeheftet. Es ist daher angebracht, in diese deutsche Ausgabe den untenstehenden Text einzufügen, in dem der Verfasser diese marxistische Auslegung widerlegt. Er zeigt das Gegenteil auf, nämlich , daß die Kirche das harmon ische, christliche Zusammenleben aller gesellschaftlichen Klassen begünstigt.

Vorra119i9e Option ....

Vorrangige Option für die Adeligen: Auf den ersten Blick löst dieser Ausdruck vielleicht Überraschung aus, hat man sich doch an die von Papst Johannes Paul II . benutzte Formel der "vorrangigen Option für die Armen " gewöhnt. In dem vorliegenden Buch geht es jedoch tatsächlich um eine vorrangige Option für die Adeligen.

Dem könnte man natürlich entgegenhalten, daß ein Adeliger ex natura rerum wenigstens über gute Beziehungen, Einfluß und Wohlstand verfügt, so daß ihm reichlich Mittel zur Verfügung stehen dürften, sich aus einer mißlichen Lage zu befreien, in die er unter Umständen geraten sein mag. Die Vorsehung hat also in seinem Falle bereits eine vorrangige Option für ihn getroffen, denn sie hat ihm all das gegeben, was er braucht, um aus seinen Schwierigkeiten herauszukommen.

Für den Armen aber gilt genau das Gegenteil. Er verfügt weder über Einfluß noch über nützliche Beziehungen, und oftmals fehlen ihm die Mittel, die notwendig wären, um dem Übel abzuhelfen. Daher ist eine vorrangige Option, die wenigstens der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse entgegenkommt, durchaus als eine Frage der Gerechtigkeit anzusehen .

Eine vorrangige Option für die Adeligen muß also den Armen gegenüber fast wie Hohn klingen.

In Wirklichkeit rechtfertigt sich aber dieser Gegensatz von Adeligen und Armen immer weniger, wenn man bedenkt, daß die Zahl der in Armut lebenden Adeligen immer mehr zunimmt. Auf diese Tatsache weist übrigens auch Papst Pius XII. in seinen Ansprachen an die Patrizier und an den Adel von Rom hin. Nun befindet sich aber der arme Adelige in einer noch schlimmeren Lage als der nichtadelige Arme, weil letzterer allein schon wegen der Beschränktheit seiner Verhältnisse bei seinen Mitmenschen den Sinn für Gerechtigkeit und ihren Großmut wecken und in Bewegung setzen kann und sollte.

Dagegen hat der Adelige allein schon, weil er adelig ist, Grund genug, nicht um Unterstützung zu bitten. Er wird es vorziehen, seinen Namen und seine Herkunft zu verheimlichen, wenn er schon nicht verhindern kann, daß seine Armut offenbar wird. Früher sprach man in diesem Zusammenhang ausdrucksstark von "verschämter Armut".

Die Befriedigung der Bedürfnisse dieser Art von Adeligen, wie übrigens der Verarmten einer jeden Gesellschaftsschicht, erregte in früheren Zeiten besondere Aufmerksamkeit, und die christliche Nächstenliebe fand tausend Wege, die Not der verschämten Armen zu lindern und ihnen die nötige Hilfe zukommen zu lassen, ohne daß sie sich deshalb in ihrer Würde gekränkt fühlen mußten. 1

Es ist aber nicht nur der an materiellen Gütern Arme, der eine vorrangige Option verdient ; diese steht vielmehr auch denen zu, die auf Grund ihrer Lebensumstände besonders schwere Aufgaben zu erfüllen haben und die daher bei der Erfüllung dieser Pflichten auch größere Verantwortung für die Erbauung der Gesellschaft tragen; andererseits ist das Ärgernis zu berücksichtigen, das die Verletzung dieser Pflichten für die Gesamtheit mit sich bringen kann.

In dieser Lage befinden sich heute oft Mitglieder des Adels, wie das vorliegende Werk zeigen wird. 2

.
...
1'--7
was ist ~.
1) Vgl. Do kum e nte III. 2) Vgl. Kapitel 1, 1 und 3; Kapitel II, 1; Kap ite l IV,9 und 10, Kapitel V II ,8

Die vorrangige Option für die Adeligen und die vorrangige Option für die Armen schließen einander keineswegs aus, und nach den Worten Papst Johannes Pauls II. stehen sie auch nicht im Kampf gegeneinander: "Ja, die Kirche entscheidet sich vorrangig für die Armen. Es handelt sich aber wohlgemerkt um eine vorrangige, nic ht um eine ausschließliche oder gar ausschließende Option, denn die Botschaft von der Erlösung richtet sich an alle . "

Beide Optionen sind Ausdruck des christlichen Gerechtigkeitsgefühls und der Nächstenliebe. Im Dienste desselben Herrn Jesus Christus müssen sie zueinander finden, war dieser doch das Vorbild für Adelige und Arme, wie uns die römischen Päpste mit Nachdruck lehren. 2

Mögen diese Worte jenen zur Aufklärung dienen, die im Geiste eines derzeit wohl kaum vertretbaren Klassenkampfes glauben, daß die Beziehungen zwischen Adeligen und Armen unbedingt feindseliger Natur sein müssen. Diese irrige Auslegung hat bei vielen dazu geführt, daß der von Papst Johannes Paul II. gebrauchte Ausdruck vorrangige Option im Sinne einer ausschließlichen Bevorzugung verstanden wird. Eine derart leidenschaftliche, einseitige Auslegung entbehrt jeder Grundlage. Man kann gleichzeitig und mit unterschiedlicher Intensität verschiedenen Dingen den Vorzug geben. Selbstverständlich muß die Bevorzugung des einen nicht notwendigerweise den Ausschluß des andern bedeuten.

1
5,
1.
1) "Ad Pat res Ca rd ina le s e t C uriae Pontificalisque Domus Pre latos, imminente Nati v ita te Domini coram adm isso s",
2 1.1
2. 19 84, Acta Apostolicae Sedis , Ty pi s Po lyg lottis Vat ica ni
s, 1985, Bd. LXXV II , Nr.
S. 51
2) Vg l. Kapitel IV, 8; Ka pite l V, 6; Do k um e nte IV.

ANDEN LESER

Wir möchten hier ein Wort zum Inhalt dieses Buches sagen, das im Bemühen um e ine angebrachte Darstellung so erhabener , anregender Themen geschrieben wurde, und in dem der Leser ohne Schwierigkeit die woh lb ekannte, mit Bewunderung gepaarte Zuneigung des Verfassers zur deutschsprachigen Völkergemeinschaft feststellen wird, der anzugehören von jedem Mitglied zu Recht als eine Ehre angese hen wird.

Eine Zusammenstellung von Auszügen aus den wichtigen An sprachen vo n Paps t Pius XII. an das Patriziat und an d e n Adel von Rom wurde in der Zeit von Februar b is April 1956 in der angese henen brasilianischen Kulturzeitschrift Catolicismo veröffen tlicht. Dabei wurden die päpstlichen Texte von dem bedeutendsten Mitarbeiter dieser Zeitschrift, Prof. Plinio Correa de Oliveira, kommentiert.

In seinen Kommentaren stellt der Auto r nicht nur se ine reiche Kultur und seinen außergewöhnlichen Scharfsinn unter Beweis, sondern bekräftigt auch d ie Unabhängigkeit seines Standpunktes. Da er Wert darauflegte , di e Texte s inngemäß und getreu zu kommentieren, hat er es nicht gescheut, den im Westen weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber dem Adel entgegenzutreten. Seine Haltung wurde - und wird - denn auch a ls "Bi ldersturm" gegen die gleichmacherischen Prinzipien der Französischen R evolution von 1789 und der kommunistischen Revolution von 19 17 angesehen, gegen Prinzipien a lso , di e von zah lreic h en Zeitgenossen in deutschsprachi ge n Lände rn und in der ganzen Welt geradezu abgöttisch verehrt werden.

Die Sammlung der von Prof. Plinio Com~a de Oli ve ira in der Zeitschrift Catolicismo kommentierte n Reden an da s Patri z iat und an den Adel von Rom umfaßt die von Papst Pius XII . bis dahin gehaltenen Ansprac h e n. Später hat der Verfasser für die vor li egende Arbeit weitere Kommentare z u den von Papst Pius XII. im Jahre 1955 ge haltenen Ansprachen verfaßt, in d e n e n sich der Papst an dieselbe noble Zuhörerschaft richtet.

Der Verfasser hat dem Wunsch vie ler Leser, darüber e in Buch zu schreiben, gern entsprochen und zudem angesichts der veränderten Weltlage notwendig gewordene Ergänzungen bzw. Aktua li sieru n gen vo rgenomm e n. Außerdem hat er besc hlos sen, in seine Arb e it auch Auszüge aus Ansprachen der Päpste Johannes XXIII. und Paul VI. z um gleichen Thema einzubeziehen. In den offizie ll en Veröffentlichungen des Vatikans finden sich indes kein e rlei Hinweise auf Verlautbarungen des Paps tes Johannes Pauls II. z u diesem Themenkrei s

Das in den vierzehn Ansprachen von Papst Pius XII. deutlich zum Ausdruck kommende Interesse an dieser Materie hat in Prof. Correa de Oliveira den Wunsch geweckt, auch die Stellungnahmen seiner Nachfolger bzw. seiner Vorgänger zu diesem Thema zu studieren.

Leider konnte er seine Untersuchungen nicht bis zum ruhmreichen Pontifikat des heiligen Petrus ausdehnen. Es ist wohl einzusehen, daß sich der Verfasser auf eine bestimmte Geschichtsperiode beschränken mußte.

Deshalb entschloß sich der Verfasser, nur bis zu Papst Pius IX. zurückzugehen, dessen verdientermaßen berühmtes Pontifikat von 1846 bis 1878 dauerte. Dieser Papst ist der erste in einer Reihe von Päpsten, die als "zeitgenössisch" gelten und die Heilige Kirche in Zeiten regierten, in denen die von der Französischen Revolution mehr oder weniger unmittelbar ausgelösten Erschütterungen abzuklingen begannen.

Tatsächlich läßt das aufmerksame Studium all dieser Verlautbarungen der Vorgänger und Nachfolger Papst Pius' XII. erkennen, daß nur dieser sich mit dem Thema methodisch auseinandergesetzt und damit das Wesen des Adels sowie seine Mission in der Vergangenheit und in seiner eigenen Zeit dargelegt hat. Im Grunde gilt die von ihm beschriebene Mission bis heute.

Der Verfasser hielt es daher für angebracht, den Lesern eine vollständige Übersetzung der genannten Ansprachen von Papst Pius XII. an das Patriziat und an den Adel von Rom vorzulegen.

Das hier behandelte Thema findet außerdem auch in den Ansprachen von Papst Pius XII. und seiner Nachfolger an die Päpstliche Nobelgarde Erwähnung. Da diese Ansprachen jedoch für den Inhalt dieses Buches von geringem Interesse sind, werden diese Texte nicht in vollem Umfang wiedergegeben, sondern es wird im Verlauf der Abhandlungen lediglich auf einige Stellen darin verwiesen.

Das Gleiche geschieht mit anderen Dokumenten, die diese Angelegenheit nur nebenbei berühren. Bei einem dieser Dokumente wurde allerdings eine Ausnahme gemacht: Es handelt sich um die Ansprache Benedikts XV. an das Patriziat und an den Adel von Rom vom 5. Januar 1920; auch diese ist vollständig wiedergegeben.

Da die Ansprachen des Papstes zum Dank und als Erwiderung auf die ihm vom Patriziat und vom Adel Roms jeweils zum Jahreswechsel dargebrachten Glückwünsche gehalten wurden, erwies sich eine gewisse thematische Wiederholung als unvermeidlich. Diesen Nachteil wußte Papst Pius XII. dadurch auszugleichen, daß er immer wieder neue Gesichtspunkte zur Sprache brachte und damit das Thema in seiner ganzen Reichweite und bis in seine tiefsten Gründe ausleuchtete. Der Leser kann dies leicht erkennen, wenn er sich die Mühe nimmt, die Texte, die ihm auf den ersten Blick identisch scheinen, gegenüberzustellen.

Außerdem sollte bei der Lektüre der Texte darauf geachtet werden, daß die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine Reihe weiterer Themen gelenkt wird, die mit dem Inhalt dieser Arbeit in Verbindung stehen. So etwa auf

- die organische Entstehung traditioneller, dem Adel entsprechender Eliten;

- die revolutionären Schlagworte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, diewie sie durch die Französische Revolution auf der ganzen Welt verbreitet wurden - im Gegensatz zu den entsprechenden Begriffen der katholischen Lehre stehen;

- die katholische Lehre von den Regierungsformen: Monarchie, Aristokratie und Demokratie;

- die Unentbehrlichkeit des Adels in einer echt katholischen Gesellschaftsordnung.

10 ANDEN LESER

Diese und andere Themen ringen sich gleich einem Kranz um das Hauptthema des Buches. So wird etwa auch die soziale Funktion des Adels und der traditionellen Eliten in e iner zeitgenössischen Gesellschaft angesprochen. Auch dazu haben sich Päpste, Heilige und Kirchenlehrer zu verschiedenen Epochen geäußert. In dem Bestreben , dem natürlichen Wunsch des Lesers nach einer Bereicherung seiner Kenntnisse auf diesem Gebiet nachzukommen, hat der Verfasser des Buches weitere Ergänzungen hinzugefügt, die nicht nur eine Sammlung aussagekräftiger Dokumente zum Thema beisteuern, sondern auch auf Gesichtspunkte und auf Überlegungen eingehen, welche die an sich schon reichen Kommentare, die im Jahre 1956 in der Zeitschrift Catolicismo veröffentlicht wurden, noch erweitern.

In der festen Überzeugung, damit dem Wunsche vieler deutschsprachiger Leser nach genauerer Kenntnis der Probleme des Adels und vergleichbarer traditioneller Eliten z u entsprechen, übergeben wir die vorliegende Arbeit den deutschsprachigen Lesern.

Am 15. August 2008 , Fest Maria Himmelfahrt Österreichische Gesellschaft zum Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum - TFP

AN DEN LESER 11

Plinio Correa de Oliveira, ein Mann des Glaubens, des Denl{ens, des Streitens und der Tat

P li nio Correa de Olive ira wur de im Jahre 1908 in Sao Paul o geboren, wo er 1995 verstarb.

Seine Eltern s tammten aus alten, trad ition e llen Familien des Bundesstaates PernambucoHeimat der Vorfahren seines Vaters, des Recht sanwa lts Joao Paulo Correa de O l iveira - un d des w ichtigsten bras ili anischen Bundesstaates, Sao Paulo - He imat sei n er Mutter, Dona Lucilia R ibeiro dos Santos Correa de Oliveira.

Nachdem er in se iner Geburtsstadt am Colegio Sao Luiz das Gymnasium absolviert hatte, schloß er 1930 a n der berühmten Rechtsfakultät von Sao Paulo da s Studium der Rechts- und Gese ll sch aftsw issenschaften ab.

Von Jugend auf ga lt sei n b eso nderes Interesse der philosophischen und religiösen Ana lyse der Krisen un se rer Zeit.

Im Jahre 1928 trat er der damals blühenden Jugendbewegung der Mruianischen Kongregation in Sao Paulo bei. Bald schon sollte er dank seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten a ls Redner, Referent und Mann der Tat z um wichtigsten Leiter dieser Bewegung in ganz Brasilien werden.

Aktiv beteiligte e r sich 1933 a n der Organisation de r Katholi sc hen Wähler li ga (LEC), über die er damals a ls jüngs ter A bgeordneter un d mit der größten Stimmenzahl in den Congresso Nac iona l gewählt wurde. Im Parlament entw ickelte er sich schn e ll z u e in em der wichti gste n Sprech er der katholisc h en Fraktion.

Nac h Ablauf des Mandats widmete er s ich der Hoch sc hullehre Er übernahm den Lehr-

stuhl fü r Ku lturgeschicht e am H oc h s chulkolleg d er Fakultät für Rechtswissenschaften a n d er Universität Sao P au lo und wu rd e s päte r Ordinarius für die Gesch ichte der Neu ze it und der Gege nwart an de r Faku ltät fü r Philoso phie und Wissensc haften Sao B ento und Sedes Sapientiae, der Kath o li sc hen Uni ve rs ität vo n Sao Pa ul o.

Plin io Co rrea de Olive ira war de r e rste Vorsitzend e des Vorstande s der Kathol ischen Aktion im Erzb istum Sao Paulo sow ie Le iter der katholisc hen Wochenschrift Legio nario (1935- 1947), di e in d er katho li sc hen Presse Brasiliens e ine führende Ro lle sp ielte

Ab 1951 ge hö rte er z um Mitarbeiterstab der a ngese h enen Kulturzeitschrift Catolicismo, die sich zu einem Sprach rohr d es kath o lisch en Denkens in der brasili anischen Presse e ntwickelt h at. Vo n 1968 bis 1990 schri eb er außerd e m rege lmäß ig Beiträge für di e au fl agenstärks te Tageszeitung des Bundesstaates, Folha de Säo Paula.

Daneben h at Prof. Plinio Correa de Oliveira 14 Bücher geschri eben, unter de ne n besonders h ervorzuheben s ind:

Zur Ver t eidi g ung d er Kat h oli sc hen Aktion (1943) mit eine m Vorwort des dama ligen Aposto li sc hen Nuntius' in Brasi li en, Msgr. A lo isio Mase lla , der später zu m Kardina l-Vorsteher der Apostolisch en Kammer erna nn t we rden sollte. Das Buch e nth ä lt e ine sc h arfsinn ige U ntersuc hung der ersten Versuche progress istischer, linke r Unterwanderun g der Katholisc h e n Aktion ; der Verfa sser wurde für die ses

Werk im Namen von Papst Pius XII. von M sg r. G B. Montini, dem damaligen stellvertretenden Staatssekre tär des Heiligen Stuhles und s päteren Papst Paul VI., mit einem herzlichen Anerkennungsschreiben bedacht.

Revolution und Gegenrevolution ( 1959) stellt die geschichtlichen, philosophischen und soziologischen Ursachen der Krise des Abendlandes seit Humanismus, Renaissance und Reformation bis in di e Gege nwart dar. Das Werk beschreibt die Beziehung von Ursache und Wirkung zwischen diesen Bewegungen und der Französisc hen Revolution ( 1789), der Russ ischen Revolution ( 1917) und den tiefen Veränderungen, welche die sowjetische Welt und der Westen bis in unsere Tage durchg e macht haben Revolution und Gegenrevolution hat vier Auflagen der portugiesischen , sieben d e r spani sc h en, dre i de r italienischen sowie j ewe il s zwei der e nglischen und der franzö s ischen Ausgabe e rl eb t. Eine deutsch sprachig e Ausgabe ers chien 1996.

Abkommen mit dem kommunistischen Regime: für die Kirche, Hoffnung oder Selbstzerstörung? (1963). Es wird auf die Unzulässigkeit eine r Ko existenz zwischen der Kirche und e ine r Regierung hingew iese n , die zwar Glaubensfreiheit gewährleistet, es der Kirche a b er gleichzeitig untersag t, zu leh ren, daß di e Abschaffung d es Pri vatei g entums nicht z uläs sig is t. D as We rk wurde in einem von Kardinal Giu seppe Pizzardo , d em Präfekten der römis chen Kongregation für die Seminare und Studiene inrichtunge n , unte rz e ichne t en Brief ge lobt. D as Schreiben di eser hoh e n vatikanischen Stelle bestätigt, daß die vo m Ve rfasser des Buches vertretene Doktrin als e in „getreuestes Echo" der päpstlichen L ehre a nz u se h e n i st. Das Buch h at sec h sunddr e ißig Auflagen e rl e bt und wurde ins D e ut sc h e, Ita lieni sc he, Spanische, Französische, Ungarische, Englische, Itali e nisc h e und Polnische üb ersetzt. Auß erde m w urd e der Text ungekürzt in achtunddre ißig Zei tun ge n und Zeitschriften in dre ize hn Lände rn a bge druckt. lndianisch-tribale Lebensweise - kommunistisches Missionsideal im Brasilien des 21. Jahrhunderts (1 977 ). Das Werk prange rt e inen weiteren Vorstoß der Pro gress iste n in Brasilien an: di e k ommu no-struktu ra li sti sc h e Neomissiologie und sie ht bereits fünfzehn Jahre vor der EC O 92 in Ri o de Janeiro die w ichtigs ten kommuno-ökologischen L e hren und Te n de nzen voraus.

Der selbstverwaltete Sozialismus: Gegenüber dem Kommunismus eine Barriere oder ein Brückenkopf ? (1981 ) Es handelt s ich um eine umfassende Vorstellung und kritische A nalys e de s Selbstverwaltungsprogramms Mitterrands, dem damal s gerade er st gewählten Präs identen der fran zös isc h e n Rep u blik. Diese vo n den damal s dre ize hn TFP-Niederlassungen in eigenem Namen gutgeheißene und veröffentlichte Arbeit wurde in den 45 auflagenstärksten Tagesze itunge n von 19 Ländern in Amerika, Europa und O zean ie n in vollem Wo rtl a ut abgedruckt. Außerdem erschien e ine die wesentlichsten Punkte w iedergebende Z u sa mmenfassun g in drei zehn Sprachen in 49 Länd ern a ller fünf Kontin e n te. D amit erreichte die Gesamta ufla ge 33 ,5 Millionen Exemplare.

Unte r d en we iteren Werken von Prof. Plinio Correa de Oliveira muß unbedingt d as b ekannte Manifest Kommunismus und Antikommunismus an der Schwelle des letzten Jahrzehnts dieses Jahrtausends ( 1990) erwähnt werden. Es w urd e in 58 Zeitungen und Zeitschriften in 19 Lände rn a b gedru ckt. Die Schrift ruft all jene z ur R ec he n sc h aft, die im Osten w ie im Westen dazu beigetrage n hab en , daß ganze Völker in tiefe Schmach gestürz t und in di ese m Zustand ge halte n wurden; ebenso klagt es all jene an, d ie eifrigst bemüht w aren , ihr j ewe iliges Va te rland in die sc h reck liche Knechtschaft z u führe n, di e in Rußland, China und deren Satell itens taaten h errs chte

Als D e nker und als Lehrme ister d er gegenr evo lutionäre n Grundsätze aller TFP 's und g le ic h a rtig e n Vereinigungen nimmt Prof. P linio Correa d e Oliveira a ls Le iter tt nd Ratgeber in di eser Zeit voller Errungensc h aften und Krise n , voller Ängste und Katastrop h en, sic h er e in e n h ervo rrag ende n Platz in der internatio n ale n Öffentlichkeit ein.

Im Bereich des H an d e lns ist b estimmt di e Gründung der Brasilianischen Ge s ellschaft z um Schutz von Traditi on, Familie und Privateigentum (TFP) im Jahre 1960 in Sao Pau lo als sein Lebenswerk a nz use h e n Im Jah re 1980 wurde er darum a u c h vo m n a tion alen Rat de r TFP z um Vorsitzenden auf Lebens ze it erna nnt.

Sein Buch Revolution und Gegenrevolution h at di e Gründung von TFP-Vere inigunge n, selbststä ndige n Schwesterorganisationen d e r bras ilia nisc h e n T F P, in 24 Ländern au f fün f Ko ntin e nt e n an geregt

Vorwort des Prinzen

Luiz von Orleans und Braganza

Chef des brasilianischen Kaiserhauses

Tdas vorliegende Werk Prof. Plinio Correa de Olive iras gänzlich verstehen zu U ~önnen , muß man die wichtigsten Seiten sei nes Lebens als Mann der Öffe ntlichke it k e nn e n: den Schriftsteller, d en Mann der Tat, vor allem aber den Denker.

Er ist ein D e nk e r, der weniger der reinen Spekulation und Le hre z ugewandt ist als v ie lmehr de r Analyse des Jahrhunderts, in dem er leb t, der Probl e m e, di e es bedrängen, und der Richtungen, in die der Strom der menschlichen Geschichte durch di e jeweil igen Lösungen di eser Proble m e ge le itet wird.

Dieser Strom erwe ist sic h in di ese m über weite Strecken w id ersprüc hlichen und befremdli chen Jahrhund ert voll von brausenden, aufgewirbelten Stellen. So stand an seinem Anfang die Belle Epoque mit ihren Freuden und Genüssen sowie die Prac ht d e r Weltausstellung 19 00 in Paris. J e tz t aber geht di eses Jahrhundert voller U ng ewißheiten und Befürchtungen se inem Ende e ntgegen , denn di e zu erwartenden Er e ig ni sse können durchau s in ein we ltweites C h aos und v ie ll e icht soga r zu einer atoma re n H ekatomb e führe n.

Unter diesem Ges ic htspu nkt können wir da s 20. Jahrhundert in zwe i vö lli g versch ieden e Phasen einteilen.

Die e rste Phase träg t deutlich e ine n optimistischen Zug. I n ihr g lau bte n die Menschen als en tfernte Erben d er Aufklärung no c h a n d e n unb estimmten Erfolg a ll ihrer hocnfliegend e n Anstrengungen. Im Allgemeinen wurden Vö lker, In sti tuti onen un d S itte n von gew issen Überzeugungen ge le itet, wie sie der ges unde Menschenverstand z u diktieren pflegt, denen jedoc h im vora u sgega n ge n e n Ze ita lter der Aufklärung e ine übertri e be ne und a u sschließliche Aufmerksamkeit gesc henkt wo rden war. So war m a n etwa üb e r ze u g t, daß di e als unfe hlb ar angese h e n e menschliche Vernunft - we nn s ie nur ri c hti g ge brauc ht werdeaus eigener Kraft den Me n sc he n klar mache n kö nn e, worin d as ird isc h e Glück besteht u n d mit welchen Mitteln es z u erreiche n i st.

Außerdem hatte der me n sc hliche Verstand a uf den versc hied e n ste n Geb iete n be re its e in e so e indrucksvo lle M e nge a n W issen angehäuft, daß im 18. un d mehr noch in den darauffolgenden Jahrhunderten ein so hohes Maß an Gerech ti gkeit, Wo hlstand, Verb esse run g d er vielfältigsten Lebensbedingungen und dementsprechend auch e in vo llko mmen es irdisches Glück gesichert sc hien.

Diese aufsteigende Entwicklun g n a nnte m a n Fortsc hritt und die Gesamt he it d er Vorgeh e nsweisen , mit d enen der ruhmvoll e , endlo se Aufstieg des Fortschr itts bewerkstelligt werden so llte, b ezeic hn ete m a n a ls Technik.

D ank d ieses Fortschritts befand s ic h di e Menschheit auf e inem nie zuvor gekannten Höh epunkt der Zivilisation, auf dem M e rkmale verga ngen e r Ze ite n , wie Unwissenheit, Rohheit und Grausamkeit nicht m e hr in jenem Maße auftraten.

Neben d er machtvollen Unterstützung des Fortsc hritts so llte d er Mensch mit der Evolution, jener allen Wesen innewo hn e nd e n , bisher n oc h ge h eimnisvo llen Kraft, rechnen, di e e inen ständigen Aufstieg verschaffen so ll te, d esse n höchste Spitze ni e m a ls zu e rreiche n se in w ürde.

Ein typi sc hes Beispie l di ese r aus dem Z u sa mm enw irke n der ge nannte n Faktoren hervorgegangenen ehrgeizigen E rw artu ngen war die in m e hr eren testamentarischen Verfügun ge n zum A u s dru c k gebrachte Entscheidung, wonac h der Erblasser verfügt e, daß se ine L e iche un ve rse hrt in e igens zu diesem Zweck erric hte ten Kühllagern erhalten werden sollte, d enn e s b es tand die Hoffn ung , daß die Z usammenarbe it von Evolution und Fo rtschritt der Vernunft sc hli eßlic h di e E ntd eckung vo n Mitteln und Wegen erlauben würde, derei n st die Auferstehung von den Toten zu b ewirke n .. ..

Gew iß sollten zwei Tragödien größ te n A u sm aßes innerhalb e ines halben Jahrhu nd erts we ltumsp ann e nden Hochgefühls der U n bedi ng th e it so v ie le r Hoffnungen e in gra u sames Dementi e ntgegenh a lte n: zwe i We ltkriege. Doch die da s absolute Glück auf Erden an streb e nd e Triebkraft war so sta rk , daß d ie fest li c h e Stimmung de nno c h ihre hartnäckig verfolgte B ahn g le ic h dara u f w ieder aufnahm.

Auf den Welt kri eg 1914-18 folgte di e vergnü g ungss ü c hti ge Zwisc he nkri egsze it, die erst vo n e inem we itere n Weltkrieg 1939-45 unte rbroc hen werden sollte. U nd obwohl di ese r le tzte re, faktisch durc h di e Atombombenexp losione n von Hiros hima und Nagasaki b eende t e Krieg, noch umfassender, to db r inge nde r, zer störerischer und lä nger a ls d e r e rste wa r, nahm d e r fortsc hrittsgläubi ge O pt imis mus w iederum hartnäckig seine Laufbahn a uf

Die Kon s titution Ga udium et Spes d es Zweiten Vatikanische n Ko nz ils h at die Lebe n sbeding ung en, unt e r d e nen ihrer Auffassung nach die zeitgenössis che Gese ll sc h aft z u lebe n sc hi e n , mit den nac hs tehend zitierten Worten besc hrieben und di ese Wo rte zum Anlaß geno mm e n , der Gese ll sc haft di e Arme e n tgege nz ustrecken, um mit ihr zu sammen an der we ltwei ten Freude Anteil zu nehmen:

„Die Lebensbedingungen des modernen Menschen sind in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht z utiefst verändert, so daß man von einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte sp rechen da,f Somit öffnen sich neue Wege zur Entwicklung und Ausbreitung der Kultur. .. .. Die so genannten exakten Wissenschaften bilden das kritische Urteilsvermögen besonders stark aus. Die neueren Forschungen der Psychologie bieten eine tiefere Erklärung des menschlichen Tuns. Die historischen Fächer tragen sehr dazu bei, die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Wandelbarkeit und Entwicklung zu sehen. Der Lebensstil und die ethische Halt ung werden immer einheitlicher. Industrialisierung, Verstädterung und andere Ursachen, welche die Vergemeinschaftung des Lebens vorantreiben, schaffen neue Kultwformen (Massenkultur), aus denen ein neues Lebensgefühl, neue Weisen des Handelns und der Freizeitgestaltung erwachsen. Zugleich macht der Austausch zwisch en verschiedenen Völkern und gesellschaftlichen Gruppen die Schätze verschiedener Kultuiform en der Masse und den Einzelnen immer mehr z ugänglich. So bildet sich allmählich eine universalere Form der menschlichen Kultur, welche die Ein heit der Menschheit um so mehr fördert und zum Ausdruck bringt.je besser sie die Besonderheiten der verschiedenen Kulturen achtet. ....

Die Theologe n sehen sich veranlaßt - immer unter Wahrung der der Theologie eigenen Methoden und E,forderniss en - na ch einer geeigneteren Weise z u suchen, die Lehre des Glaubens den Men sc hen ihrer Zeit zu vermitteln

In der Seelsorge sollen nicht nur die th eologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissens chaften, vor allem der Psychologie und Soziologie, wirklich beachtet und angewendet werden

Die Gläubigen sollen .... das Wissen um die neuen Wissenschaften, Anschauungen und Erfindungen mit der christlichen Sittlichkeit und mit ihrer Bildung in der christlichen Lehre verbinden, damit religiöses leben und Rechtschaffenheit mit der wissenschqftlichen Erkenntnis und dem täglich wachsenden Fortschritt bei ihnen Schritt halten." (Gaudium et Spes, 54 und 62)

Nach diesem Modell sah die große Mehrheit der geistig und kulturell von der westlichen Zivilisation geprägten Menschen die Zukunft. Diese Sicht der Dinge einte sowohl Intellektuelle von Weltruf als auch Staatsmänner und Unternehmer von größtem Einfluß .

Doch in welche geschichtliche Situation schleicht sich nicht irgendwann ein „aber" ein? So wuchs mit der Zeit auch die Zahl derer, die mit diesem „Paradies" pes Fortschrittes keineswegs zufrieden waren.

Neben optimistischer Einmütigkeit bildeten sich im Halbschatten und in der Stille auch andere Weisen des Sehens, Fühlens und Handelns heraus. Während aber die Ve rtreter der allgemeinen Strömung mit der Werbetrommel der Massenmedien rechnen konnten, fanden letztere kaum Gehör in der Öffentlichkeit. Sie sahen sich daher ge z wungen , in den Nischen der Gesellschaft jener Zeit zu überleben, denn dort gaben sie dem vorherrs chenden Liberalismus keinen Anlaß, sie zu verfolgen.

Diese in ihrem Schattendasein dahinlebende kleine Welt setz te sich aus einem heterogenen, aber sehr aktiven Publikum zusammen , in dem die verschiedenste n Elemente aufeinandertrafen.

Vor allem sind hier jene zu nennen, die der menschlichen Vernunft ihren Wert absprachen und das ganze grandiose, aber auch an Frustrationen reiche Gebäude der w e stlichen Kultur und Zivilisation in Frage stellten.

Es war nicht schwer, in ihrem Gedankengut den Einfluß der deutschen Philosophie auszumachen, die der Französischen Revolution vorausgegangenen ist.

Da war etwa Kant, für den der von der Vernunft gebildete Begriff nicht als exakt bezeichnet werden kann, da die Vernunft von subjektiven Faktoren beeinflußt sei, die ihre Objektivität verfälschten. Von der Kritik der Vernunft und der Erkenntnis rutschte er schließlich in den Subjektivismus und in eine Art Immanentismus ab. In seinen Schülern Fichte, Schelling, Hegel usw. entfaltete sich dieser Immanentismus dann zu pantheistischen Anschauungen.

Es war jener alte Pantheismus hinduistischen Ursprungs, der sich über weite Teile Asiens verbreitet hatte und sich damals gerade anschickte, seinen Ein z ug auch in die Geschichte des Abendlandes zu halten.

Zu diesem Subjektivismus und diesem Pantheismus gesellten sich später nocl1 die Züge des Pessimismus eines Schopenhaucr und die der Verzweiflung eines Nietz sche. Die von den Vätern des modernen Existenzialismus (Kierkegaard, Heideggcr) vertretene Apologie der Angst scheint durchaus mit diesen allgemeinen T~nden z en in Verbindung zu ste hen.

Dieses Denken hat im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts in eng umrissenen Kreisen der europäischen Intelligenz seine Anhängerschaft gefunden.

Gestützt auf die Mißstände des kapitalistischen Systems selbst begann z ugleich die Infragestellung des durch Hollywood auf der ganzen Welt verbreiteten „american way of life " , der mit seinem umfassenden Triumph der Vernunft, des Fortschritts und d e r Entwicklung von zahllosen Zeitgenossen als der kohärente Lebensstil schle chthin be trachtet wurde.

Tatsächlich hat die Begeistenmg über die Schnelligkeit im Kommunikations- und Transportwesen und über das Zusammenwachsen aller rnenschlichen Tätigkeitsbere iche überall auf der Welt zu einer Art Fieber geführt, das sich der G e sinnung, der Wünsche, der Gefühle, des Ehrgeizes, der Aktivitäten und der G e schäfte bemächtig t hat und z u einem wahren Rausch führte, der schließlich eine große Zahl der verschiede ns ten körperlichen

und geistigen Störungen hervorrief, die von Tag zu Tag größer wurden und damit bald schon ein Ausmaß annehmen werden, das eine allgemeine Krise des Staates, der Gesellschaft, der Kultur und der Familie voraussehen läßt. Auf diese Krise brauchen wir gar nicht weiter einzugehen, denn einem jeden steht klar vor Augen, daß sie in eine noch weit furchtbarere Krise einmünden wird: in die Krise des Menschen.

Eine weitere, übrigens ganz andere Gruppe von Unzufriedenen wurde von denen gebildet, die als Zeitgenossen der festlichen Verabschiedung der Konzilskonstitution Gaudium et Spes Zeugen der Entstehung und Verbreitung einer ungeheuren Krise waren, die nach dem Abschluß des Zweiten Vatikanischen Konzils in der ganzen Kirche um sich zu greifen begann.

Diese Krise wurde noch verstärkt durch das Auftreten der Befreiungstheologie sowie durch die Ausbreitung eines gewissen Ökologismus und eines gewissen konsumfeindlichen, pseudo-evangelischen Pauperi s mus, der in den Lebensbedingungen des Stammeswesens die vollkommenste Form menschlicher Gesellschaft sieht!

Jene Gegenwart, die wir heute vor Augen haben, hat der vertrauensselige Optimismus der Konzilsväter damals nicht vorausgesehen.

Dieser vertrauensselige Optimismus veranlaßt mich zu einem traurigen, ehrerbietigen Lächeln, da s einige Katholiken sicherlich befremden wird, weil sie meine kindliche Treue zur heiligen Kirche und zum Papsttum nicht verstehen, die meine Seele im selben Augenblick, in dem ich diese Zeilen niederschreibe, zum Schwingen bringt.

Diese Ehrerbietung läßt mich aus ganzem Herzen anerkennen, daß der göttliche Gründer der Kirche diese in all den Dingen und unter den Voraussetzungen, die er für die Unfehlbarkeit vorsah, unter die Leitung eines unfehlbaren Papstes gestellt wissen wollte. Aber auch ebenso fehlbar in all den Dingen und unter den Voraussetzungen, in denen er ihn fehlbar wissen wollte, das heißt etwa in der Beurteilung konkreter Umstände, in die diese oder jene Menschen, diese oder jene Situationen verstrickt sind.

Die Unzufriedenheit, die am Rande des festlichen Triumphalismus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in einer immer wahrnehmbarer werdenden Verborgenheit und immer weniger korpuskularen Proportion um sich griff, brach 1968 plötzlich hervor. Von der Sorbonne ausgehend, eröffnete der Aufstand weltweit neue Horizonte des Wahnwitzes, des sittlichen Verfalls und des Chaos , wie sie die breite Masse bis dato nicht einmal erahnt hatte.

Es nützte wenig, daß bald darauf eine Million Menschen, angetrieben von der kraftvollen, beherrschten Begeisterung des reifen Alters, bei dem berühmten Marsch durch die Straßen von Paris einen monumentalen Protest gegen den Aufstand an der Sorbonne veranstalteten. Oder daß überall Proteststimmen laut wurden, die oft von dem verdienten Prestige großer Persönlichkeiten begleitet waren.

Seit dem Aufstand an der Sorbonne ist es in vielen Bereichen des menschlichen Denkens und Handelns zu spürbaren Veränderungen gekommen. Diese führten fast immer in die gleiche Richtung, so daß die Welt 1993 den Zielen der Revolution an der Sorbonne bedeutend näher gekommen ist.

Überall greift das Chaos um sich. Dies hier darzustellen, wäre nicht nur überflüssig, sondern auch unmöglich. überflüssig, weil in unseren Tagen nur der das Chaos nicht sieht, der von ihm geblendet wurde und daher nicht mehr in der Lage ist, es zu erkennen. Unmöglich, weil das Chaos heute so allgegenwärtig ist, daß das, was es anrichtet, oder wo es überall zu finden ist, in dem einfachen Vorwort zu einem Buch nicht beschrieben werden kann.

* * *

Würde sich das Vorwort dieser Aufgabe zuwenden, wäre es am Ende bestimmt umfangreicher als das Werk, das es den Lesern vorstellen möchte.

Mit dem bisher Gesagten wollte ich so kurz wie möglich eine allgemeine Übersicht über den Zeitraum erstellen, in dem Plinio Correa de Oliveira seine Tätigkeit als konservativer katholischer Denker, Publizist, Lehnneister und Orientierungsgeber von internationalem Ruf entwickelt hat.

Er war der Sproß zweier angesehener brasilianischer Geschlechter. Väterlicherseits stammte er aus der noblen Familie Correa de Oliveira, die in Pernambuco Zuckermühlen besaß und deren Vorfahren sich im Krieg gegen die ketzerischen Holländer heldenhaft geschlagen hatten. Im Dienste des Gemeinwohles hatte sich besonders der kaiserliche Rat Joao Alfredo Correa de Oliveira hervorgetan, der auf Lebenszeit das Amt eines Reichssenators und Reichsrates bekleidet hatte Sein Name wird auf immer mit dem Geset z zur Befreiung der Sklaven vom 13. Mai 1888 verbunden sein, das auch als das „ Goldene Gesetz" bezeichnet wird; als Premierminister erließ e r damals das Gesetz zusammen mit meiner Großmutter, der Prinzessin lsabel , die zu dieser Zeit als Regentin die Geschicke des Kaiserreichs lenkte. Nach der Ausrufung d e r Republik infolge eines Militärputsches im Jahre 1889 stand Joäo Alfredo als Vertrauensperson d er Prinzessin l sabe l, die als „Erlöserin" gefeiert wurde, später aber im Exil in Frankreich lebte , lange Ja hre de m Monarchischen Direktorium vor. Er zählt zu den berühmtesten Männern Brasiliens. Sein Bruder, der Zuckermühlenherr von Uruae, Leodegario Correa de Oliveira, is t der Großvater des Verfassers dieses Buches.

Die Mutter, Lucilia Ribeiro dos Santos, stammte aus einer Familie, die zu der tra ditionellen Gruppe jener „Vierhundertjährigen" gehörte, die von den Gründern und e rsten Bewohnern der Stadt Sao Paulo abstammten. Zu ihren Vorfahren zä hlt en mehrere Bande irantes , das heißt jene Männer, die das brasilianische Hinterland erschlossen haben. Mütterlicherseits zeichnete sich unter den Vorfahren Plinio Correa de Oliveiras während der Kaiserzeit Pedros II. vor allem Professor Gabriel Jose Rodrigues dos Santos als Lehrstuhlinhabe r an der schon damals berühmten Rechts fakultät von Sao Paulo b eso nders aus. Er hatte sich als Rechtsanwalt, gefeierter Redner und Abgeordneter im Provinzial- und später im Nationalparlament einen Namen gemacht.

In beiden Familien fanden die großen ideologischen Debatten, welche die Kaiserzeit (1822-1889) und die ersten Jahrzehnte der Republik prägten, einen ti efgehenden Widerhall und führten zu den allseits bekannten Spaltungen: Auf religiösem Gebiet hielten einig~ mi t a ller Entschiedenheit der katholisch en Religion die Treue, während andere s ich dem Positivismus, dem letzten ideologischen Modeschrei jener Zeit, anschlossen. Auf politischem Gebiet hielte n einige weiterhin treu zwn alten Reg ime, während andere zu Anhängern der Republik wurden und sich im politischen Geschehen als Vertreter dieser Richtung hervo11aten

Plinio Correa de Oliveira erlebte im Schoße der Familie da s Aufeinanderprallen d e r unterschiedlichen Meinungen, die nach brasilianischer Art zwa r mit Nachdruck, gleichzeitig aber auch mit aller Herzlichkeit vorgetragen und vertreten wurden.

In diesen wichtigen Fragen gelangte er nach und nach zu einer eigenen H a ltung, d ie noch aus der Unschuld und Frömmigkeit seines zwar kindlichen, aber doch schon frühreifen und hellen Geistes hervorg ing Diese H a ltung so llte im Laufe der Jahre durch Reflexion, unvoreingenommene Prüfung der Tatsachen und durch L e rn e n und Studium bestätigt werden. Sehr früh galt hi er sein besonderes Interesse vor allem gesc hich t lichen Themen.

Es war di e Geisteshaltung eines praktiz ie r enden , furchtlos e n Katholiken und erklärten Monarchisten, di e Plinio Correa de Oliveira in den akademischen Kreisen seiner Zeit schon bald zu e inem der bekanntesten führenden Köpfe machte

* * *

Ich habe nicht die Absicht, hier die biographischen Daten dieses bedeutenden Brasilianers anzuführen, denn diese finden bereits an anderer Stelle dieses Werkes einen ihnen angemessenen Platz. Was mir vor Augen steht ist vielmehr das Offenlegen der Tiefe seines intellektuellen Schaffens, wie wir es in den Büchern und den zahllosen Artikeln, die er für die Presse geschrieben hat, finden.

Während seiner Laufbahn hat Plinio Correa de Oliveira in Brasilien stets Katholiken und Monarchisten vorgefunden. Zahl und Eifer der Katholiken befanden sich in einem steten Wachstum, bis der Progressismus zu unvermeidlichen Spaltungen, lautstark ausgetragenen Polemiken und der sich daraus ergebenden Zerstreuung und dem Nachlassen der Kräfte geführt hat.

Die Zahl der Monarchisten ging dagegen infolge der Aufhebung ihrer Denk- und Aktionsfreiheit durch das Dekret Nr. 85-A vom 23. Dezember 1889 und seiner Bestätigung durch den Artikel 90 der ersten republikanischen Verfassung aus dem Jahre 1891 (,,eiserne Klausel") und all der späteren Verfassungen im bewegten Dasein des neuen Regimes immer weiter zurück, bis schließlich 1988 die 6. republikanische Verfassung diese unglückselige „eiserne Klausel" aufhob und den Anhängern der Monarchie eine politische Freiheit zuerkannte, die man niemandem verweigern mochte, nicht einmal den Kommunisten!

Seither ist ein für viele Brasilianer unerwartetes ideologisches und politisches Ereignis eingetreten. In den verschiedensten Bundesstaaten und Gesellschaftsschichten machten sich Anhänger der Monarchie bemerkbar, die in tapferen, mit mir als dem legitimen Nachfolger Pedros II. eng zusammenarbeitenden Vereinigungen, wie dem Rat für ein Monarchisches Brasilien, den Monarchischen Kreisen, der Monarchischen Frauenaktion und der Monarchischen Jugend Brasiliens, in den von mir und meinem Brnder und eventuellen Nachfolger, Prinz Bertrand, angeführten friedlichen Aktionen beachtliche Fortschritte erzielen helfen.

Diese Monarchisten richten ihr Augenmerk voller Bewundernng auf den unerschrockenen antikommunistischen Anführer Plinio Correa de Oliveira, der als Intellektueller selbst zu einer Zeit, die man als die härteste Phase der monarchischen Rezession bezeichnen könnte, ein erklärter Anhänger der Monarchie war. Seine Überzeugungen des - dem Wesen nach traditionalistischen - Kampfes für die Monarchie dienen als wertvolle Fundgrube.

Bewunderer und Freunde der Monarchie sind in großer Anzahl auch in der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum (TFP) zu finden, der größten katholisch orientierten antikommunistischen Organisation unserer Tage, die von Plinio Correa de Oliveira ins Leben gerufen wurde und der sowohl mein Bruder Bertrand als auch ich seit frühester Jugend mit angebrachter Begeisterung angehören.

Unter den Katholiken, die sich als Linke verstehen, sowie unter den unterschiedlichsten Gegnern der Tradition - angefangen von den gemäßigten Sozialisten bis hin zu den radikalen Kommunisten und zu den „Ökologisten" im politischen Sinn des Begriffs, ohne gewisse Zentristen zu vergessen, die in Wirklichkeit nur verkappte Anhänger des Sozialismus sind - gilt Plinio Correa de Oliveira stets als beliebte Zielscheibe.

Andererseits wird er als unumstrittenes Haupt jener Katholiken anerkannt, die unter rein philosophischem und kulturellem Gesichtspunkt eine Haltung einnehmen, die auf analoge Weise als katholische Rechte bekannt ist.

Bis heute gilt Revolution und Gegenrevolution als das Meisterwerk Plinio Correa de Oliveiras. Ich bin jedoch sicher, daß in der öffentlichen Meinung schon bald Der Adel und die vergleichbaren traditionellen Eliten in den Ansprachen von Papst Pius XII. an das

* * *

Patriziat und an den Adel von Rom einen Platz an der Seite des vorher genannten Buches e innehmen wird.

Das 1959 veröffentlichte Werk Revolution und Gegenrevolution erfährt in verschiedenen Ländern Europas und des amerikanischen Kontinents immer wieder Neuauflagen. Es 1iegt auf dem Tisch aller Mitglieder und Mitarbeiter der TFP und der TFP-Biiros in 24 Ländern auf allen fünf Kontinenten.

Es geht in dem Buch um die theologische, philosophische und soziologische Analyse der Krise des Abendlandes, angefangen von ihrer Entstehung im 14. Jahrhundert bis in unse re Tage. Der Grundgedanke von Revolution und Gegenrevolution ist der, daß die für jenes Jahrhundert charakteristische religiöse Ermattung und der Verfall der Sitten in Europa einen ungehemmten Durst nach den Freuden des Lebens ausgelöst haben, der schließlich e ine schwere Krise sittlicher Natur heraufbeschworen hat, die sich dann zutiefst auf den Humanismus und die Renaissance auswirkte Ihrem Wesen nach handelte es sich mehr um eine Krise der Tendenzen als der eigentlichen Lehrüberzeugungen. Es dauerte allerdings nicht lange, bis diese Krise a nges ichts der grundlegenden Einheit des Menschen auch auf den geistigen Bereich übergriff.

Die sittliche Krise führt unmitt e lbar oder auf die Dauer zur Gegnerschaft gegen alles, was Gesetz und Züge l verlangt. Am Anfang mag sich diese Gegnerschaft noch auf reine Antipathie beschränken. Darin liegt jedoch bereits die Tendenz, E inwände auch im Bereich der Lehre vorzubringen, die mehr oder weniger radikal klingen können, und damit die Tatsache selbst in Frage z u stellen, daß es Autoritäten geben muß , denen nach der Natur der Dinge die Aufgabe z ufällt, di e verschiedenen Form en des Bösen zu bekä mpfen. In den Köpfen d e rer, die zu übl e n Tendenzen neigen , kommt daher e ine Haltung zum Ausdruck, die auch den e ige ntlichen L e hrinhalt von Gesetz und Zügelung angreift. Am Ende dieser Entw icklung steht schließlich di e Anarchie im Verhalten und in der L e hre.

Damit ist auc h bereits der aufklärerische Liberalismus besc hri e ben , dessen letzte und radikalste Ausdrucksform der Anarchismus ist. Und gerade in dieser Anarchie versinkt nach und nach die Welt von heute.

Das Auftauchen des Liberalis mus, den der Autor als „anarchogen" beze ichnet, bringt als weitere Frucht das Eintreten gegen jede Art von Ungleichheit mit sich. Der Liberalismus ist egalitär. Wo man mit dem Nachdruck der Entrüstun g gege n jede Autorität aufbegehrt, stellt man sich ebenfalls jeder Art von Ungleichheit entgegen. Denn j e d e Überlegenheit, auf welchem Gebiet s ie sich auch zeigen ma g, erweist sich als e ine Art von Macht oder direktivem Einfluß des se n , der mehr ist, über d en, d e r weniger ist. Von da he r rührt der Egalitarismus, d er sc hli e ßlich dazu führt, daß d e r Anarchismus noch verstärkt wird.

Am Ende en tsteht aus d er Abschaffung des Unterschiedes zw isc he n Wahrheit und Irrtum, des Unterschiedes zwischen Gut und Böse, di e Illusion, d aß der Friede unter den Menschen dadurch gefördert wird, daß alle Religionen, alle Philosophien, alle Schulen des Denkens und der Kultur eingeebnet werden und s ich gegenseitig durchdringen können. Alles entspricht allem, was indirekt besagt, daß a lles ni c hts ist. Es ist da s an den t iefs t e n Wurzeln des menschlichen Denkens e ingepfla nzte Chaos, das h e ißt, die totale Unordnung im mens chlichen Dasein.

Was man hier als Genealogie der Irrtümer und Katastrophen bez eichnen könnte,, abyssus abyssum invocat" - gesc hieht jedoch nicht allein auf spekulativem Gebiet, sondern auch a uf dem Boden der Tatsachen.

Revolution und Gegenrevolution zeigt, daß diese aufunbeschränkte individuelle „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" ausgerichtete Bewegung - unter diesem Vorwand der Brüderlichkeit werden übrigens in unseren Tagen wahre Weltfestspiele de s Ökumenismus in allen Bereichen und Sachgebieten veranstaltet - ihre ers te große Exp losion bei Ausbruch der apokalyptischen protestantischen Revolution erlebte, welche di e höchste, universelle

Autorität des Papstes leugnete. Mehrere der aus ihr hervorgegangenen Sekten bestritten schließlich auch die Autorität der Bischöfe oder gar die des Priesters. Ausgerufen aber wurde das durch und durch anarchische Prinz ip der freien Bibelauslegung.

Wenn wir vom religiösen auf den politischen Bereich übergehen , stellen wir fest, daß der gleiche Gedanke auch die Wurzel der Französischen Revolution bildete, denn auch dieser ging es vor allem darum, den Staat und die Gesellschaft nach den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu gestalten, die auch bereits das Wesen des Protestantismus ausgemacht hatten. So wie der Protestantismus den Papst abgelehnt hatte, lehnte die Revolution nun den König ab. Wie gewisse protestantische Sekten die Macht des Klerus (das heißt, des kirchlichen Adels) stark eingeschränkt oder gar ganz abgeschafft hatten, so lehnten sie den Adel ab und verkündeten im Namen der Geistesfreiheit das Prinzip der Volkssouveränität, ähnlich wie der Protestantismus die Gewissensfreiheit ausgerufen hatte.

Die Revolutionäre von 1789 ließen allein das Privateigentum bestehen und damit auch die Herrschaft des Eigentümers über den , der für ihn arbeitet, und folgerichtig auch die Vorrangstellung des Geistesarbeiters gegenüber dem Handwerker. In einem letz ten Aufbäumen vor ihrem Ende hat die Französische Revolution mit Hilfe der Feder des Kommunisten Babeuf jedoch versucht, auch diese letzten Überreste der Ungleichheit zu beseitigen.

Marx rief dann 1848 die vollständige sozioökonomische Gleichheit aus , die Lenin ab 1917 in Rußland in die Praxis umsetzen sollte.

Drei Revolutionen, drei Hekatomben, die eine aus der anderen hervorgingen, führten am Ende des 20. Jahrhunderts zur vierten Revolution, die als Ziel - nach den Worten Plinio Correa de Oliveiras in den jüngsten Ausgaben von Revolution und Gegenrevolution - noch immer die Selbstve1waltung und das Leben im Stammesverband anstrebt.

Als 1960 die französische Ausgabe dieses Werkes erschien, hat mein inzwischen verstorbener Vater, Prinz Pedro Henrique, dem Werk Plinio Correa de Oliveiras ein schönes , gehaltvolles Voiwort gewidmet, in dem er ganz im Sinne meiner Überlegungen auf den intellektuellen Charakter desselb e n aufmerksam machte.

Revolution und Gegenrevolution ist offensichtlich aus dem Wunsch heraus entstanden, das westliche Bürgertum, dessen Wachsamkeit durch Vergnügungssucht und Profitsucht eingeschläfert war, vor dem höchsten Risiko zu warnen, dem es entgegensteuerte. Es war keineswegs nur ein spekulatives Buch. Denn in der Hoffnung, daß von diesem Buch eine Bewegung, und aus der Bewegung ein Gegenangriffhervorgehen würde, prangerte es auch Mißstände an. Die Gründung der brasilianischen TFP, ihre Ausbreitung über mein ausgedehntes Heimatland und die Verbreitung ihrer Ideale über die fünf Kontinente sind das Ergebnis des konkreten persönlichen Wirkens dieses Denkers, der seinen Platz im Kern der heutigen Wirklichkeit hat.

Nun hat das vorliegende Werk Der Adel und die vergleichbaren traditionellen Eliten in den Ansprachen von Papst Pius XII. an das Patriziat und an den Adel von Rom genau denselben Charakter eines Geisteswerkes, das dazu bestimmt ist, die Ereignisse tiefgehend zu beeinflussen.

Wie ein an wogenwnkämpftem Küstenstreifen stehender Felsen hat der Adel seit der Französischen Revolution immer wieder neuen Angiiffen getrotzt. Fast überall hat man ihm die politische Macht entrissen. Die Gesetze sprechen ihm gemeinhin jedes Sonderrecht ab, soweit es über die Benutzung überkommener Titel und Namen hinausgeht. Wirtschaft und Finanzen haben eine Richtung eingeschlagen, die den riesigen Reichtum eines auf dem Höhepunkt stehenden Kapitalismus in anderen Hände zusammenströmen läßt und mit dem der Jetset versucht, sein Licht - oder besser gesagt seine Pailletten - überall erglänzen zu lassen.

Was überlebt also noch vom Adel ? Hat er in seinem heutigen Zustand überhaupt noch eine Daseinsberechtigung? Was nützt es ihm selbst und dem Gemeinwohl, daß es ihn noch

gibt? Hat er sich e ndgültig auf d e n Krei s der „ Wohlgeborenen" zu beschränken? Ode r soll te der Adelsstand , fall s es ihn denn auch in Z ukunft noch gibt, auch auf di e n e ue n Elite n au s gede hnt werden, die vergle ichbare, wenn a uch nicht ide ntische Merkmale aufweis e n?

Plinio Com~a d e Oliveira, dessen Denken von beispie lhafter Kohärenz geprägt is t, sieht im Adel einen jener festgefügten Felsen, ohne dere n epische n und oft sogar trag ischen Widerstand die Wogen der drei Revolutionen den ganz en Küs tens treifen - das he ißt Zi vilisationen und Kulturen - mit sich fortgeri ssen und in den schäumenden Wogen aufgelöst hä tte n.

N icht se lte n stößt man auf Mitglieder d e s A del s , di e s ich de r indi v iduelle n Pflichten , die ihnen der Adelsstand auferlegt - wie etwa da s gute Beis pie l für die a nde re n Kl as sen, d as u ntadelige sittliche Ve rhalte n oder die Unte rstütz ung d e r Hilflose n - durc ha us b ewu ßt s ind , z u d en oben genannten Frag en aber höchstens v a ge Vors te llunge n hab e n.

In ande r e n Klas sen is t ein ähnliche r Vorga ng fe s tzus t e llen , vo r allem im Bürgertum , d as von der h e ute geltenden Gese lls cha ft ss truktur b esonders b egüns t ig t wird. Obwo hl da s Recht a uf Ei ge ntum seine w ichtigs te Stütze i s t , findet m a n selte n ei ne n Bürger, d e r die s ittlichen und religiö se n Grundla g en de s Priva tei ge ntum s sowi e die damit v erbunde nen Rec hte und Pflichte n w irklich k e nnt.

Inde m Plinio Correa de Oli veiras Buc h den v oll e n Text d er Ans pra che n von Pap s t Pius XII. an das Patriz iat und an den Ade l v on Rom verbreitet und erkl ä re nde Komment a re und beredte historische Be is pi e le hinzufügt, kann es für be ide Klas se n v on un sc h ä tz b a r e m N ut ze n se in .

Völli g v on d e n in d e n Worte n d e r Pä p s te z um Ausdru c k k omme nd e n Grun d sä tze n durc hdrung e n , wid e rsetz t s ich Plinio C orrea de Oliv e ira au fs e ntschi e de ns t e d e m G e is t des Kl ass enkampfes.

Er s ie ht in de r Gre nzlinie zw is che n Adel und Vo lk k e inen K o nfliktbe r e ic h. Wenn e r a uf d en his torisc h en, militä ri s chen u n d lä ndlichen Ad e l a l s e rh ab e ne n und r e ine n Gipfel de r G esellsc h afts orga nisation verwe is t, so s ieht er d a rin im G egenteil n ie e ine n unzu gä n g liche n Gipfe l. E s ist für ihn le dig li c h e in e norm a le rw eise s chwer erre ich bar e B e r gspitze, w ei l es in d e r Natur der Sach e lieg t , d a ß der A ufstie g a ll e in durc h Ve rdi enste zu e rrei c he n is t.

Di e Auss ic ht a uf e ine n b esc hw erlichen Aufst ieg des bürgerli c h e n M e ns chen in de n

A de lss ta nd sollte n ac h Plinio Correa de Olive ira a ls A tt freu ndsc h a ftli c h e E inl a du ng verstande n w e r de n , Ve rdi e n s te z u erwerbe n und echte Ane rk e nnung dafür z u find e n Mehr n o ch: In un ser e r Z e it, in de r d as tiefe E indringen d e r Te chnik ins H a nd werk u nd e in n icht z u untersc hät z endes Ausbildun gsniveau eine bre ite Nu an c ie run g au c h d e r Arb e iterkla sse mit s ic h bring en , bie te n s ich vi ele M ö g lichke ite n e ines ve rdi e n stvo ll en gese llsc h a ftj\ c h e n und b erufli c he n Au fs ti egs, den man ge rec hte r we ise zu b e rü c k sic hti g en h at. ·

A ls Fre und e ine r h a rmoni sc he n , a u sgewoge ne n Hierarc hi e in a lle n Be re ic he n d es men schliche n Tuns s tell t P lini o Co rre a de Olive ira mit se iner kl a r e n A u sleg un g di e Prinzipien vo n Pius XII. a lle n Gese llsc ha ft ssc hi c hte n v or, ohn e sie z u v e rsc hme lze n o de r s ie ga r mite ina nd e r z u verwech seln

Es is t j e doch l e icht festz u s t e lle n , daß se in e b esonde r e Au fm erk sa mke it d e n b e ide n E nd e n d e r gese llsch aft li c h e n H ie rarc hi e g ilt, weswege n e r in se ine n b r ill a n te n K o mm e nta ren a u c h imme r w ie d e r au f de r vorrangigen Optio nfiir d ie Adeligen und de r vorrangigen Option fii r d ie Armen b es te ht.

Auch ic h sc hli e ß e mi c h me inerse its vo n H erze n di eser d o ppelte n Opti o n a n , d a di ese j a a u c h im Ge ist und im We r k m e hrere r Mo n arche n au s d e m H a u se Braganza sowohl in Po rtuga l a ls a u c h in Bras ilie n fes tz u s te lle n is t. In de m vo rli ege nde n B u c h , d as a uf den Ans prac h e n vo n P ap s t Pi us X II. b e ruht , d ie es wi e d e rg ibt und ko m mentiert, r ic hte t der Verfasser sein Au ge nm er k im beso nd e re n a uf di e vorrangige Optionfar die Adeligen , o hn e desh a lb j e d oc h di e vorrangige Optionfiir die Armen z u ve rn ac hl äss ige n

Eine der eigentlichsten Aufgaben des Adels besteht darin, sich für seinen Monarchen einzusetzen; dabei ist es gleich, ob sich dieser im Genuß der ihm zustehenden V01rechte an der Macht befindet oder ob er die ihm von seinen Vorfahren überlieferte Macht, die ihm keine Gewalt und kein demagogischer Eingriff je rechtmäßig zu entreißen vennag, nur „de jure" innehat.

Andererseits ist der Monarch dazu verpflichtet, seinen Adel zu lieben, zu respektieren und zu unterstützen Diese Pflicht, die sich nicht nur in Verbeugung und Höflichkeiten erschöpfen darf, sondern in die Tat umgesetzt werden soll, macht eine vorrangige Option zugunsten des Adels aus. In diesem Geiste wende ich abschließend meine Gedanken in Freundschaft dem Adel und den vergleichbaren Eliten Österreichs zu. Familiäre Bindungen und eine tiefe Verehrung der historischen Sendung Österreichs einigen uns. Die höchstrangige Krone des Christlichen Abendlandes hatte in Wien ihren Sitz. Das Heilige Römische Reich verwirklichte in der weltlichen Sphäre ein Werk, das dem Werk der Kirche in der geistlichen Sphäre vergleichbar ist. Zusammen mit Rom hat das Haus Österreich evangelisiert, als die Aufgabe bestand, die Völker mit dem Evangelium vertraut zu machen. Später ist ihm das Privileg gewährt worden, Angriffe durch die Feinde des Glaubens zu erleiden.

Seiner Katholizität wegen und besonders wegen des sakralen Gepräges des Heiligen Römischen Reiches findet man in der Geschichte kaum eine Aggression, die Österreich nicht zu erleiden hatte: Muslimische Invasionen, protestantische Verheerungen, napoleonische Kriege und die Beendigung des Heiligen Römischen Reiches, den Umsturz der Monarchie, die Invasion der Nationalsozialisten und die sowjetische Besetzung. In jeder dramatischen Stunde hat Gott Männer hervorgerufen, die sich furchtlos für das Weiterbestehen Österreichs eingesetzt haben , vom heiligen Severin, dem seligen Marco d' Aviano bis hin zum seligen Kaiser Karl von Österreich. Ich bin davon überzeugt, daß die Vorsehung durch die Fürsprache der Magna Mater Austriae trotz des un e rbittlichen Hasses der Feinde niemals dieses Volk verlassen wird, solange es treu bleibt. Dafür hat die Gottesmutter schon einen rührenden Beweis gegeben, als sie Österreich aufgrund der Initiati ve von P. Petrus Pavlicek und dem Wirken christlicher Staatsmänner vom kommunistischen Joch befreite. Sie erhörte die Bitten , die das Volk an Unsere Liebe Frau von Fatima richtete , als ihre Statue durch die Straßen des Landes pilgerte.

Möge die Muttergottes ihr Werk fortsetzen. Möge sie Österreich dabei helfen, stets das zu sein, was Papst Pius XII. empfohlen hat, nämlich ein zutiefst von christlichem Gedankengut beseeltes Volk. Ich wünsche den österreichischen Eliten, daß sie sich nicht von der Gefahr einschüchtern lassen, zu einer unorganischen, untätigen Masse zu verkommen, die sich von der Psychodiktatur der großen Meinungsbildungskarte lle in die verschiedensten Richtungen mitreißen läßt.

Diese meine Wünsche gehen an alle Länder des deutschen Sprach- und Kulturraumes, der zusammen mit Österreich, Böhmen und Norditalien das Heilige Römische Reich ausmachte, welches das vollkommenste gesellschaftlich-politische Gebilde war, das es jemals in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Möge die Muttergottes die Eliten dieser Länder ganz im Bewußtsein ihrer Sendung halten, damit sie sich für die Wiederherstellung der Christlichen Zivilisation einsetzen.

Beseitigung von Vorbehalten

Bevor der Z u g lo sfä hrt, n e hm e n d e r Lokführer und die Reisenden no rmal erwe i se ihre Plätze e in , dann erst g ibt d e r Aufsichtsbeamte da s Ze ic hen z ur Abfahrt, und der Zug kann s ich sc hließlich in Bewegung set zen

Au c h bei e in e r ge is tigen Arb e it pflegt m a n so vorzugehen. Man beginnt damit, vorweg se in e Grundsätze d a rzule ge n , s ie dann gege b e nenfall s na c h bestimmten Kriterien z u rechtfe11igen und sic h sc hli eß li c h d e m e ige ntli c hen Lehrinhalt zuzuwenden.

We nn abe r v ie le L ese r d e m darzustellenden Stoff vo r e ingeno mm en gege nüb e r ste h e n oder gar ti ef verwurzelte Vorurteile gege n ihn h ege n , b efi nd e n w ir uns in der Lage e ines Lokführers, der, na c hd e m di e R e ise nd e n ihre Pl ä tz e e inge nomm e n h ab e n , feststellen muß , d aß di e Schienen mit Hinde rni sse n üb e r sät s ind.

Die Reise b eg inn t in di ese m Fa ll e nicht mi t d er A b fa hrt des Zuges, so n de rn damit, d aß e r st e inma l die Hindernisse b e ise ite geräumt werden. I s t dies geschehen, kann di e R e ise e ndli c h beginne n.

Nun liege n a b e r a uc h vo r d e m in diese m Werk zu behandelnden Stoff so viele Hinderni sse - damit is t ge m e int, d a ß di e Vorstellungswelt za hlrei c h e r Leser voller Vo rurteile gege nüb er d e m Ad e l und vergleichbare n traditionellen E lite n steckt -, daß wir er s t dann zu m eigentlichen T hem a üb e rge h e n könn e n , wenn di ese Hinde rni sse aus d e m Weg ge räum t s ind .

Mit di ese r e inführe nd e n Erk lärung ho ffe ic h, e in etwa iges B e fr em den a n gesich ts d es ungewöhnlichen Titels dieses e r s ten Kapitels ze r stre ut zu hab e n.

1. Der Einsatz zugunsten der Eliten bewirkt einen gerechten, umfassenden Nutzen für die Arbeiter und bedeutet keinerlei Nachteil für sie.

Es braucht nicht e igens darauf hin gew iese n zu werde n , d a ß heutz uta ge v ie l von den soz iale n Ansprüc hen de r Arbeiter di e Rede is t. In dieser H a ltung kommt ei n e durchaus lobe n swerte Fürsorglichkeit zum Ausdruck, die es g rund sät z lich ve rdi e nt, von a lle n r echtsch affen e n M e nsche n unte r s tütz t zu werden.

Wer a ber e inse iti g nur das Wohl der Arb e ite rkl asse im Sinn hat und d ab e i di e Probleme und die Bedürfnisse anderer Kl assen außer ac ht läßt, de nen die große Krise un serer Zeit manchmal aufs Härtes te mitspie lt, vergißt, da ß sich di e Gesellschaft aus verschi e denen Klassen zusammensetzt, di e alle ihre besonderen Aufgaben , Rechte und Pflichten h aben , und eben ni cht nur au s Werktäti gen. Die Schaffung e iner einz ige n, klasse nlosen Gesellsc haft a uf der ganzen Welt ist ni chts al s e ine Utopie, wenng le ic h sie seit dem 15. Jahrhundert im christlichen E uropa

KAPITEL!

immer wieder das Ziel von Egalisierungsbewegungen war. In unsere n Tagen wird sie v or allem von Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten angepriesen. 1

Die über Europa, die drei amerikanischen Teilkontinente, Afrika, Asien und Ozeanien verbreiteten TFP's und TFP -Büros setzen sich durchaus für alle der Arbeiterklasse zustehenden Verbesserungen ein, sie können sich jedoch nicht dem Gedanken anschließen, daß diese Verbesserungen mit dem Verschwinden anderer Klassen verbunden sein müssen, oder daß ihre Bedeutung, ihre Pflichten, ihre Rechte und ihre Aufgaben im Rahmen des Gemeinwohls derart zurückgedrängt werden, daß es einem Aussterben gleichkommen würde. Sich für eine Lösung der sozialen Frage einzusetzen, die alle Klassen zum illusorischen Vorteil einer einzigen nach unten niv elliert, muß notgedrungen zu einem wahren Klassenkampf führen, denn die Ausschaltung aller zum alleinigen Vorteil der Diktatur einer einzigen, nämlich des Proletariats, stellt die übrigen Klassen vor die Alternative, zur Notwehr zu greifen oder unterzugehen.

Man darf von den TFP's nicht erwarten, daß sie diesem soz ialen Nivellierungsprozeß zustimmen. Denn im Gegenzug z u den Vertretern des Klassenkampfes und in Zusammenarbeit mit zahlreichen Initiativen, die heute für den sozialen Frieden arbeiten, indem s ie sich für die gerechte und die notwendige Förderung der Arbeiter einsetzen, müssen alle objektiv orientierten Zeitgenossen eine Aktion für die soziale Ordnung entwickeln und dies e der auf Spannungen und letztendlich auf Klassenkampf ausgerichteten sozialistischen oder kommunistischen Aktion entgegensetzen.

Um bestehen zu können, verlangt die Sozialordnung , daß jeder Klasse das Recht auf das zugestanden wird, was sie zu einem Dasein in Würde braucht. Und j ede soll sich unter Wahrung der ihr eigenen Rechte in der Lage sehen, den ihr im Hinblick auf das Gemein wo hl zufallenden Pflichten nachzukommen.

Mit anderen Worten, es ist unumgänglich , daß die Aktion zugunsten der Arbeitermiteinem entsprechenden Einsatz zugunsten der Eliten e inhergeht.

Wenn sich die Kirche für die soziale Frage interessiert, so geschieht dies nicht, weil ihr nur die Arbeiterschaft am Herzen liegt. Sie ist keine zum Schutz einer e inzigen Klasse gegründete Arbeiterpartei. Mehr als die verschiedenen, einzelnen und ohne Verbindung mit den anderen gesehenen Klassen liebt sie die Gerechtigkeit und die Nächstenliebe, und sie setzt sich dafür ein, daß diese unter allen Menschen herrschen mögen. Deshalb liebt sie alle gesellschaftlichen Klassen .. .. auch den von der egalitären Demagogie so v erteufelten Adel.2

Diese Erwägungen führen folgerichtig zum Thema des vorliegenden Buches.

Tatsächlich erkennt Papst Pius XII. dem Adel eine wichtige , charakteristische Aufgabe in der heutigen Gesellschaft insgesamt zu. Wir werden im folgenden noch sehen, daß diese Mission auf vergleichbare Weise und in einem beträchtlichen Maße auch andere gesellschaftliche Eliten angeht.

Der Heilige Vater hat diese Aufgabe in vierzehn mustergültigen Ansprachen dargele gt , die er bei den dem Patriziat und dem Adel von Rom vorbehalte nen Glückwunsch-Audienzen zum Jahreswechsel in d e n Jahren 1940 bis 1952 und dann wieder 1958 gehalten hat. 3

Nun bleibt aber keinem verborgen, daß heute weltweit e ine ungeheure, vielgestaltige Kampagne mit dem Ziel der Verminderung und Abschaffung des Adels wie auch der übrigen Eliten geführt wird. Man braucht sich ja nur den überwältigenden Druck zu vergegen-

28 KAPITEL I
1) Vgl. Plinio Correa de Oliveira, Revolution und Gegenre volu tion, TFP-Büro Deutsc h land, Frankfurt am Main, 1996, S . 4 5, 91 -1 03. 2) Vgl. Kap. IV,8; Kap. V,6

wärtigen, der überall ausgeübt wird, dessen Rolle nicht mehr in Betracht zu ziehen, sie an zufec hten oder doch wenigstens einzuschränken.

Das Eintreten für den Adel und die Eliten ist also heute in gewissem Sinne angezeigter cle nje. Mit abgeklärter Unerschrockenheit soll daher folgende Behauptung aufgestellt werde n: In unserer Zeit, in der die vorrangige Option für die Armen zur Notwend igkeit wu rde, is t auch eine vorrangige Option für die Adeligen unentbehrlich geworden, vorausgesetzt, daß in diesen Begriff auch andere traditionelle Eliten hineingenommen werden, die ebenso Gefahr laufen zu verschwinden und daher Unterstüt z ung ve rdienen.

Diese Behauptung mag absurd ersc heinen, wenn man bedenkt, daß theoretisch die Lage e ines Arbeiters eher an Armut erinnert als die eines Adeligen und daß bekanntlich viele Adelige über ein großes Vermögen verfügen.

Ja, manchmal ist es wirklich ein großes Vermögen. Aber man darf nicht vergessen, daß die Steuerbehörden gewöhnlich erbarmungslos an diesem Vermögen nagen. Und so müssen wir immer wieder betroffen mit ansehen, wie di e Bes itzer notgedrungen einen guten Teil ihrer Villen und H e rrenhäu ser in Hotels oder Touri s tenunterkünfte verwandeln, w ährend für s ie selbst nur noch ein Teil des Familienwohns itzes übrig bleibt. Es gibt auch Paläste , in d enen der B es itze r gleichzeitig als Kons ervator und Fremdenführer - oder gar als Ba rman nfungiert, während seine arbeitsame Gattin oft durchaus einfache Arbeiten ve rri c hte t, um das Haus ihrer Vorfahren sauber und vorzeigbar zu halten .

Ist gegenüber einer solchen Verfolgung, die übri ge n s auch an dere Formen a nnehmen kann, wie etwa die Aufhebung der Majorate und die Zwangs teilung der Erbgüter, nicht e ine vorrangige Option für die Adeligen angebracht?

Natürlich nicht, wenn d e r Adel grundsätzlich als eine Kla sse vo n Schmarotzern angesehen wird, die ihr eigenes Bes itz tum verschleudert. Doch die se s Ade lsb ild, das d e r s chwarze n L ege nde der Französischen Re v olution und der ihr folgenden R evo lutionen ange hört, die ihr in Europa und auf der ga nzen Welt nachgeeife rt haben, hat Pap s t Pius der X II. a bgelehnt. Obwohl er auch deutlich auf M iß s tände und Auswüchse aufmerksam macht, die vor der Geschichte einen scharfen Tadel verdienen, beschreibt er doch mit bewegten Worten di e Übereinstimmung zw ischen d er Sendung des Adels und der von Gott selb st e inge richteten, natürlichen Ordnung der Dinge sowie d en erhabenen, wohltätigen Sinn dieser Sendung. 1

3) Das römische Pa triziat unte rteilte sic h d a m als in z we i Kategorie n:

a) Römische Patrizier, die vun den Männ ern abstammten, die im Mille/alter ziv ile Ainter im K irchenstaat innegehabt hallen.

b) Einberufene römis c he Patriz ie r, d ie zu e ine r der 6 0 Familien geh ö rte n, di e der H eilige Va ter mit einer besond e ren Bulle , in der a ll e nament li c h a ufgezählt w urd en, als solche a ne rkannt ha t. Sie bilde ten die Creme d es röm isc hen P atrizi a ts.

Der römische Adel war ebenft,1/s in zwei Kategorien aufgeteilt :

a) Die Ade ligen , die von L ehnsmänn ern abstamm ten, das heißt von Fami lien, di e vo n den Päpste n L e hen erhal te n hatten.

b) D e r einfache Adel, dessen Tite l s ich vo n de r Üb ertrag un g eines Am tes am Ho fe ab le itete oder vom Pa ps t unmitt e l ba r verl iehen worden war.

Von d e n Ans prache n Pa ps t Pius' X I I. an d as Patriziat und a n d en Ade l von Rom si nd beso nders d ie aus den J ahren 1952 un d 1958 hervorzuheben, we il in diesen prakt isch a lles z usam m e ngefaßt ist, was in den vora usgegangene n Ansprachen be reits gesagt worde n ist.

1944 hi el t Papst Pius X II. a m 11. Juli e ine besondere An sprac he, in d e re n Ve rl auf e r den römisc he n Adelsfamilien für die Bereit s tell ung e in er großz üg igen Ge ldsumme für di e Bedü r ftige n d a nkte.

l ) Vg l. A nsprac he a n das Patriz ia t und an den Ade l von Ro m , 1943.

BE SEITIGUNG VON VORBEHALTEN 29

2. Der Adel - eine Art innerhalb der Gattung traditionelle Eliten

In dem vorliegenden Werk wird immer wieder der Begriff traditionelle Eliten verwendet. Damit ist eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Wirklichkeit gemeint, die - wie folgt - beschrieben werden kann.

Die nachstehend kommentierten päpstlichen Texte verstehen den Adel in jeder Hinsicht als eine Elite. Doch bildet der Adel sicher nicht die einzige Elite, sondern ist lediglich als eine besondere Art innerhalb der Gattung Eliten anzusehen.

Es gibt Eliten, die als solche gelten, weil sie an den Aufgaben und typischen Merkmalen des Adels Anteil haben, und es gibt andere, die unterschiedliche Aufgaben im Gesellschaftskörper wahrnehmen, denen aber dennoch eine besondere Würde zukommt.

Es gibt also Eliten die ex natura propria weder adelig noch erbfähig sind.

So kann man etwa einen Universitätsprofessor mit vollem Recht zur Elite einer Nation zählen. Und dasselbe gilt auch sicher für Militärs, Diplomaten und vergleichbare Berufsgruppen.

Wie bereits gesagt, stellen diese und andere Laufbahnen heute kein Privileg des Adels mehr dar. Dennoch gibt es viele Adelige, die sich diesen Tätigkeiten widmen. Und niemand wird behaupten wollen, daß sich diese Adeligen deshalb ipso facto herabwürdigen. Die Ausübung dieser Tätigkeiten gibt ihnen im Gegenteil eine gute Gelegenheit, ihrem Wirken das Siegel der Vortrefflichkeit adelsspezifischer Leistung aufzudrücken. 1

Bei einer Auflistung der Eliten dürfen wir all die nicht vergessen, die in Industrie und Handel die Wirtschaft eines Landes antreiben. Ihr Einsatz ist nicht nur zulässig und Achtung gebietend, sondern auch offensichtlich von großem Nutzen. Dennoch geht es bei der Ausübung dieser Berufe an erster Stelle um die Vermehrung des Vermögens derer, die ihn ausüben. Das bedeutet, daß sie durch die Zunahme des eigenen Besitzes ipso facto als Begleiterscheinung auch ihr Land reicher machen. Diese Tatsache allein ist jedoch nicht Grund genug, diesen erfolgreichen Unternehmern bereits adelige Merkmale zuzusprechen. Um auf den adeligen Glanz einer Elitezugehörigkeit Anspruch erheben zu können, ist vielmehr eine besondere Hingabe an das Gemeinwohl unerläßlich und dabei vor allem durch Berücksichtigung seines wertvollsten Aspekts, nämlich der christlichen Prägung der Zivilisation. Wenn aber die Umstände einem Industriellen oder einem Kaufmann die Gelegenheit bieten , unter Hintansetzung legitimer eigener Interessen dem Gemeinwohl auf besondere Art und Weise dienlich zu sein, und wenn dies auch tatsächlich geschieht, fällt dieser Glanz auch auf alle, die mit der entsprechenden Geisteshaltung ihre kaufmännische oder ihre industrielle Tätigkeit ausgeübt haben.

Mehr noch. Wenn eine nichtadelige Familie infolge günstiger Umstände in der Geschlechterfolge über längere Zeit eine der genannten Tätigkeiten ausübt, kann diese Tatsache allein als genügende Voraussetzung dafür angesehen werden, dieses Geschlecht zu adeln.

Diese Entwicklung hat z.B. der venezianische Adel durchgemacht, der üblicherweise von Kaufleuten gebildet worden ist. Da dieser Stand in der Stadtrepublik die Regierung ausübte und damit selbst für das Gemeinwohl im Staate zu sorgen hatte,ja diesen zu einer Weltmacht werden ließ, ist es weiter nicht verwunderlich, daß die dortigen Kaufleute schließlich

30
KAPITEL!
1) Vgl. Kap. IV, 3 und 7; Kap. VI, 2b.

zu Edelleuten aufstiegen. Tatsächlich ist dies auf so authentische Art und Weise vor sich gegangen, daß sie sich schon bald sogar die Kultur und das Gebaren des besten Militär- und Feudaladels angeeignet hatten.

Außerdem gibt es traditionelle Eliten, die sich von Anfang an auf Fähigkeiten und Tugenden stützen, deren Weitergabe auf dem Wege genetischer Übertragung beziehungsweise familiärer Umgebung und Erziehung unbestreitbar ist. 1

Wenn die Auswirkungen dieser Übertragbarkeit sichtbar werden und es zur Bildung von Familien und oft sogar von ganzen Familienverbänden kommt, die sich über Generationen durch die dem Gemeinwohl geleisteten Dienste auszeichnen, führt dies zur Entstehung einer traditionellen Elite.

Zu der Einstufung als Elite gesellt sich also die wertvolle Beifügung „traditionell". In vielen Fällen kristallisiert sich nur deshalb keine formale Adelsschicht heraus, weil unter dem Einfluß der Lehren der Französischen Revolution die Gesetzgebung vieler Länder der Staatsgewalt die Vergabe von Adelstiteln untersagt. Dies gilt nicht nur für gewisse europäische Länder, sondern auch für die Staaten auf dem amerikanischen Kontinent.

Dennoch läßt sich die päpstliche Lehre über den Adel infolge ähnlich liegender Voraussetzungen größtenteils auch auf diese traditionellen Eliten anwenden. Die päpstliche Lehre ist deshalb auch für all jene von Bedeutung und Aktualität, die sich zwar nicht mit Adelstiteln schmücken können, aber dennoch Träger echter, vortrefflicher Familientraditionen sind und denen in ihren jeweiligen Ländern ein vornehmer Auftrag zugunsten des Gemeinwohls und der christlichen Zivilisation zukommt.

Das Gleiche kann man auch mutatis mutandis von den nicht traditionellen Eliten in dem Maße behaupten, in dem sie traditionellen Charakter annehmen.

3. Einwände gegen den Adel, geprägt vom egalitären Geist der Französischen Revolution

Adel, Eliten - warum ist in diesem Buche nur von ihnen die Rede? Dieser Einwand liegt sicher dem egalitären Leser auf der Zunge, dessen Vorstellungswelt ipso facto gegen das Adelige gerichtet ist.

Die heutige Gesellschaft steckt voller bewußt oder unbewußt aufgenommener Vorurteile radikal egalitärer Natur. Wir stoßen auf diese selbst in Kreisen, von denen man vollkommene Einmütigkeit in entgegengesetztem Sinne erwarten sollte. Das gilt zum Beispiel für Geistliche, die voller Begeisterung das revolutionäre Dreigestirn Freiheit - GleichheitBrüderlichkeit vertreten und ganz vergessen, daß es einst in einem der katholischen Lehre geradezu entgegengesetzten Sinne gebraucht wurde. 2

Wenn derlei egalitäre Mißtöne selbst in gewissen kirchlichen Kreisen zu hören sind , ist es nicht weiter verwunderlich, daß sie auch inmitten von Adeligen oder Mitgliedern anderer traditioneller Eliten vorgebracht werden. Angesichts der vor kurzem über die Bühne gegangenen Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution rufen diese Gedanken sogleich die Erinnerung an den Herzog von Orleans, Philippe Egalite, den adeligen Revolutionär schlechthin, hervor. Sein Beispiel hat immer weiter in manchem illustren Geschlecht Nachahmer gefunden.

3 2 KAPITEL I
1) Vgl. Kap. V , 2. 2) Vgl. Kap III, 3 u nd 4 , sow ie wicht ige A uszüge aus der pä pstliche n Dokumente nsam mlun g zu die sem Th e m a im Anhang II.

Als Papst Leo XIII. 1891 die berühmte Enzyklika Rerum Novarum über die Lage in der Welt der Arbeit veröffentlichte, erhoben sich in gewissen kapitalistischen Kreisen Stimmen, die darauf hinwiesen, daß es sich bei Kapital und Arbeit um spezifisch wirtschaftliche Fragen handle, die den römischen Papst nichts angingen. Die Enzyklika bedeute daher eine unzulässige Einmischung in fremde Angelegenheiten ....

So wird es sicher auch Leser geben, die fragen werden, was denn der Papst mit Adel und Eliten, seien diese nun traditioneller Natur oder nicht, zu tun habe. Allein schon ihr Überleben in unserer von Grund auf veränderten Zeit dürfte wohl in ihren Augen lediglich als ein archaisches, unnützes Relikt aus einer feudalen Welt erscheinen. Aus dieser Sicht wären der Adel und die Eliten von heute nichts als ein Punkt der Fixierung oder gar der Ausstrahlung einer Weise des Denkens, Fühlens und Handelns, die dem Menschen von heute nicht zusage und die er nicht einmal mehr verstehe. Die wenigen, die noch Wert auf so etwas legten, täten dies unter dem Einfluß rein ästhetischer oder lyrischer Gefühlsanwandlungen. Und diejenigen, die sich als Teilhaber herausgehoben fühlten, seien lediglich Opfer von Gefühlen des Stolzes und der Eitelkeit. Und diese Art von Lesern wird wohl auch denken, daß nichts den unerbittlichen Lauf der Geschichte daran hindern werde, diese überalterten Relikte vom Gesicht der Erde hinwegzufegen. Und wenn Papst Pius XII. den so verstandenen Lauf der Geschichte schon nicht unterstützt habe, hätte er ihm doch wenigstens keine Hindernisse in den Weg stellen sollen.

In welcher Absicht hat sich denn nun Papst Pius XII. zu diesem Thema so ausführlich und auf eine Art und Weise geäußert, die offensichtlich gegenrevolutionären Gei stern wie dem Verfasser dieses Textes zusagt, der hier seine Lehren zu dem Thema zusammengetragen und kommentiert hat und sie nun an die Öffentlichkeit bringt? Wäre es nicht besser gewesen, der Papst hätte da z u geschwiegen?

Die Antwort auf diese egalitären, vom l 789er-Geist geprägten Einwände ist denkbar einfach. Wer sie kennenlernen will, hört sie am besten aus dem befugten Munde dieses Papstes selbst. Ohne lange Umschweife weist er, wie wir noch näher sehen werden 1 , in seinen Ansprachen an das Patriziat und an den Adel von Rom auf den tiefen sittlichen Sinn seiner Äußerungen zu diesem Thema hin. Ebenso hebt er die legitime Rolle des Adels in einer auf Naturrecht und Offenbarung fußenden Soziallehre hervor. Gleichzeitig verweist er auf all den Seelenreichtum, der in der christlichen Vergangenheit den Adel ausgezeichnet hat, und versichert, daß dieser weiterhin als Bewahrer der Werte und des Seelenreichtums anzusehen sei. Dem Adel stehe außerdem die hohe Aufgabe zu , Werte und Seelenreichtum in der heutigen Welt zu betonen und zu verbreiten, auch wenn die verheerenden A~swirkungen ideologischer Revolutionen zweier Weltkriege und sozialökonomischer Krisen viele Adelige in concreto in bescheidene Verhältnisse gebracht hätten. Diesen ruft der Papst an mehreren Stellen die ehrenhafte Ähnlichkeit mit dem Schicksal des heiligen Josef, des Fürsten aus dem Hause Davids , in Erinnerung: Auch er habe als bescheidener Zimmermann immerhin dem fleischgewordenen Worte als gesetzlicher Vater und der Königin aller Engel und Heiligen als keuscher Gatte gedient. 2

BESEITIGUNG VON VORBEHALTEN 33
1) Vgl. Kap.! , 6 2) Vg l. Kap IV, 8; Kap. V, 6.

4. Die Lehren von Papst Pius XII.hilfreicher Schild gegen die Gegner des Adels

Es ist durchaus möglich, daß sich einige zum Adel gehörige Leser fragen, was für einen Nutzen ihnen die Lektüre der vorliegenden Studie bringen könnte. Sicher denken sie, daß ihnen der größte Teil dieser Lehren doch bestimmt schon in ihrem ehrwürdigen, an erzieherischen und sittlichen Traditionen reichen Vaterhaus vermittelt worden sein dürfte. Haben sie sich nicht schon ein Leben lang an das selige Beispiel ihrer Vorfahren gehalten?

Vielleicht sind sie sich nicht der unschätzbaren religiösen Wurzel dieser Pflichten bewußt, genauso wenig wie ihrer Grundlegung in den päpstlichen Verlautbarungen. Doch werden sie sich wohl fragen, was die Kenntnis all dieser Dinge zur Bereicherung ihrer Seele beitragen soll, wenn ihnen doch das kostbare Vermächtnis, das ihnen das Vaterhaus mit auf den Weg gegeben hat, zu einer echt aristokratischen und zugleich christlichen Orientierung des eigenen Lebens durchaus genügte.

Wenn ein Aristokrat aus diesen Gründen eine Vertiefung in die unvergänglichen Aussagen Papst Pius' XII. über den römischen Adel, die ebenso für den europäischen Adel im allgemeinen gelten, für nutzlos ansehen würde, wäre das sicher ein Zeichen von Oberflächlichkeit sowohl des Geistes als auch der religiösen Bildung.

Die sittliche Integrität eines Katholiken beruht entweder auf einer einleuchtenden, liebevollen Kenntnis der Lehre der Kirche und auf einem tief verwurzelten Festhalten daran, oder es fehlt ihr jede feste Grundlage. Im letzteren Falle läuft sie Gefahr, plötzlich zusammenzubrechen, vor allem, wenn man bedenkt, daß wir in den unruhigen, von Anstiftungen zur Sünde und zur gesellschaftlichen Revolution gesättigten Tagen der heutigen, nachchristlichen Gesellschaft leben.

Gegen die Verführungskünste und den Druck dieser Gesellschaft kommt der sanfte, wenngleich tiefgehende Einfluß der häuslichen Erziehung allein nicht an; sie bedarf dazu sowohl der Unterstützung der Glaubenslehre und der tatsächlichen Einhaltung der Gebote wie auch der ständigen Ausübung frommer Pflichten und des häufigen Empfangs der Sakramente.

Aus dieser Sicht erwächst dem wahren christlichen Aristokraten sicherlich eine große Zuversicht aus dem Wissen, daß eben diese ihm überkommene aristokratische Art des Denkens, Fühlens und Handelns eine breite, feste Grundlage auf den Lehren des Stellvertreters Christi auf Erden findet. Dies gilt um so gewisser für eine Zeit neuheidnischen Demokratismus, in der sich ein Adeliger allerlei Unverständnis, Widerspruch und gar Spott und Hohn ausgesetzt sieht; das kann so weit gehen, daß er sich sogar versucht fühlt, sich seines Adeligseins elend zu schämen. Dann aber ist es nur noch ein kleiner Schritt, sich aus dieser mißlichen Lage durch den stillschweigenden oder ausdrücklichen Verzicht auf seine adelige Stellung zu befreien.

Die hier veröffentlichten und kommentierten Lehren Papst Pius ' XII. zu diesem Thema werden in dieser Notlage als äußerst wertvoller Schild gegen die verstockten Feinde des Adels dienen. Müssen diese Feinde doch zugeben, daß der Adelige, der auf diese Weise sich selbst, seinem Glauben und seinen Traditionen treu bleibt, nicht irgendein Sonderling ist, der sich seine Überzeugungen und den Lebensstil, die ihn auszeichnen, selbst zusammengereimt hat. Denn dies alles stammt aus einer viel höheren Quelle, aus einer weit umfassenderen Eingebung, nämlich aus der Lehrtradition der katholischen Kirche.

Es ist durchaus möglich, daß den Gegnern des Adels diese kirchliche Lehre verhaßt ist. Doch auf keinen Fall können sie diese Lehre einfach als Erfindung eines einzelnen Eigenbrötlers, eines Kämpfers a la Don Quichote für längst Vergangenes abtun.

Vielleicht überzeugt das alles den Widersacher nicht, doch seinem Angriff wird die Spitze genommen, und damit entsteht ein dialektischer Vorteil, der dem Verteidiger des Adels und der traditionellen Eliten zu Hilfe kommt.

34 KAPITELi

Das g ilt v or all em für d e n F a ll , daß der Verle umd e r d es Ade lssta n des e in Ka th o lik od e r gar e in Pries ter ist.

Die s kann durchaus g e scheh e n , w enn man di e t rag ische K r ise I b etrachtet, de r s ic h die Kirche h e ut e a u sgesetzt sieht und auf di e P a p st P au l V I. hi nweist, we nn e r d e n Au sdru c k „Se l bstzers tör ung" benutz t und d av on spricht, daß der „Rauc h Satan s in den Tempel G ottes e ingedrungen" s ei. 2 Es ist soga r e ine Offensi ve im Gan ge, di e s ic h in ihrem K a mp f gegen den Adel und weitere traditione lle beziehungsweise ni c ht -t radi t io n e ll e E lite n a u f Ste llen der H e ilig en S c hri ft z u b e rufen v org ibt. In Situa tionen w ie di es e r is t es sowo hl für de n A d eligen w ie a uch für die Mitglieder and erer Elite n v on g rö ßter Wi c h tig k e it, sic h auf di e Lehren P a ps t Pius· XII. so w ie seiner Vorg ä n ge r und Nachfol g e r stüt zen z u könn en un d d a mit den Ge g n e r in di e Lage z u ver setzen , daß er entw ede r seine n Intum zuge be n oder ab e r e inräumen muß, daß e r im Wide r spruc h z u d e n p äpst lic he n L ehre n steht, di e i n d e m vorl iege nde n Werk an geführt w e rd e n.

5. Intuitive und implizite Vorstellungen sind unzureichendReichtum der von Papst Pius XII. benutzten Begriffe

Wir hab e n b e re its d arauf h i n ge wi esen , daß gegen d en A d e l a ls In s titut ion h e ut e m anc h e rl e i E inwä nde v org ebracht w erd e n und daß di e A d el ig e n desha lb d ara uf vo rbe r eitet sei n sollte n , di ese n u m ge h e nd z u e n tgeg ne n .

Tat sächlich ve rfü ge n j e ne, di e s ic h für od e r gege n d e n Ade l a u ssprechen , se hr wo hl üb e r eine m e hr o d er we ni ge r d iffu se Vor s te llung v on d e m , was Ad e l sei n e m e ige n t li c h e n Wese n, se ine m g rundl ege nd e n Z w e c k und se in e r Tre u e z ur c hri s tli c h e n Z i v ili sat io n nac h b e d e utet. R ein intuiti v e, gewö hnlich me hr impliz it a ls exp li z it z um Au sdru c k k o mme nd e Vo rste llunge n di ese r Art r e ic he n j e doc h b e i e ine r ern s th a fte n D e b a t te mit d e n Geg n e rn nic h t a ls Di sku ss io n sgrundla ge a u s . D as is t a uc h der Grund da für, d a ß so v ie le A u sein a nd erset zu n g en üb e r di eses T h e m a im Sa nde verl au fe n.

Hie r muß a u c h erwä hnt w erd en , daß es v ie l m e hr und le ichte r an zu tr e ffe n de Ve r ö ffe ntlic hun ge n gegen d e n Ade l g ibt a ls fü r ihn. D as e rkl ä rt wen igste n s te il we ise, wa rum di e Verteidi ger d es Ade ls o ft nur unz ur e ic h e nd üb e r di eses The ma in fo rm ie rt s ind und d a h er a u c h un s i ch e rer und sc hü c h te rn e r au f tre te n a ls ih re W id ersac h er.

I ) Zu d iesem T hema g ibt e s e ine u m fan gre ich e Li terat u r. H inge wi e sen se i vor a ll em auf ei n Gesp räc h von V i ttori~ M ESSOR I m it Kard ina l Joseph RATZINGF.R , Rnpportn sulla Jede. Ed iz ion i Paoline. Ma iland 1985, 2 18 S . sow ie Romano A MERIO , Iota w1 11 111 - S111dio delle variazioni della C/Jiesa Ca uolica 11 el s eco lo XX, Ri cca rdo Ri cciard i Ed ito re, M a il and - Neape l 1985, 656 S H ier e ine Auswah l vo n Büchern, d ie sic h mit d iesem Th e m a besc h äft ige n: Dietric h vo n HIL DE B RA ND , Le C/J eva/ d e Troie dan s la Ci te d e Die11, Beauchesne, Paris 1970, 239 S.; Dr. Rud olf G RAB ER (B isc hof vo n Regensb ur g) A t/Ja11asi11s 1111d die Kirche 1111serer Zeit, Ve rlag Jo se ph Kra l, Abensberg 1973 , 87 S. ; Dietrich von H IL DEBRAND , Der verwüstet e Wei 11 berg Verlag Joseph Ha b bel, Regens b u rg 1973, 2 4 7 S.; Co rne lio FABRO , L ·avventura del/a teologia progressista, Ruscon i Edi tore, Mai land 1974, 322 S ; De rs , La svolta antropol ogica di Karl Ra/Jner R uscon i Ed ito re Ma i land 1974, 250 S ; A nt o n HO LZE R, Vatika1111111 II - Rejo rmko11zil oder Ko11stit11a11teei11erne11en Kirc/Je, Saka, B ase l 1977, 352 S.; Wigand SIEBE L, Katholisc /J oder ko 11ziliar - Die Kris e der Kirche heute, Lange n-Mü ll er, München - Wi en, 19 78 , 469 S ; Ka rd ina l J oseph SI R! , Geth se111a11iRejlexio11s sur /e 1110 11 ve111e11t t/Jeo logiq11eco11temporai11 , T e qu i, Pa r is 198 1, 384 S. ; Enri que R UEDA, The Homosexual Networ k, The Devin Adai r Cornpany, Old G reenwich/C onnec ti cut 1982, 68 0 S.; Prof. Dr. Geor g MA Y, Der Glaube i11 der nachko11ziliare11 Kirche, Me diatrix V e rl ag, W ie n 1983, 27 1 S ; Ric ha rd COWDEN- GUID O ,Jo /111 Paul II and the Bau/efor Vatica11 II. T ri n ity Communications, Ma nassasN irg in ia 1986, 448 S.

2) Die Kirche erle bt he11 te einen Mom ent der Unruhe. Einige iiben sich in Selbstkritik, ja , 111011 kön111e sogar s agen, in Selbs tzerstörung. Es ist wie e in ak11 tes, 11111fassendes A1ifiviihle11 des Innern , das keiner nac/J dem Kon ~il erwartet höfle Die Kirche wird selbst vo11 d enen a11gegri!Je11, die w ih r gehöre11" (Ansprache an d a s päpst liche Semi na r d er Lo m ba rdei , vom 7. 12. 1968, in lnsegnamenti d i Pao lo VI, T ipografia Po liglotta V a t icana, 1968, ßd VI , S 11 88) Bez ügl ich de r he uti gen Lage der K irche ä u ßert s ic h d e r He ilige Vater da h inge he nd, daß er das Ge fühl hab e, als ob „durch irge11dei11en Riß der Ra11ch des Satans i11 den Tempel Gones eingedrunge n sei" (Pr e digt „ Re sis tite Fortes in Fi de", vom 29 6 .19 72 . in l11seg11a111 e11 ti di Paolo VI, Tipografi a Poliglotta Vaticana, 1972 , Bd X , S. 707 )

BESEITIGUN
N 35
G VON VORBEHALTE

Die wichtigsten Aspekte einer zeitgemäßen Apologie des Adels und der traditione llen Eliten werden von dem unvergeßlichen Papst Pius XII. in seinen Ansprachen an da s Patiiziat und an den Adel von Rom auf e ine Weise vorgetragen, die de m L eser die Würdigung der Erhabenheit der Gesichtspunkte, des Reichtums der Begriffe und der Prägnanz der Sprache ermöglicht.

Es ist dies ein weiterer Grund, der für die des Veröffentlichung vorliegenden Werkes spricht.

6. Inhalts- und gedankenleere Ansprachen ohne innere Beteiligung, die allein aus gesellschaftlicher Höflichkeit gehalten wurden?

Wahrs cheinlich wird es Stimmen geben, die leich tfe rtig behaupten , daß sich die Lektüre und die Betrachtung der Ansprachen Papst Pius' XII. an das Patriziat und an den Adel vo n Rom erübrige, da es sich ausschließlich um nichtssage nde , von gesell sc haftlichen Gepflogenheiten diktierte Reden handle , denen jeder L e hr- und Gefühlswert abgehe.

Papst Paul VI. hat dies ganz anders gesehen: ,, So viel möchten wir Euch sagen. Eure Gegenwart löst so viele Überlegungen aus So erging es auch unseren verehrten Vorgängern - vor a llem Papst Pius XII. seligen Angedenkens, die sich bei Gelegenheiten wie dieser mit mustergültigen Reden an Eu ch gewandt und Euch eingeladen haben, im lichte ihrer bewundernswerten Lehren sowohl über die Umstände Eurer eigenen Lage als auch über die unserer Zeit nachzudenken. Wir nehmen an, daß das Echo ihrer Worte wie der Wind, der die Segel bläht, .... noch heute Euer Gemüt bewegt und es mit jenen strengen, großzügigen Mahnrufen erfüllt, von denen sich die Berufung nährt, die Euch die Vorsehungft.ir Euer Leben gezeigt hat, und auf die sich der auch heute noch von der Gesellschaft geforderte Auftrag stützt, der Euch angeht. " 1

Was übri ge ns den Lehrinhalt angeht, wird allein schon die Lektüre d e r Ansprachentexte und Kommentare zeigen, wie angebracht sie sind und welchen Reichtum s ie e ntha lte n. Beim Lesen dieser Seiten wird deutlich, daß ihre Aktualität mit der Zeit keineswegs verblaßt is t, sondern im Gegenteil a n B edeu tun g z ugenomm e n hat.

Bl e ibt noch eine Anmerkung zum Gefühlsinhalt der Ansprachen zu machen. Unter diesem Gesichtspunkt r e icht es, die folgenden Worte a u s der Ansprache Papst Piu s ' X II . an da s Patriziat und an den Adel von Rom aus dem Jahre 1958 anz uführen:

,,Ihr, die Ihr zu jedem Jahresbeginn es nicht versäumt, Uns aiifzusuchen, werdet Euch sicher an die Eindringlichkeit erinnern, mit der Wir bemüht waren, Euch den Weg in die Zukunft zu weisen. Den Weg, der sich damals schon als ein schwieriger Gang z e igte, in Anbetracht der folgenschweren Umwälzungen und großen Veränderungen, welche die Welt bedrohten. Trotz dem sind Wir sicher, daß I hr, auch wenn Eure Stirnen vom silbernen Weiß umrahmt sein sullten, nuch Zeugen sein werdet Zeugen nicht nur Unserer Wertschätzung und herzlichen Zuneigung, sondern auch der Richtigkeit, Begründbarkeit und Zweckmäßigkeit Unserer Ratschläge und der Früchte, die, wie Wir hoffen wollen, sie fiir Euch und das Gemeinwohl tragen werden I m besonderen werdet Ihr Eure Kinder und Enkel daran erinnern, w ie de r Papst Eurer Kindheit und Jugend es nie unterlassen hat, Eu ch darai![ hinzuweisen , welch e neue Aufgaben die neuen Zeitumstände dem Adel auferlegen werden . "2

Diese Worte machen ohne j ede n Zweifel deutlich, daß di e Ansprachen Pap s t Pius' XII. an da s Patriziat und an den Adel v on Rom im Diens te hoher, im Geist und im H erzen des P apstes klar umrisse n er Pl ä n e standen. Sie lasse n auch die Bedeutung und Dauerh aftigke it der Früchte erkennen, die er vo n ihne n erwartete. Da s ge n a ue Gegenteil also vo n dem, was

BESEITIGUNG VON VORBEHALTEN 37
1) An sprac he an d as Patri zi at u nd a n den Ade l von Rom , 1964 , S. 7 3. 2) An sprache an d a s Pat r iziat und an d e n Ade l vo n Rom , 1958, S. 7 08.

man von inhalts- und gedankenleeren Ansprachen ohne innere Beteiligung erwarten würde, denen es allein um gesellschaft liche Floskeln geht.

Die We1tschätz ung, di e Papst Piu s XII. dem Erbadel entgegenbrachte, erstrahlt in den folgenden , am 26. Dezember 1942 an die päpstliche Nobelgarde gerichteten Worten in einem ganz besonderen Glanz:

,, Niemand sollte Eifersucht darüber empfinden, daß Wir Euch besonders zugeneigt sind Wem ist schließlich der unmittelbare Schutz unserer Person anvertraut, wenn nicht Euch? Und bildet nicht gerade Ihr unsere Erste Garde?

Garde! Wie stolz klingt dieses Wort; es weckt einen Schauder in der Seele und eniflammt das Denken. In diesem Neunen schwingen und klingen die glühende Liebe zum Herrs cher und die unbedingte Verehrung seiner Person und Sache mit; er ist der Ausdruck unerschütterlichen Edelmutes und unüberwindlicher Tapferkeit angesichts der Gefahren, die sein Dienst und sein Schutz mit sich bringen; in ihm kommen die Tug enden zum Ausdruck, die einerseits den Heldenformen und andererseits im Herrscher Wertschätzung, Zuneigung und Vertrauen gegenüber seiner Garde wecken.

Ihr, die Garde unserer Person, seid unser Schutzpanzer, in dem jener Adel erstrahlt, der das Privileg des Blutes ist und der bereits vor Eurer Aufnahme ins Korps als Unterpfand Eurer Hinga be in Euch aufleuchtete, denn schon ein altes Sprichwort sagt: , Gutes Blut kann nicht täuschen'. Leben ist das Blut, das in Euren erlauchten Häusern von Stufe zu Stufe, von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wird und in sich das Feuer dieser der Kirche und dem Papst gewidmeten Liebe trägt, die weder nachläßt noch im Wechsel froher oder trauriger Ereignisse erkaltet. In den dunkelsten Stunden der Geschichte des Papsttums erstrahlte die Treue Eurer Voifahren heller und sichtbarer, großzügiger und wärmer als in den glanzvollen Stunden der Pracht und des materiellen Wohlstandes. Wir zwe(feln nicht daran, daß diese Überlieferung auserlesener Familientugenden auch in Zukunft als Erbe der Seelengröße und des edelsten Stolzes der jeweiligen Familie von Gesc hlecht zu Geschlecht weitergegeben werden wird, wie es schon in der Vergangenhei t vo m Vater auf den Sohn übertragen wurde. " 1

7. Zeugnis se von bleibendem Wert

Nun wird vielleicht j e mand einwerfen, daß nach Papst Pius XII. für die Kirche eine neue Ära begonnen hat, nämlich die des II. Vatikanischen Konzils. Alle Ansprachen des verstorbenen Papstes an das Patriziat und an den Adel von Rom lägen damit wie tote Blätter auf dem Boden der Kirche. Und nach dem Konzil seien die Päpste auch tatsächlich nicht mehr auf das Thema eingega ngen.

Auch di ese Behauptung entspricht nicht der Wahrheit. Und um dies z u beweisen, werden in der vorliegenden Studie argumentandi gratia ausdrucksvolle Zeugnisse von Nachfolgern des betrau e1ten Kirch e noberhauptes vorgelegt. 2

Gehen wir damit zu den im Blickpunkt stehenden Ansprachen von Papst Pius XII. selbst über und heben wir ihren großartigen Lehrreichtum hervor.

1) A nsprac he an die Nobelgarde 1942, S. 349f.

2) Vgl. Kap. 1, 6; Kap . IV. 11.

38 KAPITEL I

KAPITEL II

Die universelle Reichweite der Ansprachen von Papst Pius XII. an das Patriziat und an den Adel von Rom

Lage des italienischen Adels während des Pontifikats von Papst Pius XII.

1. Warum die besondere Berücksichtigung des italienischen Adels?

Die italienische Verfassung von 194 7 erklärte die Ad e l s tit e l fü r a b geschafft. 1 Sie hat d amit d er r ec htliche n Lage e ines tausendjährigen Standes, der heute a l s gesellschaftliche Wirklichkeit s o le bendi g wie e h und je ist, d en Gnadenstoß erte ilt. D a mit wa r ei n in j e d e r Hinsicht komplexes Problem gesc haffen.

Die Komplexität die ser Frage hatte sich bere its vo rh er bemerkbar gemacht. Im Gegen sat z zum Adel and ere r europ ä ische r Länd e r, wie etwa Frankreichs und Portugals, is t die Z us ammenset zung des italie ni schen Ade ls höc h st ungleichmtiger Natur. D as ist darau f zurückzuführen, daß vor der politisc hen Vereinigungsbewegung der Apenninischen H a lbinse l im vergangenen Jahrhundert di e ve rsc hi ed ene n Herrscher, di e ihre M acht übe r irge ndeinen Te il Italiens ausübten, in ihrem jeweilige n H e rrsc hafts be re ic h auch Ade lstite l verliehen ha be n. D a gab e s die Kaiser des Heiligen Römi sch en Reich es D e utscher Reiches, di e Könige v on Spanie n, beider Sizilien, von Sardinien, di e Großherzöge der To s kana, die Herzöge vo n Parma und viele andere. D azu kamen di e Patriz iate vo n Städten w ie Florenz, Genua und Ve nedi g und vor a llem

1) Dieses beso nders dem italie n ischen Ad e l gewidmete Kap ite l ist z um Verstä ndn is d er Gesamtheit der hie r kom ment ie rten Ansprache n Pius· X II. notwendig. Die Ansprac hen s in d jedoch von a ll gemeinem In te re sse sowohl für die Aristo kratien wie auch für d ie verg leichbaren Elite n alle r Länder, wie bere its be tont wurde u nd w ie später e rneut hervorgehobe n w ird (vgl. Kap. 1, 2; Kap. II , 3)

In d e m vo rli egenden Werk ge h t e s d em Verfa sse r u m den Adel u nd d ie vergleic hb aren tradi tio ne ll en Eli ten Eu ropas und Amerikas i m a ll gemeine n Er veranscha uli ch t u nd beleg t se ine Beha u ptungen sel bstve rstä nd li ch anhand verschied e ne r hi s toris cher Beispiele, di e , was Europa a nge ht , me is tens auf die Ade lshäuser F ran kreic h s, Spa ni ens, Po,tuga ls oder eben auf den Adel Roms B ezug nehme n.

Der G ru nd dafür ist darin zu sehe n, daß ei ne Auswei tu ng d e r Be isp ie le a uf a ll e europäischen Länder das Buch e infach z u u mfa n g rei ch machen wü rde. D ies wä re sel bst d a nn der Fall, we n n der Ve r fasser se ine Sam m lung von Beispielen a uch nur auf v ier de r wei te re n Länder ausgewe itet hätte, d ie im Lau fe der Geschi chte und de r Kult ur d es Kontinents von maßgeb lich er Bede utung wa re n, näm lich Deutsch land , Eng land , It al ien, Österre ich.

Tatsächli ch würd e die bew undernswerte Vielfalt des europä ischen Adels e inen weit eren ßand erforderl ich machen, in dem all die anschau li che n Beis piele von En tst e hung, Aufs tieg und N iedergan g dieser Adelsgesch lechter z usa m menzutrage n wä r en.

auch die Päpste, die als weltliche Herrscher eines relativ ausgedehnten Staates ebenfalls Adelstitel verliehen und uns in der vorliegenden Studie natürlich am meisten interessieren. Die Verleihung von Adelstiteln durch die Päpste reichte bis in die Zeit hinein, als ihre weltliche Macht über den früheren Kirchenstaat de facto bereits aufgehoben worden war.

Als es 1870 zur Einigung Italiens kam und die Truppen von Piemont Rom besetzten, versuchte das Haus Savoyen die verschiedenen Adelstraditionen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Doch diese Absicht scheiterte sowohl an politischen als auch an rechtlichen Hindernissen. Viele adelige Familien hielten den abgesetzten Herrscherhäusern, denen sie ihre Adelstitel verdankten, die Treue. Vor allem bestand ein bedeutender Teil der römischen Aristokratie darauf, weiterhin traditionsgemäß und offiziell an den Feierlichkeiten im Vatikan teilzunehmen und weigerte sich, den Anschluß Roms an Italien anzuerkennen; jede Art von Annäherung an den Quirinal wurde von diesen Adeligen abgelehnt, die überdies zum Zeichen des Protestes ihre Salons schlossen. Man bezeichnete sie damals wegen ihres Trauerflors als den Schwarzen Adel.

Gesellschaftlich kam es jedoch infolge von Heirat und sonstigen Beziehungen zu einer beträchtlichen Vermischung, so daß der italienische Adel heute unter mancherlei Gesichtspunkten als ein Ganzes angesehen werden kann.

Der Lateranvertrag von 1929 sicherte jedoch in seinem Artikel 42 dem römischen Adel eine Sonderstellung zu, denn er gestand dem Papst das Recht zu, weiterhin Adelstitel zu verleihen, und erkannte auch die bis dahin vom Heiligen Stuhl verliehenen Titel an. 1 Damit bestanden der italienische und der römische Adel gesetzlich weiterhin - und inzwischen befriedet - nebeneinander.

In dem 1985 zwischen dem Heiligen Stuhl und der italienischen Republik unterzeichneten Konkordat wird auf dieses Thema in keiner Weise eingegangen.

Die Lage des italienischen Adels-wie übrigens des europäischen Adels im allgemeinen - wies auch durchaus komplexe Aspekte auf.

Im Mittelalter bildete der Adel eine Gesellschaftsschicht innerhalb des Staates, der besondere Aufgaben und damit auch bestimmte Ehren sowie entsprechende Auflagen zukamen.

Im Laufe der Neuzeit wandelte sich dieser Zustand immer mehr infolge des Verlustes an Kraft, Glanz und Farbe, so daß bereits vor der Revolution von 1789 der Unterschied zwischen dem Adel und dem gemeinen Volk bedeutend weniger prägnant war als im Mittelalter.

Mit den egalitären Revolutionen des 19. Jahrhunderts erfuhr die Stellung des Adels wiederholt Verstümmelungen. Das ging so weit, daß von der politischen Macht des Adels im italienischen Königreich am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr übriggeblieben war als eine prestigeträchtige Tradition, der jedoch eine große Mehrheit der Gesellschaft Respekt und Zuneigung zollte. Diesem Überrest versuchte die republikanische Verfassung dann den Todesstoß zu geben. 2

1) Im Vertrag vom l l. Februar 1929 heißt es: .,Artikel 42 - Italien erkennt durch königliches Dekret die von den Päpsten selbst nach 1870 verliehenen oder in Zukunft noch zu verleihenden Adelstitel an. Es sind die Fälle feslzu!egen, in denen für die genannle Anerkennung in Italien keine Gebühren abzuführen sind." (Raccolta di Concordati su Materie Ecclesiastiche tra la Santa Sede e le Autorita Civili, Bd II, T ipografia Poliglotta Vaticana, 1954, S. 102). D ie in diesem Art ikel des Vertrages erwähnten „Gebiihren" stellen eine symbolische Abgabe dar, die der italie nische Staat zur Anerkennung der Titel und de r Adelszugehörigkeit von den Adeligen jener Staa ten erhob , die vor der Einigung des Landes bestanden hatten. Die Befreiung von dieser „Gebiihr" bedeutete in gewissen Fällen das ei nzige, minimale Steuerprivileg, das der Vertrag dem päpst liche n Ade l zugestand.

42 KAPITEL II

Während so die politische Macht der Aristokratie mit der Zeit immer weiter abnahm, ging auch ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung zurück, wenn auch nicht so schnell. Mit seinen Gütern in Stadt und Land, seinen Schlössern , Palästen, Kunstschätzen, herausragenden Namen und Titeln sowie wegen des ausgezeichneten sittlichen und kulturellen Wertes seiner traditionellen häuslichen Umgebung , seiner Manieren und seines Lebensstils stand der Adel zu Beginn des Jahrhunderts immer noch an der Spitze der Gesellschaftsordnung.

Die vom Ersten Weltkrieg verursachten Krisen veränderten dieses Bild jedoch teilweise. Manche Adelsfamilie stand nun plötzlich mitte llos da, so daß sich die Familienmitglieder ge zwungen sahen, sich durch die Ausübung von Berufen, die keineswegs im Einklang mit ihrer Gei steshaltung, ihren Gewohnheiten und ihrem gesellschaftlichen Klassenprestige standen, auf würdige und ehrbare Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Andererseits schuf die zunehmend v om Fin anzwesen und von der Technik bestimmte Gesellschaft von heute neue Beziehungen und Situationen sowie neue Mitte lpunkte gese llschaftlichen Einflusses, die normalerweise nicht zum Bild der klassischen Aristokrat ie passen. So entstand neben der alten, noch lebendigen Ordnung der Dinge, eine neue, welche die gesellschaftliche Bedeutung des Adels mehr und mehr zurückgehen ließ.

Zum Nachteil des Adels gesellte sich hierzu schli e ßlich ein wichtige r ideologischer Bestandteil. Die Anbetung des technischen Fortschritts 1 und der von der Revolution 1789 gepredigten Gleichheit trugen dazu be i, ein Klima de s Hass es, d e r Voreing enommenheit , der Verleumdung und des Spottes gegenüber dem Adel zu schaffen, w e il sich di e ser auf d ie Tradition beruft, die durch Blut und Wi e g e weitergegeben wird , was bei d er egalitären Demagogie den größten Haß auslöst.

Der Zweite Weltkrieg hat bei vi e len Adelshäusern zu weiteren, noch schlimmeren wirtschaftlichen Zusammenbrüchen geführt und damit den Ernst der Lage, in der sich d er Ade l sowi eso schon befand, noch verschärft. Eine ganze Gesellschaftsschicht steckte damit in e iner akuten Krise. Angesichts dieser U mstände hat sich Papst Pius XII. in seinen Ansprachen

2) Ange s ic h ts ihrer Bed e u tu ng fü r d as V erständ n is d e r h ier k om m e ntierte n pä pstli chen A nsp ra c he n an das Patriziat und an d e n A del von Ro m u nd gew issenn a ß en an d e n g a nze n ital ie n ischen Adel, is t es h ie r wo h l a ngebrac h t, kurz auf d ie Lage d es Ade ls im Zusa m m enhang m it d e n v ersc hie d ene n Ve rfass un gen im geei n igt en Ital ien, d h. sowoh l w ä hrend d e r M on a rc h ie a ls au ch in d er Repu b lik, e in zuge he n Das bi s 1947 gel te nde Alb er tini sc he S ta tu t e nt sprac h dem am 4 März 184 8 v on Kö ni g Ka rl Alb ert erl a ssene n Gru ndgese tz d es Reic hes vo n Sa rdin ien Di eses S ta tut lral nach und na ch in all j enen Sta aten in Kraft , di e di esem Re ic he ang e sc h lo sse n w u rde n un d ging sc hli e ßli ch in die Ver fa ssung d es gee inten Itali ens e in . Z u den A d e lsti tel n wa r da rin fo lgendes vorgeseh en :

.,Anike l 79 - D ie Adels1itel b leiben denen erha lten, die s ie rechtm äßig bes itzen. Der K ön ig kann neue Tite l verleihen

A rti ke l SO -Niema nd d m f A uszeich111 111gen, Titel oder Unterh altsgelder vo n einer a us lä n disch e n Macht entgegennehmen, es sei denn m it Genehm igung des Kön igs." (S ta tuto de/ R egno, a nn ota to <l a ll ' avvocalo Carlo Ga lli ni , Un io ne T ipo gra fi co Edit ri ce, Turin 18 7 8, S 102 .)

Die it a li e ni sche V erfass u ng a us dem J a hre 1947 h inw ie d er legt in ihre n Übergan gs - und Sch lußb esti m mungen fest:

.,XJV - Ade/s tite l werden nic ht an erk annt Die vor dem 28 O ktober 1922 ben utzten Pr ädikate gelten o/s Teil des Ncunens Der Mauritius- Or den wird als Spitals triiger beibeh alten un d kann als solcher seine Tät igkeit nach Gesetzesvorgabe we ite 1jiihren Das Gesetz rege lt die Auflösung des Wapp enamtes " ( Costit11zio ne de /l a Repubblica ltaliana, G a zzetta Uffi c ial e, Nr. 2 98, 2 7.1 2. 1947 , S 4 5/46 )

D as ,,Ad elspr ädikat" se tz t sic h a us d em Name n des fr üh e ren Herrsc ha ftsg e bie tes und d e m Bein ame n der Fa m i lie zusamme n (z

B Fü rs t Co lo nna d i Pa li ano) Di e Verfassung von 1947 er la ubt , da ß in Urku nd en d er z usa mme ngesetzte Na me g eb rauch t w ird, vorausgesetz t, d a ß di eser vo r de r M achtüberna h me des Fasch is m us' g e b rä uch lic h war. Das„ Wappenamt" der monarchischen Ze it wa r ein Sondergerich t , das in Ti te l- un d W appe nfragen zu en tsc he id e n h a tt e He u te entspricht d ieser E inrichtu n g das itali en ische Ad elskorps, d e s se n Ent sc he id un ge n zwa r ke ine gesetzliche Kraft ha b en, d as j ed oc h e in hoh es m ora lisches und hi s to r isc hes P res ti ge genie ßt Es e n tscheide t ü ber di e Z ul assun g von Mi tgliede rn z u Verei n igungen wie d em Malteser- Orden, d e m Jagdkreis, d em Scha chkre is usw Wede r in de r al te n noc h in de r neue n ita li e n ischen Ver fass ung werden de m A de l irgendwe lc he Vo1t eile p o lit isc her oder s teuer li cher N atu r ei ngeräumt , de nn na c h dem A lbertin isc hen Sta tut w ird der Ad el n ur noc h al s Rem in isze nz der Vergan ge nhe it a ne rka nn t.

1) Leser, de nen di e ser A usdruck ü be rtrieben ersc hei ne n m a g , tun gut d aran, d ie S te llun gn a hme Pi us' X II. in se iner W e ihnachtsa nsp rac he des J a hres 1953 ke nnenzule rn e n (vg l. K a p V , 3c )

DIE UNIVERSELLE REICHWE ITE DER ANSPRACHEN PAPST PI U S ' XII. 43

an das Patriziat und an den Adel von Rom zur Lage des italienischen Adels in unserer Zeit geäußert. Se in e Worte lassen sich aber ebenso auf den europäischen Adel insgesa mt anwend en.

2. Papst Pius XII. und der Adel Roms

Besonders was den römischen Adel angeht, kannt e Papst Pius XII. diese Lage in allen ihren Einzelheiten.

Er selbst stammte schli eßlich aus einer adeligen Familie, deren Bekanntenkrei s sich natürlich auf den Adel erstreckte. E in h ervo rragendes Mitglied der Familie war übri gens 1929 z um Marquis erhoben worden, und den Neffen des Papstes - Don Carlo Maria, Don Marcantonio und Don Giulio Pacelli - wurden vo m italienische n König Vittorio Emanuele III. erbliche Prinzentitel verli e h e n '

In diesem Papst selbst lag etwas Adeliges: in seiner schlank en Gestalt, se inem Schritt, seinen Ges te n, ja sogar in seinen Händen. Di ese r Papst mit se inem universellen Geist, der Freund d e r Kl e ine n und Armen , war g leichzeiti g se hr römisch und bedachte mit seiner A ufm e rk samkeit, sein er Achtung und Zuneigung auch den römischen Adel:

„ Im Patriziat und dem römischen Adel erkennen und lieben Wir eine Schar von Söhn en und Töchtern, die aufIhr Treueverhältnis zur K irche und zum H eiligen Vater stolz sind. Ein Verhältnis, vererbt durch die Vorfahren, deren Liebe zum Stellvertre t er Christi aus den t iefsten Wurzeln des Glaubens erwachsen ist und weder durch den Ablauf der Zeit noch auf Grund der - von Menschen und Zeitumständen abhängigen - Zufälligkeiten des Lebens nachgelassen hat. In Eurer Mitte fühlen Wir uns noch mehr als Römer, aufGrund gemeinsamer Lebensgewohnheite n und der Luft, die Wir geatmet haben und noch immer atmen. Unter dem g leichen Himmel und dem gleichen Sonnens chein lebend, an den gleichen Ufern des Tiber, wo auch Unsere Wiege stand, aufder gleichen Erde, die bis in den letzten Winkel heilig is t und aus der Rom fiir seine Kinder den Schutz e in er Ewigkeit, die b is an den Himmel reicht, immer auf 's neue schöpft. " 2

3. Die universelle Tragweite der Ansprachen von Papst Pius XII. an das Patriziat und an den Adel von Rom

Wenn man die Angelegenheit in diesem L ichte s ie ht, könnte auf den e rsten Blick der Ei ndruck e ntsteh en , di e Ansprachen a n das Patriziat und a n den Adel vo n Rom seien nur für Itali en v on Interesse

In Wirklichkeit ers trec kt s ic h aber die Krise, in der sich d e r italienische Ade l he ute b efi nd et, mutatis mutandis auf alle übrigen Länder mit e iner monarchischen und aristokrat isc hen Vergangenheit und verscho nt selbst di e Länder nicht, die gege n wä rti g unte r e ine m m ona rchischen R eg ime lebe n , d e nn auch hi er ist di e Lage des Adels durc h a us mit der zu verg le ic h en , die im Itali e n der Savoyer bis 1946 herrsc hte

M ehr noch. Selbst in Ländern ohne monarchische Vergangenheit bildeten sich im Z u ge des natürlichen Verlaufs der Dinge faktisch, we nn nicht gar re c htlich, Ari stokratien he rau s. 3 Auch in dies en Ländern hat di e aus der Revolution von 1789 he rvorgegangene und durch

1) Vg l. Libro d'Oro della Nobilita ltaliana, Colleg ia Araldico, Ro m , 19. Au fl ., 1986- 1989, Bd XX.

2) Ansprache an das Pa triz ia t und an den Ade l von Rom , 1941 , S 363.

3) Vgl. Kap. V , l ; Ansprache a n PAR von 1947, S 370f.

DIE UNIVERSELLE REICHWEITE DER ANSPRACHEN PAPST P IUS , XII. 45

den Kommunismus auf ihren Höhepunkt getriebene Welle demagogischen Egalitätsdenkens in bestimmten Kreisen ein Klima der Gereiztheit und des Unverständnisses gegenüber den traditionellen Eliten hervorgerufen.

Die Ansprachen des Heiligen Vaters Pius ' XII. sind also von universellem Interesse.

Zu berücksichtigen ist auch die Tatsache, daß der Papst- indem er sich vordergründig mit der Lage in Italien auseinandersetzt- gleichzeitig höchst wichtige Betrachtungen lehramtlicher Natur anstellt, denen durchaus eine zeitlose, universelle Tragweite zukommt.

In der Ansprache vom 26. Dezember 1941 an die päpstliche Nobelgarde ist zum Beispiel der folgende Abschnitt zu finden, in dem Papst Pius XII. seine Erwägungen über den Adel zum Anlaß für höchste philosophische und theologische Reflexionen nimmt:

,,Ja, der Glaube adelt Eure Reihen noch mehr, da aller Adel von Gott kommt, dem adeligsten Wesen und der Quelle aller Vollkommenheit. In ihm ist aller Adel des Seins. Als Moses den Auftrag erhielt, das Volk Israel vom pharaonischen Joch zu befreien,fragte er Gott aufdem Berge Horeb, unter welchem Namen er IHN dem Volke vorstellen solle. Daraufantwortete ihm der Herr: ,Ich bin, der ich bin: Ego sum qui sum. So sollst Du zu den Israeliten sprechen: Der ,ich bin ' hat mich zu Euch gesandt' (Ex 3,14). Was ist denn nun aber der Adel? , Der Adel eines jeden Dinges', lehrt der Doctor angelicus, der heilige Thomas von Aquin , ,gehört zu ihm je nach seinem Sein; tatsächlich wäre etwa der Adel nichtig, der dem Menschen wegen seiner Weisheit zukommt, wenn diese ihn nicht wirklich weise machte; und dasselbe gilt auch für die übrigen Vollkommenheiten. Die Art und Weise des Adelseines Dinges entspricht also der Art und Weise wie es das Sein besitzt; darum heißt e s, daß ein Ding mehr oder weniger adelig ist,je nachdem, ob sich sein Sein auf einen höheren oder geringeren Grad an Adel beschränkt .... Da nun Gott sein eigenes Sein ist, bes itzt er das Se in im vollen Ausmaß eben dieses Seins; es kann ihm daher kein Adel abgehen , der sich in irgendeinem Ding befindet' (Contra Gent. lib. I , c. 28).

Auch Ihr habt das Sein von Gott; er hat Euch gemacht, und nicht Ihr Euch selbst. ,Ipse fecit nos, et non ipsi nos' (Ps 99,3). Er hat Euch den Adel des Blutes, den Adel des Wertes, den Adel der Tugend, den Adel des Glaubens und der christlichen Gnade geschenkt. D en Adel des Blutes habt Ihr in den Dienst der Kirche und in den Schutz des Nachfolgers des heiligen Petrus gestellt; Adel der herrlichen Werke Eurer Vorfahren, der Euch selbst adelt, w enn ihr Euch darum bemüht, Tagfii.r Tag in e inem jeden von Euch den Adel der Tugend zu vermehren Um so lobenswerter erglänzt der mit der Tugend einhergehende Adel,ja das Licht der Tugend stellt oft sogar den Glanz des Adels in den Schatten, und in Pracht und Unglück der großen Familien überlebt oft einzig und allein der Name der Tugend, wie selbst der H eide Juvenal erkennen muß (Sat. VIII,19-20):

, Tota licet veteres exoment undique cerae atria, nobilitas sola est atque unica virtus' [Mögen auch die alten Figuren aus Wachs auf allen Seiten die Paläste der großen Familien schmücken, so ist doch ihr einziger, ausschließlicher Adel die Tugend]." 1

DIE UNIVERSELLE REICHWEITE DER ANSPRACHEN PAPST PIUS, XII. 4 7
1) Ansprache an die Nobelgarde 1941, S. 337f.

KAPITEL III

Voll< und Masse - Freiheit und Gleichheit:

ursprüngliche Begriffe und revolutionäre Begriffe in einem demol<ratischen Regierungssystem

Die Lehre von Papst Pius XII.

Bevor wir aber zu den Te xten der Ansprachen von Papst Pius XII. an das Patriziat und an den Adel von Rom übergehen, will es uns angebracht erscheinen , einem e rschrockenen Befremden zuvorzukommen, das die Lektüre unserer Kommentare bei gewissen Leuten auslösen könnte, die unter dem Einfluß des radikal egalitären Populismus unserer Tage stehe n. Oder auch bei anderen , die, obwohl sie vielleicht selbst z um Adel und zu den vergleichbaren Eliten zählen, fürchten, mit der freimütigen , offenen Befürwortung vieler der in dieser Studie vorgebrachten Behauptungen den Z orn der Wortführer eben dieses Populismus heraufzubeschwören. In dies e r Hinsicht dürften die Rückbesinnung auf die wahre katholische Lehre über die gerechten und angemessenen Ungleichheiten in der Gesellschafts- und gegebenenfalls auch in der politischen Ordnung sowie der e n Erläuterung gerade zur rechten Zeit kommen.

1. Legitimität und sogar Notwendigkeit gerechter und angemessener Ungleichheiten unter den Gesellschaftsschichten

Die marxistische Doktrin vom Klassenkampf behauptet, daß alle Ungleichheit ungere cht und schädlich sei und daß es daher der unte ren Klasse erlaubt sei, sich w eltweit für die Abschaffung der oberen Schichten einzusetzen: ,, Prole tarie r aller L ä nder, v e re inigt e uch!"

Mit diesem allseits bekannten Aufruf schlossen Marx und Engels 1848 ihr Kommuni stisches Manifest. 1

I) Karl Marx und Fri edric h Enge ls, M anifest der Komm un is tischen P artei, Lo nd o n 184 8, S 30

Demgegenüber behauptet die traditionell e katholisch e Lehre, da ß gerechte und angemessene Ungleichheiten unter den Menschen nicht nur leg iti m , so nd ern sogar not wendig seien. 1 Deshalb verurteilt sie auch den Kla sse nkampf.

Diese Verurteilung erstreckt sich selbstverständlich nicht au f die Bemühungen oder unter Umständen sogar auf den Kampf e iner Klas se um Anerkennung des ihr zuste h e nden Platzes im gesellschaftlichen bez iehungswe ise im politischen Ganzen. Sie spric ht sich jedoch dagegen aus, daß die an sich leg itime Notwehr einer angegriffenen Kla sse in einen Ausrottungskrieg gegen andere Klassen ausartet oder auch nur z ur A bl e hnun g der Rollen führt, die einer jeden Kla sse im Gesellschaftskörper zuko mm en .

Ein Katholik muß sich für Eintracht und Frieden zwisc hen d e n Klas se n e in set ze n , ni c ht aber für d e n chronischen Kampf zwischen ihne n , vo r allem, we nn es be i di es e m Kampf u m die Errichtung eines R e gimes vö lliger, radikal e r Gleichheit ge ht.

Di es alles würde besse r vers tanden, wenn die b ew und e rn swe r te n L eh re n P ap s t Piu s ' XII. über Volk und Masse überall im Westen die ihn e n ge bührende Verb reitu ng gefund e n hätte n.

„Fre ih e it, w ie vi e le Verbrechen werden in de inem Namen b egan gen !" soll di e berühmte französische Revolutionärin Madame Roland a u sge rufen hab en , b evor s ie a uf e ine Entscheidung des Terrorreg imes hin enthauptet wurde.2

Ähnlich könnte man auch angesichts der G esc hichte unseres v e rwo rrene n 20 Jahrhunderts ausrufen: ,,Volk, o Volk, wie viele Torheiten, w ie v ie l Unrecht , w ie v ie l e Verbrechen werden in d e inem Namen von den revo luti o när e n D e m agoge n un se re r Zei t b e g an ge n. "

Gewiß liebt di e Kirch e d as Volk und is t s to lz d ara uf, es se it ihr er Gründung durc h ihren göttlichen Meister ganz b esonde r s ge li eb t zu hab e n.

Was aber ist da s Volk? Sicher is t es e twas ga n z and e res a ls die Masse, die wi e e in a ufg ep e itschtes Meer gar le icht zur B eut e revolutionärer Demagogie wi rd.

Als Mutter versagt die Kirche auch de n Massen nicht ih re L ie b e. Aber gerade , we il sie s ie liebt , wünscht sie ihn en als kostbares Gut den Ü b ergan g vom Zus ta nd de r Masse in den des Volkes.

Geht es in dieser B ehauptun g aber nicht um ein bloßes Wortspiel? Wa s b e d e utet denn Masse? Was he ißt denn „ d as Volk"?

2. Volk und gestaltlose Menge - zwei verschiedene Begriffe

Die bewundernswerten Lehren von Paps t Pius X II. ste ll en dies e Begriffe kl ar und beschre ibe n im Gegensatz z u dem , was di e Propheten d e s Klassenkampfe s v e rkünd en, die n atürliche E intracht, di e zw isc h e n d en E lite n und dem Volk he rr s c he n kann und so ll.

In se ine r Rundfunkbotschaft zum Weihnachtsfest 1944 sagte Pap s t Piu s X II.: 3

,, Volk und ges taltlose Menge oder Masse, wie man z u s agen pfleg t, s in d zwe i ve r schie d ene Begriffe.

1) V g l. Dokume nte V

2) V g l. J TULARD, J. F FA YARD und A. F I ERRO, His toria da Revo/11c;ii0Fra11cesa, Ed i9äo L i vros do Bra si l, Lisboa, 1989, Bd II , S 34 1

3 ) D ie N u mm e ri e run g der Abs c h n itt e, in d e ne n es u m d e n U nt ersc h ied zwisc hen Masse u nd Vo lk ge ht , s tammt vom Ve r fasser. Diese r hat auch d e n Orig ina ltext in g et re n nt e Absä tze aufget e i lt, u m a uf d iese W e ise dem Leser d ie A na lyse z u erlei c hte rn

VOLK
UND MASSE - FREIHEIT UND GLEICHHEIT 51

1. Das Volk lebt und bewegt sich aus eigener Krafi; die Masse ist an sich träge und kann sich nur mit Hi(fe einer von außen kommenden Krafi bewegen.

2. Das Volk lebt aus der Fülle des Lebens jener Menschen, aus denen es sich zusammensetzt, von denen ein jeder-an seinem Platz und aiif'die ihm eigene Art und Weise- eine der eigenen Verantwortlichkeiten und Überzeugungen bewußte Person ist. Die Masse erwartet hingegen den von außen kommenden Anstoß und wird daher leicht zum Spielball in den Händen dere1; die ihre Tri e be und Eindrücke auszunutzen wissen, und so.folgt sie denn auch bereitwillig heut e di eser und morgen einer anderen Fahne.

3. Aus dem Üb e rfluß des Lebens eines wahren Volkes verbreitet sich das Leben in reicher Fülle iiber den Staat und seine Organe und schenkt diesen mit ständig sich erneuernder Kraft das Bewußtse in der eigenen Verantwortung, den wahren Sinn für das Gemeinwohl. D er geschickt g e handhabten und genutzten Elementarkraft der Masse kann sich auch der Staat bedienen ; in d en e hrgeizigen Händen eines einzelnen oder verschiedene,: durch eigensüchtige N e igungen künstlich miteinander verbundener Menschen kann selbst der Staat mit Hi(fe der s c hlic htw eg in eine Maschine verwandelten Masse dem besseren Teil des Volkes seine Willkii r aufzw ingen. Das Gemeininteresse erhält damit ein en schweren, dauerhaf ten Schlag, und d ie Wund e ist schon bald nur noch schwer zu heilen. "

3. Die n atu rgegebenen Ungleichheiten müssen auch in einer wahren Demo kratie zu finden sein

Der Paps t unte rscheidet daraufhin zw isc hen der wahren und der falschen D e mokratie : Die erste ist da s Pendant zum Vorhandensein eines wahren Volkes, während die zweite die Folge der Reduktion des Volkes in den Zustand einer bloßen Menschenmasse ist.

4. ,, Daraus läßt sich ein weiterer Schluß ziehen: Die Masse, wie wir sie eben definiert haben, ist der Haup(/eind der wahren Demokratie und ihres Ideals von Freiheit und Gleichheit. "

5. in einem Volk, das diesen Neunen verdient, spürt der Mensch in sich selbst das Bewußtsein seiner Persönlichkeit, seiner Pflichten, seiner mit dem Respekt gegenüber der Freiheit und Würde des N ächsten gepaarten Freiheit. In einem Volk, das diesen Namen verdient, bilden all die Ung leichheiten, die nicht auf Willkür, sondern auf die Natur der Dinge selbst zuriickzufiihren sind, also Ungleichheit der Kultur, des Besitzes, der gesellschaftlichen Stellung - wolzlgemerkt, stets im Rahmen von Gerechtigkeit und Nächstenliebekeineswegs ein Hindernis für das Vorhandensein und die Vorherrschaft eines echten Geistes der Gemeinschaft und der Brüderlichkeit. Statt das Prinzip bürgerlicher Gleichheit zu verletzen , verleihen sie diesem seine legitime Bedeutung, die da sagt, daß vor dem Staa t jeder das Recht hat, au dem Platze und unter den Bedingungen, die ihm die göttliche Vorsehung zugedacht haben, in Ehren sein eigenes Leben zu gestalten. "

Diese Definition ec hter und legitimer „bürgerlicher Gleichheit" sowie der damit e inhergehenden B egriffe von „Brüderlichkeit" und„ Gemeinschaft", die im selben Absatz ebenfalls angesprochen werden, stellt mit ihrem gedanklichen Reichtum und ihren treffenden Worten das klar, was nach katholischer Lehre die wahre„ Gleichheit", ,,Brüderlichkeit " und „Gemeinschaft" ausmacht. Dieses Verständnis von „Gleichheit" und „Brüderlichkeit" erweist sic h als das genaue Gegenteil von dem , was im 16. Jahrhundert die protes tanti sc h en Sekten mit mehr oder weniger Nachdruck in ihren jeweiligen kirchlichen Strukturen einführten. E benso steht dieses Verständnis im Gegensatz zu jener berüchtigten Dreiheit, welche die Französische Revolution und ihre Anhänger auf der ganzen Welt zum Wahlspruch der bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung hochgespielt haben und wel-

52 KAPITEL III

ehe s chli e ßlich di e Ru ss ische Re v olution v on 1917 a uf di e s ozia löko no mi s che Ord nung au sg ew e itet haben. 1

Diese A nm e rkung is t b esonders wi chti g anges ichts de r Tats ac h e, d a ß im a ll ge m e in e n Sprachge brauch , wie er nicht nur im pri v ate n G es präc h , s onde rn a u c h in d e n M assenmedi en Anwendung find e t, di e se Wö rte r m eis te n s in e ine m fal sch en, rev olutionären S inn gebraucht werden.

4. In einer entstellten Demokratie verwandelt sich Freiheit in 'fyrannei, und Gleichheit entartet in mechanische Gleichmacherei

Nachde m e r s o die w a hre Demo krat ie defini e rt h at, b e sc h re ibt Pap s t Piu s X II. a uch d ie fal s ch e D e mokra ti e :

6. ,,Im Gege11satz zu diesem Bild des demokratis chen Ide als vo11 Fre iheit u11d Gleichheit in ei11em v o11 ehrlichen, vorsorgenden Händen regierten Volke bie tet sich uns das Schauspiel eines der Willkür der Massen ausge lieferten Staates. Die Freih e it als sittliche Verpflichtung des Menschen ve rwandelt sich hie r i11 de11 tyra1111 ische11 Anspruch , den menschliche11 Trieben und Begierden z um S c h,ulen des N äch s ten fi'e i e n Lauf zu lassen. Die Gleichheit entartet ill mechanisc h es N ivellement (= Gle ichm ac h e re i, Anm) , in mon otone Gleichförmigkeit; das Gefiihl wahre r Ehre , das pers ö 11liche Handeln , die Ehrji,rcht gegenüber Traditi on und Würde, mit e in e m Wort, gegenüber allem, was das L e ben wertvoll macht, wird nach und nach ve rschüttet und ve rs c hwi nde t. Übrig bleiben nur at~l der eille11 Seite die von d e n scheinbaren Re i z en der Demokratie getäuschten Opfe r, we il sie diese mit dem eigentlichen Geist der Demokra tie, mit Fre iheit und Gleichheit verwechselt haben; und auf der anderen Seite die mehr oder we niger zahlreichen Schmarotzer, die e s verstamle n haben, sich du rch den Ei11satz finan z ie lle r oder orga11isatorischer Mittel gege11üb e r den ande rn eine privilegierte Ste llung und die Macht s e lbst zu s i c h ern. " 2

Auf di ese Prinz ipi e n de r Rundfunkbotsch aft v om We ihn ac h ts fes t d es Jahre s 1944 g ründ e t s ic h e in g roß e r Te il d e r L e hr en Paps t Pius' X II. , d ie in d e n Ansp rac he n a n d as P a t r iz ia t u nd an d en Ad e l vo n R o m sowie a n die päp st li c h e N obe lga rde ihre n N i e d e r sc hl ag g efu nde n h a b e n.

N ac h di ese r obj ek ti ve n B esc hre ibun g d e r L age d urc h den Pa p s t ist e s se lb st ve r stä ndl ic h , d a ß a u c h in un se r e n Tag e n in e in e m wo hl geo rdnete n Staa t, g an z g lei ch, ob di es er mo n a rchi sc h , a ri s tokra ti sc h ode r e b e n de m o kra ti s c h r egi e1 i wi rd , d e m A d e l un d d e n tra di t io ne ll en E li te n e ine ho h e, un abding b a re A ufga be zus te ht , w ie w ir im fo lge nd e n se h e n we r d e n.

1) Vgl. Pl in io Co rrea de O live ira , Revo fliti o11 1111d Gege11 revo/11 tio11 T F P- B ü ro Deu tsch la n d. Frank fu rt 1996, S. 5 1-5 4 S a uc h An ha ng II d es vor liegenden Werk es.

2) D iscorsi e Radiomessaggi di Sua Sa11ti tci Pio XII, T ip o gra fi a Po lig lotta Va1ica n a , Bel V I. S 239f.

VOLK UND MASSE - FREIHEIT U N D G LEI C HH EIT 53

KAPITEL IV

Der Adel in einer christlichen Gesellschaft -

Die Fortdauer seines Auftrages und seines Prestiges in der heutigen Welt

Die Lehre von Papst Pius XII.

1. Klerus, Adel und Volk

Im Mittelalter setzte sich die Gesellschaft aus die sen drei Teilen zusammen, denen jeweils be so ndere Aufgaben, Privilegien und Ehren zukamen.

Neben dies e r Dreite ilung wurde in jener Gesellschaft deutlich zwischen Regie re nd e n und R egierten unterschieden, ein Kennzeiche n , d as sowohl der Gese ll sc haftsgrupp e a ls Ganzes als auch besonde rs einem Lande eigen war. Das Regieren blieb jedoch nicht allein dem Köni g vo rbehalte n, v ielme hr wurden daran auch die Geistlichkeit, d e r Ade l und das Volk beteiligt, jeder auf se ine Art und in d e m ihm z us te he nd e n Maß.

Wir wissen, daß Kirche und Staat jeweils vollkommene Gesell sc hafte n bilden , die sich voneinander untersc heiden und in ihrem j eweiligen Bereich als souverän anzusehen sind : die Kirche im geistigen und der Staat im we ltli c hen Bereich.

Dieser Unterschied besagt jedoch nicht , daß sich der Klerus im Staatswesen nicht auch an den Regierungs aufgaben b et eilige n darf. U m dies nicht aus de m Gesichtsfeld z u verlieren, soll hi e r in wenigen Worte n klargeste llt werden, worin der spezifisc h g eistige und relig iöse Auftrag besteht, der dem Klerus ins besondere zuko mmt.

Unter geistigem Gesichtspunkt bildet der Klerus die Gesa mtheit derjenigen , de nen in der Kirche Gottes die Lehre , die Leitung und di e H e iligu ng obliegt, währe nd es d e n e infachen Gläubigen zus teht, unterwiesen, geleitet und geheiligt z u werden. Die s ist die hi erarc hisc he Anordnung der Kirche.

Zahlreiche Verlautbarungen d es kirchlichen L e hra mtes lege n die se n U nt e rsc hi ed zwischen d e r lehrenden und der lernend en Ki rche fest. So verkü nd et etwa d e r he ilige Papst Pius X. in seiner En zyklika Vehementer Nos:

,, Die H eilige Schrift lehrt uns, und die Überlieferung d er Kirchenväter bestätigt dies, daß die Kirche der mystische Leib Christi ist, d er von Hirt en und Lehrern geleitet wird; es

handelt sich demnach um eine Gesellschaft, in der einige den andern vorstehen und dazu mit der Fülle der Gewalt zu fahren, zu lehren und zu richten ausgestattet sind. Diese Gesellschaft ist daher von Natur aus eine ungleiche, denn es gibt in ihr zwei Gruppen von Menschen: Die Hirten und ihre Herde, das heißt diejenigen, welche die verschiedenen Stufen der Hierarchie einnehmen, und die Menge der Gläubigen. Diese beiden Gruppen unterscheiden sich grundsätzlich voneinander, allein die Hirten besitzen das Recht und die Autorität, die Menge zu orientieren und sie zum Ziel der Gesellschaft hinzufahren; die Pflicht der Menge aber besteht darin, s ich leiten zu lassen und gehorsam den Anweisungen ihrer Führung zu folgen. ,,1

Dieser Unterschied zwischen Hierarchie und Gläubigen, Regierenden und Regierten in der Kirche wird auch in mehreren Verlautbarungen des II. Vatikanischen Konzil s bestätigt:

„ Wie die Laien aus Gottes Herablassung Christus zum Bruder haben, .... so haben sie auch die geweihten Amtsträger zu Brüdern, die in Christi Autorität die Familie Gottes durch Lehre, Heiligung und Leitung weiden" (Lumen Gentium, 32).

„ Die Laien sollen wie alle Gläubigen das, was die geweihten Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer und Leiter in der Kirche festsetzen, in christlichem Gehorsam bereitwillig aufnehmen" (Lumen Gentium, 37).

„ Die einzelnen Bischöfe, denen die Sorge für eine Teilkirche anvertraut ist, weiden unter der Autorität des Papstes als deren eigentliche, ordentliche und unmittelbare Hirten ihre Schafe im Namen des Herrn, indem sie ihre Aufgabe zu lehren, zu heiligen und zu leiten an ihnen ausüben" (Christus Dominus, 11). 2

Die Geistlichen haben vor allem den erhabenen, spezifisch religiösen Auftrag, durch die Ausübung ihres heiligen Amtes für die Rettung und Heiligung der Seelen Sorge zu tragen. Diese Sendung bringt in der weltlichen Gesellschaft eine höchst segensreiche Wirkung hervor- so ist es immer schon gewesen und so wird es wohl auch bis zum Ende der Zeitenbleiben. Heiligung der Seelen bedeutet, daß die Seelen von den Grundsätzen der christlichen Moral durchdrungen und zur Einhaltung des göttlichen Gesetzes angehalten werden. Nun ist aber ein Volk, das sich dem Einfluß der Kirche gegenüber empfänglich zeigt, ipso facto auf ideale Weise dazu bestimmt, sein zeitliches Handeln so zu ordnen, daß es sicher zu einem hohen Grad an Vortrefflichkeit, Wirksamkeit und Erfolg führt.

Vom heiligen Augustinus stammt das berühmte Bild von einer Gesellschaft, die sich nur aus guten Katholiken zusammensetzt. Man stelle sich einmal vor, meint er, ,, ein Heer, das nur aus Soldaten besteht, die nach der Lehre Jesu ausgebildet sind, ebenso Amtspersonen, Ehemänner, Ehefrauen, Eltern, Kinder, Herren, Knechte, Könige, Richter, Steuerzahler und Steuereinzieher, wie sie die ch ristliche Lehre will! Da sollen es [die Heiden] noch wagen zu behaupten, daß diese Lehre den Interessen des Staates entgegensteht! Im Gegenteil, sie müssen ohne Zögern zugeben, daß sie, wenn sie getreulich eingehalten wird, ein großer Schutz für den Staat ist. "3

Unter diesem Blickwinkel war es Aufgabe des Klerus, die eigentlichen moralischen Grundlagen der vollkommenen, das heißt der christlichen Zivilisation zu schaffen und ihre Festigkeit zu erhalten. So war es ganz natürlich, daß auch die Erziehung, die Dienste der Fürsorge und Nächstenliebe zu den Aufgaben der Kirche gerechnet wurden, die so ohne Be-

1) Acta Sanctae Sedis, Rom, 1906, Bd. XXXIX, S. 8f.

2) Sacrosanctum Oecumenicum Concilium Vat icanum II, Constitutiones , Decreta, Dec/arationes, Typis Polyg lotti s Vatic anis , 1974, S. 154, 162, 285.

3) Epistola 138 ad Marcellinum, Kap. II, Nr. 15, Opera Omnia, Bd. II, Migne, Sp. 532.

56 KAPITEL IV

Das Zweite Vatikanische Konzil bestätigte die Unterscheidung zwischen der lehrenden und der hörenden Kirche (Ecclesia docens , Ecclesia discens), worauf in zahlreichen Dokumenten des kirchlichen Lehramtes hingewiesen wird. Der Hierarchie gebührt es, ,,zu lehren, zu heiligen und zu regieren " . (vgl. Christus Dominus, 11)

lastung der Staatskassen jene Dienstleistungen ausführte, die in den laizistischen Staaten von heute den Ministerien der Erziehung und der Gesundheit zugeordnet sind.

So ist es verständlich, daß die Geistlichkeit infolge des üb e rn a türlichen, heiligen Charakters ihres geistigen Auftrages sowie wegen des grundlegenden, wesentlichen Inhalts der Auswirkungen dieses Auftrages - wenn er auf rechte Weise in der weltlichen Gese llschaft ausgeübt wird - als die erste Klasse in der Gesellschaft angesehen wurde.

Andererseits spielt der Klerus, d er z ur Ausübung seiner hohen Sendung von keiner weltlichen Gewalt abhängt, eine aktive Rolle bei der Herausbildung des Geistes und der Denkweise einer Nation. Zwischen Klerus und Nation besteht normalerweise ein auf Verständnis, Vertrauen und Zuneigung beruhender Austausch , der dem Klerus einzigartige Möglichkeiten eröffnet, die Bedürfnisse, die Sorgen, die Leiden, kurzum alle Belange der Volksseele kennenz ulernen. Doch nicht allein die Belange der Seele , sondern auch die Aspekte des weltlichen Lebens sind mit der Geistlichkeit untrennbar verbunden. Darum ist es für den Staat so wichtig, die Stimme des Klerus zu hören und ihn an den nationalen Entscheidungen teilhab e n zu lassen, denn so bie tet sich ihm eine wertvolle Chance, den Pulsschlag der Nation zu fühlen

Obgleich der Auftrag des Klerus nicht im politischen Bereich zu suchen ist, dürfte es also durchaus verständlich sein, daß Geistliche im Laufe der G esc hichte o ft d er Staatsgewalt als geachtete Berater z ur Seite sta nden und wertvolle Beiträge zur Erstellung gewisser Gesetzesvorlagen und Regierungsorientierungen geleistet haben .

Die Beziehungen zwischen Klerus und Staatsgewalt beschränken sich jedoch keinesfalls auf diese Art von Zusammenarbeit.

Die Geistlichkeit setzt sich nicht aus Engeln zusammen, die im Himmel leben , es hand e lt sich vielmehr um Menschen, die als Dien er Gottes konkret auf dieser Erde leben und handeln. Unter diesem Blickwinkel ist auch der Klerus Teil der Bevölkerung eines Landes. Als solcher haben seine Mitglieder besondere Rechte und Pflichten. Der Schutz dies er Rechte und die rechte Erfüllung die se r Pflichten ist von größter Wichtigkeit für dies e beiden vollkommenen Gesellschaften, d. h. für die Kirche und den Staat. Beredt bringen dies die Worte Papst Leo XIII. in der Enzyklika Jmmortale D e i zum Ausdruck. 1

Dies alles zeigt, daß sich der Klerus als eine genau umrissene Kla sse von den übri ge n Mitgliedern einer Nation untersche idet; da er aber e in leb e ndige r Teil des Gan zen ist, stehe n ihm auch Stimme und Mitspracherecht in den öffentlichen Angelegenheiten des Landes z u.2

1) ,.Es gab ein e Zeit. in der die Philosoph ie des Eva11geli11ms die Staate n r egierte. In dieser Epoch e d urchdrangen der Einfluß der c hris tlic hen We is h e it 1111d ih re göu/ic h e Kraft die Gesetze, die Einric htunge n , d ie Sillen der Völker, alle Kategorien 1111d Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft Dank d er G un st d er Fürsten und d es legi timen Schutzes der Amt:,personen blühte damals überall d i e von Christus gegründete R eligio n und erhielt d ie ihr zustehende Anerken nung. Zwischen Priestertum 11nd K aisert11 m h e rrs chte e in gliickliches E inve rne hm e n im Diens tefre1111 dsclwftlich er Gegenseitigkeit: A11fd iese Wei s e o rganisiert, trug die b ürgerliche Gese llschaft un e n vartet r e iche Früchte, und die Erinnerung an sie lebt for t 1111d wird in den za hllosen Zeugn is sen weiterleb e n , die k e in M anö ve r ihrer Gegnerjemals verderben oder verdunkeln ka n n" (Acta Sanctae Sedis, Typis Polyglottae Officinae, Ro m, 1885, Bd XVIII , S 169).

2) Ei n we iterer Aspekt die ser legit imen Beteili g ung des Kle ru s a m öffentlichen Leben e ines L andes be ruh te in de r Ze it des Lehns w ese ns au f dem V o r hand e nsein von Bistümern und Abte ien, deren Vorsteher ip s o facto g le ic hze it ig die Lehnst räger der j e w e ili ge n Gebie te waren So waren e tw a der Kurfürst von Köl n oder der Für stb ischof von G e n f a l s B ischö fe automatisch auch d ie Fürsten von Kö ln oder Gen f, u na bhängig da von , o b s ie vom Adel w a ren ode r au s dem Volk e stammte n. Ei ner der letzte n di eser Fü r s tb isc höfe wa r der große Ki rc he n le hrer, d e r he ili ge Franz von Sales N eben den Fürstbischöfen gab es auch kirchliche Würden träger mit ge r ingeren Adels titeln. So waren etwa in Braga (Portugal) d ie Erzb ischöfe g le ichzeitig d ie Henen der S tad t, und die Bisc höfe von Coim bra wur de n ipso facto zu G rafen vo n Argan i l (sei t d em 3 6. Bischof der S ta d t, Msgr. Joäo G a lväo , der di esen Titel 1472 von König A lfo ns V e rhalt e n ha tte), weshalb sie d enn auch stets den Titel e ines G rafenbischo fs von Co im bra trugen

DIE FORTDAUER SEINES AUFTRAGES 59

Nach dem Klerus folgte als zweite Klasse der Adel. Dieser war vor allem militärischer und kriegerischer Natur. Ihm war die Verteidigung des Landes gegen ausländische Angreifer, aber auch die Verteidigung der politischen und der gesellschaftlichen Ordnung im Innern anvertraut. Außerdem übten die Lehnsherren in ihrem jeweiligen Gebiet ohne Unkosten für die Krone Aufgaben aus , die heute etwa mit den Zuständigkeiten der Landräte , Richter und Polizeikommissare zu vergleichen wären.

Man sieht also, daß diesen beiden Klassen im Grunde die Sorge für da s Gemeinwohl anvertraut war. Zum Ausgleich für ihre wichtigen, spezifischen Aufgaben standen ihn en entsprechende Ehren und Vorteile zu. Dazu zählte auch die Befreiung von Steuerzahlungen.

Das Volk hinwieder war die Klasse, der besonders die produktive Arbeit oblag. Zu den Privilegien des Volkes gehörte es, s ich am Krieg viel weniger beteiligen z u müssen als der Adel und fast immer das ausschließliche Recht auf die Ausübung der einträglicheren B erufe in Handel und im Handwerk zu haben. Die Menschen aus d e m Volk hatten normalerwei se auch keinen besonderen Verpflichtungen gegenüber dem Staat nachzukommen. Für das Gemeinwohl arbeiteten sie nur in dem Maße, in dem es ihren legitimen persönlichen und familiären Interessen nutzte. Daher standen dieser Klasse auch kein e b eso nderen Ehren zu, s ie mußte vielmehr die Last der Steuern tragen.

,,Klerus, Adel und Volk". Diese Dreiheit erinnert natürlich an die repräsent a tiv e n Versammlungen, die für das funktionieren vieler Monarchien des Mittelalters und des Ancien Regime kennzeichnend sind: die Cortes (Ständeversammlungen) in Portugal und Spanien, die Generalstaaten in Frankreich , das Parlament in England usw.

Diese Versammlungen stellten eine rechtsgültige Vertretung der Nation dar, denn s ie gaben getreulich die gesellschaftliche Gli e derung wider.

Während der Aufklärung b ega nnen andere politische und soz iale Anschauungen m aßgebliche Bereiche in den Ländern Europas für sich einzunehmen. Unter der Einwirkung e ines falsch verstandenen Freiheitsbegriffes bewegte sich der alte Kontinent auf die Zers törung der Zwischenglieder, die völlige Lai s ierung des Staates und der Nation sow ie auf di e Bildung unorganischer Gese llschafte n zu , di e s ich allein an einem quantitativen Kriterium ausrichteten: an der Zahl der Stimmen.

Dieser Wandel, der sich von den letz ten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bis in un se re Tage erstreckt, begünstigte auf gefährliche Weise die Verkümmerung des Volk es z ur Masse , worauf Papst Pius XII. in weiser Erkenntnis hinweist.

2. Die Auflösung der mittelalterlichen Ordnung in der Neuzeit

Wie bereits in Kapitel II erklärt wurde, hat sich diese gesellschaftliche Struktur, die auch Politik, Soziales und Wirtschaft umfaßte , im Laufe d e r Neuzeit ( 16. bi s 19. Jahrhundert) aufgelöst. Seither neigen die aufeinander folgenden politi sc hen und soz ioökonomi sc h e n Veränderungen dahin, alle Klassen durcheinanderzubringen und Klerus und Adel d as Recht auf einen juristischen Sonderstatus ab z usprechen. Die betroffenen Klassen dürfe n die se r Lage gegenüber nicht kleinmütig die Augen verschließen, denn eine solc he Haltung wäre wahrer Geistlicher und Adeliger unwürdig.

Papst Pius XII. beschreibt diesen Zustand in einer se iner mu ste rgültigen Ansprachen an das Patriziat und an den Adel von Rom mit beeindruckender Genauigkeit:

„ Richtet Euren Blick zunächst ohne Furcht und Zagen auf die Realität unserer Zeit. Es scheint Uns überflüssig, Euch nochmals ins Gedächtnis zu nifen, was bereits vor drei Jahren der Gegenstand Unserer Betrachtungen war. Es kommt Uns sinnlos vor und Euer auch

60 KAPITEL IV

nicht würdig, es E uch mit klugen B eschönigungenzu verschleiern, z umal nachdem die Worte E u res beredt en Sp rechers e i n so e indeutiges B ekenntnis Eurer Anhänglichkeit an die Soz ia lleh r e der Kirc h e zum A usdr uck gebracht haben und die Pflichten, die sich daraus ergeben . D ie neue italien isch e Verft1ssimg erkennt E uch als s ozi a lem Stand im Staa t e und im Vo lk keinerlei besond eren Auftrag mehr z u, ke in A ttr ibut mehr und kein P rivileg. " 1

Dies e Lage is t na ch d e n W o 1te n de s Paps t es d as E rge bni s e in e r la n g en Kette vo n E r e igni s sen , die d e n Eindruc k eine s „ S ch icks a lssc hrittes" we cken. 2

A nges ic hts d e r „ganz neuen Lebensformen "3 , d ie jet z t entst e h e n , dürfen s ich di e M itg li e de r d es A del s und d er tra d iti o n e ll e n E lite n nicht d er unnüt z en Kl age hin ge b e n o d e r di e Wirklichk e it einfac h a uß e r a cht lasse n , s ie müs s en im G ege nteil klar und d e utl ich da z u S te llung ne hm e n. Es ist di es di e H a ltung vo n t a pferen Mensc h e n: ,, D ie M ittelmäßigen machen im Unglü ck nur ein schmollendes Gesicht, die überlegenen Geis ter verstehen es, nach einem kla ssisch en Wo rt, aber h ier in einem etwas h ö heren Sinne, ,beauxjoueurs '[,;ute Verlierer'} zu sein und uners chüttert ihre vornehme, h eitere H altung zu bewahren . "

3.

Der Adel muß sich in dem grundlegend veränderten gesellschaftlichen Rahmen der heutigen Welt als leitende Klasse behaupten

Wo rin b este ht a b er konkre t di ese obj e kti ve, mannhafte An er ke nnung v o n L e b ensums tänden , v on d e nen m a n „ halten kann, was man wil/"5 , d e ne n m a n a lso kein eswe gs zu zustimme n braucht, di e jedoc h e in e g re ifbare Wirklichke it bilden , in der man gezwun ge n ist, z u le be n?

H a b e n A de l und t ra dition e ll e E liten ihr e n D ase in szweck v erl o r e n ? Solle n s ie mit ihre n T ra ditionen und mit ihre r Ve rga nge nh e it brec hen? Mit e ine m Wort : So ll en s ie si ch im gem e ine n Volk auflöse n , s ich mit di ese m vermeng en, und damit a ll da s aus lö sc h e n , w a s die ad e li ge n F a mili e n an hoh e n Tugend- , Kul tur, Sti l -u n d Erz i e hun gswerte n b ewahren?

Eine o b e rflä c hliche L e ktü r e d er Ans prac he an d as P a tri z i at und a n d en A del vo n R o m a u s d em J a hre 1952 k ö nnte z u e iner bejahend e n A ntw ort führ e n . D oc h s t ände e ine d erartige A ntwo rt w ohl ge m e rk t in offe n e m Gegens atz zu d e m , was ä hn li ch e A n sprac h e n a u s d en vo ra u sgegangenen Jahre n sow ie Ausschnitte a u s m e hr a ls e ine r A n sprac he d er N ac h fo lge r P a p s t Pius' X II. le hr e n.

Di ese s ch e in ba r e U n s timmi g k e it rührt vo r all e m a u s d e n o b e n a n geführt e n A u ssc hni tte n s owi e au s a nd e re n no ch zu z iti er e nd e n St e llen h e r. 6

D as is t j e d oc h nicht di e in d e r A n s prach e v on 1952 se lbs t zum A us dru ck ge b rac hte Vo r s t e ll u n g des Pa p stes. Nac h seinem D a fü r h a lte n so ll e n di e tra diti o nelle n E li te n we ite r best e h e n bl e iben und e in e h o h e Sen du n g erfüllen : ,,Es kann wohl sein, daß der e ine oder andere Punkt bei der gegenwärtigen L age der Dinge Euch mif3fallt Aber aus I nteresse und aus L iebefür das Gemeinwohl,.für die Rettung der christlichen Kultur in der K rise, die weit entfernt ist von einer Entspannung, die vielmehr immer noch anzuwachsen scheint, haltet stand in der

1) A nsprac he n an das Patri z ia t und an d e n Ade l von Rom , 1952 , S. 457; vg l. auch Ka p II , 1.

2) A nsprac hen an das Patri z iat und a n d e n Ade l von Rom , 1952, S 457.

3 ) Ansprachen an das Pa t r iz iat u nd a n den Ade l vo n Rom , 195 2, S 457

4) Ansprachen a n das Pa t ri z iat u nd a n den Ade l von Rom , 195 2, S. 457f.

5) Ansprachen a n das Patriziat u nd an den Adel von Rom, 1952, S. 457

6) Vg l. Kap V I, 3 a

D IE FO RT D AUER SEINE S A U FT RAG ES 6 1

Bresche, in der vordersten Verteidigungslinie. Eure besonderen Vorzüge können dort auch heute die beste Verwendungjinden. Eure Namen, die den großen Klang der Tradition fernster Vergangenheit in der Geschichte der Kirche und der menschlichen Ges ellschaft tragen, rufen die Gestalten großer Männer ins Gedächtnis und wecken in Eurer Seele das Echo der Pflicht, ihrer würdig zu sein. " 1

Dies kommt jedoch noch deutlicher in einer teilweise bereits zitierten Stelle der Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom aus dem Jahre 1958 zum Ausdruck: 2

„Ihr, die Ihr zu jedem Jahresbeginn es nicht versäumt, Uns aufzusuchen, werdet Euch sicher an die Eindringlichkeit erinnern, mit der Wir bemüht waren, Euch den Weg in die Zukunft zu weisen. Einen Weg, der sich damals schon als ein schwieriger Gang ze igte, in Anbetracht der folgenschweren Umwälz ungen und der großen Veränderungen, we lche die Welt bedrohten Im besonderen werdet Ihr Eure Kinder und Enkel daran erinnern, wie der Papst Eurer Kindheit und Jugend es nie unterlassen hat, Euch darauf hinzuweisen, welche neue Aufgaben die neuen Zeitumstände dem Adel auferlegen werden. Jener Papst, der Euch vielmehr oft erklärt hat, daß fruchtbare Arbeit der sicherste und würdigste Titel dafür ist, um Euch einen dauerhaften Platz unter den Führern der Gesellschaft zu sichern. Daß die gesellschaftlichen Unterschiede, die Euch nicht nur aus der Masse hervorheben, sondern Euch auch besondere Pflichten zum Wohle der Allgemeinheit auferlegen. Daß die obersten Gesellschaftsklassen dem Volke große Vorteile, aber auch schweren Schaden bringen können. Daß die Veränderung der Lebensbedingungen sich, wo auch immer, doch den Traditionen anpassen können, welche die Patrizierfamilien bewahren. " 3

Es ist also keineswegs der Wunsch des Papstes , daß der Adel aus dem zutiefst v e ränderten gesellschaftlichen Kontext unserer Tage verschwindet. Im Gegenteil lädt er die Mitglieder des Adels ein, alle Anstrengungen zu unternehmen, die notwendig sind, auch im weiten Rahmen der Gesellschaftsgruppen, welche die heutige Welt zu leiten haben, seinen führenden Platz in der Gesellschaft beizubehalten. Diesen Wunsch versieht er aber mit einer besonderen Nuance und zwar sollte das Verbleiben des Adels unter den leitenden Gesellschaftsschichten traditionelle Bedeutung haben. Der Adel muß der Gesellschaft den Wert eines Fortbestehens (ihrer Identität) und den Sinn von „Fortdauer" deutlich machen.

Das bedeutet, daß es um die Treue zu einem der grundlegenden Prin z ipien des Adels vergangener Jahrhunderte geht, nämlich um die Wechse lbeziehung zwischen den „gesellschaftlichen Unterschieden", die den Adel „hervorhob" und den „besonderen Pflichten zum Wohle der Allgemeinheit".

Somit kann„ die Veränderung der Lebensbedingungen sich, wo auch immer, doch den Traditionen anpassen, welche die Patrizierfamilien bewahren".

Papst Pius XII. besteht auf der Beibehaltung des Adels in der Welt nach dem Krieg, allerdings unter der Voraussetzung, daß er sich wahrhaft durch jene moralischen Qualitäten auszeichnet, die für ihn charakteristisch sind:,, Oftmals, mit Bezug auf die Zeitumstände, haben Wir Euch dazu aufgefordert, an der Heilung der Wunden, die der Krieg geschlagen hat, mitzuwirken; mitzuwirken bei der Wiederherstellung des Friedens, bei der Neugeburt des nationalen Lebens, aber Euch fernzuhalten von der inneren ,Auswanderung' oder Verweigerung. Das deshalb, weil auch in der neuen Gesellschaftsordnung weite

1) Ansprachen an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1952, S. 459.

2) Vgl. Kap. 1, 6.

3) Ansprach en an das Patriziat und an den Ad el von Rom, 1958, S. 708

62 KAPITEL IV

Spielräume für Euch reserviert sind, wenn Ihr Euch tatsächlich als Elite und optimates (die Besten) erweist. Das heißt, hervorragend durch seelische Ausgeglichenheit, durch schnelles Zupacken und durch großzügige Anteilnahme. " 1

4. Kritische Anpassung an die moderne Welt läßt den Adel nicht in der allgemeinen Gleichmacherei aufgehen

Nach diesen Erwägungen bedeutet die Anpassung an die moderne Welt, die sich weitaus egalitärer erweist als Europa vor dem 2. Weltkrieg, keineswegs, daß der Adel sich selbst und seine Traditionen aufgeben und in der allgemeinen Gleichmacherei aufgehen muß. Siebesagt vielmehr, daß er sich mutig als Bewahrer einer Vergangenheit verstehen soll, die sich von unvergänglichen Grundsätzen leiten ließ, unter denen der Papst an erster Stelle die Treue zum „christlichen Ideal" hervorhebt: ,,Ihr werdet Euch auch an Unsere Aufforderung erinnern, Niedergeschlagenheit und Kleinmut wegen der Veränderungen in den Zeitumständen zu verbannen und an Unsere Ermahnungen, Euch mutig den neuen Umständen anzupassen, denken. Das alles, mitfestem Blick aufdas christliche Ideal, den wahren und unvergänglichen Nachweis echten Adels. " 2

Darin besteht also die „mutige Anpassung", die der Adel angesichts „der Veränderungen in den Zeitumständen" durchführen muß.

Der Adel soll also keineswegs auf den von den Vorfahren geerbten Ruhm verzichten, sondern ihn in den jeweiligen Geschlechtern bewahren. Außerdem soll er für das Allgemeinwohl wirken und dabei den„ wertvollen Beitrag" leisten, den er „geben kann": ,, Und wozu wohl, geliebte Söhne und Töchter, haben Wir Euch diese Ratschläge und dies e Empfehlungen gegeben, wenn nicht, um Euch vor Enttäuschungen und Bitterkeit zu bewahren und um der Gesellschaft, zu der Ihr gehört, den wertvollen Beitrag, den Ihr geben könnt, zu erhalten. " 3

5. Um den Hoffnungen zu entsprechen, die auf ihn gesetzt werden, muß sich der Adel mit den Talenten hervortun, die ihm eigen sind

Nachdem er noch einmal - und mit Recht! - die Bedeutung d er Treue des Adels zur katholischen Moral hervorgehoben hat, entwirft Papst Pius XII. ein faszinierendes Bild von den Eigenschaften, die der Adel an den Tag z u legen hat, um den Erwartungen zu entsprechen, die er auf ihn setzt. Für die vorliegende Studie ist es besonders wichtig fest zus tellen, daß diese Tugenden im Adel als „Frucht langer Familientraditionen", die offensichtlich erblicher Natur sind , aufleuchten sollen. Und daß sie mit dieser Nuance eine „Eigenart", eine Besonderheit der adeligen Klasse darstellen:

,, Viel/eicht aber fragt Ihr Uns, was I hr Greifbares tun müßt, um dieses hohe Ziel zu erreichen?

„ Vor allem müßt Ihr auf einem untadeligen religiösen und moralischen Verhalten beharren, besonders in Eurem Familienleben, und einer gesunden Strenge in der Lebensführung. Verhaltet Euch so, daß die anderen Klassen den Schatz an Tugenden

DIE FORTDAUER SEINES AUFTRAGES 63
1) Ansprachen an das Patriziat und an den Adel von Rom, 1958 , S. 708. 2) Ansprach e n an da s Patriziat und an den Adel von Rom , 1958, S. 708 3) Ansprachen an das Patriziat und an den Ade l von Rom , 1958, S 708f.

und Gaben bemerken, welche die Früchte der langen Tradition Eurer Familien sind. Zu diesen Früchten gehören die unerschütterliche Kraft Eures Geistes, die treue Hingabe an die edelsten Dinge, zartfuhlendes Mitleid und Hilfsbereitschaft den Schwachen und Armen gegenüber. Kluges und feinsinniges Vorgehen in schwierigen und schwerwiegenden Angelegenheiten, jenes persönliche Ansehen, das in den vornehmen Familien ja fast erblich ist, womit man zu überzeugen vermag, ohne zu bedrängen, z u fahren, ohne zu zwingen, zu erobern, ohne die Gefahle des Anderen z u verletzen oder zu demütigen und das sogar bei Gegnern und Rivalen. Der Einsatz dieser edlen G aben und die Ausübung religiöser und ziviler Tugenden sind die überzeugende A ntwort auf Vo rurte ile und Mißtrauen. Sie beweisen höchste ~eistige L ebenskraft, welche die Ursache äußerer Stärke und fruchtbringender Arbeit ist. "

Hier zeigt der Pap st seinen erlauchten Zuhörern die angemessene Art und Wei se, den Schmähunge n des vulgären Egalitarismus un se rer Tage z u begeg nen , der s ich gegen das überleben d e r adeligen Klasse ausspricht.

6. Selbst wer den überkommenen Lebensformen gegenüber Verachtung an den Tag legt, ist vor dem Glanz des Adels nicht völlig gefeit

Papst Pius XII. hebt di e „Kraft und Fruchtbarkeit der Werke" als „charakteristische Eigenschaften der echten Aristokratie" hervor, und er ford e rt den Adel auf, derarti ge Eigenschaften für das Gemeinwohl einzusetzen:

,,Kraft und Fruchtbarkeit der Werke! Das sind zwei Eigenschaften der echten Aristokratie. Deren heraldische Symbole sind, in Bronze gegossen und in Marmor gehauen, unvergängliche Zeugnisse, weil sie sichtbare Spuren der politischen und kulturellen Geschichte vieler ruhmreicher europäischer Städte sind. Es ist wohl war, daß die moderne Gesellschaft nicht den Brauch hat, in erster Linie von Euch den richtigen Hinweis beim Beginn von Unternehm ungen und zur Meisterung von Geschehniss en zu erwarten . Trotzdem weist auch sie die Mitwirkung Eurer hohen Talente nicht zurück. Das ist so, weil eine urteilsfahige Gruppe dieser Gesellschaft gerechtfertigte Hochachtung vor den Traditionen bewahrt hat und den Wert des hohen Ansehens schätzt, soweit dieses begründet ist. Auch der andere Teil der Gesellschaft, der Gleichgültigkeit oder sogar Verachtung den uralten Lebensformen gegenüber zeigt, ist doch nicht gan z unempfindlich far den Reiz gesellschaftlichen Glanzes. Das geht ja soweit, daß man s ich bemüht, eine Art neuer Aristokratie zu schaffen , einige Farmen davon beachtlich, andere jedoch nur aiifEitelkeit bas ierend. A iif Eit elkeit und Nichtigkeiten, die s ich lediglich dadurch auszeichnen, daß sie einige dekadente Elemente der alten Einrichtungen übernehmen. "2

In diesem Abschnitt seiner Rede scheint Papst Piu s XII. einen möglichen E inwan d z urückzuwe isen, der v on Aristokraten kommen könnte, die angesichts d es Egalitarismus, der sich schon damals über die moderne Welt erstreckte, verdrossen den Mut sinken li eße n. Diese Art von Aristokraten könnte n vorgeben, daß di e moderne Welt den Adel verachtet und seine Mitarbeit ablehnt.

Hierzu gibt der Papst zu bedenken , daß es in der modernen G ese llschaft zw ei Tendenze n gegenüber dem A d e l zu unters cheiden gilt: ,, eine urteilsfahige Gruppe dieser

64 KAPITEL IV
1) Ansprachen an das Patriziat und a n de n /\del von Rom , 1958, S 709. 2) Ansprachen an das Patriz iat und an den Adel vo n Rom , 1958, S. 709

"Vor affem müßt ilir auf einem untru:fe(igen religiösen und nwrafiscften Verliaften 6efutrren, 6esorufers in Eurem Famifienfe6en, und einer 9eswufen Strer19e in der Le6ensfü1irun9. Verliaftet Eucli so, daß die anderen Kfassen den Scfuttz an Th9enden und Gaben 6emerken, weCclie die Frudite der UU19en Tradition Eurer Familien sind."

Papst Pius XII., 1958

auszeichnete

Gesellschaft gerechtfertigte H o ch a chtu ng vor den Traditio n en bewahrt hat und den Wert d es hoben Ansehens schät zt, s owe it die s es begründet ist ", und,, ... weist auch s ie nicht die M i twirkung Eurer hohen Ta l ente z urück." E in e a nd e re T ende n z in d er Gese ll sc h a ft , di e s ic h da d urc h ausze ic h n et, d aß s ie „Gl eichg ültig keit oder sogar Ve r achtung d en uralten L eb emformen gegenübe r" a n d e n T ag legt, is t „doc h nicht gan z unempfindlich für den Reiz gesellschaftlichen Glanzes . " A n die ser S t e ll e erwä hnt dann Pap s t Piu s Xll. e ini ge a us dru cksvolle Hinwei se au f di es e Ei ns te llu ng

7. Die besondere n Tuge nden und Vorzüge der Adeligen komm e n in den von i h n en ausgefü hrten Tätigkeiten z u m Au s druck

Der P a p st führ t d a nn fo rt: ,,Es ist /dai~ dc!ß sich die Kraft und Fru c htbark e it der Werke heute nicht immer in veralteten Formen ausdrücken können. Das heißt aber nicht, daß Eure E insatz 111öglichkei ten eingeschränkt worden sind. I m Gegente i l, diese Müglichkeilen bestehen heute bei der Gesam theit aller B en!f"e und imte1c A 1/e ben(flichen Einsatzmöglichkeiten stehen Euch offen , ai!f"allen Gebieten könnt ihr Euch nützlich und bedeutend machen : in der öffentlichen Verwaltung, in de r R egierung, auf"wissenschaftlichem Gebiet, in der Kulturarbeit, der Industrie und dem Hande l. " 1

In di esem A b s chn itt se in e r R ede nim m t d e r P apst a uf di e Ta tsac he B ez ug, d a ß un te r d em p o li t i sch en und sozi oöko no mi sc he n R eg ime vor d e r Französ isc h e n R evo luti o n b es ti m m te B e ru fe im a l lgeme in e n ni c ht vo n Ad e li ge n a usge üb t w urd en, we il s ie für d e n A de l a ls z u gerin g a ngesehen w urd e n. Di e A us übun g solc he r Beru fe führt e in m a nc h e n Fä ll e n soga r z um Ve rlu s t des Ade ls tit e ls. Hi e r w är e e t wa di e T ät ig ke it im Ha nd e l z u e r wä h ne n , di e v ie le rort s fa s t a u sna h ms los d e m Bürge rtum und dem ge m e in e n Vo lk vo rb e h a lte n wa r.

Im L a ufe des 19 . und 2 0. Jahrhund e rt s fie le n di ese E in sc hr ä nkun ge n j e d oc h lan gsa m weg, u n d in unse re n Tage n s ind s ie ga r vö lli g ve rsc h w un de n .

P a p s t Piu s X II. sc hei nt in di ese m A b sc hni t t a uch di e Wirre n vo r A uge n z u ha b e n , we lch e di e be id e n We ltkri ege mit s ich ge bracht ha ben , d e n n d iese h a b e n di eses Ja hrhunde rt z uti efst mitge präg t , vo r a ll e m a uc h , ind e m s ie e in e r be träc htli c he n A nza hl a d e li ger Gesc hl ec hte r d e n wi r ts ch aft li c h e n Ruin ge b rac ht ha b e n , so d a ß s ic h nun m a nc he r A d e li ge gezw un ge n s ie ht, unte rge o r dn e t e T äti gke ite n a uszuüb e n , we lc he traditi o n e ll wede r d e m A d e l n oc h d e m o b e r e n u nd mittl e r e n Bürge rt um z u s t e he n. Be i e ini ge n A d e li ge n ka n n m a n soga r vo n e in e r Prol e t a ri sieru ng s prec he n.

A nges ic hts di ese r ha rt e n Wirkli c hk e it s pornt Pa p s t Piu s X II. di ese Fa mili e n a n , s ic h n ic ht vo n d er Ano n y mi tä t e inho le n zu lasse n , so nd e rn d e r üb e rk o mm e ne n Tuge nd e n e in ged enk zu sein, diese mi t „Kraft und Fru c ht barkeit " zu ü b e n und d a mitj e d e r A rt vo n Arb e it, d e r s ie freiw ill ig nac h ge h e n od e r di e s ie in fo lge w idri ge r U m s t ä nd e a usz uü be n gezw un ge n s ind, e ine spez ifisch ad e li ge No t e z u ve rl e ih e n . A uf di ese We ise w ürd e n s ie se lb s t in d e r mißli chs te n Lage no c h für d e n Ade l Ve rs t ä ndni s un d R esp e k t wec k e n

6 6 KAPITEL IV
1) Ansprache n an das Patriz iat und a n den Adel v on Rom. 1958, S. 709s

8. Ein hehres Beispiel: das Ehepaar aus königlichem Geschlecht, in dessen Heim der Gottmensch geboren wurde und lebte

In dieser Unterweisung, in der der heilige Vater als Beispiel Aufgaben in der öffentlichen Verwaltung und andere, normalerwei se vom Bürgertum wahrge nomm e ne B es chäftig ungen anführt, erinnert er auch an da s Ehepaar aus d e m königlichen Geschlechte Davids, in d esse n sow ohl fürstlich e m als auch handw er klich e n Heim der Mensch geworde ne Gott zur Welt kam und dre ißi g Jahre la ng lebte 1

E in e ve rgl e ichba re Überlegung ist auch in de r Ansprache Papst P ius' XII. a n di e Nobe lga rde aus d e m Jahre 1939 zu finden: ,,Adelige wa rd Jh,: noch bevor I hr Gott und Seinem Stellvertreter unter der weiß-goldenen Standarte gedient habt. Die Kirche, in dere11 Augen die menschliche Gesellschaft grundsätzlich auf der - wenn auch noc h so bes ch eidenen - Familie be ruht, unterschätzt keineswegs de11 Schatz d es erblichen Adels. Man kann sogar behaupten, daß selbst Jesus Christus diese11 nicht geri11g geschätzt hat: Der Mann, dem die Aufgabe a11vertraut wm; Seine anbetungswürdige Menschheit und Seine jungfräuliche Mutter z u schütze11, stammte aus königlichem Geschlecht: ,Joseph, au s dem Hause Davids ' (Lk 1,27). Aus diesem Grunde hat auch Unser Vorgänger Papst Leo XII. in seinem Bre vet zur Reform des Corps vom l 7.2. l 824 bescheinigt, daß die Nobelgarde , dazu bestimmt ist , in unmittelbarer Nä he Unserer Person se lbs t Die ns t z u leis te n, und e in Co rp s bilde t, da s sowo hl wegen des Zwec ks, zu dem es gesc haffe n wurde, als auch auf Grund der das Corps bildenden Ind ividuen di e ers te und e hrbarste Truppe un se res Fürstentums ist. ' " 2

9 . Die höchste soziale Funktion des Adels: die Wahrung, die Verteidigung und die Verbreitung der christlichen Lehre, die in den edlen Traditionen enthalten ist, die den Adel auszeichnen

195 8 we is t Papst Piu s XII. in se in er Ansprache auf di e Pflicht hin , gege n d e n m o d e rnen Sittenverfall moralisc h e n Wid e r sta nd z u le i sten; e r s ieht d ar in e ine gene r e lle Aufgabe d er „ hochgestellte n Klasse11, darunte r Eure" und mein t d a mit d as P a tri z iat und den Ade l vo n Rom: ,, Schließ/i ch wünschen Wil: daß Euer Eil1/luß in der Gesellschaft Euch vor einer Ge.fahr beschützt, die kennzeichnend jiir die moderne Zeit ist Es ist bekannt, daß die Gesellschaji Fortschritte macht, wenn die Tugenden einer ihrer Klassen sich unter den anderen Klassen verbreitet. Ebenso ist es bekannt, daß das Niveau der Gesellschaft absinkt, wenn sich die L aster u n d Unsitten eines Teiles der Gemeinschaft aufdie anderen Teile a usdehnen D er Schwäche der m ens chlichen Natur wegen, kann man feststellen, daß sich besonders die Übel heute von Volk zu Volk und über die Kontin ente ausbreiten, umso einfacher Kommunikation, liiformation und persönliche Kontakte geworden sind.

Aufdem Gebiet der Moral kann da s gleiche beobachtet werden wie im Ges undheitswesen. Weder Distanzen noch Grenzen können jemals einen Epidemieerreger davon abhalten , in kurzer Zeit selbst ferne R egio n en zu befallen . D eshalb ist es möglich, daß die hochgestellten Klassen, daru11ter Eure, aiif· Grund ihrer vielfältigen B eziehungen und häiifiger Aufenthalte in Ländern verschiedene,~ möglicherweise schlechterer Moral, leicht zu Überträgern von Sittenverirru ngen werden könnten. "3

DIE FORTDAUER SEINES AUFTRAGES
67
1) Vg l. Kap V , 6; A nsprac he n a n da s Patri z iat un d an den Ade l von Rom , 1941, S 363. 2 ) Ansprachen an die Nobe lgarde, 1939, S 4 50. 3) Ansprachen an das Patr iz iat u nd an den Ade l von Rom , 1958, S 7 10.
1 '.

Im Hinblick auf den Adel definiert d er Heilige Vater die Merkma le diese r Verpflichtung genauer: Es handelt sich um eine Widerstandspflicht, der es vor allem auf dem Gebiet de r L e hre nachzukommen gilt, die sich aber auch auf das Gebiet der Sitten erstreckt.

„ Was Euch betrifft, sorgt dafür und seid wachsam , damit schiidliche Theorien und perverse Beispiele niemals mit Eurer Zustimmung oder Eurer Sympathie rechnen können und vor allem in Euch keine willigen Triiger finden oder die Gelegenheit, Infektionsherde zu bilden. "

Diese Pflicht ist Bestandteil de s „großen R espekts vor den Traditionen, die Ihr besitzt und d u rch die Ihr Euch in der Gesellschaft auszeichnet". Di ese Traditionen bilden einen ,, wertvo llen S chatz", den d e r Adel„ mitten unter dem Volk" zu walu-en ha t.

,,Möglicherweise ist das heutzutage die wichtigste soziale Funktion des Adels; sicherlich ist es der größte Dienst, den Ihr der Kirche und dem Vaterland erweisen könnt", behaupt e t d e r Pap st. 1

Der Adel kann den G lan z ve rgangen er Jahrhund e rt e, d e r noch he ute v on ihm ausgeht und ihn herv orhebt, kaum bes ser ve r we nden , als di e christliche Lelu·e, die in den Traditionen enthalten ist, die den Ad e l auszeichnen , zu wahren, z u ve rt e idige n und zu verbre ite n . 2

10. Die Pflicht des Adels: sich nicht in der Anonymität aufzulösen, sondern dem Hauch des modernen Egalitarismus zu widerstehen

Pap st Pius XII. besteht in v äterlicher Gesi nnung darauf, daß d er Adel s ic h nicht in der Anonymität auflösen lassen soll , in die ihn di e Gleichgültigkeit und fe indl ich e Haltung v iele r im rohen Hauch des modernen Egalitarismus stoße n möchte. Und darum üb e rträ gt er ihm noch e ine andere, ebenfalls weitreichende Funktion: Die w irksame G ege nw a rt d e r vom Adel gepflegten und ausgestrahlten Traditionen soll dazu b ei tragen , di e den ve r sc hi e d ene n Völkern eigenen Werte vor einem e ntstellenden Ko s mopoli t is mu s z u bewa hre n .

„ Übt also die Tugenden und setzt zum Wohle der Allgemeinheit d ie Gaben E ures Standes ein, zeichnet Euch im Berufsleben und bei allem, was Ihr beginnt, aus und schützt die Nation vor schädlichen, auswärtigen Einflüssen - das sind die Empfehlungen, die Wir glauben, Euch zum Jahresanfang geben zu müssen. "3

Zum Abschluß seiner bedeutenden An sprache sp richt s ich d e r Papst noch e inmal ga nz beso nd e rs für die Fortdauer des Adels aus, indem er daran e rinnert, d a ß es die e rn s t e und e hrenvolle Aufgabe der anwesenden Kinder der Adelsgeschl ec hter sei n w ird , in Zukunft die würdigsten Traditionen des Adels fortzuführen: ,, D amit der Allmächtige Eure Absichten bestärke und Unsere G ebete erhöre, die Wir darum an Ihn gerichtet haben, möge aiifEuch allen, aufEuren Familien und besonders aufEuren Kinde rn , die Eure beste Tradition in die Zukunft tragen, Unser Apos tolischer Segen ruhen. "4

1) Ansprache n an das Patriziat und an d en Adel vo n Ro m, 1958, S. 710.

2) Z um Ade l als einem Fakto r, d er den M e nschen für di e Ausüb u ng d er chr ist li chen Tu genden e m pfänglich m acht und sie fö r dert, se i vo r a ll em die L e k türe de r bewundernswe r ten Pred igt des heil igen Karl 801TOmäus em p fohlen, d ie i n D ok u mente IV, 8 abgedruc kt is t

3) An sp rac h en an das Patr iziat und an den Adel von Rom , 1958, S. 71 Of.

4) Ansprachen a n das Patrizia t u nd an den Adel vo n R om, 19 58 , S 711.

70 KAPITEL
IV

11. Der Adel - eine besonders distinguierte Klasse der menschlichen Gesellschaft - wird Gott besondere Rechenschaft ablegen müssen

Eine Anwendung dieser reichen , dicht en Lehre n auf die heutige Lage des Adels ist in der Ansprache Paps t Johannes' XXIII. vom 9. Januar 1960 an da s Patri ziat und an den Ade l von Rom zu finden (die Ausgabe der Polyglotta Vaticana enthält le di g lich e in e Zusamme nfassung dieser Ansprache):

„Dem Heiligen Vater gefällt es hervorzuheben, daß die distinguierte n Zuhö rer [an die sich die Ansprache richtet} gerade das heraiifbeschwören, was die menschliche Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit ausmacht: Eine bunte Vielfalt von Elementen, die alle wie die Blumen im Sonnenlicht ihre eigene Persönlichkeit und Wirku11g an den Tag legen und als solche Respekt und Hochschätzung verdienen, welche Gestalt u11d Perfektion sie auch haben mögen.

Der Umstand also, einer besonders distinguierte11 gesellsch,{filiclten Kategorie anzugehören, erheischt nicht nur ent!)preclzende Berücksichtigung, sondern bedeutet gleichzeitig auch einen Appell an die Mitglieder dieser Kategorie, mehr zu geben; denn dies erwartet man von denen, die mehr erhalten haben und eines Tages Gott gegenüber dafiir Rechenschaft ablegen müssen.

Wer so handelt, arbeitet aus innerster Überzeugung in wu11derbarer Harmonie mit dem Reich unseres Herrn zusammen. Er hat auch die Überzeugung, das, was in der Geschichte einer jeden Familie an Bedeutsamen zu finden ist, verpflichtet jedes Familienmitglied zu christlicher Brüderlichkeit und z ur Ausübung b eso nderer Tugenden: zu süßer, milder Geduld, Reinheit der Sitten, Demut und vor allem zu Nächste nliebe. Allein auf diese Weise ist es für jeden einzelnen [d e r Mitglieder dieser Kategor ie] möglich, zu großer, unauslöschlicher Ehre zu gelangen.

Dementsprechend werden morgen die jungen Abkömmlinge von heute ihren Eltern dankbar sein und bekunden, daß das christliche D enken ideel le Eingebung, Richtschnur ihres Verhaltens, ihrer Großzügigkeit und geistigen Schönheit wm:

Dieselben Haltungen werden auch Trost im niemals ausbleibenden Unglück spenden, denn das Kreu z ist in jedem H eim zu finden, sei es im bescheidenen Häus chen eines La ndarbeiters, sei es im majestätisc h e n Palast. Es ist eMas durchaus Natürliches, daß man durch diese Schule des Schmerzes hindurch muß, in der unser Herr Jesus Christus e in unübertreff licher Meister ist.

Um somit die besten Haltungen der Anwesenden zu j'ördern, spendet der Heilige Vaterjedem einzelnen sowie den jeweiligen Familien seinen S egen und nifi zugl e ich den B e istand Gottes ai!fdiejenigen herab, die leiden oder sich in Not befinden. Er jiigt noch den väterlichen Wunsch hin z u, nicht - wie man z usagen pflegt - allagiornata [ in den Tag hin ein] zu leben, sondern alltäglich Gedanken und We rke im Geiste des Evangeliums zufassen und z u bekunden , das die leuchtenden Weg e der ch ristlic h en Zivilisation geprägt hat. Wer so handelt, weiß schon heute, daß sein Name dereinst mit Respekt und Bewunderung gen a1111t werden wird. " 1

Die b eso nd ere Roll e des heuti ge n Adels w ird vo n Papst Johannes XXIII. auch in se iner Ansprache vom 10. Januar 1963 an das Patri ziat und an den Adel von Rom erwähnt:

DIE FORTDAUER SEINES AUFTRAGES
71
1) An s prachen an das Patri ziat und an den Adel von Rom , 1960 S 565 f

,, Dieser Vorsatz, den Euer Vertreter im Namen der anwesenden [Mitglieder des Patriziates und des Adels von Rom] zum Ausdruck gebracht hat, ist besonders ermutigend, und seine Verwirklichung wird Frieden, Freude und Segen hervorbringen. Wer mehr erhalten hat, wer sich am meisten hervortut, findet auch die besten Bedingungen vor, gutes Beispiel zu geben; und alle haben dabei ihren Beitrag zu leisten: die Armen, die Niedrigen, die Leidenden, wie auch jene, die von Gott zahlreiche Gnaden erhalten haben und sich in Verhältnissen befinden, die eine besonders große Verantwortung mit sich bringen.

DIE FORTDAUER SEINES AUFTRAGES 73
' "
1) Ansprachen an d as Patri ziat und an den Ade l von Rom , 1963, S. 348.

KAPITEL V

Eliten, natürliche Ordnung, Familie und Tradition, Aristok:ratische Institutionen in den Demok~ratien

Die Lehre von Papst Pius XII.

]\ T chdem wir im vorausgegangenen Kapitel die Lehre Papst Pius' XII. über die 1 V ; 1 endung des Adels in unseren Tagen betrachtet haben, wollen wir uns nun als nächstes in die Lehre des Papstes hinsichtlich der Rolle vertiefen, die den traditionellen Eliten - und unter diesen vor alle m dem Adel - bei der Wahrung der Tradition als Faktor des Fortschrittes zukommt. Damit verbunden sind auch Gedanke n über die Fortdauer dieser Eliten sowie über ihre völlige Vereinbarkeit mit der wahren Demokratie.

1. Entstehung von Eliten selbst in Ländern ohne monarchistische oder aristokratische Vergangenheit

Die Entstehung traditione ller E liten mit aris tokratische m Grundton ist als eine zutiefst natürliche Entwicklung anzusehen und daher selbst in Ländern ohne monarchistische oder aristokratische Vergangenheit festzustellen:,, Wir haben .... gezeigt, wie auch in den Demokratien jüngsten Datums, die noch keine Spur einer feudalen Vergangenheit aufweisen können, sich kraft der Verhältnisse eine neue Art von Adel oder Aristokratie herausgebildet hat. Sie besteht in der Gemeinschaft jener Familien, die überlieferungsgemäß alle ihre Energien in den Dienst des Staates, seiner Regierung und seiner Verwaltung stellen und mit deren Treue er in jedem Augenblicke rechnen kann. " 1

Diese treffliche Definition des sen, was das Wesen des Adels ausmacht, erinnert an die großen Geschlechter der Kolonisatoren, Pioniere und Pflanzer, die Jahrhunde11e lang die Grundlagen für den Fortschritt des amerikanischen Kontinents schufen und mit d e m treu en festhalten an ihren Traditione n e inen wertvollen moralischen Reichtum der Gesellschaft bilden, in der sie leben.

1) An sp ra che a n da s Pa tri z ia t und a n den Adel vo n Rom , 19 47, S. 3 7 0f.

2. Die Vererbung in den traditionellen Eliten

Es muß an dieser Stelle vor allem auf einen mit dem Bestehen traditioneller Eliten verbund e ne n , naturgegebenen Faktor hingewiesen werden: auf die Erblichkeit.

,,Das Erbe ist eine großartige und geheimnisvolle Sache. Es bedeutet, daß in einem Geschlecht über Generationen hinweg, ein reicher Schatz materieller und geistiger Güter weitergegeben wird. Daß das gleiche äußere Erscheinungsbild und die gleiche moralische Haltung vom Vater aufden Sohn übergeht. Jedoch ist es möglich, daß die Tradition, welche die Mitglieder eines Geschlechtes über Jahrhunderte hinweg verbunden hat, eben jenes Erbewie Wir erwähnt haben - durch den Einfluß materieller Theorien entstellt werden kann. Man kann, man muß sogm: diese so sehr bedeutsame Tatsache in ihrem ganzen Umfang menschlicher und übernatürlicher Wahrheiten bedenken.

Sicher kann man nicht leugnen, daß bei der Weitergab e vererbbarer Eigenschaften materielle Vorgänge mitspielen. Diese Tatsache erstaunlich zu finden, hieße, die intime Verbindung zwischen unserer Seele und dem Körper zu vergessen. Ebenso, daß sogar hochgeistige Tätigkeiten weitgehend von unserem körperlichen Temperament beeinflußt werden. Deswegen weist die christliche Morallehre die Eltern auf die große Verantwortung hin, die sie in dieser Beziehung haben.

Das wertvollste aber is t das geistige Erbe. Dieses wird nicht sosehr über die geheimnisvollen Verbindungswege materieller Schöpfimg weitergegeben, als vielmehr durch den dauernden Einfluß einer ausgezeichneten,jamiliären Umgebung. Entscheidend jiir da s Ergebnis ist eine langsame und gründliche seelische Entwicklung in der Umgebung eines Vaterhauses, das reich an geistigen, moralischen und vor allem an christlichen Traditionen ist. Wichtig ist auch der gegenseitige Einfluß dere,: die unter dem gleichen Dach wohnen, ein Einfluß, dessen wohltätige Wirkung weit über die Kinderjahre und Jugendzeit hinausgeht und bis an das Ende e ines langen Lebens reicht. Auf diesem Wege entwickeln sich auserwählte Geister, die in sich selbst die Schätze eines wertvollen Erbes mit ihren e ige n e n Vorzügen und Lebenserfahrungen zu v erbinden wissen.

Das ist jenes über alle M aßen wertvolle Erbe, welches, erleuchtet durch e inen festen Glauben, belebt und erfrischt durch dauerndes und treues Leben im G e is te Christi und durch Erfüllung seiner Forderungen, die S eelen Eurer Kinder erheben, vervollkommn e n und bereichern wird. " 1

3. Die Eliten -Antriebskräfte des wahren Fortschrittes und Wächter der Tradition

Ein Band hält Adel und Tradition zusammen. Der erstere ist der naturgegebene Wächter der letzteren. Dem Adel als Klasse fällt in der Gesellschaft mehr als anderen die Aufgabe z u, die Verbindung lebendig zu erhalten, mit deren Hilfe die Weisheit der Vergangenheit die Gegenwart regiert, ohne sie jedoch zu lähmen.

a) Eliten - Fein de des Fortschrittes?

Revolutionäre Geister pflegen gegen den Adel und die traditionellen Eliten folgenden Einwand vorzubringen: Da sie traditionsgebunden seien, würden sie sich ständig d e r Ver-

1) Ansprache an das Pa t riziat und an den Ade l von Rom , 1941, S. 364. Der oben zitierte Text ist so wichtig, daß eigentlich jedes Wort hervorgehoben zu werden verdient. Um aber die Seite visuell nicht zu überfrachten, haben wir es vorgezogen, die einfache Schrift beizubehalten.

76 KAPITEL V

gangenheit zuwenden und dabei der Zukunft, in der der wahre Fortschritt zu suchen sei, den Rücken zukehren. Sie würden also die Gesellschaft daran hindern, sich weiterzuentwickeln.

Nun lehrt uns aber Papst Pius XII., daß es den wahren Fortschritt allein auf der Linie der Tradition gibt und daß er sich nur verwirklicht, wenn er nicht unb edingt eine Rückkehr in die Vergangenheit, aber doch ihre harmonische Weiterentwicklung bedeutet. 1 Ist nämlich erst einmal die Tradition gebrochen, sieht sich die Gesellschaft sc hrecklichen Risiken ausgesetzt:

„Die Ereignisse aiif dieser ~lt fließen dahin wie ein Strom an den Ufern der Zeit. Die Vergangenheit räumt notgednmgen den Platz, und der ~gfiir die Zukunft undfiir die Gegenwart ist nichts weiter als ein flüchtiger Augenblick, der die beiden verbindet. Das ist einfach so ein gesetzmäßiger Ablaiif, an sich nichts Böses. Böse wäre es, wenn diese Gegenwart, die nur eine ruhige ~lle mit Dahinfließen des Stromes der Zeit ist, sich in einen Brecher verwandelte, der alles, was atifseinem ~ge liegt, wie ein Taifun oder Zyklon zerstört und mit Urgewalt vernichtend einen Graben aiifvvüft zwischen dem, was war, und dem, was kommen soll. Solch wilde Sprünge, welche die Geschichte in ihrem Ablaufmacht, bilden das, was man eine Krise nennt, d. h. eine gefährliche Periode, die zur Erlösung oder zum endgültigen Untergangführen kann. Krisen, deren Lösung noch geheimnisvoll verhüllt, sich hinter den schwarzen Wolken der Kräfte in Atifruhr verbirgt. "2

Die Tradition erspart den Gesellschaften die Stagnation, aber auch das Chaos und den Aufruhr. Der Schutz der Tradition, auf den Papst Pius XII. an dieser Stelle anspielt, ist der spezifische Auftrag des Adels und der ihm vergleichbaren Eliten.

Dieser Aufgabe e ntziehen sich nicht nur di e Eliten , die sich aus dem konkreten Leben zurückz iehen, sondern auch diejenigen, die in das maßlose Gegenteil verfa llen. Sie mißachten ihren Auftrag und lassen sich - indem sie sich von aller Vergangenheit lo ssagen - völl ig vo n der Gegenwart einnehmen.

Kraft der Vererbung verlängern die Adeligen auf der Erde das Weiterleben große r Gestalten der Vergangenheit: ,,Ihr laßt Eure Vorfahren neu aiifleben , indem Ihr sie ins Gedächtnis zurückruft. Und Eure Ahnen leben wieder au/in Euren Namen und in den Euch hinterlassenen Titeln, den Zeugen ihrer Verdienste und Großtaten. " 3

Diese Tatsache verleiht dem Adel und den traditionellen Eliten eine ganz besondere Sendung, sind sie es doch, die dafür sorgen, daß der Fortschritt in nahtlosem Ü bergang aus der Vergangenheit hervorgeht:

„ Ist denn etwa die menschliche Gemeinschaft - oder sollte sie es nicht so sein - zu vergleichen mit einer gut funktionierenden Maschine, bei der jeder Bestandteil zum harmonischen Funktionieren beiträgt? Jeder Mensch hat seine Bestimmung, jeder muß dem Fortschritt der Gemeinschaft dienen, deren Verbesserung er mit seinen ganz en Kräften und eigenen Talenten zu dienen hat. So muß es sein, wenn jeder wirklich seinen Nächsten liebt und vernünftigerweise das allgemeine Wohl anstrebt.

Nun gut, welche Aufgabe wurde Euch, geliebte Söhne und Töchter, in besonderer Weise zugeteilt? Welche Mission sollt Ihr erfüllen? Sicherlich jene, die normale Entwicklung zu fordern. Diese Aufgabe fällt bei einer Maschine dem Regler zu, dem Schwungrad oder dem Reostat, die Teile des Ganzen sind, von ihm einen Teil der Energie beziehen und da-

1) Vg l. Dokumente V I.

2) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1944, S. l 77f.

3) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1942, S. 345. Zu diesem Asp ekt hat s ic h Rivaro l, der g r oße Kämpfer , der s ich der Französ isc he n Revolution des Jahres 1789 wide rsetzte , d eren Zeitgenosse er wa r, mi t folge nden Worten geäußert:,. Die Adelig en sind m eh r oder weniger alte Miin z en, die die Zeit in Medaille n ve n vandelt hat " ( in M. Berville, Mem o ires de R ivarol, Baudouin Freres , Paris 1824, S . 2 12).

ELITEN, FAMILIE UND TRADITION 77

.fii,· z u SOl'f.:en haben, daß der ganze Apparat zweckentsprechend funktioniert. Mit ander e n Worten, Patrizier und Adelige, Ihr seid die Tradition und setzt sie fort. " 1

b) Sinn und Wert der wahren Tradition

Die Wertschätzung der Tradition ist heute zu einer sehr seltenen Tugend geworden. Einers eits , weil der Hunger nach Neuigkeiten und die damit einhergehende Verachtung der Vergangenheit zu Seelenhaltungen geworden sind, die infolge de r Revolution 2 immer häufiger anzutreffen sind. Und andererseits, weil die Verteidiger der Tradition diese oft völlig falsch verstehen. Die Tradition ist weder ein rein historischer Wert noch einfach ein Thema e iner romantischen Sehnsucht mit Variationen. Es handelt sich um einen Wert, der nicht ausschließlich im archäologischen Sinn zu verstehen ist, sondern als unerläßlicher Faktor des Lebens in der heutigen Zeit.

„ Das Wort Tradition", sagt der Papst, ,, klingt bekanntlich unangenehm für viele Ohren. Es mißfallt, und das mit Grund, wenn es von gewissen Lippen herkommt. Manche Leute verstehen es falsch, andere gebrauchen es als falschen Vorwand für ihren untätigen Egoismus. Angesichts solcher Mißverständnisse und dramatischen Uneinigkeit, gibt es nicht wenige neiderjüllte und zahlreichefeindselige, böswillige Stimmen, oft auch schlicht dumme oder irrgeleitete, die Euch die Frage stellen und unverhüllt um Antwort bitten: wozu dient Ihr eigentlich? Um ihnen zu antworten, ist es vor allem nötig, den wirklichen Sinn und Wert der Tradition zu verstehen, deren Repräsentanten Ihr zu sein wünscht, mehr als alles andere.

Viele meinen - auch aufrichtigenveise -, daß Tradition nichts weiter als die Erinnerung ist, die verblaßte Spur einer Zeit, die vergangen ist und nicht mehr existiert, die nicht wiederkehren kann und bestenfalls mit Verehrung und vielleicht mit Anerkennung zur Aufbewahrung in einem von wenige11 Freu11de11 uml Bewunderern besuchte11 Museum zurückverdrängt wird. Wenn das aber die Tradition wäre und sie sich daraufbeschränken und zugleich bedeuten würde, den Weg in die Zukunft ablehnen oder verachten zu wollen, wäre es sicher vernünftig, der Tradition Respekt und Verehrung zu versagen. Die wehmütigen Träumer der Vergangenheit müßten dann mit Mitleid gesehen werden als die ewig Gestrigen gegenüber der Gegenwart und - mehr noch - gegenüber der Zukunft. Aber strenger noch müßten diejenigen beurteilt werden, die auf Grund ihrer wenig anständigen und sauberen Motive nichts weiter sind als Deserteure der Pflichten, welche die so schmerzliche Gegenwart aiiferlegt.

Traditio11 ist aber viel mehr als nur einfache Anhänglichkeit an eine Zeit, die verga11gen ist u11d ge11au das Gege11teil ei11er Haltu11g, die jedem gesu11dem Fortschritt mißtraut. Etymologisch beurteilt ist das Wort , Tradition ' ein Synonym für den Weg umljür de11 Me11sche11 in die Zukunft, ein Synonym, aber nicht gleichbedeutend. Tatsächlich bedeutet „Fortschritt" doch nichts anderes als die Tatsache des Fortschreitens, Schritt für Schritt, mit Blickrichtung auf ein ungewisses Ziel. , Traditio11' hingegen bezeichnet zwar auch eine11 Weg in die Zukunft, aber ei11en Weg, der fortsetzt, was schon zurückgelegt wurde, einen Weg, der gleichzeitig ruhig aber lebhaft, den Lebensgesetze11 folgend, die ängstlichen Alternative11 ,si jeunesse savait, si vieillesse pouvait! ' [wenn die Jug e nd wüßte, wenn die Alten könnten], umgeht. Wie jener Herr de Ture11ne, vo11 dem erzählt wird: ,II a e u dans sajeunesse toute Ja prudence d'un age avance, et dans sa vieillesse, toute

1) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1944, S 178

2) Der Begriff „ Revolution" w ird in dem vo rli egenden Buch in demselben Sinn benutzt, in dem er berei ts in dem Essay des Verfassers Revoltuion 1111d Gegenre vo/11tio11 gebraucht wurde Er m eint dam it eine Bewegung, die im 15. J a h rhundert ihren Anfang nahm und seit h er dahin tendiert, die chr ist li che Zivilisation zu zerstören und ei n en ih r entgegengesetz ten Zustand zu schaffen Als Etappen dieses Prozesses e rweisen s ich die Pseudo-Reformation, die Französ ische Revolution sowie der Kommunismus mit sei nen v ielfä lt igen Varianten und se iner s ubtile n Verwandl un g in unseren Tagen.

78 KAPITEL V

la vi g u e ur de Ja j eu n esse ' [ in s einer Ju g end b esa ß er di e Klu g h e it d e r Alte n und im v org e s chrittene n Alter die g anze Kra ft d er Ju ge nd] , (Flechier, Grabrede, 1676) 1

Gestü tzt ai!fdie Tradition, erleuchtet und gefüh r t durch die Lebense,fahrung der Alten, sc h reitet die J ugend mit festem Schri tt vorwär ts . D ie Alt en übergeben vertrauensvoll den Pflug in stärkere Hände, welche die begonnenen F u rchen weiterzi ehen . Wie da s Wo r t schon sagt, ist die Tradition eine Gabe, die von Ge n e ration z u Ge n e ration weite rgegeb e n wird, e ine Fackel, die ein Läufer d em anderen üb ergibt, im Vertrauen darauf, daß d e r Laufnicht stocken oder langsamer werde n wird. Tradition und Forts chritt ergän z en sich gegenseitig harmonisch. Tradition ohne Forts chritt is t e bens o ein Wide rspruch in sich selb s t, wie Fortschritt ohne Tradition n i chts weiter wä re als e in wagemutiges Unternehmen, ein Sprung ins Dunkel.

Es dreht sich wahrlich nicht darum, gegen den Strom zu rudern, zurückgehen zu wollen zu L ebe nsformen und Handlungsweisen vergangener Zeiten Es gilt fort z us etzen, was in der Ve rgangenh e it s ich als das Bes t e erwiesen hat, d e r Zukunft entgegen z us chre ite n mit d er unüberwindlichen Kraft der Jugend. " 2

c) Bedeutung und Rechtmäßigke it der traditionellen Eliten

D er de m agog ische H au ch des Egalita ri smus, der d ie ganz e he uti ge We lt dw-chweht, sc hafft e ine den trad it ionell en E liten ab ge ne igte Stimm ung. Un d zwar ist di es z u e inem gro ße n Teil gerade a uf ihre Treue z ur Trad itio n z urüc kz uführe n. Wenn di ese El iten ab er den B egriff Tradition r ichti g ve rst ehen, so li egt in di ese r A bne igung gegen s ie e ine große U ngerec htigkeit verborgen :

„ Wenn I hr so handelt, ist Eure glänzende Benifung bereits vorgezeichnet, groß und reich an A rbeit,.fiir de ren Eljiillung Euch der Dank aller sicher sein müßte, und diese Ben!fimg Euch über die Angriffe von der einen oder anderen Seite erhaben erweisen wird.

Solange Ilu~ in Vorsorge für die Zukunft beabsichtigt, zum wirklichen Fortschritt beizutragen, der eine gesündere und glücklichere Zukunft z um Ziele hat, wäre es ungerecht und undankbw~ Euch Eure Verehrung der Vergangenheit als ehrenrührig vorwe,fen zu wollen. Dasselbe gilt auch fiir das genaue Studium der Geschichte, die Liebe zu den .fiwnmen Gebräuchen und die unwandelbare Tre ue den ewigen Gesetzen gegenüber. Die ruhmreichen oder unglücklichen Beispiele derer, die vor unseren Zeiten lebten, sind Lehre und Licht aiifEuren Wegen. Mit R echt wurde gesagt, daß die Lehren der Vergangenheit die Menschheit formen wie einen Mann, der immer vo rwärts schreitet und nicht altert. Ihr lebt in der modernen Gesellschaft nicht wie Immigranten in einem fernen Land, sondern als verdiente und geachtete Bürger, die mit ihren Mitbürgern zusammenarbeiten und die Gesundung, den Wiederai!/bau und den Fortschritt in der Welt vorbereiten wollen " 3

1)

fra n zösischen Marscha ll He nr i de La tour d ' Auvergne , Vico mte de Tu re nne ( 16 11 - 1675)

2) An s prachen an das Patri z iat u nd an d en Adel von Rom , 1944, S 178- 180; vgl. Do kumente V I.

3) A n sprac h e an das Patriz iat und an d e n Adel von Rom , 1944, S. 180 De r Leser darf nun nicht mei n e n , daß Papst P ius X II. mit diese m weisen Rat die großen Gefahren außer acht läßt, d ie eine Überbewertu ng der mode rn en Te c hn ik m it sich bringt. Tatsä c hl ich ha t er sic h zu d iesem The ma be isp ie lswe ise wie folgt geä u ß ert: ,, D ie Tech n ik, d ie in 1111sere111 Jalt rlt111ulerl 11ie gek an n te H ö ft en d es Glanzes un d d er L eistung erreicht h at, scheint s ich infolge dergegebe11e11 Umstä11de ji-aglos iu ein e große gei s tige Gefa lt r z u ve r wa11 del11 Wir würden es so m1sdriick e n , daß s i e d e m vor iltrem A ltar k11i e11den m odem e n Menschen ein Gefiihl d e r Selbstiin digkeit 1111d d er vollkomm e n en E rfiil/1111g seines Str eb e n s n ach W issen und unbegren zter 1l111d1t verleiht Mit ihrer viel.seitigen Al/\ve11du11g. 111it dem absoluten Vert rau e n das sie erweck t, mir d en u11 erscl,öpfliclte11 M öglicltkeiren. die s ie verspric ht entwicke lt die moderne Technik e in e so weite Aussic ht 11111 den h e utigen Menschen her11111, daß viele sie mit d er Unendlichkeit selbst verwechseln. Man spric ht ihr daher au ch eine unhaltba r e Autonomie zu, die sich im Denken so mancher zu ei11erfa lsc/1e 11 Lebens- 1111d Weltanschauung verwandelt 1111d als , Geis t der Tech n ik' bez eich n e t werden kann Worin aber besteht dieser genau ? Darin. daß er den höc hsten Wert des Menschen und des Lebens darin sie ht, aus den Krä/ie11 und Elementen d e r Na tur d en grüßt111öglic h e11 N w ze11 zu z ieh en als Z ie l möglichst aller anderen me11sc h/iche11 Tätigkeiten die technologisch möglichen Methoden maschineller H erstellung hinzustellen 1111d in ihnen die Vollkommen heit der Kultur und des Gliicks auf Erden zu sehen "' , (Rundfunkansprache, Weihnachten 1953, Discorsi e Radiom essaggi di Sua Santirci Pio XII. Tipografia

Po li glo tta Vaticana, Bd XV , S 522)

ELITEN , FAM ILI E U N D TRADITIO N 79
Es is t hier d ie Rede von dem

4. Der Segen Gottes erleuchtet, schützt und liebkost alle Wiegen, ohne sie jedoch gleichzumachen

Ein weiterer Faktor der feindlichen Haltung gegenüber den traditionellen Eliten ist in dem Vorurteil der Revolution zu suchen, wonach jede Art von Ungleichheit in der Wiege dem Sinn für Gerechtigkeit widerspricht. Man gibt allgemein zu, daß sich ein Mensch durch seine persönlichen Verdienste hervortun kann. Man erkennt jedoch nicht an, daß die Abstammung aus einem berühmten Geschlecht ihm ein besonderes Anrecht auf Ehre und Einfluß verschafft. In diesem Zusammenhang erhalten wir vom Heiligen Vater Pius XII. eine wertvolle Lehre:

„Die sozialen Ungleichheiten, auch die mit der Geburt verbundenen, sind nicht zu vermeiden. Die Güte der Natur und Gottes Segen fiir die Menschheit leuchten über den Wiegen, beschützen und liebkosen sie, machen sie aber nicht gleich. Betrachtet die Gesellschaft in den Ländern, wo sie am unerbittlichsten eingeebnet worden ist! Kein Mittel konnte bewirken, daß der Sohn eines großen Herrschers, eines großen Volksfahrers durchwegs aufderselben Ebene wie ein unbekannter, im Volk verlorener Bürger geblieben ist. Diese unvermeidbaren Ungleichheiten können, vom heidnischen Standpunkt aus gesehen, als eine unerbittliche Folge des Klassenkampfes erscheinen, als eine Folge der von den einen über die anderen errungenen Macht, als eine Folge der blinden Gesetze, die angeblich das menschliche Treiben bestimmen und den Triumph der einen wie a u ch die Not der anderen herbeiführen. Ein christlich unterrichteter und erzogener Geist dagegen kann sie nur als gottgewollte Anordnung betrachten, die auf denselben Ratschluß zurückgeht, der den Ungleichheiten im Rahmen der Familie zugrunde liegt, die deshalb dazu bestimmt sind, die Menschen auf dem Weg des gegenwärtigen Lebens zum himmlischen Vaterland stärker miteinander zu vereinen, indem einer dem andern hilft, wie der Vater der Mutter und den Kindern hilft.

5. Väterliche Auffassung der gesellschaftlichen Überlegenheit

Die christliche Zierde der traditionellen Eliten besteht nicht allein darin, der Kirche zu dienen, sondern auch dem Gemeinwohl. Die heidnische Aristokratie rühmte sich allein ihrer erlauchten Abstammung. Der christliche Adel fügt diesem Titel einen noch höheren hinzu: Er übt den anderen Klassen gegenüber eine väterliche Funktion aus: ,, ... Die Bezeichnung „Römisches Patriziat", christlich, übernatürlich betrachtet, weckt in Unserem Geist noch erhabenere geschichtliche Erinnerungen und Bilder. Wenn der Name „patricius" im heidnischen Rom erkennen ließ, daß jemand Ahnen besaß, die nicht einer Sippe gewöhnlic her Art, sondern einer privilegierten und herrschenden Gesellschaftsschicht angehörten, so nimmt dieser Name im christlichen Licht einen noch helleren Glanz und einen noch volleren Klang an, indem zur berühmten Abstammung die gesellschaftliche Machtstellung hinzutritt. Er bezeichnet ein Patriziat des christlichen Roms, dessen höchster und ältester Glanz nicht etwa im Blut begründet war, sondern in der Würde, Beschütz er Roms und der Kirche zu s ein. Patricius Romanorum ist ein Titel, der seit der Zeit der E x archen von Ravenna bis z u Karl dem Großen und Heinrich III. getragen wurde. Jahrhunderte hindurch hatten die Päpste bewaffnete Beschützer der Kirche, die aus den Familien des Römischen Patrizi-

80
KAPITEL V
" 1
!) Ansprach e an da s Patriziat und den A del von Rom , 1942, S 347.

ats stammten. Und Lepanto bezeichnete und verewigte einen ihrer großen Namen in den Annalen der Geschichte. " 1

Sicher gewinnt man aus der Gesamtheit dieser Begriffe ein Bild der Väterlichkeit, das die Beziehungen zwischen den höheren und den niedrigeren Klassen durchdringt.

Gegen dieses Bild erheben sich im Geist des „modernen" Menschen leicht zwei Einwände. Da sind zum einen diejenigen, die behaupten, daß diese ganze Lehre Lügen gestraft werde von den häufigen Übergriffen des Adels und der entsprechenden Eliten in der Vergangenheit. Andererseits gibt es welche, die zu bedenken geben, daß jeder Anspruch auf Überlegenheit ein von Verstand, Milde und Anmut geprägtes christliches Zusammenleben von vornherein unmöglich mache. Denn - so argumentieren sie - jede Überlegenheit wecke normalerweise Gefühle der Demütigung, des Kummers und des Schmerzes in den Menschen, über die sie ausgeübt werde. Derartige Gefühle in seinem Nächsten hervor zurufen, verstoße aber gegen die Milde des Evangeliums.

Indirekt antwortet Papst Pius XII. auf diese Einwände, indem er behauptet:

„ Daß diese, wenn auch väterlich aufgefaßte gesellschajiliche Überlegenheit infolge der aiifeinanderprallenden menschlichen Leidenschafien die Geister bisweilen aiifIrrwege in den Beziehungen zwischen Hoch und Nieder gedrängt hat, ist in der Geschichte der gefallenen 2 Men sc hheit nicht erstaunlich. Solche Entgleisungen können die grundlegende Wahrheit nicht abschwächen oder verdunkeln, daß für den Christen die sozialen Ungleichheiten in der großen menschlichen Familie begründet sind, daß also die Beziehungen zwischen den Klassen und Ständen von einer ehrlichen und gleichen Gerechtigkeit bestimmt und zu gleicher Zeit von gegenseitiger Achtung und Liebe beseelt bleiben müssen, die, ohne die Ungleichheiten gewaltsam aus der Welt zu schaffen, ihren Abstand verringern und ihre Gegensätze mildern sollen. "3

Typische Beispiele aristokratischer Güte im Umgang sind in vielen adeligen Familien anzutreffen, die sich ihren Untergebenen gegenüber außerordentlich gütig zu verhalten wissen, ohne deshalb die geringste Leugnung oder Herabwürdigung ihrer Überlegenheit zuzulassen:

„Sehen Wir etwa in den wahrhafi christlichen Familien die größten unter den Patriziern und Patrizierinnen nicht wachsam und e!frig darauf bedacht, ihrer Dienerschafi und ihrer ganzen Umgebung gegenüber eine Haltung zu bewahren, die zweifellos ihrem Stande entspricht, aber von jeder Überheblichkeit frei ist und jenes Wohlwollen und jene Höflichkeit in Wort und Benehmen anstrebt, die den Herzensadel unter Beweis stellen? Erblicken sie in den anderen nicht Menschen, Brüder Christi und Christen wie sie selbs t, die mit ihnen in Christus durch die Bande der Liebe vereinigt sind,jener Liebe, die auch in den ererbten Palästen bei Hoch und Nieder, am meisten in den hienieden niefehlenden Stunden der Trübsal und des Schmerzes, das Leben tröstet, erleichtert, erfreut und versüßt?" 4

1) Ansprache an das Patri z iat und an den Adel von Rom , 1942 , S. 346f.

2) Der Papst bezie ht s ich hi er a uf den Verfall des Men schengeschlec hts infol ge der Erbsünde.

3) Ansprache an das Pat ri z iat und an den Ad e l von Rom , 1942, S 347- 348.

4) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1942, S. 348

ELITEN, FAMILIE UND TRADITION 8 1

6. Unser Herr Jesus Christus heiligte sowohl den Adelsals auch den Arbeiterstand

Sieht man den Stand d es Adeligen oder d es Mitg lied s e iner tradition e llen Elite un ter diesem Ges ichtspunkt, i s t es verständlich, daß Unser H e rr J es u s C hri s tu s di ese n geheiligt hat, indem e r in e iner fürstlichen Familie Mensch geworden ist, wie wir bereits Gelegenheit hatten zu erwähnen: 1

„Es ist wohl wah,~ daß Christus, unser H en; es vorgezogen hat, z um Troste der Armen auch als Armer aufdie Welt zu kommen und in der Familie eines e infachen A r beite r s auftuwachsen Es ist aber ebenso wa,~ daß Er durch die Umstände Seiner Geburt das vornehmste und edelste Geschlecht Israels, das Haus David, ausgezeichnet hat.

Aus diesem Grund und getreu dem Geiste D essen, D essen Stellvertreter sie sind, haben die Päpste das Patriziat und den Adel von Rom immer hochgeschätzt, deren Gefühl unwandelbarer Sympathi efiir den Heiligen Stuhl den wertvollsten Teil des Erbes darstellt, welches sie von den Vorfahren übernommen und an ihre Kinder weitergegeben haben. "2

7. Fortdauer des Adels und der traditionellen Eliten

Unter dem Hauch d e r Revolution fallen die abgestorbenen Elemente d e r Vergangenhei t wie tote Blätter im Herbst z u Boden. Der Adel aber- als Sp ez ies in d e r Gattung der Elitenkann und muß üb e rl e be n, denn se in Daseinszweck dauert unaufhörlich foti:

„ Der Sturm d er neuen Zeiten z ieht die Traditionen der Vergangenheit in seinen Strudel hinab. Dabei aber ze igt sich, was da z u bestimmt ist, wie welke Blätter abz iifallen und wasim Gegensatz da z u - aiifGrund seiner innewohnenden Lebendigkeit bleibt und immerfester wird.

Ade lige und Patrizie,~die - um es einmal so zu sagen - gelähmt sind durch die Erinnerung an ve rgangen e Zeiten, gehen einem unaufhaltsamen Verfall entgegen.

Heute, mehr alsje zuvor, seid Ihr berufen, eine Elite zu sein, nicht nur durch Blut und Abstammung, sondern mehr noch auf Grund Eurer Werke, Eures Einsatzes und der schöpferischen Handlungen zum Wohle der gan zen menschlichen Gemeinschaft. Di eser Verpfli c htung k ann sich niem and ungestrcifi entziehen . Si e ist nicht nur eine menschliche und staatsbürgerliche Pflicht, sondern ein heiliges Glaubensgebo t, ererbt von Euren Vät e rn, das Jh,; wie sie, vollständig und ungeschmä le rt an Eure Na c hfahren weiterzugeben habt. Ve rbannt deshalb aus Eurer Mitt e Ni edergesch lagen h e it und Kl einmut, die Mu tlosigkeit angesichts der Ne u er ungen, die vieles un !ergehen lassen, was frühere Zeiten geschaffen haben. Verbannt di e Kleinmütigkeit schwerwiegenden Ere ignissen gegenüber, welche die Neu erungen unserer Tag e begleiten!

Römer sein heißt stark sein im Hande ln, aber auch im Dulden !

Christ zu sein h eißt, Prüfimgen und L eiden anzunehmen, Pflichten und Notwendigkeiten der Zeiten z u übernehmen mit Mut, Kraft und Gelassenheit des Geistes, d ie aus den Qu ellen d er ewigen Hojjinmgen das Gegengewicht gegen die menschlichen Nöte beziehen.

ELITEN, FAMILIE UND TRADITION
83
1) Vgl. Kapitel IV, 8. 2) Ansprache a n das Patri z iat un d a n den Adel von Rom , 194 1, S. 363f. Vgl. Dokumente IV

Menschlich großartig ist das stolze Wort des Horaz: , Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae ' [Und wenn die ganze Welt in Trümmer fällt, treffen die Ruinen noch einen Helden], (Ode n fll, 3).

Viel schöner aber noch, vertrauensvoller und hinreißender ist der Siegesrufaufchristlichen Lippe n, der aus einem glaubensvollen Herzen kommt: ,Non confundar in aetemum' [In Ew igke it werde ich nicht zuschanden], (Te Deum). " 1

8. Das Gesetz kann die Vergangenheit nicht abschaffen

Es ist also durchaus verständlich, daß der Heilige Vater Pius XII. trotz der Ausrufung der Republik 1946 in Italien das Patriziat und den Adel von Rom als vorzügliche Erinnerung an eine Vergangenheit beibehalten hat, von der die Gegenwart Bestandteile bewahren muß, um so die Fortdauer einer wohltuenden, glänzenden Tradition zu gewährleisten:

„Es ist wohl wahr, daß in der neuen Verfassung Italiens ,die Adelstitel nicht anerkannt werden' (unbeschadet natürlich gemäß Art. 42 des Konkordats, soweit es den H eiligen Stuhl betrif.ft,jene1~ die von den Päpsten verliehen sind oder in Zukurifi verliehen werden). 2 Doch die Ve,fassung hat die Vergangenheit nicht annullieren können, noch die Geschichte Eurer Familien. " 3

Wenn Papst Pius XII. hier ausdrücklich auf die Abschaffung der Adelstitel durch die italienische Republik Bezug nimmt, so geschieht dies ohne das geringste Werturteil. Der Papst stellt lediglich die Tatsache der Abschaffung fest. Gleichzeitig stellt er jedoch mit edlem, s icheren Auftreten fest, daß die Kirche, statt sich dem Vorgehen der italienischen Republik anzuschließen, für sich selbst die volle Gültigkeit der Adelstitel sicherstellt, die von ihr ausgestellt wurden beziehungsweise künftig noch ausgestellt werden sollten. Und daß diese Gültigkeit sich kraft des Artikels 42 des Lateranvertrages4 auch auf das Hoheitsgeb iet d e r italienischen Republik erstreckt. Dies Feststellung ist selbstverständlich, da ein Artikel der italienischen Verfassung nicht einseitig die Gültigkeit der päpstlichen Adelstitel aufüeben kann, die von beiden Seiten - etwa durch das Konkordat von 1929 - bestätigt wurden. 5

I) Ansprache an das Pa triziat und an den Adel von Rom , 195 1, S 423-424.

2) Vgl. Kapite l II , 1.

3) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom, 1949, S 364.

4) Vgl. Kapitel II , 1.

5) Hinsichtlich der radikalen, summa rischen Abschaffung e iner so alten, verdienstvollen Einr ic htun g wie d e r des Adels , offensichtlich unter dem Dmck des radikalen Egal ita rismus, der sowohl nach dem Zwe iten Weltkrieg w ie b e re its nach d em Ersten, so v iele Länder heimsuchte, ist es zu beda uern, d aß der weisen Lehre des hei li gen T homas von Aquin in se in er Summa Theologic a (I-11, q 97.a.2) unter dem Titel „Ob das menschlic he Geset z immer g eä ndert we rden muß , we nn ei n hö heres Gut auftaucht" nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt wu rde : ,. in de n , Dekreta/e11 'istf estgelegt, daß es ,eine Absurdi tät und ein äußerst abscheulicher Affront ist, wenn Trad it ion en zerstört werden, die uns sei t a lters her von u nseren Vorfahren überkommen sind'. ,,Wir haben bere its gesagt, daß ein G esetz nur dann rec htmäßig geändert wird, wenn diese A"11 deru11g de m Gemeinwohl niitz t. Allein schon die A"nderung eines Gesetzes stellt an sich einen Sc hade11fiir das Gemein wo!,/ dar, le ist et doch die Gewohnheit e inen großen Beitrag zur Einhaltung der Gesetze. Dem ent;prec hend betrachte t 111a11 alles, was gegen den Brauch ei11gejiihr1 wird. als eine schwere Angelegenheit, auch wenn sie an sich als leicht einwstufen wäre. Wenn nämlich ein Gesetz geändert wird, e1jcihr1 es damit eine Absch wä chung seiner zwingenden Kraft in dem Maße in de m es den Brauch verhindert. Das menschliche Gesetz da,:{ also nur dann abge ändert werden, we nn dies auf de r ande r en Seite zu e in er entsprechenden Gegenle istung zugunsten des Gemeinwol,/s durch den abgeschafften Gesetzesteil.fiihrt. Dies ist der Fall, wenn entweder eine neue Gese tzesbes timmung einen großen, ojfenkundige n Nutzen bringt, oder wenn es sic h 11111 eine äußerst dringliche Notwendigkeit !ta11delt, b ezie hungsweise weil das geltende Gesetz e in e ojfensichtliclte Ungerechtigkeit beinhaltete und se ine Einhaltung höchst schädlich war. Daher be haupte/ au ch der R echtskundige, daß , bei der Festlegung neuer Vorschriften ihr Nutzen offenkund ig zu sein hat , dami t die Abkehr von dem , w as lan ge Zeit als a ngebracht angesehe n wu rd e, auch gerechtfertigt erscheine' "

84 KAPITEL V

Für das Patriziat und den Adel vo n Rom bleibt damit eine schwere, wenn a u ch großartige Pflicht b es tehen, die s ich aus dem Prestige ableitet, da s Freund u nd Feind ih ne n zue rkenne n müssen:

,, Desh alb schaut und beobachtet auch heute noch das Volk - teils wohlwollend, teils ablehnend, teils mit ehrfiirchtigem Vertrauen, teils mit feindlichen Gefiihlen, welches Beispiel Ihr in Eurem L eben gebt. An Euch liegt es also, dieser Erwartung zu entsprechen und zu zeigen, in welcher Weise Euer Verhalten und Eure Taten der Wahrheit und der Tugend g leichförmig sind, besonders in jenen Punkten, die Wir soeben aus Unseren Empfehlungen vom letzten J ahr ins Gedächtnis gerufen haben. " 1

Da er im Auge hatte, w a s der römische Adel in der Ve rg a nge nhei t war, und da e r in di eser Erinnerung nicht etwas Totes, sondern einen „Antrieb für die Zukunft" sah, h at P a pst Pius XII. in seinen Ansprachen„ aus Gründen der Ehre und Treue "2 den Adel b e v o rz ug t behandelt und auch seine Zeitgenossen eingeladen, sich ihm in di ese r Haltung an zu sc hließen:

„ Wir grüßen in Euch die Nachfahren und Vertreter der Familie n, die sich ehemals durch ihre Dienste für den H eiligen Stuhl und den Ste llvertreter Christi ausgezeichnet haben und dem Papst treu geblieben sind, auch dann, wenn sie sich dadurch Bes c himpfungen und Verfolgungen ausgesetzt hab en . Ohne Zweifel kann sich im Laiife der Zeit d ie s o ziale Ordnung und ihr Mitt elpunkt verschieben . D ie öffentlichen 11."mter, die einst Eurer K lasse vo rbehalten waren, könntenjetzt nach dem Gleichheitsprinzip zugeteilt und versehe n werden . Und doch kann selbst der moderne Men sch Euch, wenn e r ehrlich und gerecht sein will, Verständnis und Anerkennung n icht verweigern . Beweise des verdienten Gedenkens, die als Ansporn.fur die Zukunft dienen sollen " 3

9. Die Demokratie im Lichte der kirchlichen SoziallehreArchäologismus und falsche Restauration: Extreme, die es zu verhindern gilt

Man könnte s ich fragen, ob Papst Piu s X II mit di esen Lehren in e ine r Epoche, in d er s ic h der raue Wunsch nach völliger Gleichheit üb erall durchsetzte , gege n di ese ega litäre Te nden z zu r eagie r en gedachte und dam it auch die D e m okratie verurte ilte.

Daz u s ind e ini ge Überl eg un ge n a n zuste lle n .

Die Soziallehre d e r Kirche s prach sic h stets für die Legitimi tät der drei Regierungsformen aus, also sowo hl der Monarchie a ls a u c h der A ri sto kratie und der Demokra ti e . And er e rse its le hnte s ie es aber auch immer ab, die Demokratie a ls die e in z ige Regierungsform a nzusehen, in der Gerechtigke it und Liebe zu ihre m R ec ht käme n.

Ta tsächli ch hat der h e ili ge Thoma s von Aq uin ge le hrt, daß im Prinzi p die Monarchie e ine a lle anderen übertreffe nd e R eg ie rung sfo rm dars te llt. Di es sc hli eßt jedoch ni cht aus, d a ß die konkreten Umst ä nd e die Ari s tokratie oder die Demokra ti e in d e m e inen oder a nd eren Staat angeratener sein lasse n.

1) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom, 19 49, S 3 4 6.

2) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1950, S 357

3) A nsprache an das Patrizia t und an den Adel vo n Rom , 1950, S 357

ELITEN, FAMILIE UND TRADITION 85

Mit b eso nderem Wohlgefallen b etrach te t e r R eg ierungsforme n , in de n e n es zu einer harmonischen Verbindung von mona rc hi sc hen, aristokratischen und d emokrati sche n Eleme nten kommt. 1

In se in er Dars tellun g d e r kirc hli c he n So z ia lle hre erk lärt s pä t e r Pa ps t Leo X lll. zu di esem

Thema:

,, Im Abstrakten gesehen wäre es möglich, zu einer Definition der besten aller Regierungsformen zu kommen, wenn man diese an sich betrachtet " 2 Der Pa ps t sagt jedo c h ni c h t , we lche diese se i.

E s g ilt jedoch , di e katego ri sc he Behauptung z u b eachte n , wenng le ic h s ie a uf den e rsten Blick konditionell klingt: ,, .. . . wäre es möglic h, z u e iner Definition .. .. z u komm en ".

Tatsäc hlich behauptet d e r Pon t ifex , daß e s mögli ch ist herausz u fi nd e n, w e lche R eg ierungsform wesenhaft die be s t e i s t , wenn der De nk e r sich allein an da s Gebiet d e r Abstrakt ionen hält. Im Anschluß d aran fügt er hinzu: ,, Eb enso kann man wahrh e itsgemäß behaupten , daß jede einzelne gut ist, vorausgesetzt s ie stre bt unmitt e lbar ihre n Z wec k, d. h . d as G emeinwohl an, denn d4iir ist die g esellsc hcifilic h e Autorität e inge ric hte t S c hließ/ic h muß noch erwähnt werde n, daß von e in e m re lative n G esic htspunkt a us die e in e oder a nde re Regierungsform vorgezogen werde n kann , we il s ie b ess er z um Charakt e r und zu den S itten d e r jeweiligen Nation paßt. "3

Es bleibt nun z u fragen , we lche diese Reg ier un gsfo rm se i, die de r Papst a uf a bstrak t em G e bi et für di e besse re hält.

Bevor w ir diese Frage beantworten , müssen w i r näher a uf di e Enzyk l ika Ae te rni Pat ris vo m 4. August 18 79 üb e r di e R e sta u rat ion d e r Scho las tik nach der Le hr e d es hei li ge n Thom as von A quin e in ge he n.

Neben v ie len a nd e ren Lobeshymnen a u f das Werk de s gro ße n Kirch e n le hre rs ve rdi en e n es die folgenden besonders h e r vo r ge hob en z u wer d e n:

,, Es ist bekannt, daß.fast alle Gründer und Ges etzg eber der kirc hlic h e n Orde n ihre n G efährten vorges chrieb e n haben , s ic h in die L e hre n d es h e ilige n Thom as z u vertiefe n und s ich getreulic h an diese z u halten,· k e in e m s ollte es e rlaubt sein , sich au c h nur im ge r ingste n ungestraft von den Fußstapfe n des großen Me isters z u entfe rnen

Noch wichtiger aber ist, daß die römis c h e n Päpste , Uns e re Vorgän ge1; de r We is he it des heiligen Thomas von Aquin in F orm besonde re n L obes und umfassender Z eug n is s e die Eh re e rwiesen habe n.

Ergänze nd sei das Z e ugnis lnno zenz VI. angeführt: , Sein e Lehre z eichne t s ic h i m Ve rg le ic h z u den andern - mit A u s nah m e der kanonischen - derart in den Wort en , in der Anordnung d es Stoffes, in der Wahrheit d er Sätz e a u s, d aß m an n iemal s e rl ebe n w ird, daß j e n e, die ihr fo lgen, vo m Weg d er Wahrheit abkom m en , und a nd erers e its wi rd man stets diejen ige n , di e se ine Le hre angreifen, d es Irrtu m s verd äc h t ige n ' ( Pre dig t übe r d e n h e iligen Thomas von Aquin)

„Sein größter Ruhm lieg t j e do c h darin, daß die Kon z ils vä te r des Tr ide n tin ums in der Konzilsordnung s e lbst ve ranlaßt e n, aiif d e m Altar n e b e n d e n Bü c h e rn der H e ilige n S c hrifi

1) Um da s hi e r üb er die Le hre de r Kirch e und da s De nke n d es he ilige n Tho mas vo n Aquin bezüg lich de r Regie run gsforme n Ges agte besse r vers tehen z u kö nnen , ist die Le ktüre de r T ex te der Päps te un d d ies es he iligen Kirche n leh re rs von g rößter Bede utun g, di e a ls Anh a ng III d ie Ko111111e ma re de s Ver fassers beg le it en

2) Au 111i/ie 11 d es s ol/ic-i111des Ac w Sa11c w e Seclis Ex Typog ra phi a Polygloll a, Rom 18 9 1-92. Bd XXIV. S 523

3) a a O

ELITEN, FAMILIE UND TRADITION 87

und den Dekreten der Päpste auch die Summa des Thomas von Aquin ihren Platzfinden zu lassen, damit sie diese zu Rate ziehen und in ihr Beweise und Aussprüchefinden könnten. " 1

Es ist also nicht anzunehmen, daß das Denken Papst Leo 's XIII. gerade in diesem Punkt von dem des heiligen Thomas von Aquin abweicht. In diesem Zusammenhang verdient der folgende Satz des Papstes selbst besondere Aufmerksamkeit:

,, Es war nie Unsere Absicht, den Aussagen der großen Lehrer über den Wert der verschiedenen Regierungsformen, noch der katholischen Lehre und den Überlieferungen des Heiligen Stuhls über den Grad des Gehorsams gegenüber den eingesetz ten Gewalten etwas hinzuzufagen. "2

Da übrigens die Demokratie als Regierung des Volkes verstanden wird und da das Volk in der kirchlichen Soziallehre als etwas ganz anderes erscheint als dies in dem geläufigen neuheidnischen Begriff von Volk zum Ausdruck kommt-in dem nämlich das Volk nur als Masse auftaucht -, wird deutlich, daß auch der katholische Demokratiebegriff grundverschieden ist von dem, was man allgemein darunter versteht. 3

Angesichts der Egalitarismus-Lawine versucht nun Papst Pius XII. - ohne sich auf politische Präferenzen einzulassen - auf die vorgefundene demokratische Tendenz einzugehen und sie in eine Richtung zu leiten , die dem soziopolitischen Körper keinen Schaden zufügt.

Dies wird deutlich, wenn er dem italienischen Adel angesichts der Veränderungen im Italien der Nachkriegszeit folgenden Rat gibt: ,, Nun aber sind sic h alle im großen und ganzen darüber einig, daß diese Neuordnung nicht als eine reine und einfache Rückkehr zur Vergangenheit aufgefaßt werden darf Ein solches Rückwärtsgehen ist nicht möglich. Denn die Welt ist - selbst in ihrer oft ungeordneten, sprunghaften Bewegung ohne Einheit und Folgerichtigkeit - weitergeschritten. Die Geschichte steht nicht still. Sie kann nicht stillstehen. Unaufhörlich geht sie weiter. Sie verfolgt ihren geordneten und geradlinigen oder ihren wirren und krummen Laufdem Fortschritt oder einem Trugbild von Fortschritt entgegen. "4

Wie bei der Rekonstruktion eines Gebäudes müssen beim Wiederaufbau einer Gesellschaft zwei extreme Fehler vermieden werden: einmal der rein archäologische, z um andern der Aufbau eines völlig anderen Gebäudes, ein Neubau also , der gar kein Wiederaufbau wäre. So sagt also der Papst:

,, Wie man ein Haus, das dem heutigen Gebrauch dienen soll, nicht haargenau nach uraltem Vorbild wiederaufbauen kann, so darfman es auch nicht nach willkürlichen Plänen errichten, selbst wenn sie theoretisch die besten und wünschenswertesten wären. Man muß die unausweichliche Wirklichkeit in ihrem ganzen Ausmaß in Rechnung stellen. "5

10. Auch in den Demokratien sind höchst aristokratische Einrichtungen notwendig

Wenn die Kirche also die Demokratie nicht zerstören will, so will sie doch , daß diese richtig verstanden wird, und daß der Unterschied zwischen dem christlichen und dem revolutionären Demokratiebegriff deutlich hervorgehoben wird.

88 KAPITEL V
1) A c ta Sanctae Sedis, Ex T ypographia Po lyglotta, Rom 1894, Bd. XII , S. 109- 110. 2) In einem Brief an Kardinal Matthieu vom 28. März 1897, in L a paix i11terie 11re d es Nations , Desclee & Cie., 1952 , S. 220.
Vgl. Kapitel III.
Ansprache an d as Patr izi a t und an den Adel von Rom , 1945 , S. 274.
Ansprache an das Pa trizi a t und an den Adel von Rom , 1945, S 274.
3)
4)
5)

Rufen wir uns an dieser Stelle die Lehre Papst Pius' XII. ins Gedächtnis, in der er vom traditionellen Charakter und der aristokratischen Note einer wahrhaft christlichen Demokratie spricht:

„ Schon bei anderer Gelegenheit haben Wir von den Voraussetzungen g espro chen, die notwendig sind, damit ein Volkfar eine gesunde Demokratie reif w erde Doch wer vermag es, zu dieser Reife zufahren und emporzuheben? Ohne Zwe ifel könnte die Kirc he z u d ie s em Zweck viele Lehren aus dem Schatz ihrer E,jahrungen und ihre r e igenen zivilis ierenden Tätigkeit hervorholen. Doch Eure Gegenwart bei Uns veranlaßt Uns z u ein e r bes onderen B emerkung. Nach dem Zeugnis der Geschichte ist das Leben d es Volkes dort, wo eine wahre Demokratie herrscht, von gesunden Traditionen getragen, die man nicht niederreißen darf. Vertreter dieser Traditionen sind vor allem die führenden Klassen oder die Gruppen von Männern und Frauen oder Vereinigungen, die, wie man zu sagen pflegt, den Ton angeben im Dorf und in der Stadt, in der Provinz und im ganzen Land.

Dies ist der Grund, warum in allen Kulturvölkern im erhabensten Sinn des Wortes hervorragend aristokratische Einrichtungen - wie es manche Akademien von weitreichender Berühmtheit sind - bestehen und Einfluß ausüben. Hierher gehört auch der Adel. Ohne irgend ein Vorrecht ode r Monopol zu beanspruc he n, ist er eine dieser Einrichtungen oder sollte es sein: eine traditionelle Einrichtung, die begründet ist auf der Beständigkeit einer althergebrachten Erziehung. Gewiß, in e in er d em o kra tis ch e n G ese llschaft, wie die moderne es sein will, kann der bloße Titel d e r Abstammung n ich t aus re ic hen , um Ansehen und Vertrauen zu erwe rben. Um also Euren holten Stand und Eure soziale Stellung zu bewahren,ja sogar zu stärken und zu erhöhen, müßt Ihr wahrhaft eine Elite sein, müßt Ihr den Bedingungen und Forderungen entsprechen, die in der Zeit, in der wir nun leben, unerläßlich sind." 1

Ein Adel oder eine traditionelle Elite, deren Umfeld d e n Nährbode n für die Bildung besonderer Qualitäten des Verstandes, des Willens und der Sensibilität hergibt, und die ihr Prestige auf das Verdienst eine r j e den weiteren Generation stützt, ist also na c h Papst Piu s XII. kein heterogenes, widersprüchliches Element in einer wahrhaft christliche n D e mokratie, s ondern ihr kostbarer Bestandteil. Wir sehen also, wie sehr sich die echt chri stliche Demokratie von jener egalitären Demokratie unterscheidet, wie sie von der Revolution angepriesen wird , nach der die Zerstörung aller Eliten - und unter dies en v o r alle m d e s Adel sals eine wesentliche Voraus setz ung eine r echten Demokratie angesehen wird. 2

l) An sp rache a n das Pa tri z iat un d a n den Ade l von Ro m, 1946, S. 3 40f.

2 ) Ü be r d ie Rechtm ä ß ig ke it un d N otwendig ke it des Bes tehens e ines Ade ls in e in er echt ka tho li sc he n Gesellschaft is t das g run d legende K onzept z u beac h ten , das unter d e m Titel „ A ris tokra t ie" in e inem bede uten den Ho mili enwe rk unter der Leitung von Kard ina l A ngel He rre ra O ri a e rs t ell t w urd e und in Anhang I V d es vorli egende n Buches komment iert w ird

ELITEN, FAMILIE UND TRADITION 89

KAPITEL VI

Relevantes Zusammenwirk:en des Adels und der traditionellen Eliten

zur Lösung der Krise unserer Tage

Die Lehre von Papst Pius XII.

Nchdem w ir un s von der Rechtm ä ßi g ke it und der N otwe ndi g keit der Exi ste n z radition e ll er E lite n üb e rzeugt hab e n, i s t es nun a n d e r Ze it , die Lehren vorzus tellen , mit d e nen P a p s t Pius XII. deutlich macht, daß di ese Eliten kraft d e r ih ne n eigenen Qual i täten und Tugend e n d az u ausersehen s ind , der Gesellschaft als Führungspersönlichkeiten z u dienen - eine Aufga be, de r s i e s ic h nicht e nt zie h e n dürfen.

1. Das Wesen des Adels besteht in der christlichen Tugend

In der heuti gen Zeit h at der A delige v or a llem ein Men s ch z u se in , der s ic h durc h di e Qualitäte n d e r Seele a u s zeichnet. Die c h r i st lic he Tuge nd und das c hri s t l ic he Ideal ge höre n zu m eigentlichen Wese n de s Ad e l s .

„Erhebt und h eftet den Blick auf das christliche Ideal Alle Umwandlunge n, Evolutionen oder Revolutionen lassen es unberührt. Sie vermögen nichts gegen das innerste Wesen wahren Adels, das Streben nach christlich er Vollkommenheit, wie sie der Erlöser in der Bergpredigt zeigte. Unheding te Treue zur katholischen !,ehre, z u Christus und S einer Kirche; Fäh igkeit und Willigkeit, auch den anderen darin B eispiel und Führer zu sein ..... Schenkt der Welt, auch der Welt der Gläubigen und der praktizierenden Katholiken, das Schauspiel eines untadeligen Ehelebens, die E rbauung einer wirklich beispielhaften Familie. " 1

Und anschließend ermunte1t Papst Pius X II. de n Adel z u e ine r h e ilige n Unnachgiebigkeit: ,,Erric htet um Euer H e im und Euren Kreis e inen Damm gegen das Einsickern verhängnisvoller Grundsätze, verde rblic h er Schwächen und We ichlichke ite n , we lch e die Reinheit des Ehe- und Familienle bens beflecken ode r trüben könnte n. Das ist gewiß ein hervorragendes und heiliges We rk, sehr geeignet, den Eifer des römischen und christlichen Adels in unserer Zeit z u enifachen. " 2 1) Ansprache an das Patrizia t und an d en Adel von Rom, 1952 , S 458. 2) A nsprac he an d as Patriziat und an d e n Adel von Rom, 1952 , S 4

5 8

a) Seefische Qualitäten des heutigen Adeligen

Um die großen Hindernisse zu überwinden, die sich einer tadellosen Pflichterfüllung in den Weg stellen, hat der Angehörige des Adels oder der traditionellen Eliten ein tapferer Mensch zu se in. Dies erwartet auch der Stellvertreter Christi von ihm:

„Aus diese m Grunde erwarten Wir von Euch vor allem die seelische Stärke, die auch die härtesten Prüfungen nicht erschüttern können, eine Festigkeit der Seele, die Euch nicht nur zu tadellosen Soldaten Christi macht, sondern auch - um es einmal so zu nennen - zu Lehrmeistern und Helfern derer, die versucht sind, zu zweifeln und aufzugehen.

Was Wir von Euch in zweiter Linie erwarten, ist eine Einsatzbereitschaft, die sich weder einschüchtern noch mutlos machen läßt von der Erwartung irgendwelcher Opfer, die das Gemeinwohl von Euch fordert. Die freudige Bereitschaft, die Euch den Mut zur Erfallung aller Pflichten als Katholiken und als Staatsbürger verleiht. Den freudigen Mut, der es nicht zuläßt, in die stumpfe und teilnahmslose Haltung des, Ohne-mich' zu verfallen, die eine schwere Verfehlung in einer Zeit wäre, da die lebenswichtigen Interessen der Religion und des Vaterlandes auf dem Spiele stehen.

Was Wir schließlich auch noch von Euch erwarten, ist der großmütige Einsatzfar die grundlegenden Gesetze der Doktrin und des christlichen Lebens. Nicht nur als Lippenbekenntnis undformal, sondern von ganzem Herzen und unter Beweis gestellt durch rückhaltlose Hingabe an diese /deale, die Grundregeln der Brüderlichkeit und sozialer Gerechtigkeit sind. Die treue Erfiillung dieses Einsatzes wird Euch, es kann gar nicht anders sein, wahrhaftiges geistiges und zeitliches Glück verschaffen.

Mögen diese Festigkeit der Seele, dieser Eifer, diese brüderliche Gesinnungjeden Eurer Schritte lenken und Eure Wege im Neuen Jahr sicher machen! Eines Jahres, das sich als ein unsicheres ankündigt und Euch fast durch einen dunklen Tunnel zufahren scheint. " 1

Und im Jahre 1949 entwickelt der Papst in seiner Ansprache diese B eg riffe noch weiter:

„ Geistesstärke haben alle nötig, besonders in unseren Tagen, um die Leiden mutig zu ertragen, um die Schwierigkeiten im Leben siegreich zu überwinden und um die eigene Pflicht beständig zu erfüllen. Wer muß nicht leiden? Wer muß nicht Kummer tragen? Wer muß nicht kämpfen? Nurjener, der sich selbst aufgibt undflieht. Ihr aber habt weniger als so viele andere das Recht, Euch selbst aufzugeben und zu fliehen. Heute sind die l e iden, die Schwierigkeiten und die Nöte für gewöhnlich allen Klassen, allen Ständen, allen Familien und allen Personen gemeinsam. Und wenn einige davon frei sind, im Überfluß und im Vergnügen schwimmen, so müßte dies sie dazu antreiben, das Elend und die Not der anderen mit aufsich zu nehmen. Wer könnte Zufriedenheit und Ruhe haben, we r würde sich nicht vielmehr unbehaglichfiihlen und in Scham erröten, wenn er in der Muße und in der Ausgelassenheit, im Luxus und im Schwelgen lebte, während ringsum so gut wie überall Trübsal herrscht?

Tatbereitschaft. In der großen persönlichen und sozialen Solidarität muß jeder bereit sein, fiir das Wohl aller zu arbeiten, sich zu opfern und sich hinzugeben. Der Unterschied liegt nicht in der Tatsächlichkeit der Verpflichtung, sondern in der Art, ihr zu genügen. Und ist es etwa nicht wahr, daß jene, die über mehr Zeit und reichere Mittel verfugen, die Dienstbeflissensten und Diensteifrigsten sein sollten? Wenn Wir von den Mitteln sprechen, so meinen Wir damit nicht lediglich und in erster Linie den Reichtum , sondern alle Gaben des Ver-

92 KAPITEL VI
1) Ansprache an das Pa triziat und den A de l von Rom , 1948, S. 4 23f.

standes, der Kultur, d er Erziehung, des Wissens , des E influsses , die vom Schicksal einzelnen Bevorzugten gegeben werden, und zwar nicht ausschließlich zu ihrem eigenen Vorteil oder zur Schaffung einer unheilbaren Ungleichheit unter Brüdern, sondern zum Wohl der ganzen sozialen Gemeinschaft. In all dem, was Dienst ist für den Nächsten,jür die Gesellschaft,Jür die Kirche und für Gott müßt Ihr immer die ersten sein. Hier ist Euer wahrer Ehrenrang. Hier ist Euer adeligstes Vorrecht.

Großmütiges Festhalten an den Grundsätzen der christlichen Lehre und des christlichen Lebens. Diese sind ein und dieselben für alle. Denn es gibt weder zweierlei Wahrheit noch zweierlei Gesetz. Reich und arm, groß und klein, hoch und niedrig, sie alle sind in gleicher Weise verpflichtet, durch den Glauben ihren Verstand ein und demselben D ogma, durch den Gehorsam ihren Willen ein und derselben Moral zu unterwerfen. Das gerechte Urteil Gottes wird jedoch jenen gegenüber viel strenger sein, die mehr empfangen haben, die besser imstande sind, die einzige allein wahre Lehre kennenzulernen und im Alltag in die Tat umzusetzen, die durch ihr Beispiel und durch ihr Ansehen die anderen leichter auf den Weg der Gerechtigkeit führen oder sie auf den verhängnisvollen Pfaden des Unglaubens und der Sünde ins Verderben stürzen können. " 1

Die zuletzt angeführten Worte zeigen, daß es für den P ap st kein e n Adel und keine traditionelle Elite gibt, wenn diese nicht auch effe ktiv und entsagend apostolisch s ind. Ein Adel, der am Gewinn interessiert ist und nicht am Glauben, d e r keine Ideale hat, der s ich (im abwertenden Sinne , der die se m B egriff manchmal anhaftet) verbürgerlichen ließ , i s t nichts als ein Abglanz seiner selbst. 2

b) Aristokratische Ritterlichkeit, ein Band der Nächstenliebe

Der Adelige , der wirklich diese Tugenden der Seele besitz t, entwickelt im Umgang natürlich ein ritterliches, vornehmes Benehmen. Könn te ein mit diesen Qualitäte n und diese m Benehme n ausgestatteter Adeliger zu einem trennenden Element z wischen den Gesellschaftsschichten werden?

Nein. Di e recht verstandene aristokratische Ritterlichkeit tre nnt nicht, sondern is t in Wirklichkeit ein Bindeglied , das d e m Zusammenleben von Adeligen und Angehörigen anderer Gesellschaftsgruppen, mit denen s ie beruflich oder so n s twi e Umgang pflegen, e ine gewisse Anmut verleiht.

Diese Ritt e rlichkeit hebt „ ohne Durch e inande r oder Unordnung " 3 den Unterschied zwischen den Klas se n keineswegs auf, das heißt, es kommt nicht z ur ega litäre n Gleichmacherei. Die Beziehungen erhalten vielmehr e in e n freund sc haft liche n Zug.

2. Der Adel und die traditionellen Eliten

als Leiter der Gesellschaft

Die von se ine n christlichen Tugenden ausgehenden see li sc h e n Vorz üge und der ritterliche Umgang versetzen den Adeligen in di e Lage , di e Roll e e ines Anführers in der G ese llsc haft z u übernehme n.

a) Eine Form des Apostolats: Führung der Gesellschaft

Di e Menge braucht heute mehr denn j e geeignete Leiter:

1) Anspra che an das Patriziat und a n den Adel vo n Rom , 194 9, S . 3 46-3 4 7

2) V gl. hierzu die Predigt des hl. Carlo Borromco im Anhang, Doku me nt e IV, 8.

3) An s pra c he an das Patrizia t und an den Adel vo n Rom , 1945, S. 277.

RELEVANTES ZUSAMMENWIRKEN DES ADELS 93

,,Die unzählige, namenlose Menge ihrerseits läßt sich leicht wild in Bewegung setzen. Sie überläßt sich passiv dem blinden Zufall, dem Fluß, der sie mitreißt, oder der Laune der Strömungen, die sie teilen und in die Irreführen. Nachdem die Menge einmal zum Spielzeug der Leidenschaften oder Interessen ihrer Aufwiegler sowie ihrer eigenen Illusionen geworden ist, weiß sie nicht mehr, auf dem festen F eisen Fuß zu fassen und sich darauf niederzulassen, um ein wahres Volk zu bilden, das heißt, einen lebendigen Leib mit den Gliedern und den Organen, die zwar nach Form und Funktion verschieden gestaltet, aber alle miteinander zu einer selbständigen Tätigkeit geordnet sind und einheitlich zusammenwirken. " 1

Dem Adel und den traditionellen Eliten fällt die Aufgabe zu, der Gesellschaft als Leiter zu dienen und auf diese Weise ein leuchtendes Apostolat auszuüben: ,,Eine Elite? Das könnt Ihr leicht sein. Ihr habt hinter Euch eine Vergangenheit von jahrhundertealten Traditionen, die grundlegende Werte fiir das gesunde Leben eines Volkes darstellen. Zu diesen Traditionen, auf die Ihr mit Recht stolz seid, zählt Ihr in erster Linie die Religiosität, den lebendigen und werktätigen katholischen Glauben. Hat die Geschichte vielleicht nicht schon grausam bewiesen, daß jede menschliche Gesellschaft ohne religiöse Grundlage unweigerlich ihrer Auflösung entgegengeht oder im Terror endet? Euren Ahnen nacheifernd, müßt Ihr also vor dem Volk leuchten durch das Licht Eures Frömmigkeitslebens, durch den Glanz Eurer unerschütterlichen Treue zu Christus und der Kirche.

Zu diesen Traditionen zählt gleichfalls die tadellose Würde e in es tief chris tlic h e n Eh eund Familienlebens! Aus allen Ländern, wenigstens aus d e n e n d e r ab e ndländisc he n K ultw; ertönt der Angs tschrei der Ehe und der Familie, und zwar s o h e rzzerre (ß en d, daß es unm öglich ist, ihn nicht zu hören. Stellt Euch auch hier durch Euer ganzes Verhalten an die Spitze der Erneuerung und Wiederherstellung des hiiuslichen Herdes!

Zu eben diesen Tradition e n rechnetfern erjen e, daß Ihr in alle n 1fmt e rn d es ö_/]e ntlic h e n Lebens, zu denen Ihr berufen werde t, dem Volk leb e ndige Vorbilde r unbeugsame r P/li c hte , -.fiillung seid; unparteiische und un e ige nnütz ige M e ns c he n, die J re i vonje d e r ungeordn e te n Ehr- oder Ge w innsucht, einen Posten n u r z u d e m Z w eck ann e hm e n, d er guten S ac h e z u dienen; mutige Menschen, die sic h weder durch den Ve rlus t d e r Gunst von obe n no c h du rc h di e Drohungen von unt en eins c hü c htern lassen.

Zu diesen Traditionen z ählt e b e nfalls ein ruhiges und b es tändiges F es th a lt e n an all de m , was die Erfahrung und die G eschi c hte b e währt und ge h e ilig t habe n; auchje n e Tra dition e ines Geistes, der unzugänglich ist für die u nruhige Ai1fi,viege lung und die b linde Su c ht n ach Neuem, die unsere Zeit kennzeic hnen, e in es G e is tes, d e r a b e r gl e ichze it ig all e n sozia le n Nöten weit geöffnet ist. Laßt es Euch in der festen Überzeugung, daß nur die L e hre d e r Kirc h e den gegenwärtigen Übeln wirksam abh e lfe n k a nn, ange l ege n sein, ihr de n Weg fi -e iz um achen, und z war ohne Vorbehalt oder s e lbs ts ü c htige B ed en k e n, durc h Wort und Tat , in s b esondere dadurch, daß Ihr in der Verw a ltung Eurer Güte r s owohl in wirtsc haftlic h e r a ls auch in sozialer Hinsicht wahrhaft muste rgültig s eid. Ein echter Edelmann leiht seine Hilfe niemals Unternehmungen, die nur zum Schaden des Gemeinwohls, zum Nachteil oder Ruin armer Leute bestehen bleiben und gedeihen können. Im Gegenteil, es wird für ihn eine Ehre sein, auf der Seite der Kleinen zu stehen, der Schwachen, des Volkes, auf der Seite jener, die durch ein ehrbares Handwerk ihr Brot im Schweiße ihres Angesichtes verdienen. So werdet Ihr wahrhaft ein e Elite sein. So werdet Ihr Eure religiös e und chris tlic he

94 KAPITEL VI
1) Ans prac he an da s P atri z iat und den A del v on Ro m , 194 6, S. 340 ; vgL a uc h Kapi tel II L

Pflicht als gläubige Menschen und als Christen erfüllen. So werdet Ihr Gott und Eurem Land edel dienen.

Möget Ihr, geliebte Söhne und Töchter, durch Eure herrlichen Traditionen, durch die Pflege Eures Fortschritts und durch Eure persönliche, menschliche und christliche Vollkommenheit, durch Eure hilfibereiten Dienste, durch die Liebe und Herzlichkeit Eurer Beziehungen zu allen sozialen Schichten imstande sein, dem Volk dazu zu verhelfen, daß es wieder auf dem wahren Eckstein Fuß fasse, das Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit suche. " 1

b) Wie der Adel seine Führungsaufgabe wahrnehmen soll

Bei der Ausübung dieser Führungsaufgaben sollte der Adel stets vor Augen haben, daß es sich dabei selbstverständlich um eine Vielzahl von Verpflichtungen handelt:

,, In einer hochentwickelten Gesellschaft wie der Unsrigen, die nach dem gewaltigen Zusammenbruch wieder in Ordnung gebracht werden muß, ist die Aufgabe der führenden Männer unterschiedlich.führend ist der Staatsmann, der Politiker;fahrend ist der Arbeiter, der, ohne zur Gewalt, zur Drohung oder zur hinterlistigen Propaganda zu greifen, durch sein eigenes Verdienst imstande war, sich in seinem Kreis Ansehen und Vertrauen zu erwerben;fahrend sind - jeder aiifseinem Gebiet - der In genieur und der Rechtsanwalt, der Diplomat und der Volkswirtschaftler, ohne deren Hilfe die materielle, soziale und internationale Welt in die Brüche ginge;fahrend sind der Universitätsprofessor, der Redner und der Schriftsteller, die danach trachten, die Geister zu bilden und zu leiten;fahrend ist der Offizier, der seinen Soldaten Sinnfar Pflicht, Dienst und Opferbereitschaft einflößt;führend ist der Arzt in der Ausübung seiner Heilkunst;fiihrend ist der Priester, der den Seelen den Weg des Lichtes und des Heiles zeigt und ihnen die Gnaden vermittelt, damit sie sicher aiif ihm wandeln und voranschreiten können. " 2

Der Adel und die traditionellen Eliten haben die Aufgabe, sich an dieser Führun g zu beteiligen, doch nicht auf einem spezifischen Gebiet, sondern mit der ihnen e igenen , traditionellen Geisteshaltung und auf besondere Weise in j edem ihnen angemessenen Bereich:

„Welches ist in dieser Vielfalt fahrender Tätigkeiten Euer Platz, Eure Aufgabe, Eure Pflicht?-Sie tritt Euch in zweifacher Gestalt entgegen : als persönliche Aufgabe und Pflicht jedes einzelnen von Euch und als Aufgabe und Pflich t der Klasse, der Ih r angehört.

Die persönliche Pflicht verlangt, daß Ihr Euch durch Eure Tugend, durch Euren Fleiß bemüht, in Eurem Beruffahrend zu werden. Tatsächlich wissen Wi r wohl, daß die heutige Jugend Eures edlen Kreises im Bewußtsein der dunklen Gegenwart und der noch ungewisseren Zukunft völlig davon überzeugt ist, daß die Arbeit nicht nur eine soziale Pflicht, sondern auch eine Lebenssicherungfiirjeden einzelnen bedeutet. Und Wir verstehen das Wort Beruf im weitesten und umfassendsten Sinn, wie Wir es schon letztes Jahr herauszustellen hatten: technische oder freie Berufe, aber auch politische und soziale Tätigkeit, geistige Arbeit, Unternehmungen aller Art, umsichtige, sorgfältige und emsige Verwaltung Eurer Vermögen, Eurer Landgüter nach den modernsten und erprobtesten Anbauweisen zum materiellen, sittlichen, sozialen und geistig-religiösen Wohl der auf ihnen lebenden Landarbeiter bzw. Landbevölkerung. In jeder dieser Berufssparten müßt Ihr alle Mühe aufwenden, um Euch als Führende zu bewähren, sei es um des Vertrauens willen, das jene auf Euch setzen, die den gesunden und lebendigen Traditionen treu geblieben sind, sei es wegen des Mißtrauens vieler anderer, eines Mißtrauens, das Ihr überwinden müßt, indem Ihr Euch

96 KAPITEL VI
1) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1946, S. 341 -342. 2) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1945, S. 274-275.

ihre Ho chschätzung und Achtung dadurch erwerbt, daß Ihr in allem hervorragt an dem Posten, auf dem Ihr steht, in der Tätigkeit, die Ihr ausüb t, welcher Art auch immer dieser Posten oder diese Tätigkeit sein mag. " 1

Genauer gesagt soll der Ade lige auf alles, was er tut, die menschlich relevanten Qualitäten übertragen, die ihm seine Tradition gewährt:

„ Worin soll sich nun aber zeigen, daß Ihr in Tat und Leben hervorragend seid? Welches sind hierbei die wichtigsten Eigenschaften?

Vor allem offenbart sich dies in der Vollkommenheit Eurer Arbeit, ob sie nun technisch oder wissenschaftlich, künstlerisch oder welcher Art auch immer ist. Die Arbeit Eurer Hände und Eures Geistes muß jenen Stempel der Vortrefflichkeit und Vollkommenheit an sich tragen, der sich nicht von heute auf morgen aneignen läßt, sondern die Feinheit der Seele und des Gewissens, des von Euren Ahnen ererbten und vom christlichen Ideal unaufhörlich genährten Denkens uml Fühlens widerspiegelt.

Ebenso tritt diese Musterhaftigkeit zutage in dem, was man die Humanität nennen kann, d. h. die Gegenwart, das Hervortreten des vollgültigen Menschen in allen Ausdrucksformen seiner Tätigkeit - auch der spezialisierten - in einer Weise, daß die Spezialisierung in seinem Fach nie zu einer Übertriebenheit wird, daß sie die Allgemeinbildung weder verkümmern lasse noch zurückdränge, ebenso, daß - musikalisch ausgedrückt- die Dominante weder die Harmonie zerstören noch die Melodie erdrücken darf.

Diese Vorbildlichkeit ze igt sich außerdem in der Würde des ganzen Verhaltens und Benehmens, in einer Würde, diejedoch nicht herrisch auftritt, in einer Würde, die, weit entfernt, die Abstände zu betonen, sie nur im Notfall durchscheinen läßt, um den anderen einen höheren Adel der Seele, des Geistes und des Herzens einzuflößen.

Schließ/ich kommt es hauptsächlich zum Vorschein im Sinn für höhere Sittlichkeit, Geradheit, Ehrlichkeit und Redlichkeit, in jenem Sinn, der jedes Wort und jede Tat prägen muß ,,z

So bewundernswert alles aristokratische Raffinement an sich auch sein mag, wäre es dennoch nutz lo s und sogar schädlich, wenn ihm nicht ein hohes Sittlichkeitsgefühl zugrunde läge:

„ Eine sittenwidrige oder sittenlose Gesellschaft, die den Unterschied z wischen Gut und Böse in ihrem Gewissen nicht mehr empfindet und in ihren Handlungen nicht mehr hervortreten läßt, die vor der Sc haustellung der Verderbtheit nicht mehr erschaudert,ja, die sie entschuldigt, sich ihr neutral anpaßt, sie womöglich gar woh lgefällig aiifnimmt, sie ohne Unruhe oder Gewissensbisse praktiziert, sie ohne Erröten offen zeigt, sich z u ihr herabwürdigt, die Tugend verlacht, eine solche Gesellschaft ist auf dem Weg zum e igenen Unte rgang. ...

Ganz anders ist die wahre Vornehmheit: sie bringt in den gesellschafilichen B eziehungen eine Demut voll Größ e, e ine Nächstenliebe ohne alle Selbstsucht, ohne alles Suchen des eigenen Vorteiles zum Aufleuchten. Wir wissen wohl, mit welc her Güte und L iebenswürdigkeit, mit welcher Hingabe und S elbstverleugnung viele - und besonders viele von Euch - in diesen Zeiten unendlich e r Nöte und Sorgen sich zu den Unglücklichen h erabgebeugt, das Licht ihrer wohltätigen Liebe in alle n fortschrittlichsten und wirksamsten Formen auszustrahlen verstanden haben. Di es ist gerade die andere Seite Eurer Sendung. "3

RELEVANTES ZUSAMMENWIRKEN DES ADELS 97
1) An sprache an da s Patri z ia t u nd an den Adel von Rom , 1945 , S 275-276 2) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1945 , S 276 3) Ansprac he a n da s Patriziat und a n den Adel von Ro m, 1945 , S. 276-277

,,Eine Demut voll Größe" .... wie wunderbar klingt dieser Ausdruck angesichts des eitlen Jetset-Stils, der Vulgarität der so genannten „demokratischen" und „modernen" Umgangsformen , des Lebensstils, der Seinsweise, wie sie heute gang und gäbe sind.

c) Infolge ihrer traditionellen Bildung sehen die Eliten die Gegenwart mit besonderer Schärfe

Ein mit einem zutiefst traditionellen Geist ausgestatteter Adeliger kann aus der in ihm lebendigen Erfahrung der Vergangenheit die Mittel schöpfen, die es ihm erlauben, besser als mancher andere die Probleme der heutigen Zeit zu erkennen. Er lebt keineswegs am Rande der Wirklichkeit, sondern ist ein aufmerksamer, tiefer Kenner derselben:

„Es gibt Schlechtes in der Gesellschaft, so wie es Schlechtes bei einzelnen Menschen gibt. Es war ein großer Tag in der Geschichte der Medizin, als der berühmte Laennec, ein genialer und gläubiger Mensch, hilfsbereit über die Kranken gebeugt, mit dem von ihm erfundenen Stethoskop abhörend, den leisesten Hauch vernehmend, die fast unhörbaren Geräusche der Lungen und des Herzens erklären konnte. Ist es aber nicht ebenso eine soziale Funktion erster Ordnung und von höchstem Interesse, unter das Volk zu gehen, um seine Erwartungen und die unklaren Verhältnisse der Zeitgenossen zu erkennen? Ihre Herzen schlagen zu hören, Heilmittel far das allgemeine Elend zu suchen, vorsichtig die Wunden zu behandeln, um sie zu retten und um eine Infektion zu verhindern, die durchfehlende Fürsorge entstehen könnte und sie vor Berührung zu schützen, welche die Wunden ve rschlimmern könnte?

Verstehen, um Christi Willen, das Volk unserer Zeit zu lieben, dieses Verstiindnis und die Liebe durch Taten zu beweisen, das ist die Kunst, in hohem Maße Gutes zu tun, wozu Ihr berufen seid! Nicht nur in Eurem engeren Kreise, sondern fast ohne Grenzen, in dem genauen Augenblick, da Eure Erfahrungen zum Vorteil aller gereichen. Es ist aufdiesem Gebiet, aufdem so viele noble Seelen begeistert und enthusiastisch bereit sind, eine soziale, christliche Ordnung zu erwecken und auszubreiten!" 1

Man sieht also , daß der wahre, und das heißt der echte, traditionelle Aristokrat, der sich selbst treu bleibt, auf den Glauben gestützt das Volk lieben und einen wahrhaft christlichen Einfluß auf dieses ausüben kann und muß.

d) Der wahrhaft traditionelle Aristokrat ist ein Abbild der Göttlichen

Vorsehung

Man könnte sich nun fragen , ob der Adel sich nicht selbst herabwürdigt, wenn er leitende Positionen im heutigen Leben übernimmt. Und könnte seine Liebe zur Vergangenheit ihn bei der Ausübung heutiger Aufgaben nicht behindern? Pius XII. lehrte diesbezüglich:

,, Nicht wenig beleidigendfiir Euch und schädlicher für die Gesellschaft wäre das ungerechte und unbegründete Vorurteil, welches dem Patriziat und dem Adel unterstellte, daß sie ihre Ehre und die ihres Standes beschmutzen würden, wenn sie Funktionen und }{mter übernehmen, die zu alltäglichen Tätigkeiten führen. Sicherlich war zu anderen Zeiten die Ausübung von einfachen Berufen durch Adelige nicht als ehrenvoll angesehen, mit Ausnahme des Waffendienstes. Aber selbst damals zögerten nicht wenige Edelleute, sobald die Verteidigung des Gemeinwesens ihnen Zeit dazu ließ, sich intellektuellen Tätigkeiten oder dem Handwerk zu widmen So ist es auch jetzt, unter geänderten politischen und gesellschaftli -

98 KAPITEL VI
1) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom, 1944, S. 180- 181.

chen Bedingungen nicht selten, daß man die Namen großer Familien in Ve rb indung mit Fortschritten in den Wissenschaften, der I ndustrie und Landwirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung oder der R egierung zu hören bekommt. Diese Männe r sind umso aufmerksamere Beobachter der Gegenwart, sichere und mutige Pioniere des Fortschrittes, als s ie sich mit fester Hand an die Lehren der Vergangenheit halten, die E,fahrungen ihrer Vo rfahren nützen und sich vor Illusionen und Irrtümern hüten, welche die Ursache von vielen falschen und schädlichen Unternehmungen vergangener Zeiten waren.

Behüter - die Ihr sein wollt - echter Traditionen, die Eure Familien auszeichnen - Ihr habt die Mission und den R uhm, zur Rettung des menschlichen Zusammenlebens beizutragen. Ihr sollt die Traditionen vor der Unfruchtbarkeit bewahren, zu welcher es die melancholischen Bewunderer verdammen würden, die all zu sehr am Vergangenen hängen. Aber ebenso auch vor der Katastrophe, in die es gefäh rli che Abenteurer und verblendete Propheten eines fragwürdigen und trügerischen Fortschrittes fahren würden In Euren Werken wird- über und in Euch - das Bild der Göttlichen Vorsehung erscheinen, die kraftvoll und doch mit Sanftmut alle Dinge entscheidet und z ur Vollendung bringt (Weish. 8, 1). Dies geschieht, wenn sich nicht die Verrückth eit menschlichen Stolzes ihren Absichten entgegenstemmt, die aber trotzdem imm er stärker als das Böse, das Unvorhersehbare und die Zi!fälligkeiten sind So werdet Ihr auch wertvolle Mitarbeiter der Kirche sein, die- auch inmitten von Unruhe und Konflikten - fiir den geistigen Fortschritt der Völk er wi rkt, far die S tadt Gottes auf Erden, die Vorbereitung der Ewige n S tadt . " 1

e) Aufgabe der Aristokratie gegenüber den Armen

Zu d er le itenden Teilnahme a m Leben der Gesellschaft gehört auc h der sowohl erzieherische a ls auc h wohltätige Charakter des Wirkens der tradi t ione lle n Eliten, der in den beiden folgenden Abschnitten aus den Ansprachen P apst Pi us X II. bewunderungswürdig beschrieben wird :

„ Wie jedes wertvolle Erbe, erfordert auch dies es die Erfiillung strenger Pflichten Sie s ind umso strenger, je reicher das Erbe ist. In erster Linie sind es zwei Verpflichtungen:

1 Die Pflicht, diese Schätze nicht zu verschwenden, sie unbeschädigt weiterzugeben an d ie, die nach uns kommen und sie, wenn möglich, noch zu vermehren Das heißt im besonderen, der Verfiihrung zu widerstehen, in diesen Gaben nichts weiter zu sehen als ein Mittel, um ein leichte res, angenehmeres, vornehmeres und erfolgreicheres Leben zu fahren;

2. Die Verpflichtung, diese Schätze nicht nurfar sich selbst zu behalten, sondern sie auch den , von der Vorsehung weniger reich bedachten Mens chen abzugeben und so durch sie umfangre iche Vorteile zu gewähren.

Geliebte Söhne und Töchter, die edlen Charakterzüge der Wohl tätigkeit und edler Tugenden habt Ihr von Euren Vorfahren geerbt. Von ih rem Edelmut legen die Denkmäler und Paläste, die Hospize und Asyle sowie die Spitäler Roms Zeugnis ab. Ihre Namen und das Andenken an sie sprechen zu uns über ihre beglückende und_fiirsorgliche Güte den Unglücklichen und Hilfsb edürftigen gegenüber.

Wir wissen sehr wohl, daß das Patriziat und der römische Adel niemals, solange es die Mögli c hkeiten jedes Einzelnen erlaubten, es am rühmenswerten Eifer, Gutes zu tun, haben fehlen lass en In dieser so schmerzlichen Stunde aber, da der Himmel von Unruhe und Sorgen verdunkelt ist, werden diese Edlen mehr als je zuvor in sich den Antrieb zu tätiger

RELEVANTES ZUSAMMENWIRKEN DES ADELS 99
1) Ansprache an das Patriz iat un d a n den Ade l von Rom , 1944, S . 18 1-1 82

Nächstenliebe verspüren, der dazu anspornt, die schon bisher erworbenen Verdienste bei der Bekämpfung des menschlichen Elends zu vermehren. " 1

3. Die abwesenden Führungspersönlichkeitendas Übel des Absentismus

a) Absentismus und Unterlassung: die Sünden der Eliten

Eine unter den Mitgliedern des Adels und der traditionellen Eliten unserer Tage leider gar nicht so seltene Neigung besteht darin, sich von den Ereignissen abzukapseln. Viele unter ihnen entfremden sich der Wirklichkeit, verschließen sich, führen ein unbekümmertes, unscheinbares Leben ohne ein bestimmtes irdisches Ziel und lassen die Tage und Jahre an sich vorüberziehen, weil sie meinen, daß eine gesicherte Vermögenslage sie vor den Wechselfällen des Lebens schützt, während sie sich ganz der Erinnerung an vergangene Zeiten hingeben. Vergebens wird man ihre Namen in den Aktionen des Apostolats, in karitati ven Werken , in der Diplomatie, im Hochschulleben, in der Politik, in den Künsten, beim Militär, in der Wirtschaft suchen. Von wenigen , je nach Zeit und Ort mehr oder weniger seltenen Ausnahmen abgesehen, glänzen sie durch Abwesenheit. Selbst im gesellschaftlichen Leben, in dem ihr Auftreten doch eigentlich glänzend sein müßte, spielen sie oft kaum mehr eine Rolle. So kann es geschehen, daß in einem Land, in einer Provinz, in einer Stadt alles schließlich so seinen Lauf nimmt, als wenn es sie überhaupt nicht gäbe.

Warum die ser Absentismus? Wegen e iner Reihe von Qualitäten und Mängeln. Sehen wir uns doch das Leben dieser Eliten einmal näher an: In den meisten Fällen ist es ein würdiges, ehrsames, ja sogar vorbildliches Leben, hält es sich doch an die noblen Erinnerungen e iner zutiefst chri stlichen Vergangenheit. Nun hat es aber den Anschein, als ob die se Vergangenheit nur noch eine persönliche Bedeutung für diese Mensc hen selbst hat. Weshalb sie sich bis ins kleinste an sie klammem und sich dem heutigen Leben entfremden. Dabei merken sie nicht, daß es im Schatz der Erinnerungen, von denen sie leben, auch Dinge gibt, die heute nicht mehr angewendet werden können. 2 Aus di ese r Vergangenheit quellen jedoch auch Werte, Eingebungen, Tendenzen und Richtlinie n , die „ die ganz neuen L ebensformen" de s ,, neuen Kapitels " 3 auf günstige Weise tief beeinflussen könnten.

Dieses wertvolle Ganze aus geistlichen, sittlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Werten, die sowohl für die Öffentlichkeit als auch für den privaten Bereich von großer Wichtigkeit sind, dieses aus der Vergangenheit aufsteigende Leben, das die Zukunft bestimmen soll, ist die Tradition. Um die Fortdauer dieses unschätzbare n Wertes sicherzustellen, müssen der Adel und die ihm verg leichbaren traditionellen Eliten ihren Einfluß durch eine tatkräftige Präsenz an leitender Stelle in der Gesellschaft ausüben und damit dem Gemeinwohl dienen.

b) Absentismus der Leiter: eine virtuelle Komplizenschaft

Die mit de r Zurückhaltung der stets abwesenden Eliten einhergehende Verantwortung nimmt damit noch deutlichere Züge an:

1) Ansprache an das Patri z iat und an den Adel vo n Rom, 194 1, S 364-365.

2) ,,Ein Blatt der Geschichte ist umgeschlagen, ei11 Kapitel ist abgeschlosse11 Hinter e in e soziale u11d wirtschaftliche Vergangenheit ist der Schlußpunkt gese tzt". e nn a hnte Papst Pius XI I. (Ansprache an das Patriziat u nd an d e n Adel von Rom, 1952, s 457).

3) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom, 1952, S. 457.

RELEVANTES ZUSAMMENWIRKEN DES ADELS 101

We n iger s c h we r is t es hingegen heute, unter den verschiedenen Möglichkeiten, die sich / :'11 c/1 da rbieten, Eu re Haltung zu bestimmen, die Ihr einzunehmen habt.

D ie e rs t e dieser Möglichkeiten ist unannehmbar: sie ist jene des Deserteurs, desjenigen, der mit Recht der , emigre a 1'interieur'[,der innere Emigrant'] 1 genannt wurde. Es ist die Ablehnung des Verbitterten oder Verärgerten, der aus Verachtung oder Entmutigung von seinen Fähigkeiten und Energien keinerlei Gebrauch macht, in keiner Weise am Leben seines Landes und seiner Zeit teilnimmt, sondern sich zurückzieht - wie der Pelide Achilles in sein Zelt, in die Nähe der schnellen Schiffe.fern vom Kampfgefilde, während die Geschicke des Vaterlandes auf dem Spiele stehen.

Noch unwürdiger ist die Ablehnung, wenn sie aus einer trägen und untätigen Gleichgültigkeit hervorgeht. Schlimmer in der Tat als schlechte Laune, als Verachtung und Entmutigung wäre die Gleichgültigkeit angesichts des Ruins, dem die eigenen Brüder und das eigene Volk ausgesetzt sind. Vergeblich würde diese Gleichgültigkeit versuchen, s ich unter d e r Maske der Neutralität zu verstecken: ist sie doch keineswegs neutral, sie ist- gewollt oder ungewollt-Komplize! Jede der leichten Schneeflocken, die so sanft an den Berghängen liegen und sie mit ihrem Weiß schmücken, hilft mit, wenn sie sich passiv mitreißen läßt, aus der kleinen Masse Schnee, die sich vom Gipfel losgelöst hat, die Lawine zu bilden, die das Unglück in das Tal hinunterbringt und dort diefriedlichen Heimstätten z e rschlägt und begräbt. Nur der starke Block, der mit dem Grundgeste in fest zusammenhängt, setzt d er Lawine einen siegreichen Widerstand entgegen und vermag ihren Zerstörungslauf aufz uhalten oder wenigstens zu zügeln.

Dergestalt bleibt nur der gerechte und in seinen Absichten wohlgesinnte Men sch, von dem Horaz in einer berühmten Ode spricht [Carm.111,3}, nur der Mensch, der sich von s ein em unverrückbaren Denken weder durch den Aiifruhr jener Bürger, die verbrecherische Befe hle geben, noch durch das .finstere Gesicht des drohenden Tyrannen abbringen läßt, ,der unerschrocken bleibt, auch wenn das Weltall in Trümmern über ihn fallen sollte' : , s i fractus illabatur orbis , impavidum feriunt ruinae'. Ist aber dieser gerechte und starkmütige Mensch ein Christ, dann wird er sich nicht damit begnügen, mitten in den Ruinen aufrecht und ohne Gefahl zu stehen. Er wird sich vielmehr verpflichtet fahlen, dem Zusammenbruch Widerstand zu leisten und ihn zu verhindern oder wenigstens seine Schäden zu begrenze11. Kann er das Zerstörungswerk nicht eindämmen, so wird er immerhin noch da seill, um das niedergerissene Gebäude wieder aufzubauen und das venvüstete Feld wieder anzusäen. So muß Eure Haltung sein. Sie besteht darin - ohne daß Ihr deswegen auf die Freiheit Eurer Überzeugungen und auf Euer Urteil über den Wandel der menschlichen Dinge verzichten müßtet -, die gegebenen Verhältnisse so zu nehmen, wie sie sind, ihre Kräfte zum Guten zu lenken, nicht nur far eine Klasse, so11dern far die ganze Gemeinschaft. , i2

Man sieht also, daß der Papst gerade mit diesen letzten Worten auf dem Prinzip be steht, daß das Bestehen einer traditionellen Elite für die gesamte Gesellschaft von vitalem Interesse ist, vorausgesetzt, sie erfüllt ihre Pflicht.

l) Der Paps t ben utzt die franzö s isc he Beze ichnung „ emigre ci / 'inte rieur " , der s ich die Franzose n in den 3 0 e r Jahre n de s 19 Ja h rhunderts be d ie nt e n, wenn sie vo n den Adeligen sprachen , die bis da hin in Pa ris re sidi e rt hatten, aber dann aus Prote st die S tadt ve rließen und s ich auf ihre Schlösse r im Landesi nnere n z urü c kzog en, um so ihren Un w ill en ge ge nüb e r d e m Aufstieg des Herzogs von Orleans, den s ie fü r eine n Usurpator h ielten, zum „ Kö n ig der Franzos en" auszudrück en Der Au sdruck beton t d e n Kontra st zwi schen der Halt ung die ser Aristokrat e n, die emigrie r en, o h ne das La nd z u ve rlassen , u nd der ihrer V o rgä nger, die e s 1789 vorzogen, ins A usland zu gehen, um von dort her die Französische Revol ution z u bekämp fen.

2) Ansprache an das Pa triz iat und a n den Adel von Rom, 1947, S. 368 -369.

KAPITEL VI

De r Adel und die traditionellen Eliten können s ich aber auch an ihrer Aufgabe versündigen, indem sie sich von Ruchlosigkeit und Immoralität verderben lasse n:

„Die hohe Gesellschaft Frankreichs im achtzehnten Jahrhundert ist dafür unter vielen anderen ein tragisches Beispiel. Nie war ei n e Gesellschaft.feiner, eleganter, glänzender und bezaubernder. Die verschiedensten Ergötzungen des Geistes, eine intensive Verstandeskultur, eine äußerst ve,feinerte Kunst zu gen i eßen, e ine ausgesuchte G epflegtheit der Umga n gs.fo rme n und der Spra che herrschten in jener nach außen so höflichen und liebenswürdigen Gesellschaft, in der jedoch alles - die Bücher und Schriften, die Figuren und Geräte, die Kleider und Kopfb edeckungen - zu e in er Sinnlichkeit re izte, di e in die Adern und in die Herzen ein d rang, so daß selbst die eheliche Untreue nicht mehr Überraschung oder Empörung hervorrief So arbeitete sie selbst an ihrem eigenen Ze,fall und rannte dem mit eigenen Händen gegrabenen Abgrund des Verderbens entgegen '"

Wenn sie derart verkommen, üben Adel und traditione ll e Elite n e ine n tra g isc hen und ze rstöreri sc hen E influß auf di e Gesellschaft aus , welche in ihne n e ige ntlich e in Vorbild und einen Ansporn zur Ausübung der Tugend und zum Guten se hen so llte. Angesichts dieses negativen Einflus ses, der in Verga n g enheit und Gegenwart vo n ihnen ausgegangen ist, s ind sie in d e r heutigen Krise z ur Wiedergu tmachun g verpflichtet.

Die Geschichte wird vor allem vo n d e n Eliten geprägt. Wenn dah e r das Wirke n d es c hristlichen Adels einen höchst wo hltuenden Einfluß ausgeübt hat, so ist d er Sittenabfall des Adels andererseits als einer der Ausgangspunkte d e r k a tas trophal en Krise unse rer Zeit anzusehen:

„ Dennoch ist es angebracht, daran zu eri nnern , daß dieses Abgleiten in den Unglauben und in die Gottlosigkeit nicht von unten , sondern von oben au sgegangen ist, da s h e ißt von den führenden Klassen, von den höheren Schichten, vom Adel, von d e n Denkern und Philosophen. Wohlgemerkt, Wir sprechen hier nicht vom gesamten Adel und noch weniger vom r ömischen Adel, der sich weithin durch seine Treue zur Kirche und zum Apostolischen Stuhl ausgezeichnet hat Wir sprechen vom europ äischen Adel im allgemeinen. Zeigt sich während der letzten Jahrhunderte in Europa etwa nicht eine innere Entwicklung, die sozusagen horizontal und ver tikal, in waagrechter und in senkrechter Rich tung den Glauben immer we iter niederriß und untergrub; e ine Entwicklung, die z u j ener Zerstörungfiihrte, die Uns heute en tgegentritt in ungeheuren Massen von M ensc hen, die entweder die R eligion abweisen oder bekämpfen, zumindest aber gegenüber dem Übe rnatürlich en und dem Christentum von e in er tiefsitzenden und absonderlich begründeten Zwe[felssucht beseelt und irregeleitet sind?

Vorhut dieser Entwicklung war die sogenannte protestantische Reformation, in deren Un t ernehmungen und Kriegen ein großer Teil des europäischen Adels sich von der Kirche trennte und deren B esitztü mer an sich riß. Doch der Unglaube im eigentlichen Sinn verbreit ete sich im Zeitalte r der Fran zösischen R e volution. Die Geschichtsschreiber bemerken, daß der Atheismus-auch in der Verkl e idung des Deismus-damals rasch bei der hohen Gesellschaft in Frankreich und anderswo um sich griff An Gott und an den Erlöser zu glauben, war in jener allen Sinnesfreuden hingegebenen Welt geradezu lächerlich undfar die gebildeten, neuigkeits- und.fortschrittshungrigen Geister unpassend geworden.

RELEVANTES ZUSAMMENWIRKEN DES ADELS 4. Eine andere Form der Auftragsverweigerung: sich korrumpieren und verderben lassen 103
l) Ansprache a n das Pat ri z iat und a n den Ade l von Rom , 1945, S. 2 7 6f

In den meisten ,Salons' der größten undfeinsten Damen, in denen die kühnsten Probleme der Religion, Philosophie und Politik erörtert wurden, betrachtete man jene Schriftsteller und Philosophen , die umstürzlerische Lehren begünstigten, als den schönsten und begehrtesten Schmuck Jener weltmännischen Zirkel. Die Gottlosigkeit war beim hohen Adel Mode. Und die beliebtesten Schriftsteller wären bei ihren Angriffen gegen die Religion nicht so keck gewesen, wenn sie nicht den Beifall und die Ermunterung der vornehmsten Gesellschaft erfahren hätten. Nicht, als ob der Adel und die Philosophen sich allesamt und geradewegs die Entchristlichung der Massen zum Ziel gesetzt hätten! Im Gegenteil, als Beherrschungsmittel in der Hand des Staates sollte die Religion im einfachen Volk erhalten bleiben. Sie selbst aber erachteten undfohlten sich über den Glauben und seine sittlichen Gebote erhaben. Dies war natürlich eine Politik, die, schon vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, sich sehr schnell als kurzsichtig und verhängnisvoll erwies Mit unerbittlicher Logik versteht das Volk - stark im Guten, schrecklich im Bösen - die praktischen Schlüsse aus seinen Beobachtungen und Urteilen zu z iehen, mögen diese nun richtig oderfalsch sein. Nehmt die Kulturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte zur Hand! Sie zeigt und beweist Euch, welche Schäden.fiir den Glauhen und die guten Sitten das von ohen gegehene schlechte Beispiel, die religiöse Frivolität der oberen Schichten und der offene Kamp/gegen die geoffenbarte Wahrheit angerichtet haben. " 1

5. Vorrangige Option für die Adeligen auf dem Felde des Apostolates zum Wohle der Gesellschaft

Viel wird heute von einem Apostolat im Dien s t der Massen und - als angebrachte Ergänzung - von einer vorrangigen Aktion zugunsten ihrer materiellen Bedürfnisse gesprochen. Doch sollte man auf diesem Gebiet jede Einseitigkeit vermeiden und nie die Wichtigkeit des Apostolats für die Eliten und über diese für den ganzen Gesellschaftskörper aus den Augen verlieren. Daher sollte man folgerichtig auch von einer vorrangigen apostolischen Option für die Adeligen sprechen. So wäre es von großem V01teil für ein einträchtiges Zusammenleben in der Gesellschaft, wenn sich eine vorrangige Option.fiir die Armen und eine vorrangige Option .fiir die Adeligen und alle vergleichbaren Eliten harmonisch ergänzten. Nehmen wir in dieser Frage die Worte Papst Pius ' XII. zur Kenntnis:,, Welchen Schluß sollen Wir nun aus diesen Lehren der Geschichte ziehen? Daß die Rettung von dort ausgehen muß, wo die Zerrüttung ihren Anfang nahm. Im Volk die Religion und die guten Sitten zu erhalten, ist an und für sich nicht schwer, wenn die oberen Klassen mit ihrem guten Beispiel vorangehen und öffentliche Verhältnisse schaffen, die das christliche Leben nicht übermäßig schwer, sondern nachahmbar und beglückend machen. Ist das etwa nicht Eure Pflicht, geliebte Söhne und Töchter, die Ihr kraft des Adels Eurer Familie und der A"mter, die Ihr nicht selten bekleidet, zu den führenden Klassen gehört? Die große Sendung, die Euch und mit Euch nicht wenigen anderen bestimmt ist, mit der Erneuerung oder Vervollkommnung des Privatlebens bei Euch selbst und in Eurem Haus anzufangen und dann jeder an seinem Platz und zu seinem Teil Euer Möglichstes zu tun, um eine christliche Ordnung im öffentlichen Leben aufzubauen - diese große Sendung gestattet weder Aufschub noch Verzögerung. Es istfarwahr eine höchst edle und verheißungsreiche Sendung in einem Augenblick, in dem als Gegenwirkung wider den verheerenden und erniedrigenden Materialismus ein neuer Durst nach den geistigen Werten unter den Massen, wider den Unglauben aber eine neue Aufgeschlossenheit der Geister far religiöse Din-

104 KAPITEL VI
1) Ansprache an das Patriziat und an den Adel von Rom , 1943 , S. 358 -360.

g e sichtbar wird. Dies sind gewiß Zeiterscheinungen, die hoffen lassen, daß der Tiefpunkt des inner en Zerfalls nunmehr überwunden und überschritten ist. Euch also gebührt die Ehre, durch das Licht und den Anreiz des überjede Mittelmäßigkeit sich erhebenden guten Beispiels sowie durch gute Taten dazu beizutragen, daß diese mutigen Unternehmungen und diese Bestrebungen zum Besten der Religion und der menschlichen Gesellschaft glücklich zum Ziel gelangen. " 1

Dem besonderen Apostolat des Adels und der traditionellen Eliten kommt also we iterhin größte Wichtigkeit zu.

105
RELEVANTES ZUSAMMENWIRKEN DES ADELS
1) Ans p rach e a n d a s Pa tri z iat und an den Ad e l vo n Ro m, 1943, S. 360- 361

KAPITEL VII

Entstehung des Adels, seine Sendung in der Vergangenheit und in unseren Tagen

Der besondere Nachdruck von Papst Pius XII.

Bei den Menschen un se rer Tage ruft di e Vertiefung in den A n sprac h e n von Papst Pius XII. a n das Patriziat und an d en Ade l vo n Rom vor a llem Neugier hervo r, denn das breite Publikum ze igt sich heute oft überraschend schlecht informiert über diese Gesellschaftsschicht, über ihre Ursprünge, ihre Sendung, über di e verschiedenen Merkmale, die s ie im Laufe der Jahrhunderte angenommen hat, aber auch über die Rolle, d ie ihr in Gegenwart und Zukunft z usteht.

Nun war es aber keineswegs d as Z ie l jenes denkwürdigen Papstes, ausfüh rlich alle Aspekte d es Adels a nzu spreche n. Dies sollte nicht verwundern, wandte er sic h doch an e ine höchst kundige Zuhörerschaft, be i der er natürli ch ei ne u mfasse nd e Kenntnis vie ler lehramtlicher Äußerungen und gesc hi c htlic her D aten über den Ade l voraussetzen konnte, vo n denen die heutige Leserschaft kaum e twas weiß.

Obwohl s ic h die Leserschaft de r vo rli egenden Arbeit vor a llem aus Klerikern und Ade ligen zusamme nsetzt, schließt s ie auch a lle Schichten des großen, mittleren und k leinen Bürgertums e in.

Dem Verfasser sch ien es daher angebracht , dem aufgesch lo ssenen,jedoch un z ureic h end informierten Leser in diesem Kap ite l eine Reihe von Daten über den Adel vo rz ul egen , die se ine m Inte r esse e ntgegenkommen und die er auch kaum in einem einzigen We rk vereint finden würde. Dem ist noch hinzuzufügen, daß das vor li ege nd e Kapitel eine R e ihe v on Übersichten einschlägiger Themen ent hält, die für den Leser von D er Adel und die vergleichbaren traditionellen Eliten in den Ansprachen Papst Pius' XII. an das Patriziat und an den Adel von Rom von besonderem Interesse s ind.

Aufgrund dieser w ichtigen Betrachtungen über die verschiedene n Themen ist das vorli egende auch das umfangreichste Kapitel des Buches. Um es nicht n oc h weiter a us zude hn en , h at sic h der Verfasser e ntsch lossen, nur di e unb ed ingt notwendig e rsc heinenden Zitate anzuführen

1. Der private Bereich und das Gemeinwohl

a) Menschengruppen und ihre Führung

In jeder menschlichen Gruppe stoßen wir im privaten Bereich auf die Ausübung von Autorität, die ihren Inhaber mehr oder weniger hervorhebt. Dies gilt zum Beispiel für den Familienvater und durch Teilnahme an seiner Autorität für seine Gattin, für den Vorsitzenden einer Vereinigung, für den Lehrer, für den Kapitän einer Sportmannschaft usw.

• Geistige Voraussetzungen für eine Autoritätsperson

Autorität verlangt von ihrem Inhaber eine deutliche, feste Vorstellung von Zweck und Gemeinwohl der Gruppe, in der er diese Aufgabe innehat. Außerdem muß diese Autoritätsperson über eine klare Kenntnis der Mittel und Vorgehensweisen verfügen, die zum Erreichen des Zieles notwendig sind.

Für den, der im privaten Bereich Autorität innehat, ist es jedoch nicht genug, intellektuell e Eigenschaften zu besitzen.

Er muß Kenntnisse besitzen, aber auch v erstehen , das, was er weiß, weiterzugeben und diejenigen, die anderer Meinung sind, soweit wie möglich von seinen eigenen Ans chauungen überzeugen zu können. Die Kraft der Führungspersönlichkeit mag noch so groß sein, die nach den Grundsätzen einer Gesellschaftsgruppe für den Fall des Ungehorsams festgesetzten Strafen mögen noch so drastisch sein und die Belohnung mag für den , der gehorcht, noch so lohnend und ehrenhaft sein - all dies verspricht der Führungspersönlichkeit noch nicht den Gehorsam der ihm anve1trauten Menschen. Unerläßlich ist ein grundlegendes, beständiges Einvernehmen zwischen ihm und den Seinen hinsichtlich der Ziele, die es zu erreichen gilt, sowie der Methoden, die dafür angewandt werden sollen. Weiterhin muß dem Leiter von Seiten seiner Unterstellten ein festes Vertrauen entgegengebracht werden, daß er die Fähigkeit besitzt, die entsprechenden genannten Methoden erfolgreich anzuwenden und die gesetzten Ziele für das Gemeinwohl zu erre ichen.

• Fähigkeiten des Willens und des Einfühlungsvermögens

Es reicht auch nicht, daß eine Führungspersönlichkeit lediglich mit einer einwandfreien logischen Argumentation zu überzeugen weiß. Weitere Eigenschaften aus dem Willensund Gefühlsbereich müssen hinzukommen.

Vor allem muß der Leiter einer Gruppe ein durchdringendes psychologisches Einfühlungsvermögen besitzen, eine Eigenschaft, die sowohl Verstand als auch Willen und Gefühl erfordert. Denn einem höchst intelligenten , gleichzeitig ab e r willenlosen, un e mpfindsamen Menschen fehlt gewöhnlich sogar das psychologische Gespür zum Verständnis grundlegender Tatsachen seiner eigenen Mentalität. Wie könnte sich ein solcher also erst in seine Gattin , s eine Kinder, seine Schüler, seine Angestellten usw. hineinfühlen?

We nn dem Leiter psychologisches Gespür fehlt, wird er schwerlich in der Lage se in, den Vers tand zu überzeugen, und noch weniger wird es ihm gelingen, die Willenskräfte zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen.

Doch selbst das psychologische Gespür ist noch nicht alles . Wer die Autorität oder eine leitende Funktion innehat, muß auch über ein ausreichendes Einfühlungsve rmögen verfügen, damit alles , was er sagt, wahrhaft, ehrlich, echt, interessant und anziehend klingt, so daß alle, die ihm Gehorsam schulden , ihm auch gern folgen.

Dies sind in großen Zügen die Eigenschaften, ohne die der Vorsteher einer im privaten Bereich liegenden Gesellschaftsgruppe normalerweise nicht in der Lage ist, seine Aufgabe erfolgreich zu bewältigen.

108
KAPITEL VII

• Der Leiter unter außergewöhnlichen Umständen

Durch außergewöhnliche Umstände, die sowohl günstiger als auch ungünstiger Natur sein können, kann manchmal die rechte Ordnung in einer privaten Gruppe verändert werden.

Wenn er unfähig ist, sich auf eine höhere Ebene zu begeben , bringt ein mittelmäßiger Leiter seiner Gruppe das Risiko mit sich, optimale Gelegenheiten zu verpassen, weil er diese nicht erkannt oder nicht einmal vorausgeahnt hat. Er läßt sie also ungenützt oder nur teilweise genützt vorüberziehen.

Andererseits riskiert er, der von ihm geleiteten Gruppe ernsthaft zu schaden oder sie gar in den Ruin zu führen, weil er die am Horizont heraufziehende Gefahr nicht wahrnimmt, ihr Schädlichkeitspotential unterschätzt und diesem sobald wie möglich entgegenzuwirken versäumt.

Ein hervorragender Leiter ist der, den außerordentliche Umstände - se ien diese günstiger oder ungün stiger Natur - anregen und dessen Befähigungen der Ausnahmesituation entsprechend anwachsen, und der sich den G ege benheiten gewachsen zeigt.

• Nutzen und Zweckmäßigkeit der Systematisierung der oben behandelten Begriffe

Das hier Gesagte ist keine swegs neu. Aber in diesen wirren Zeiten sind leide r diese B egriffe, die dem reinen Menschenverstand angehören, in vielen Köpfen verschüttet. Sie waren also vorweg zum Verständnis der folgenden Gedanken angebracht.

b) Vorrang und Adel des Gemeinwohles - wie es sich vom Wohl des Einzelnen unterscheidet - private Körperschaften, deren Gemeinwohl transzendenter, regionaler oder nationaler Natur ist

Was bestimmte Gruppen des privaten Bereiches angeht, so besteht ihr Gemeinwohl nicht allein in dem, was für das einzelne Individuum gut ist, sondern in d e m, was für all e Menschen gut ist, aus denen sich die Gruppe zusammensetzt.

Dieses Gut, das ja einer höheren Ordnung als das bloße Gut eines jeden Indi v iduums angehört, ist ipso facto auch nobler.

• Bedeutung der Körperschaften des privaten Bereiches für das Wohl einer Region, einer Nation und des Staates

Es gibt allerdings Fälle, in denen das Wohl einer Körperschaft pri vaten Rechtes sich nicht allein auf das eigene Wohl beschränkt, sondern eine höhere Stufe erreicht.

Ein Beispiel soll diese Tatsache illustrieren.

In Hochschulen, die nicht dem Staat, sondern e ine r jahrhundertealten Stiftung oder Vereinigung gehören, wie es sie in Europa und Amerika gab und immer noch g ibt, kommt es häufig vor, daß eine bestimmte Art des Forschens , Denkens, Darstell ens und Lehrens, eine Reihe von geistigen Eigenheiten fes tgel egt ist, die alle d em gleichen Stil und dem gleichen religiösen, patriotische n, künstlerischen und - im weitesten Sinne- kulturellen Streben entspringen. Kurz, ein gleicher, dauerhafter B e stand an Werten , den eine Generation vo n Lehrenden und Lernenden von der vorhergehenden empfängt, wird vo n diese r bewahrt, vervo llkommnet und an die nächste weitergegeben. Die so zustande gekommene Hochschultradition bildet ein äußerst wertvolles Ge is tesgut für die aufeinander fol g enden Generationen von Professor e n und Studenten. Es prägt zutiefst das Leben der früheren Studenten und formt ei -

ENTSTEHUNG DES ADELS 109

11 c 11 besonderen Menschenschlag, der seinerseits die ganze Atmosphäre einer Stadt prägen kann , di e von der Hochschule und in ihrem Dunstkreis lebt.

E ine solche Institution, die zwar dem rein privaten Bereich angehört, ist natürlich ein Gemeingut der Region und eventuell sogar des ganzen Landes, in dem sie liegt.

Das Beispiel bestimmter privater Einrichtungen, wie etwa einer Hochschule, trägt zum vollen Verständnis dessen bei, was man unter regionalen oder nationalen Institutionen zum Gemeinwohl versteht. Allein schon die Vortrefflichkeit dieser privaten Einrichtungen rückt sie ipso facto an das Gemeinwohl heran und verleiht ihnen seinerseits einen gewissen Adel. Dieser Adel ist nicht mit der bloßen - übrigens keineswegs in Zweifel gezogenen Würde der ausschließlich zum privaten Bereich gehörenden - Institution selbst zu verwechseln.

• Eine ganz besondere Gruppierung im privaten Bereich: die Familie Unter allen privaten Einrichtungen hat keine einen so grundlegenden Charakter, keine ist für das politische Leben und für den Staat eine Quelle d erart echten, sprudelnden Lebens wie die Familie. Wenn bisher noch nicht näher auf sie eingegangen wurde, so ist dies in d e r Absicht geschehen, ihr später um so wichtigere Betrachtungen zu widmen. 1

Wir sehen also, daß Wirkungskraft und Einfluß privater Einrichtungen durchaus das politische Leben einer Nation - und sogar das internationale Geschehen - zutiefst prägen können und damit verhindern, daß das Land allein den Händen von Ab e nt eurern anvertraut wird. Diese Wirkungskraft und dieser Einfluß sind vor allem der Stärke, der Vitalität, dem Zusammenhalt und dem andauernden Verbesserungsdrang zuzuschreibe n , die die se privaten Einrichtungen beseelen.

c) Nation und Staat gehen aus dem privaten Bereich hervordie Fülle des Gemeinwohles

• Bildung der Nationen und Regionen

Wenn eine Reihe von Personen, , Gesellschaftsgruppen und Rechtspersonen, die dem privaten Wohl oder zugleich dem privaten und dem gemeinen Wohl zugewandt sind, sich zu einem Ganzen vereinen, das sich deutlich von allem abhebt, was außerhalb besteht, und wenn sie einen geschlossenen Kreislauf ethnischer, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Natur bilde n, und wenn dieses Ganze nicht in einem noch weiteren Kreis aufgeht oder von diesem aufgenommen wird, dann spricht man von einer Nation. Das Gemeinwohl dieser Nation, die unter dem Gesichtspunkt der politischen Organisationen einen Staat bildet, schwebt gewissermaßen über dem Wohl jeder einzelnen Gruppe, aus denen sich die Nation zusammensetzt. Das Wohl e ine r jeden Gruppe wiederum schwebt über dem Wohl des Einzelnen.

Im Hinblick auf die Region ist Vergleichbares festzustellen. Ähnlich wie die Nation bes itz t auch die Region eine territoriale Realität und gleichzeitig eine Reihe weiterer konstituiere nder Elemente. Unter diesem Gesichtspunkt liegt der Unterschied zwi s ch en Region und Nation darin, daß die Region nicht all die konstituierenden Elemente einer Nation aufzu-

1) Vgl. Kapitel Vll,2.

2) Es soll hier näh er a uf die metaphorische Be d e utung des Wortes „schweben" ei ngegangen werden. Es verweist auf die Vorzüge einer O rdn ung , die denen z ugu te ko mmt, di e nacheinander di e unte rgeord neten Ebenen bil den . D er Staat steht über dieser ganzen Gesellschaftsstruktur; e inerse its lastet er auf ihr wie ein Da ch auf den Wänden , a nde rersei t s schützt e r sie abe r auch vor der zerstörerischen Wirkung der Witterungseinflüsse; e r ragt aber auch wie der Turm eines Heili gtu ms au f, de r sozusage n über d en ihn umgebenden Ge bäude n „s chwebt", ihnen Schönheit verleiht und wie ei n Bindeglied zwischen dem Irdischen und dem H im mlisc hen fungiert, bezaubert , bege istert und de n Geist dere r, über denen er „ schwebt", zu schwind el nden Höhen emporfiihrt.

1111 KAPITEL VII

weisen hat, sondern nur einen - wenn auch wichtigen - Teil dav on Den Unterschied zw ischen den v erschiedenen Regionen einer Nation kann man mit einem Vergleich deutlicher machen. Die Re g ionen unterscheiden sich untereinander und vo n der Nation , wie sich die Hochreliefs auf einem Steinquader unters cheiden, aus dem sie h eraus ge m e iße lt sind . E ine N ation aber unterscheidet sich von einer anderen wie eine Statue von e iner an deren Statue.

Die Nationen haben einen Anspruch auf Souv eränität, di e Regionen auf Autonomie. E in Beispiel dafür sind die F öderationen , die souverän s ind, s ich aber a us autonomen Bundesstaaten zusammensetzen.

• Der Staat als vollkommene Gesellschaftseine Souveränität und seine Majestät - sein höchster Adel

Das so verstandene Gemeinwohl umfaßt , wie bereits gesag t, alle untergeordneten Werte , ohne sie zu ve r e innahme n oder sie einzuschränken. Die Tats ache, daß d er Staat sie einsc hließt, bringt für diesen Staat eine Suprematie der Aufgaben, der Macht und d am it ve rbunde ner wesenhafter Würde mit sich, die in d e m Begriff Majestät' ihren a däquaten Ausdruck findet. Normalerweise bildet e ine Nation unabhäng ig v on ihrer Regierungsfonn e ine vollkommene, perfekte, 2 d. h. s ou verä ne und maj es täti sc h e G esell sc h aft .

Die maje stäti sc h e Macht ist ihre r se its höchst edel. Allein sc hon d ie Tatsache , daß sie so uverän , d. h. die höchst e ist, ve rleiht ihr einen wesenhaften n atürlich e n Adel, der den d er zwi sc h e n Indi v iduum und Staat liege nden Körpersc h aften übersteigt.

A lles bisher Gesagte b e l egt dies.

2. Die Familie gegenüber dem Individuum, den Zwischengruppen und dem Staat

Es ist nun an der Zeit zu fragen, we lche Bez iehungen zwi sch en der Familie und den verschi e denen Körperschaften bestehen, die den R aum zw ischen d em Individuum und dem Staat füllen. Besonders wichtig s ind hier die Einrichtungen, die mi t dem Gemeinwohl zu tun haben Die größte Bedeutung kommt natürlich d en Beziehungen zum Staat zu, der a lle anderen Gemeinwesen ein sc hließt, s ie verb indet und s ie w ie die ganze Nation regiert. Es is t hier die Rede vom Staat und vo n seinem hö ch sten , le ite nde n Organ, der R egierung des Landes.

Die Familie wurde bereits a ls e ine dieser Zwischengruppen erwähnt. Nun muß hinzugefügt werden, d aß s ie ge ge nüb er den genannten Einrichtungen eine ganz besondere Stellung einnimmt. Während diese Einrichtungen nämlich dahin tendieren, s ich mehr und mehr vone inander zu unterscheiden, neigt die Familie dazu, alle anderen zu durchdringen. Und ke ine uieser E inrichtungen vennag über die Familie einen solchen E influß auszuüben, w ie ihn die Familie selb st über alle diese ge nannten Einrichtungen, g leich welcher Natur s ie auch sein mögen,

ENTSTEHUNG DES ADELS 111
au sübt. 1) Maiestas leitet s ic h von maior ab, dem Komparativ von mag nus, groß, im körper lic he n und s ittl ichen S inn H in z u kommt oft noch d ie Verb indung mit Kra ft, Macht und Ade l, so daß magnus le icht z u einer Lobes- und Ehre nbez e ichnu ng ed ler S prache w i rd Diese lb e Bed eutung e r strec kt sich a uch auf die von ihm a bgelei teten oder m it ih m z usamme ng esetzte n Wörte r (vgl. A. ERNOUT - A. M E ILLET, Dictionnaire etymo logiq ue d e la langue latin e - His toire d es mots, Editions K li ncks ieck, 4 A ufl. , Paris 1979, S 3 77). 2) A us dem La te ini schen perfecta, w as sov ie l bed e ute t wie beendet, fertig gemacht, abgeschlossen

") Vom lndivüluum zur Familie, von dieser zur Sippe und schließlich zum S111111m - der Weg zur Gründung der Civitas - die Geburt des Staates

1)n da s Ve rh e iratetse in der gewöhnliche Zustand des Menschen ist, fügt sich dieser als ' 1' ·i l ·inc r 1:amilie, se i es als deren Haupt oder Mitglied, in das immense Gewebe der Fami1ic 11 e in , d ie den gesellschaftlichen Körper eines Landes ausmachen.

Neben der Familie wird der Staat auch von weiteren Zwischengruppierungen gebildet. We nn a lso e in Individuum Teil einer so lchen Gruppierung is t, nimmt es auf diese Weise e benfa ll s am Gesellschaftskörper teil. Dies ist zum Bei spiel der Fall, wenn es um die Zugehö rigkeit z u Handwerkerinnungen oder Kaufmannsgilden, zu Hochschulen oder auch zu de n le itenden Organen von Städten und Gemeinden geht.

Geht man der Entstehungsgesc hichte de s Staates nach, ste llt m a n fest, daß dieser immer irgendwie aus vorherigen Körperschaften hervorgegangen ist, d e re n „Rohmaterial" stets die Familie bildete. Denn aus dem Zusammenschluß von Familien entstanden Familienverbände, die bei de n Griechen genos und bei d e n Römern gens genannt w urd e n. Letztere wurden zu geschlossenen Gruppierungen ausgewe itet, die ebenfalls noch auf der Familienzugehörigkeit gründeten, deren Abstammungsbeziehungen s ich jedoch in gra uer Urzeit verloren haben und di e in ihrem Wirrwar z ur Auflösung tendie1ten: zu di ese r Kategorie sind die griechischen Fratrien und die römischen Kurien zu zählen. ,, Im Zuge dieser Systematik kam es ganz natürlich zu immer größeren Zusammenschlüssen", erklärt Fustel de Coulanges. ,, Viele Kurien oder Fratrien vere inigten sich schließlich zu ganzen Stämm en " 1

Aus dem Zusammenschluß der Stämme ging dann die Stadt oder besser gesagt, die civitas hervor. U nd damit der Staat.2

b) Individuum und Familie bilden die Basis für das Gemeinwohl in den Zwischengruppen, in den Regionen und im Staat - Die kinderreiche Familie, eine kleine Welt

Die Erfahrung zeigt , daß Vitalität und Einheit e iner Familie gewöhnlich in natürlicher Beziehung zu ihrer Fruchtbarkeit stehen.

Wenn der Nachwuchs za hlreich is t, betrachte n die Kinder ihre Eltern als L e iter e ine r sowohl v on der Größe als auch normalerweise von den beachtlichen religiösen , moralischen, kulturellen und materiellen Werten der familiären Zelle her bedeutenden m e n sc hli c hen G eme in sc haft. Dies alle s erhöht das Pres tige der elterlichen A utorität. Da die Eltern gewissermaßen e in Gemeingut aller Kinder sind, versucht gewöhnlich auch k ei ne s vo n ihnen alle Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern für sich allein in Anspruch zu nehme n und s ie allein fü r das eigene Wohlergehen z u vere innahme n. Die Eifersucht unter G esc hwi st e rn find e t in große n Familien kaum Nährboden, ist dagegen in Familien mit wen ige n Kindern nur z u le ic ht a n z utreffen .

In den Kleinfamilien kommt es auch nicht selten zu Spannungen zwischen Eltern und Kindern, mit dem Ergebnis, daß e ine der beiden Seiten di e Oberhand zu behalten und di e a nd ere z u tyrannisieren pflegt.

1) La Cite A111iq11e. Bd. 111 , L ibrair ie Hachette, Pa ri s , S 135

2) Zu diesem T hema ist di e Lektüre der als Dok u mente V II, V III und IX abgedruckten Veröffentlichu n ge n von Fustel de Cou langes, Fra nz Funck-Brentano und M o ns. He nri Delassus zu empfeh le n

11 2 KAPITEL VII

So können etwa die Eltern ihre Autorität mißbrauchen und sich dem familiären Zusammenleben entziehen, um während der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit den Vergnügungen des weltlichen Lebens nachzugehen. Die Kinder werden in diesem Fall der Obhut bezahlter Babysitter überlassen oder sie wachsen im Chaos turbulenter Internate auf, in denen es an legitimer, einfühlsamer Zuneigung fehlt.

An dieser Stelle muß auch die Tyrannei erwähnt werden, die in unserer entchristlichten Gesellschaft ihren Ausdruck häufig in grausamer Gewaltanwendung im Schoß der Familie findet.

In einer kinderreichen Familie kann es schwerlich zu solchen Formen der Tyrannei kommen Die Kinder nehmen hier viel deutlicher wahr, was für eine Last sie für die Eltern bedeuten und pflegen ihnen daher dankbar zur angemessenen Zeit ihre ehrerbietige Hi lfe in der Führung der Familienangelegenheiten entgegenzubringen.

Daneben verleiht eine beträchtliche Kinderza hl dem Familienkreis eine Lebhaftigkeit, eine sprühende Jovialität, eine immer wieder schöpferische Originalität der Formen des Seins, des Handelns, des Fühlens und des Eingehens auf die Alltagswirklichkeit innerhalb und außerhalb des Hauses , so daß das Familienleben zu einer Schule der Weisheit und der Erfahrung wird, in der die Eltern befli ssen das Überkomme ne an ihre Kinder weitergeben und die Kinder diese Tradition re s pektvoll und vorsichtig durch eine kluge, schrittweise Erneuerung erweitern.

Der Zusammenhalt dieser kleinen Welt ergibt sich aus all den oben e rwähnten Faktoren und stützt sich vor allem auf die religiöse und moralische Bildung, welche die Eltern in Übereinstimmung mit dem Pfarrer ihren Kindern zuteil werden ließen, und zwar im h a rmonischen Einklang mit d e m körperlichen und sittlichen Erbe, das dazu beiträgt, die Persönlichkeit der Kinder zu bilden.

c) Die Familien als kleine Welten, die auf eine Weise zusammenleben, die den Nationen und Staaten vergleichbar ist

Diese kleine Welt unterscheidet sich von anderen gleichartigen kleinen We lte n, d. h. von den anderen Familien durch Merkmale, di e im Kleinen an die Unterschiede zw ischen den Regionen eines Landes oder zwischen den Ländern eines Kulturraumes erinnern.

Die so gebildete Familie legt gewöhnlich so etwas wie eine gemeinsame Wesensart, e inen gemeinsamen Geschmack, gemeinsame Neigungen und Abneigungen, eine gemeinsame Wei se d es Zusammenlebens, der Erholung, der Arbeit, der Probl e mlösung , d er Bekämpfung von Widrigkeiten und der Ausnutzung günstiger Umstände an den Tag. In all dies e n B ere ichen verfügen die Großfamilien über Grundsätze des Denkens und Hande lns, die durch das Bei spiel der Vorfahren bestärkt und nicht selten durch Sehnsucht und Rück we ndung zu früh e r e n Zeiten mythenhaft ausgestaltet werden.

d) Die Familie und die Welt von Beruf und ÖffentlichkeitGeschlechter und Berufe

Diese große, unverg leichli c he Schule der Fortdauer, die andauernd durch die H eraus a rbeitun g neuer, von allen Familienmitgliedern an einer b ewundeti e n , geachteten und geliebten Tradition ausgerichteter Aspekte bereichert wird, b eei nflußt stark die Entscheidung des Einzelnen bei der Berufswahl oder b e i der Übernahme von Verantwortungen zugu n sten d es Gemeinwohles.

Wir stoßen daher oft auf Familien, in denen vo n Generation zu Generation ein und derse lbe Beruf weitergegeben und damit ein Einfluß der Fam ili e auf den beruflichen Bereich ausgeübt wird.

ENTSTEHUNG DES ADELS 113

Bei dieser Verbindung zwischen Berufstätigkeit bzw. öffentlichem Dienst einerseits und den Familien andererseits üben natürlich auch die verschiedenen beruflichen Tätigkeiten einen Einfluß auf die jeweilige Familie aus, und es entsteht eine durchaus natürliche und höchst wünschenswerte Wechselwirkung.

Hier muß jedoch festgehalten werden, daß der natürliche Lauf der Dinge meistens dazu führt , daß der Einfluß der Familie auf ihre äußerlichen Tätigkeiten größer ist als umgekehrt der Einfluß dieser Tätigkeiten auf die Familie.

Das be deutet mit anderen Worten, daß die Familienorganisation in einer wahrhaft katholi sc hen Familie, die nicht nur mit den natürlichen, spontanen Kräften des Zusammenhaltes, sondern auch mit dem aus der Gnade stammenden übernatürlichen Einfluß gegenseitiger Liebe rechnen kann, optimale Voraussetzungen erreicht, um mit ihrer Präsenz a lle oder fast alle zwischen dem Einzelnen und dem Staat gelegenen Gruppen zu durchdringen und so letztend lich den ganzen Staat zu prägen.

e) Kreative Geschlechter bilden selbst in den bodenständigsten Berufsgruppen oder -kreisen Eliten heraus

Diesen Betrachtungen ist leicht zu entnehmen, daß der wohltuende Einfluß traditionsreicher Geschlechter voll schöpferischer Kraft auf a llen Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie, angefangen bei den bescheidensten bis hin zu den höchsten, einen wertvollen , unersetzlichen Ordnungsfaktor sowohl im individuellen Leben als auch im privaten und öffentlichen Gesellschaftsbereich darstellt. Kraft, Sitte und Brauch gerät so die tatsächliche Leitung verschiedener Gesellschaftskörper in die Hände von Geschlechtern, die sich al s die begabtesten erwe isen, wenn es darum geht, die Gesellschaftsgruppe zu kennen , sie zu leiten, ihr den Unterbau einer dauerhaften Tradition und den kräftigen Antrieb zu eine r andauernden Verbesserung ihres Seins und Denkens zu vermitteln.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es durchaus legitim, daß sich im Bereich einiger dieser Gruppen eine adelsähnliche Elite, eine vorherrschende paradynastische Linie o. ä. herausbildet. Dies führt auch dazu , daß es in Teilgebieten und ländlichen Regionen zur Herausbildung örtlicher „Dynastien" kommt, die in gewisser Weise majestätische Haltung zeigten, ähnlich wie eine königliche Familie.

j) Hierarchische und als solche partizipative Gesellschaftkönigliche Väter und väterliche Könige

Dieses Bild zeigt die Nation als e in e Gesamtheit von Körperschaften, die s ich manchmal aus kl e ineren Einheiten zusammensetzen und so stufenweise in absteigender Linie bis zum e infachen Individuum führen.

In der entgegengesetzten Richtung ist deutlich der stufenweise und damit hierarchische Charakter der verschiedenen Körperschaften zu erkennen, die zwischen dem einfachen Individuum und der höchsten Leitung des Staates liegen.

Wenn man bedenkt, daß die Gesellschaftsstruktur aus einem reichen Gewebe aus Ind ividuen, Fami li en und Zwischengruppen besteht, erg ibt sich der Schluß, daß die Gesellschaft se lb st in gewisse r Hinsicht ein Ganzes ist, bestehend aus Hierarchien verschiedenster Art und Natur, die a ll e koexistieren, sic h gegenseitig helfen und ineinander verflochten sind und über denen auf weltlicher Ebene die Majestät der vollkommenen Gesellschaft, nämlich des Staates, schwebt. Auf höchster, geistiger Ebene aber erhebt sich die Majestät einer anderen vo llkommenen Gesellschaft: die der heili gen Kirche Gottes.

114 KAPITEL VII

So gesehen, erweist sich eine solche Gesellschaft mit ihren Eliten höchst partizipativ, wirken in ihr doch mit jeweils eigenen Besonderheiten ausgestattete Körperschaften der jeweiligen Stufe entsprechend von oben nach unten an Kategorie, E influß , Prestige, Reichtum und Macht mit. So konnte man früher sagen, daß selbst im be scheidensten Heim der Vater der König der Kinder, und an der Spitze der König der Vater der Väter war. 1

3. Historische Ursprünge des LehensadelsEntstehung des Feudalismus

Im Kontext dieses Bildes kann man besser erkennen, was Adel bedeutet, die se Kla sse, die im Gegensatz zu einigen anderen nicht nur adelige Züge träg t, so ndern voll und ganz adelig ist; sie ist der Adel schlechthin.

Ein paar Worte zum his torischen Ursprung des Adels sollen diese Erklärung verkürzen.

a) Die Klasse der Landeigentümer bildet sich als Militäradel und als politische Autorität

Als das herrliche R e ich d e r Karolinger in Trümm ern lag, fielen über diese Tri.immer - in immer neuen verheerenden Wellen - die Barbaren , die Normannen, die Un garn und die Sarazenen her. Da die von allen Seiten bedrängte Bevölke rung gegen da s üb e r sie h ere inbrechende Unheil nicht mehr allein bei dem bereits äußerst geschwächten ze ntralen Königtum ihre Zuflucht suchen konnte, wandte sie sich naturgemäß an die j eweiligen Lande ige ntümer und suchte bei diesen Führung und Reg ierung in ihre r unhaltbaren Lage. Die Landbesitzer kamen der Bitte um Hilfe nach und errichteten Festungen für sich und die Ihrigen.

Wenn wir von „Ihrigen" sprechen, s o müssen wir uns dem Geist jener Zeit entsprechend nicht nur die Familienangehörigen vorstellen, sondern die ga nze herrschaftliche Gemeinschaft, zu der die Hausdienerschaft und die Handwerk er mit ihren auf d en Lände reien d es Besitzers wo hnende n Familien zählte n. Allen boten die Festungen, die s ich im Laufe der Zeit in stolze Schlösser verw andelten , die wir h e ute noch in großer Zahl bewundern können, Schutz, Nahrung, reli g iöse Betreuung und militäri sche Führung. Im Bere ich der Burgen wa r oft sogar Platz für Hab und Gut und für d as Vieh, das die Bauernfamil ien so vor der Gier der Eindringlinge zu retten ve rmochten.

Der Landeigentümer und sei ne Angehörigen s tellten sich als erste z um Kampf. Ihre Aufgabe war es, das Kommando zu führen, in den vord ersten R ei h e n zu kä mpfen, di e gefä hrlich sten Offensiven an z uführe n und bei d er Verteidigung den h ä rte s ten Widerstand z u leisten.

So wurde aus dem Guts besitze r auch ein militärisch er A nführe r und He ld.

In Frieden szeiten verwandelten sich diese Umstände in politische Macht über di e anli egenden Ländereien, und a us dem Gutsbesitzer wurde ein Herr, e in Dominus i m e i ge ntlichen

1) In di esem Z usam men ha ng ist e ine Be merkung au s den höchst in teressanten Lebenser innerungen des Bauern Ret if de la Bretonne erwä hne nswert, d ie Franz Funck- Brentano in se in e m W er k l 'A11cie11 Regime ( Ri o de Ja neiro 1936, Bd I, S 24) zit iert: „Der Staat bildet ein e große Familie, dies ich aus den einze lnen Familien z usamm enset zt. Und der Fiirst (d h der Monarc h) ist der Vater der Väter." Die enge Verbindung zw ischen der Lage eines Köni gs u nd e ines Va ters m ac ht auc h de r hl. T homas von Aquin deut li c h, wenn e r sagt: ., Wer ein Haus regiert, heißt nich t König, s ondem Familienvater, obwohl er ein e gewisse

A"lmlichkeil mildem König besitz /; daher nennt man manchmal auch die Könige Väter der Völker· · (EI r egim e n politicoIntroducci6n, vers i6n y come n tarios de V ictorino Rodriguez OP, Madr id 1978, S. 34). Über die väter liche Autorität hat der hl. Paulus den herrlichen Satz geschriebe n :,, Dahe r beuge ich m eine Knie vordem Vater unse res Herm Jesus Chris111s, von dem alle Vaterschaft im Himmel und aufErden ihren Nam e n hat·· (Ep h 3, 14 - 15) Vgl. z u d iesem Them a auch den Text von Mons Henri De lassus in Dokumente IX.

ENTSTEHUNG DES ADELS 11 5

Sinn des Wortes, dem auch die Aufgaben eines Gesetzgebers und Richters zustanden. A ls solcher wurde er zum Bindeglied mit dem König.

b) Die Adelsklasse: untergeordnete Teilhabe an der königlichen Macht

Auf diese Weise bildete sich die Adelsklasse als e ine untergeordnete Teilhabe an der königlichen Macht heraus.

Das bereits Gesagte zusammenfassend, kann man sagen, daß damals dieser Kla sse das priv ate Gemeinwohl anvertraut war, das in der Bewahrung und Förderung der Land- und Viehwirtschaft bestand, v on der sowohl die Adeligen al s auch das gemeine Volk lebten. Anvertraut war dieser Klasse aber auch das erhab e nere , univers e llere und daher seinem Wesen nach edle öffentliche Gemeinwohl, das es an Stelle des Köni gs in dem jeweilige n Gebiet zu pflegen galt. Schließlich hatte der Adel auch e ine n gewissen Anteil an der zentralen Macht des Monarchen se lbs t , denn in v i e len Fällen wa ren die höher en Adeligen gewöhnlich auch Ratgeber der Könige. Auch die z ur Regierung des Landes unabdingb are n Ämter ei nes Staatsministers, Botschafters oder Feldherrn wurden größtenteils vo n Adeligen bekleidet. Die Ve rbindung zwischen hoh em öffentlichen Amt und Ade lsstand war bald so e n g, d a ß selbst in Fällen, in denen das Gemeinwohl einen Amtsinhaber aus dem Volk ve rlangte, d iesem v om König ein Adelstitel verliehen wu rd e, d e r ihn , und oft auch seine Nac hkommen, in d e n Adelsstand erhob.

Dem Landei ge ntümer, den die Umstände z u einer solch höheren Aufgabe als der reinen Lebensmittelbeschaffung b erufen h a tten, k a m also in Krieg und Frieden di e Sorge um die salus publica z u , und das bedeutete n o rmalerw e ise die Ausübung der Re g ierungsgewalt innerhalb e ine s be schränkten Gebietes. Er wurde damit ipso facto in ein h ö heres Verhältnis ve r setzt , da s ihn zu einer Art Miniaturbild des Köni gs machte. Seine Aufgabe ließ ihn so z um wes enha ften Teilhaber an der erhab e n e n Aufg ab e des Königs selbst werden.

Die Gestalt des edle n L a ndherrn entstand somit spontan aus de n gegebe n e n Umständen.

Die ihm z ug efa llene pri vate und edle Aufgabe erfuhr nach und n ac h e ine Erweiterung, als die Lage im chr istlichen Europ a weniger besorgniserregend wu rde und mit dem Rückgang der Gefahr vo n außen längere Frie d e nsperioden im Land herrschte n. Imme r n eu e A u fga b e n gesellten s ich z u d e n alte n.

c) Die Regionen nehmen Form andas regionale Gemeinwohl- der Herr einer ganzen Region

Angesichts der verände rte n Gegebenheiten konnten die Men schen es wagen, ihren Blick, ihre Gedanken und ihre Tä ti gkeit auf immer we itere Geb iete auszudehn e n . So b ildeten sich nac h und nach R egione n h e raus, die oft vo n unte r sc hiedlic h en lokalen Faktor e n geprägt waren, w i e etwa geograp hi sc h en Besonderheiten , mil itärischen Bedürfnissen, Gesc häftsinteressen, Zustrom der Pilge r z u d en wichtigsten Heiligtümern, die s ic h oft in d en entlegend sten Gebieten befanden. D a neb en e ntstand en berühmte Hoc h sch ul e n , d ie e ine große Anza hl von Studenten anzogen, und angeseh e n e Messes tädte, in denen Jahr um Jahr di e Kaufleute zusammen strö m te n.

Kennzeichnend für die e inzelnen Reg ion en wurden auch besond ere psycho log isc h e Verwandtschaften, die s ich aus d en versch ie den s ten Faktore n ergabe n: die Tradition gemeinsamer, oft lang and auernder Kämpfe gege n e ine n Gegn e r von außen; Ähnlichkeiten in Sprache, Sitten, küns tl e ri schem Ausdruck u sw.

Auf die se Weise um faßte e in r egionales Gemeinwohl die ve r sc hi e d enen, m e hr örtli ch fix ierten Ge m ei nwohle und erre ic hte d am it eine höh ere, edl ere St u fe .

ENTSTEHUNG DES ADELS 117

Familienwappen aus dem Wappenbuch der Franfurter ..., Patrizierge~ellschaft Alt-Limpurg.

:i - 4. + ..

Normalerweise wurde die Sorge um das regionale Gemeinwohl einem Herrn anvertraut, dem der größte Landbesitz gehörte und der, da er die größte Macht und Repräsentativität in der Region besaß, auch in der Lage war, die verschiedenen Teilgebiete zu einem Ganzen zu verschmelzen, ohne deshalb die jeweilige Autonomie beschränken zu müssen. Dies alles diente sowohl Kriegszwecken als auch friedlichen Unternehmungen.

Der Herr der Region wurde damit als Abbild des Königs in seiner Region, so, wie dies auch der einfache Großgrundbesitzer auf beschränkter örtlicher Ebene war, mit einer Aufgab e betraut, die ihm allerdings eine Reihe von wesentlich edleren Rechten und Pflichten verlieh.

Der Feudalherr, d. h. der edle Landeigentümer, an dessen Eigentumsrecht kraft einesder heutigen Erbleihe ähnlichen - Bandes eine große Zahl von Beschäftigten teilhatte, schuldete seinem jeweiligen Lehnsherrn einen Lehnsdienst, der dem vergleichbar war, wenn auch nicht identisch, den dieser wiederum dem König zu leisten hatte.

So bildete sich an der Spitze der Gesellschaftspyramide langsam eine adelige Rangordnung heraus.

d) Der mittelalterliche König

Diese Ordnung ist so zu verstehen, daß anfangs nichts neben oder gar gegen den König bestand, der in seiner Person das Volk und das Land verkörperte. Alles unterstand vielmehr dem Monarchen und war seinem Schutz und seiner höchsten Macht anvertraut, damit er das von Regionen und autonomen Orten gebildete organische Ganze, das damals die Nation ausmachte, als sein Hoheitsgebiet bewahrte.

Selbst in Zeiten des weitgehenden Verfalles der königlichen Macht wurde das einheitliche monarchische Prinzip nie in Frage gestellt. Die Sehnsucht nach königlicher und vieler01is sogar nach der kaiserlichen, die ganze Christenheit umfassenden karolingischen Einheit, blieb während des ganzen Mittelalters lebendig. In dem Maße , in dem die Könige also die Mittel zur Ausübung einer das ganze Land überziehenden und dem Gemeinwohl dienenden Macht zurückerlangten, übten sie diese auch effektiv aus.

Dieser langwierige Prozeß der Festlegung, Bestimmung und Organisation auf lokaler und später auch auf regionaler Ebene, dem dann ein ebenso schwieriger Prozeß einigender und zentralisierender nationaler Umgestaltung folgte, konnte nicht vonstatten gehen, ohne daß es hie und da zu übertriebenen, einseitig und leidenschaftlich vorgetragenen Ansprüchen von seiten jener gekommen wäre, die für eine gerechtfetiigte Autonomie eintraten oder aber notwendig gewordene Neuordnungen vornahmen. Das alles führte im allgemeinen zu Lehenskriegen, die sich oft über längere Zeit hinzogen und manchmal sogar mit internationalen Konflikten verbunden waren.

Das war der schmerzliche Tribut, den die Menschen infolge der Erbsünde , ihrer gegenwärtigen Sünden, infolge der größeren Nachlässigkeit oder Nachsicht, mit der sie dem Bösen begegnen oder sich ihm sogar hingeben, zu zahlen hatten.

Ungeachtet all dieser Hindernisse läßt sich der tiefere Sinn der Geschichte des Feudalismus und des Adels nur dann verstehen, wenn man die obigen Erklärungen berücksichtigt. Denn es war ein langer Weg, auf dem sich die Gesellschaft und der Staat des Mittelalters gebildet haben.

In Wirklichkeit entwickelten sich das Lehenswesen und seine Hierarchie unter den verschiedenen Umständen auf eine jeweils andere Art und Weise. So wurde dieser Entstehungsprozeß auch keineswegs von allen europäischen Ländern gleich durchlaufen, sondern nur von einigen. Beispielhaft gilt der beschriebene Vorgang jedoch für diese Herrschaftsform im ganzen.

120 KAPITEL VII

Vi e le Zü ge di eses Sys tems erscheinen in der Geschichte mehrerer Reiche, die das Lehens w ese n denno c h nie im vollen Wortsinn eingeführt haben. Als besonders interessante Be is pi e le wä re n hier die be iden iberischen Nationen, Portugal und Spanien , zu nennen. 1

e) Das Feudalsystem: ein Faktor der Einigkeit oder der Uneinigkeit?die Erfahrung des zeitgenössischen Föderalismus

Vi e le Historiker sehen im Feudalismus, wie er in bestimmten Regionen Europas seinen Au sdruck gefunden hat, sowie in den parafeudalen Landbesitzverhältnissen anderer Regione n gefährliche , Uneinigkeit stiftende Faktoren.

Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, daß Autonomie an sich nicht unbedingt zur Uneinigkeit führen muß.

Heute sieht zum Beispiel niemand mehr in der Autonomie der Staaten, die auf dem amerikanischen Kontinent föderative Republiken bilden, einen Uneinigkeitsfaktor, man betrachtet sie vielmehr als ein agiles , plastisches , fruchtbares Bez iehungsmuster intelligenten Zusammenlebens. Regionalismus bedeutet nicht immer Feindseligkeit untereinander oder gegenüber dem Ganzen, sondern auch harmonische Autonomie, Rei c htum an geistigen und materiellen Gütern sowohl in den allen Regionen gemeinsamen Zügen als auch in den besonderen Merkmalen einer jede n einzelnen.

4. Der Adelige und der Adel: gestaltendes Zusammenspiel

a)Entstehung - ein üblicher Vorgang

Werfen wir nun ein Auge auf den oben beschriebenen Adel , wie er sich in den Jahrhunderten seiner vollen Entfaltung in verschiedenen Ländern des europäi schen Mittelalters und Spätmittelalters zeigte , sowie auf das Bild, das sich heute seine Mitglieder und B e wunderer - sowohl in Europa als auch in den Ländern, di e aus den Entdeckungsre is en, der B es iedelung, dem Organisationsgenie der europäischen Völker und dem Missionseifer der Kirche hervorgegangen sind - von ihm machen. Dabei stellen wir fest, daß der Adel d a mal s wie heute auf bestimmten Prinzipien beruht, die eng miteinander verbunden sind. Diese bilden e ine Lehre , die in ihren wesentlichen Zügen semper et ubique gleichgeblieben ist, wenn s ie auch je nach Zeit und Ort bedeutende Varianten aufzuweisen hat.

Der wesentlichste Teil dieser Lehre hat seinen Ursprung in der Mentalität der europäischen Völker des Hochmittelalters und hat die Institution des Adels fa st immer g e mäß der Sitte n und Bräuche geformt. Geschichtlich gesehen fand diese Lehre ihre weiteste und folg e richtigste Anwendung im Hochmittelalter. Mit dieser Entwicklung ging pari pa ssu die endgültige, harmonische Einführung des Feudalismus und der sich daraus auf politischem , ge sell schaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet ergebenden Folgen e inher.

Hervor z uh e ben ist, daß diese weitsichtige und subtile Lehre auf die Gesellschaft zusammen mit d e n Sitten und Bräuchen wirkte und als zusammenwirkende Akteure nicht nur die adeligen Familien s ondern auch den ganzen Gesellschaftskörper, nämlich den Klerus, die Univers itäte n und andere Zwischengruppen hatte.

122 KAPITEL VII
1)
V g l. z.B JOS E MATT O SO, A No breza Medie val Portuguesa. L issabon 1981 , S. 27f; Enciclopedia Universa l 1/ us trada, Esp asa- Cal pe, Bd X X I, S. 955 u 958 , Bd. XXIII , S. 11 3 9

Der Bogen spannte sich also von den Gelehrten jener Zeit, deren Gedanken sich zu den höchsten Höhen menschlichen Denkens aufschwangen, bis hin zum bescheidenen Kleinbürger und einfachen Handwerker. So naturgegeben ist dieser Vorgang, daß er sich auf manchen Gebieten gewissermaßen bis in unser ve rworrenes Jahrhundert fortsetzt.

b) Beispiele aus verschiedenen Gebieten

So war etwa das Bild des deutschen Heeres bis z um l. Weltkrieg weithin von der Vorstellung geprägt, die einer zutiefst vom preußischen Militarismus beeinflußten Öffentlichkeit vorschwebte. Auf analoge Weise war die Gestalt des Kaisers Wilhelms II. als Symbol sowohl der Streitmächte als auch der Nation „herausgemeißelt" worden. Ähnliches könnte man, wenn auch mit weniger militärischen Zügen, von der Vorstellung behaupten, die sich damals die Öffentlichkeit anderer Länder vo n ihre m j eweilige n Herrscher und seinen Streitkräften machte, etwa von Kaiser Franz Josef in Österreich und König Georges V. in England.

Diese geschichtlichen Beispiele werden hier angeführt, weil sie in dieser Hinsicht unbestritten sind ... soweit auf diesem Gebiet überhaupt etwas unbestreitbar genannt werden kann.

Um die Fortdauer des hier erwähnten Prozesses z u belegen, braucht man nur auf die damalige Welle weltweiter Begeisterung hinzuweisen , die das uralte, glänzende Zeremoniell der Hochzeit von Charles und Diana ausgelöst hat. Das Bei spiel zeigt auch, wie bei diese r Gelegenheit das schon klassische psychologische und moralische Profil an Festigkeit gewann, das England von alters her von seinem Thronfolger und seiner Gattin erwartet. Bei der genannten Zeremonie wurden auch jene n e bensächlichen Änderungen deutlich, die das Land in diesem Profil und damit ipso facto auch im Gesicht der Nation selbst einfügen möchte.

Die Beispiele machen deutlich, worin die spontane, schöpferische, bewahrende oder wiederherstellende Kraft der Gewohnheit liegt, die eine ganze Nation in ihrer Gesamtheit und ohne nennenswertes Aufeinanderprallen von Strömungen be i der gewö hn lich langsamen, klugen und dennoch erneuernden Gestaltung von Einrichtungen wie de r des Adels entwickeln kann.

5. Die absolutistische Monarchie, Hypertrophie des Königtums, auf dem Weg zum populistischen totalitären Staat

Das in der feudalen Gesellschaft e rlangte harmonische Ergebni s begann sich infolge der Verbreitung legistischer 1 Prinz ipien und einer Reihe weiterer Faktoren nach und n ach aufzulösen. Bis z ur Französischen Revolution 1789 lief nun die Entwicklung der königlichen Gewalt in gan z E uropa auf e ine fortschreite nde Absorption der überkommenen Autonomien und eine zunehmende Zentralisierung hinaus.

ENTSTEHUNG DES ADELS 123
1) A ls legis ten bezeic hnete man am End e de s Mitt elalte rs je ne Berat e r des K ö nigs, d ie sich, gestützt au f d as alte römische R e c ht, für die Entwicklung des kö nig lic he n Abso luti smu s e inset zte n und zugleich den Feuda lis mu s bekämpft e n.

a) Die absolutistische Monarchie absorbiert die untergeordneten Körperschaften und Gewalten

Ganz anders als im System der sich überlagernden adeligen oder nichtadeligen Eliten , die man in den unterschiedlichsten Nationen vorfinden konnte, lag es in der Natur des absolute n Königtums fast aller europäischer Monarchien, die ganze Fülle der Macht, die früher, wie wir bereits gesehen haben, auf Zwischenkörperschaften ve1ieilt war, in den Händen des Königs z usammenzuziehen, der sich nun seinerseits mehr und mehr mit dem Staate selbst z u identifizieren begann: Die gewöhnlich König Ludwig XIV. zugeschriebene Maxime ,, l 'Etat, c 'est moi! "(,,Der Staat bin ich") bringt diese Haltung deutlich zum Ausdruck.

Ganz anders als der feudale Herrscher hat der absolute Monarch der Neuzeit seinen Adel Tag und Nacht um sich herum. Jeder wirklichen Macht entkleidet, dient ihm dieser vor allem als zierendes Beiwerk. Der absolutistische König fühlt sich wie durch einen tiefen Abgrund, völlig vom Rest der Nation getrennt. Die französischen Könige der Neuzeit, deren vollkommenstes Abbild der Sonnenkönig Ludwig XIV. war, sind ein typisches Beispiel für diese Rntwicklung. 1

Mit mehr oder weniger Nachdruck strebten gegen Ende des 18. Jahrhunderts fa s t alle Herrscher diesem Vorbild nach. Auf den Beobachter machte ein solcher Monarch im ersten Moment einen großen Eindruck, und seine Allmacht, so oberflächlich sie auch sein mochte , löste wohl oder übel Bewunderung aus. In Wirklichkeit verbarg der Schein unbegrenzter Macht jedoch nur die tiefe Ohnmacht, in die s ich diese absolutistischen Herrsch er durch ihre Isolation selbst begeben hatten.

b) Als Stütze blieben ihm nur die zivile und die militärische Bürokratie - die bleiernen „Krücken" des absoluten Königtums

Tatsächlich hatten sich die absolutistischen Herrscher immer mehr aus der vitalen Verbindung mit all den Zwischenkörperschaften, welche die Nation ausmachten, herausgelöst und besaßen also nicht mehr deren rückhaltlose Unterstützung, oder s ie hatten diese mi t dem von ihnen praktizierten Absolutismus völlig geschwächt und fast erstickt.

Da sich die absolute Monarchie also nicht in der Lage sah, sich auf den eigenen Beinen zu halten und sich mit Hilfe der natürlichen, grundlegenden Elemente - d. h. der Zw ischenkörperschaften - zu bewegen und zu agieren, sah sie sich gezwungen, s ich auf imm e r weitläufigere Bürokratienetze zu stützen. Diese bürokratischen Organe bildeten die bleiernen, glitzernden, aber zerbrechlichen Krücken des Königtums gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Je größer nämlich ein Beamtenapparat i st , um so s chwerfälliger ist er auch.

1) D ie Absorption d es Adels durch Zentralisierung u nd Stärkung der königlichen Macht hat sic h nicht gle ic hförm ig auf den Ade l der versc hiedenen Länder oder auf die versch ie denen Regio nen desse lb en Landes a usgewirkt. Ein typ isches Beisp iel ei nes Adels, der sich dem ze rstöreris chen Einfluß der absol uten Monarchie widersetzte, war der Ade l der Vend ee in Frankre ich, einer Gege nd, die späte r zu einer der Hochb u rgen des Widerstandes gegen die Fra nzös isc he Revolution werden so llte. Über d ie Wi dersta ndsha lt u ng des Ade ls der Vendee gegen die zentrale Gewalt berichtet der b e kannte Histo ri ker Georges Bordonove folge ndes: Der Adel der Vendee bildet eine Kaste, die sielt 11ic /11 in Eri1111emngen abkapselt, sonde rn von ihrem e igenen Dyna111is111 11s ang etrieben wird Daß es Versailles gibt, hat diese Kaste weder physisch no ch moralisch ges c!twäc !tt Von einigen Ausnahme n abgeseh e n, lassen sie der Einfluß der ne11e11 ldee11, die Gedanken der P!tilosop!ten u11d die Reden der wortreiche11 Vertre ter d er A 1ifklär11ng unberiihrt. Ihre Tende11z geht vielm ehr dahin , sich aufdie Rolle, die sie in vergange11e11 Zeite11 gespielt hatte, a11(ihre11 Re ic htum , ihre alte Größe und ihre Vorrangstellung i n P o itou zu besinnen. Na tiirlic h leidet der Adel der Vendee unter der Rii cke111wic kl11ng zugunsten der ze111ralen Staatsmacht. Nie hat er es Richelie u völlig verzieh en daß e r die fe11dalen S c Mösser n i ederreiße n ließ. n och dem Sonnenkönig seinen stolzen Absolutismus (La vie q11otidie1111e en Vendee, Hachet te, Paris 1974 , S. 49). Um d iesen Ge ist der Zurückhaltung des Adels der Ve ndee gegenüber den königliche n Absolutismusbestrebun ge n z u verstehen (gegen die dann die Revolutionäre 1789 so wilde und weitschwei fi ge Reden ha lten sollten), mu ß man sich vor A uge n halten, daß d er Thron n ie mals e inen e i fr igeren Vertei diger hatte als diesen A d e l un d daß die Revolutionäre nirgendwo so nst auf so heldenhafte, sto lze Gegner stießen

124 KAPITEL VII

U nd je schwerfä lliger e r ist, um so mehr lastet er auf den Schultern derer, die , we il sie gehen können, den Apparat tragen müssen.

So hat das abso luti stische, bürokratische Königtum im Laufe der Zeit den väterlichen , fami liären, organischen Staat verschlungen.

Sehen wir uns nun einige historische B e ispiele an, die zeigen , wie dieser Vorgang in gewissen europäischen Ländern ablief.

c) Zentralisierung der Macht in Frankreich

Vor allem infolge ehelicher Verbindungen zwischen Mitgliedern des Königshauses und den Erbinnen großer Lehngüter fielen in Frankreich die großen Lehen nach und n ach wieder an die Krone zurück. Gleichzeitig sorgte eine Art Zentripetalkraft dafür, daß sich die wichtigsten Machthebel und Einflüsse de s Reiches nach Pari s verlagerten. Es war König Ludwig XIV., der diese Politik bis zu ihren letzten Konsequenzen durchführte.

Die letzte große Einverleibung eines Lehngutes durch die französi s che Krone, die da s Herzogtum Lothringen zum Ziel hatte, geschah zwar auf dem Wege diplomatischer Verhandlungen , trug jedoch a ll e Anzeichen eines Familienarrangements . Im Wiener Frie den sve rtrag vo n 1738 waren Frankreich und Österreich übereingekommen, daß Lothringen auf L e ben szeit an Stanis las Leszczinski , den e ntthronten König von Polen und Vater der Königin Maria Leszczinska, der Gemahlin König Ludwigs XV. , übergehen s ollte. Nach dem Tod des Schwiegervaters des Königs vo n Frankreich sollte das Herzogtum Lothringen dann au t omati sch an Frankreich fa ll en, was tatsäc hlich geschah. Der entthronte H erzog von Lothringen, Franz, wurde aufgrund einer Übereinkunft zwischen seinem Schwieg erva ter, Kai se r Karl VI., und Papst C l emens XII. mit der Toscana abgefunden, deren angestammtes Herrsc herhaus, die Medici , kurz zuvor ausgestorben waren.

• Schwäche der kostspieligen bonapartistischen Allmacht

Das Urbild der kostspieligen, schrecklich bürokratisc hen Monarchie, die keinerlei väterliche Züge mehr trägt, war der völlig militari s ierte, finanz- und verwaltungsorientie11e Staat Bonapartes.

Nachdem er die Österreicher bei Wagram ( 1809) geschlagen hatte, hielt Napoleon ein i ge Monate lang Wien besetzt. Als s ich die franzö s isc hen Truppen schließlich zurückzoge n, konnte Kaiser Franz I. wieder in seine Hauptstadt z urückke hren. Die Wiener bereiteten ihm damals einen besonders festlichen Empfa n g, um ihn über die sc hwere Ni ederlage und das Unglück hinwegzutrösten, das er und sein Land erlitten hatten. 1 Es w ird überliefert, daß der korsische Despot auf diese Nachricht hin seufzend ausgerufen haben so ll: ,, Was fiir eine starke Monarchie!" Er meinte damit die hab sburgische Monarchie, die damals wohl eine der väterlic h sten und organischsten in ganz E urop a war ...

Der Verlauf der Geschichte hat gezeigt, wie Recht Bonaparte hatte. Als er später nach den „Hundert Tagen" in Waterloo endgültig geschl agen wurde, gab es niemanden in ganz Frankreich, der bereit gewesen wäre, ihm e inen feier li chen Empfang a ls Genugtuung für die ungeheure Tragödie zu bereiten, die über ihn hereingebrochen war.

Als hingegen der Graf von Arto i s, der spätere Ka rl X. , z um ersten Mal nach der Revolution als Vertreter seines Bruders Ludwig XVIII. seinen offiziellen Einzug in Paris hielt, wurde der aus d em Exi l zurückkehrenden legitimen Dynastie e in feierl icher Empfang bereitet,

ENTSTEHUNG DES ADELS 125
I) Vgl. D okumen te X.

obwohl sie keinen einzigen militärischen Sieg vorzuweisen hatte , sondern ganz allein das Prestige eines mit majestätischer Würde ertragenen Unheils. 1

Nach seiner zweiten, endgültigen Abdankung sah sich der in seinem Mißerfolg isolierte Napoleon so machtlos, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als den König von England, eines Landes also , das ihm den erbittertsten Widerstand entgegengesetzt hatte, um Zuflucht zu ersuchen. Und nicht einmal die drohende Zerstörung seines Thrones entfachte in seinen nächsten Anhängern den Willen, wenigstens einen Guerilla-Krieg zu führen oder eine von kindlicher Liebe der ihrem König treu ergebenen Untertanen angeregte Revolution zu versuchen.

Ein Guerilla-Krieg oder eine Revolution, wie sie etwa in der Vendee und auf der iberischen Halbinsel als Zeichen der Treue gegenüber der Monarchie geführt worden waren. 2 Einen solchen Kampf hatten auch die tapferen Tiroler Bauern unter der Führung Andreas Hofers in ihrer unverbrüchlichen Treue gegenüber der katholischen Kirche und dem Hau se Habsburg gegen Napoleon geführt. All diese Verteidiger des Glaubens-wie auch der Krone und der Unabhängigkeit Portugals und Spaniens, des französischen Thrones und der Habsburger Monarchie - haben ihr Blut für Dynastien hingegeben, in denen noch Züge der überkommenen Bande einstiger Paternität lebendig waren. In dieser Haltung, wie übrigens auch in vielen anderen Dingen , unterschieden sich diese auf radikale Weise vom harten, arroganten Despotismus Napoleons, aber auch vom nachgiebigen , furchtsamen Despotismu s se ines Bruders Joseph, den er selbstherrlich zuerst zum „König" von Neapel und dann zum ,,König" von Spanien „befördert" hatte.

Vom Abenteuer der hundert Tage abgesehen, nahm die französische Armee di szipliniert den Fall Napoleons hin. Obwohl die Armee die Erinnerung an zahlreiche Heldentaten und Siege an den Korsen gebunden hatte , fehlte der französischen Armee doch der Zusammenhalt familiärer Bande wie sie z.B. im portugiesischen Volk gegeben waren. Napoleon hätte niemals von seinen Heeren das behaupten können, was Königin I sabe lla von Kastilien - nicht ohne einen gewissen Neid - vom treu e n, unerschrocken en portugiesi sche n Volke gesagt haben so ll. Ihrer Meinung nach lag das Geheimnis seiner treuen Hingabe darin, daß sich die mutigen portugiesischen Kämpfer als„ Söhne und nicht Vasallen" ihres Königs fühlten. 3

1) Dieser festliche Empfang, den die Pariser ihrem künftigen Kön ig bereitet haben , wird von dem bereits z it ierten Historiker Geo rges Bordonovc in sei ne m Buc h les Rois qui 0111 fait la Fra11 ce - Charles X mit großer Deta iltreue beschrieben. Unter Dokumente X werden ei ni ge Abschnitte aus dieser Beschreibung wiedergegeben.

2) Unvo rein genom men beschreibt der große deutsche Hi storike r J. B. We iß die helde nhatie vaterländ ische Reaktion der Portugiesen gege n die Truppen Napoleons, die nacheinander erfo lglos von den Generälen Jun ot, Sou lt und Ma ssena angeführt wurd en Gleich zu Beginn sch lug sich die nationale Erhebung e r folgre ich gegen Genera l Jun ot u nd se in Heer:,. Die Portug iesen pflanzten ihre 11ationale Fahne unter Glockengeläute, Festjubel und bei Freude11fe11em in der Stadt a,if. Wie Prairiefe11er flammte diese Bewegung durch das land; am 11. Juni 1808 rief der ehemalige Statthalter von Tras os Montes den Prinz-Regenten als Herrscher aus und die Bewohner zu de11 Waffe11. In den Städten und Dö,fem antwortete das Volk : 'Es lebe der Prinz-Regent! Es lebe Port11gal! Es st erbe Napoleon!· - Am 17. Juni 1808 ertönte derselbe Ru/in Guimaraens. am 18 in Viana, am 19. Juni ließ der Erzbischof von Braga die Fürbiuefiir das Kö11igslu111s Braganza wieder ull/er dem Andrang des Volkes abhalten, küßte das alte Ba1111er und segnete das Volk, welches 'Herr Gott, dich loben wir!· sa11g. Eine Junta war alsbald gewählt, der Bischoffiihrte den Vo rsitz. In Coimbra glühte die studierende J11ge11dfiir die Beji-eilmg des Vaterlandes. Der Tempel der Wissens c haft wwy/e ein Kriegs arsenal: im chem ischen Laboratorium wurde Pulver bereitet. Die S111denten verbreiteten s ich in die Dö,jer, 11111 die Bauern zur Bewaffnung aufzumfe n. Sie wurden mit Glockenklang, Jubelfe uern und Z11ja11 chzen empfangen. Jedermann riistete sich die Bauern mit ihren Sensen Kanon en, die man im l e tz t en spanischen Kriege verborgen haue, wurden wieder ausgegraben Mönche zogen mit dem Kruzifix in der Hand den S c haren voran. D er Klerus war Feuer und Flammefiir die nationale Bewegung, verhinderte aber auch Greuel, wie sie in Spanien an den Feinden verübt wurden. Die L age der Franzosen wurde ernst Junot erkanl//e die ganze Größe der Gefahr U11terstii tzu11g konnte er keine von Frankreich erhalten; nicht iiber das Meer, denn die englischen Kreuzer beherrschten dieses und kreuzten emlang der ganzen Küste; nicht zu land, denn Spanien haue sich gegen die Franzosen erhoben jeder Courier wurde aujgejcmgen. Mit 24.000 Ma1111 konnte er d e n Aufstand eines ganzen Volkes nicht bemeistern. " (Weltgeschichte, Graz-Leipzig, 1897, Bd. XXI, S. 361)

126 KAPITEL VII
3) Vgl. ELAINE SANCEA U, 0 Reinado do Vent u roso, Li vra ri a Civilizaväo Editora, Porto 1970, S. 205f.

d) Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches

Das Heilige Römische Reich war bis zu seinem Ende 1806 eine Wahlmonarchie, die einen gewählten König an seiner Spitze hatte, der durch päpstliche Krönung den Kai sertitel erlangen konnte. Erst mit Ferdinand I. 1564 nahm der gewählte Monarch ohne päps tliche Krönung den Titel "Erwählter Römischer Kaiser" an Seit der Wahl Albrechts II. aus dem Hause Habsburg 1438 war es üblich, den jeweiligen Erben dieses Hau ses zum Oberhaupt des Reiches zu wählen. Als das Haus Habsburg mit dem Tod Kaiser Karls VI. 1740 im Manness tamm ausstarb, wählten die Kurfürsten nach langen Beratungen 1742 Karl Albrecht von Bayern unter dem Namen Karl VII. zum Kaiser. Nach se inem Tod 1745 fiel die Wahl auf Franz von Lothringens, der mit der Erbin des Hauses Habsburg, Maria Theresia,verheiratet war und so das Haus Habsburg-Lothringen begründe te , das v on nun an als legitimer Nachfolger des Hauses Habsburg die Führung des Heiligen Römischen Reiches übernahm. 1

Das Heilige Römische Reich behielt jedoch seinen entschieden föderativen Charakter bei bis zu seiner Auflösung im Jahre 1806, als Kaiser Franz II. (Franz I. von Österre ich) unter dem Druck Napoleons die Krone des Reiches niederlegte. Napoleon reduzierte daraufhin drastisch die Zahl der landesherrlichen Reichseinheiten, indem er noch im selben Jahr den Rhein-Bund ins Leben rief.

Der spätere Deutsche Bund ( 1815-1866), in dem der Kaiser v on Österreich e rblich d e n Vorsitz führte, spielt in diesem zentripetalen Prozeß eine bewahrende Rolle. D er Krieg z wischen Österreich und Preußen und die Schlacht von Königgrät z ( 1866) führten jedoch zur Auflösung des Deutschen Bundes, und unter der Vorherrschaft Preuße ns kam es z ur Bildung des Norddeutschen Bundes, der eine Beteiligung Österreichs und anderer süddeutscher Staaten von vornherein ausschloß.

Nach dem Sieg über Napoleon III . im Jahre 1870 wurde aus diesem Bund das viel zentralisiertere neue Deutsche Reich, dem lediglich 25 selbständige Staaten angehörten .

Doch der zentripetale Drang war damit noch keineswegs zur Ruhe gekommen. Mit dem Anschluß Österreichs und kurz darauf auch des Sudetenlandes an das Dritte Reich erreichte er seinen Höhepunkt und führte schließlich zum Zweiten Weltkrieg. Die Rücknahme der zentripetalen Eroberungen Adolf Hitlers und die Wiedereing liederung Ostdeutschlands in das heutige deutsche Staatsgebilde setzten vielleicht den Schlußpunkt unter diese Abfolge v on Veränderungen der Landkarte Deutschlands.

e) Der Absolutismus auf der iberischen Halbinsel

In Spanien und Portugal verlief die Entwicklung z um königlichen Absoluti smus a uf ve rgleichbare Art und Weise

Mit dem Niedergang des Mitte lalters tendierte die politische und sozialökonomische Orga nisation in beiden iberischen Reichen zu einer schrittweisen Zentralisie rung. Die j ewe iligen Herrscher nützten ges chickt diese Tendenz, um die Macht der Krone über di e verschiedenen Staatskörper, vor allem aber über den Hochadel , immer mehr auszudehnen und zu festigen. Als dann in der Alten Welt die Französische Revolution ausbrach, fand sie die Könige von Portugal und Spanien auf dem geschichtlichen Höhepunkt ihrer Macht.

ENTSTEHUNG DES ADELS 129
1) Franz von Lo thringen hatte 1736 di e Erbtochter Karl s VI. , Maria T heresia, gehe iratet , nac hd em d ie Franzosen 1733 sei n La nd besetzt hatte n. 1737 wurde er Großherzog de r Toscana Auf den ausdrückl ichen W uns c h Maria T her esias, di e als Kön igin von Bö hm en selbst Kurfürstin war, wurde er 1745 zum K aiser gewä hl t.

Dieser Vorgang ging natürlich nicht ohne vielerlei Reibereien zwischen den Königen und dem Adel vor sich.

Die Spannungen führten in Portugal zu bezeichnenden, dramatischen Zwischenfällen, und zwar sowohl in der Regierungszeit Dom Joao II. - als der Herzog von Braganza und andere Granden des Reiches hingerichtet wurden und der Herzog von Viseu, der Bruder der Königin, in Gegenwart des Monarchen erstochen wurde - als auch in der Zeit Dom Jose 1., als der Herzog von Aveiro und weitere Vertreter des Hochadels, vor allem aus dem berühmten Hause derer von Tavora, öffentlich hingerichtet wurden.

In Spanien vollzieht sich diese Zentralisierung, die bereits unter verschiedenen Monarchen aus dem Hause Trastamara, vor allem unter Ferdinand von Aragonien und Isabella von Kastilien, den so genannten Katholischen Königen, festzustellen gewesen war und sich unter den darauffolgenden Königen noch verstärkte, bis sie im 18. Jahrhundert unter den Bourbonen ihren Höhepunkt erreichte. Das Verbot, neue Schlösser zu errichten, die Zerstörung vieler Schlösser, die Beschränkung der Adelsprivilegien sowie die Übernahme der Herrschaft über die Seefestungen von der kastilischen Krone waren einige der anfangs von den katholischen Königen erlassenen Maßnahmen, die zu einer Minderung der Macht des Adels führen mußten. Gleichzeitig wurde das Großmeistertum der wichtigsten Militärorden der kastilischen Krone einverleibt.

Am Ende dieser Entwicklung - noch vor 1789 - zeigte sich der sogenannte historische Adel zusehends geneigt, sich um den Monarchen zu scharen, in der Hauptstadt zu wohnen und sich oft sogar als Gast an den königlichen Höfen selbst ni e derzulassen, wie dies auch in anderen Ländern Europas , vor allem aber in Frankreich geschah , wo die Adeligen , umgeben von der unvergleichlichen Pracht des Schlosses von Versailles, am Hofe des Sonnenkönigs und seiner Nachfolger lebten.

Das Leben am Hofe, wo dem Adel hohe Aufgaben übertragen waren, nahm e inen großen Teil seiner Zeit in Anspruch und verlangte eine prunkvolle Lebensführung, für die die Erträge der überkommenen Familiengüter oft nicht ausreichten. Als Folge davon entlohnten die Könige die höfischen Ämter eines großen Te ils des Adels. Doch se lbst dann reichte die Summe dieser Gehälter und der Erträge der eigenen Güter oft nicht aus. So kam es an manchen Höfen zu verheerenden Verschuldungen, für die manchmal die Heirat mit einer Tochter aus dem wohlhabenden Bürgertum oder die gefällige Vergabe königlicher Zuschüsse der einz ige Ausweg zu sein schien.

• Folgen des Absolutismus: Schwächung des Adels und der königlichen Macht selbst

Nach den unglückseligen napoleonischen Einfällen in Portugal (1807-1810) und Spanien ( 1808-1814) kam es in diesen Ländern z u einer zunehmenden Liberalisierung des monarchischen Regimes. Dabei verlor die Krone nicht nur einen großen Teil ihres politischen, sondern auch ihres sozioökonomischen Einflusses. Und da sowohl di e portugiesische n als auch die spanischen Herrscher groß z ügig mit der Ve rleihung von Adelsprädikaten umgingen, wurden in die Reihen des Adels mehr und mehr Menschen aufgenommen, die nicht als Adelige geboren waren , sondern ihre Erhebung in den Adel sstand entweder de r persönlichen Zuneigung des Monarchen oder ab e r den Die nsten verdank ten, die sie dem Staat oder der Gesellschaft auf den verschiedensten Gebieten geleistet hatten. 1

ENTSTEHUNG DES ADELS 131
1) Wa hrs c he inlich ha t ke in Monarch di e N e igu n g, de n Ade l z u einer vö lli g o ffe ne n Kl asse z u machen , je we ite r get ri ebe n, a ls Kö ni g Ka rl III v on S panien ( 1759- 17 88) ( v g l. Kap VII , 9 c).

Wenn man von zeitweiligen Auswüchsen bei der Titelvergabe absieht, so entsprach diese Erweiterung der Reihen des Adels durchaus der Notwendigkeit, den ausgewogenen Bedürfnissen sozialökonomischer Umwandlungen zu entsprechen und den oft tatsächlichen Wert bestimmter Tätigkeiten für das Gemeinwohl anzuerkennen. Doch manche Erweiterung wurde auch ohne die notwendigen Kriterien und Einsichten vorgenommen, sodaß die früher dem Adel entgegengebrachte Hochachtung Schaden nahm. Der Wert, der dieser Auszeichnung zukam, wenn sie echten Förderern des Gemeinwohls zugedacht war, litt natürlich unter dem Mangel an umsichtiger, diskreter Auswahl, denn Adel und Auswahl sind nun einmal sich ergänzende Begriffe.

Nachdem 1910 in Portugal die Republik ausgerufen worden war, wurden dort auch alle Adelstitel, Ehrenbezeichnungen und Sonderrechte des Adels abgeschafft. 1

In Spanien wiederum, wo die Republik zuerst 1873 und dann noch einmal 1931 ausgerufen und dementsprechend auch die Monarchie mehrmals wiederhergestellt wurde, kam es zur wiederholten Abschaffung und Restaurierung der Rechte und Privilegien des Adels, was natürlich traumatische Folgen für den Adelsstand mit sich brachte.

f) Der übermächtige bürgerliche Staatder allmächtige kommunistische Staat

Bei einem kurzen, zusammenfassenden Blick auf den heutigen Stand dieses Zentralisierungsprozesses muß man einräumen, daß sich ein übermächtiger bürgerlicher Staat im 19. Jahrhundert bereits bei Nationen ankündigte, von denen einige nur noch Überreste einer Monarchie wahrten, während andere bereits triumphierend die Republik feierten.

Während der Belle Epoque, in der Zwischenkriegszeit und nach 1945 fielen mehr und mehr Kronen und der übermächtige demokratische Staat ebnete dem allmächtigen proletarischen Staat den Weg in die Geschichte.

Die Geschichte des proletarischen Absolutismus, der ein Verleumder und gleichzeitig irgendwie ein Fortsetzer des monarchischen Absolutismus d er Aufklärung ist, und die Entstehung der Perestroika, der Glasnos t und der sozialistischen Selbstverwaltung, die ihrerseits wieder als verleumderische, fortsetzende Reaktion auf den proletarischen Absolutismus anzusehen sind, liegen entschieden außerhalb d es thematischen Bereichs dieses Buches.

1) Was die Lage der Titelträger un ter d em republikan is chen Regime angeht, erk lärt Dr. Rui Dique Travassos Va ldez: Der Ve,fassungsartikel aus dem ]altre 191 I. der die Adelsbezeic/1111111ge11 abgescl,afft !tat. wurde später mit Rücksiclt t auf erworbenes Recht eingesclträ11kt. Wer als o rec!ttmäßiger lnltaber e ines wältrend der Monarcltie ver/iel,enen (eigenen) Titels ist und die entsprec!te11de11 Diplomgebiiltren abgefiihrt hat, da,f diesen Titel r eclt tmäßig tragen, vorausgesetzt, er stellt diesem sein en bürgerlichen Namen voraus

Als König Ma1111el II. im Exil noclt lebte, suchten iltn viele mit der Bille auf. als Ober!taupt des Adels (die Anl,änger Miguels e rbaten natürlich vom Vorsteher dieses Hauses dasselbe) den Gebrauc lt ihres Titels z u genelt111igen. Gewöltnlic/1 wurde einer so lclten Bille s taltgegeben verbunden 111it der Aussicht at!{ offizielle Emeue nmg i111 Falle einer Rückkehr des Landes zur Monarchie. Nachdem dann der König gestorben und Dom Duarte Nuno, der Herzog von Braga11<;a, vo n der Mehrlteit der portug iesisch e n Monarchisten als rechtmäßiger Vertreter beider Zweige des Hauses Braganza an erkannt worden war, wurde zue,:H ein Ausschuß wr Übe1priifi111gder Titel und später ein Adelsrat gescl,affen , den der Fiirst mit Vollmacl,ten in dieser Angelegenheit betraute Keine dieser beiden Einrichtungen ist vom Staat anerkannt. Es mußj edoc h erwält11t werden, daß 111ancher, d essen Titel a,!f diese Weise unter dem Regime der Republik anerkannt wurde, im Gesetzblall der R egierung mit diesem Tite l {mit vorausgestelltem bürgerlich em Namen) gefiihrt wird, also denen gleichgestellt wird, die sic h a,!fe in Dekret ben!fen können." (Titulos Nobiliarquicos, in Nobreza de Portugal e da Brasil, Editorial Enciclopedia, Lissab o n 1960, Bd. II , S. 197[)

132 KAPITEL VII

6. Entstehung des heutigen Staates

a) Der Niedergang der Regionender Weg zur Hypertrophie der königlichen Macht

Wie im vorhergehenden Punkt erwähnt wurde, befand sich das feudale Modell zu Beginn der Neuzeit bere its in einem deutlich wahrnehmbaren Prozeß politischen Niedergangs. Tatsächlich wurde von nun an die königliche Macht immer stärker, bis s ie im 17. und 18 Jahrhundert einen Zustand wahrer Hype rtrophie erreichte. Hier sc hlägt di e Geburtsstunde des modernen Staates , der sich immer weniger auf den Landadel und den sc höpferi schen Trieb der Regionen stützt, dafür aber um so mehr bürokratische Organe schafft, über die sich der Einfluß des Staates nach und n ac h auf das ganze Land erstreckt.

Mit der schrittweisen Ausrottung der endemischen Straßemäuberei vergange ner Jahrhunderte werden gleichzeitig auch die Verbindungen über die Handelswege zu se hends sicherer, was hinwieder den vielseitigen Austausch zwischen den Regionen b egün stigt. Die Ausweitung der Handelsbeziehunge n und die Entstehung neuer Industri e n führt wiederum zur Vereinheitlichung des Konsum s . Regional e Eigenheiten aller Art verschwinden , und das Anwachsen der Stadtgebiete verlagert den Schwe rpunkt von den Mikroregionen auf Makroregionen und von di esen schli e ßlich auf di e Landes metropole n

Mehr d e nn je werden die Hauptstädte z u Anziehungspunkten für die zentripetalen Energien eines jeden Territoriums und umgekehrt wieder zu Ausstrahlungspunkten der von der Krone ausgehenden Macht und Befehlsgewalt. Zugleich zieht es den bi s her vor a llem ländlich geprägten Adel an d e n Hof, wo e r sich im Schatten des Köni gs niederläßt, von dem alles, was im Land geschieht, seinen Ausgang nimmt.

b) Der königliche Absolutismus wird unter der repräsentativen Demokratie zum Staatsabsolutismus

Wirft man e ine n Blick auf di ese n schrittweisen, un e rbittlichen zentripetalen Vorgang, stellt man fest, daß sich durch die aufeinander folgenden, im 19. und 20. Jahrhundert schließlich immer enger werdenden Staatsformen, ein lang er roter Faden z ie ht. Der republikani sc he Staat wirkt so mit trotz se in e r demokratisch-liberalen Aspekte letztendlich ze ntralisierender als der ihm vorausgega n gene monarchische Staat. Es kam dabei unleugbar zu e in em D emo kratisierungsproze ß, der allen nichtade lige n Klassen den Z ugang zur Macht ermöglichte, gleichzeitig aber den Adel sc hrittweise von dieser Macht ausschloß, was übrigens e ine recht di s kutable Auffassung von Gleichheit an den Tag leg t. Was aber die Freiheit angehl, so wurde der Spielraum des Bürgers mehr und mt:hr t:ingt:s<.:hränkt und dur<.:h t: ine ausufernde Gesetzgebung besc hnitte n. Soweit es den Staat betrifft.

c) Die zentripetale Pyramidalisierung - die Superpyramidalisierungzwei Beispiele: Banken und Massenmedien

Um einen Überblick über den tatsächlichen Rückga n g der Freiheiten im 19. Jahrhund ert zu gewinnen, ist z u beachten, daß sich in di esem Zeitraum eine Tendenz z ur Pyramidalisierung auch im Bereich der Privatinitiative durch se tzte. Mit a nd eren Worten, Unternehmen oder verwandte Einrichtungen sc hlo ssen sich zu immer größeren Blöcken z u sammen und verschlangen dabei jede Art von autonomer E inheit, die s ic h gegen di e vorgesehene E inve rleibung in die Pyramide zur Wehr stellte. An der Spitze die ser Pyramiden standen - oder steh e n noch imme r - ri esi ge Vermögen , di e im p yramida len Ganzen die gradue ll geringeren Vermögen kontrollierten. Auf diese We ise verloren die Besitzer kleiner ode r m itte lgro ßer Unternehm e n anges ichts der Konkurrenz und des Drucks der Großkapitalisten e inen g ut en Teil ihrer Handlungsfreiheit.

ENTSTEHUNG DES ADELS 13 3

Über diesem Pyramidenkomplex thronten wiederum einige Einrichtungen, die naturgemäß einen noch höheren Führungsanspruch durchzusetzen vermochten Als Beispiel dafür wären etwa das Bankwesen und die Massenmedien zu nennen.

Mit immer neuen Erfindungen führte der unaufhaltsame Fortschritt der Wissenschaften und der Technik dazu, daß sich dieser Prozeß im 20. Jahrhundert noch beschleunigte.

Diese Konzentration des Privatkapitals in den Händen einiger weniger Inhaber großer Vermögen kann neben der Verminderung der Freiheit kleinerer Gewerbetreibender eine weitere Folge nach sich ziehen, die sich auf die Haltung des Großkapitals gegenüber dem Staat auswirkt.

Tatsächlich hat sich die nach außen hin festlich demokratisch-liberal gebende bürgerliche Welt, die unter einem gewissen Blickwinkel stets mehr demokratisch und gleichmacherisch und unter einem anderen weniger liberal ist, zu einer befremdlichen Umkehrung der Werte geführt. So sind etwa die Banken und Massenmedien normalerweise fest in privater Hand, gehören also Individuen. Nun muß man wohl einräumen, daß diese Kräfte in der heutigen Welt oft deutlich mehr Macht besitzen als im 19. Jahrhundert oder selbst vor der Französischen Revolution der Adel. Hervorzuheben ist vor allem, daß diese Kräfte häufig mehr Macht über den Staat haben als dieser über sie.

So haben etwa die Banken und Medienkonzerne die Möglichkeit, in den meisten Demokratien einen entscheidenden Einfluß auf die Besetzung der öffentlichen Ämter auszuüben, während der Staat kaum die Besetzung der leitenden Stellen der privaten Banken und Medienkonzerne beeinflussen kann.

Dies geht so weit, daß sich der Staat seinerseits in vielen Fällen gezwungen s ieht, selbst in die Rolle des Großbankiers oder Presseunternehmers zu schlüpfen und damit in den Bereich der Privatwirtschaft einzudringen, so wie diese ihrerseits in den Bereich de s Staates vorgedrungen war.

Konvergenz? Nein, man spricht da wohl besser vom Weg ins Chaos.

Was die völlige Handlungs- und Entwicklungsfreiheit angeht, bringt diese Auseinandersetzung zwischen Staat und Großkapital dem gewöhnlichen Bürger nicht den geringsten wirtschaftlichen oder politischen Vorteil.

Man braucht sich ja nur das Bild anzuschauen, das sich einem an Wahltagen bietet. An den Wahlleitern , die in den Wahlausschüssen für die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen sorgen, ziehen zahllose Wähler vorbei. In die sich bildende Schlange reiht sich unterschiedslos auch der Magnat als Ve1treter eines „ antithetischen Adels " 1 des 20. Jahrhunderts ein und wirft seine Stimme in die Urne, in der (offiziellen) Meinung, daß seine Stimme genauso viel oder genauso wenig Wert hat wie die des gerin gsten Bürgers.

Nach Auszählung der Stimmen wird dann ein paar Tage später das Ergebnis bekannt gegeben. Wie irgendein anderer Bürger wird der Magnat nun in seinem Klub da s Wah lergebnis kommentieren, als ob er zu dem Ergebnis auf di ese lbe Art und Weise beigetragen hätte wie ein gewöhnlicher Wähler. Seine Gesprächspartner aber wissen, daß zum Beispiel ein ganzer Medienkonzern von ihm abhängt, der auf die Stimmen der amorphen, orientierungslosen Massen unserer Tage einen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat. Kann man sich guten Gewissens dieser Illusion der Gleichwertigkeit der Stimmen hingeben?

134 KAPITEL VII
1) Vgl. Kapi te l VII. 8. f.

d) Der Staatskapitalismus: Fortsetzung der vorausgegangenen zentripetalen, autoritären Ausrichtung- Grabstätte alles Dagewesenen

Was hat de nn nun der Staatskapitalismus den Ländern gebracht, in denen er eingeführt wurde? Er hat di e ihm vorausgegangene zentripetale Richtung nur noch verstärkt. Er hat aus dem Staat e inen „ Leviathan" gemacht, gegenüber dessen Allmacht die Gewalten der Könige und Adeligen früh e rer E pochen klein, wenn nicht gar minimal und unbedeutend erscheinen müssen. Mit seiner all es ve rschlingenden Anziehungskraft hat der Staatskollektivismus ipso facto im selben Abg rund, im selben Nichts, wie in einer Grabstätte, Könige und Adelige und bald darauf auch die „antithetischen Aristokratien"', die auf ihrem Weg durch die Geschichte ihren Höhepunkt erreicht hatten, begraben.

All dies ist als eine Folge der Ideolo~ie von 1789 anzusehen - in einigen Fällen als unmittelbare, in anderen als entfernte Folge.

e) Eine Grabstätte - zwei Triaden

Waren nur Könige , Adelige und Aristokratien die einzigen Opfer jenes kollektivistischen Wundbrandes?

Nein! Die Folgen hatten auch Schicht um Schicht der bürgerlichen Gesellschaft zu tragen. Das Aufsaugevermögen des kollektivistischen „Leviathans" verschonte auch keinen einzigen Menschen und kein einziges Individualrecht. Selbst die Grundrechte eine s jeden Menschen, die ihm nicht nur etwa kraft irgendwelcher vom Staat geschaffener Gesetze zustehen, sondern selbst kraft der Natur der Dinge, wie sie mit göttlicher Weisheit und Einfachheit in den Zehn Geboten zum Ausdruck kommt, selbst diese Rechte hat der Kollektivismus immer wieder allen Völkern, die er unter seine Macht gebracht hat, vorenthalten und ebenso einem jeden einzelnen Menschen, der diesen Völkern angehört. Diese historische Erfahrung liegt nun vor allem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor den Augen des ganzen Menschengeschlechts als verhängnisvolles Geschehen ausgebreitet. Selbst das Recht auf Leben hatte der kollektivistische Staat an sich gerissen und verweigerte dem Menschen dieses Gut, das die gerade so modische Umweltschutz-Bewegung selbst dem unscheinbarsten Vöglein und dem kleinsten Wurm zuerkennt.

So sind schließlich auch die Arbeiter, diese unbedeutendsten Diener des Staates, in die gemeinsame Grube gestoßen worden.

Eine Inschrift auf dem Gedenkstein könnte all die Opfer von vorgestern, gestern und heute in der Aufzählung der drei großen Prinzipien zusammenfassen, welche der Kollektivismus stets geleugnet hat:

TRADITION - FAMILIE - PRIVATEIGENTUM

E s war die Absage an diese Triade, die dazu führte, daß unter katholischer Orientierung die größte Bewegung antikommunistischer Vereinigungen der modernen Welt herv orging.

Und da der Volksmund behauptet, daß über den Grabstätten von Opfern einer zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit böse Geister im Taumel ihrer Qualen ihre Kreise ziehen, könnte man s ich gut vorstellen, daß über diesem lärmenden Haufen eine weitere Triade schwebt:

VERMASSUNG - KNECHTSCHAFT - HUNGER

136 KAPITEL VII
1) Vgl. Ka p ite l VII. 8 f 2) V g l. PLI N IO CORR EA DE O LI V EIRA , Re volu tion und G egenrevolution , S. 51.

j) Was vom Adel übrigbliebdie Anwort von Papst Pius XII.

Nach Aufhebung der Autonornien unter dem Einfluß des revolutionären Totalitarismus und nach der gleichzeitigen - dem zunehmenden Egalitarismus der Neuzeit zu verdankendenAbschaffung von Sonderaufgaben und den entsprechenden Privilegien, die den Adel im Mittelalter und noch im Ancien Regime zu einem politisch definierten Gesellschaftskörper machten, bleibt nun die Frage zu stellen, was denn von dieser Klasse noch übrig geblieben ist.

Papst Pius XII. hat für diese Frage eine kategorische Antwort:,, Ein Blatt de r Gesch ich te ist umgeschlagen, ein Kapitel ist abgeschlossen Hinter eine soz iale und w ir ts ch aftliche Vergangenheit ist der Schlußpunkt gesetzt " 1

Der Papst erwartet aber von dieser Klasse, der kaum real Greifbares geblieben ist, die Ausübung einer hohen Aufgabe im Dienste des Gemeinwohls. Er beschreibt diese Aufgabe denn auch mit großem Wohlwollen aufs Genaueste in mehreren Ansprachen , einschließlich in der aus dem Jahre 1952 und der folgenden, die er 1958 kurz vor seinem Tode hielt. Das Gedankengut Papst Pius' XII. lebt später auch deutlich in den Ansprachen Papst Johannes' XXIII. und Papst Pauls VI. fort, die sowohl an das Patriziat und auch an den Adel von Rom als auch an die Nobelgarde gerichtet sind.

Zum besseren Verständnis dieses heiklen, subtilen und wichtigen Themas gilt es vor allem, den hier angestellten historischen Rückblick zu beachten und den Ve r lauf der Erei g nisse unter einem besonderen Blickwinkel zu untersuchen.

7. Das sittliche Erscheinungsbild des mittelalterlichen Adeligen

In jeder Berufsgruppe läßt sich leicht feststellen, in welchem Maße die berufliche Tätigk e it sowohl d e n Geist und das geistige und sittliche Ersche inungsbild d e r e r, die diese Tätigkeit ausüben, als auch deren dem beruflichen Bereich entzogenen häus l ichen und g e sellschaftliche n Bez iehungen beeinflußt.

Im Mittelalter und unter dem Ancien Regime konnte die Stellung eines Adelig en nicht ohne weiteres mit einem Beruf verglichen werden. Unte r eine m g e wis se n G esichtspunkt handelte es sich um einen Lebensunterhalt, andererseits war sie jedoch viel mehr a ls das . Se in Stand prägte zutiefst den Adeligen und seine ganz e Familie , über die diese s M e rkmal im Laufe der Jahrhund erte auf di e kommende n G e n e ration en w e itergegebe n wurde . D er Adelstitel wurde zum Bestandteil des Familiennamens oder ersetzte ihn sogar. Das Wappen wurde zum Wahrzeichen der Familie. Das Land, über das er seine Macht ausübte, trug oft s einen eigenen Namen. Es konnte aber auch geschehen, daß umg e kehrt der Name des La nd e s se inem Ade lstite l e inverleibt wurde .2

a) In Krieg und Frieden, Beispiel der Vollkommenheit

Zwei wesentliche Grundsätz e formten das Bild des Adeligen:

l ) A n sprache an das P atri z ia t und a n den A del von Rom, 1952, S. 457

2) Die Symbiose von M e nsch, Au fga be und Land is t aufergreifende We ise vo n Paul Claude! in l 'Otage dargestellt: Couf o11tai11e - Wie uns die E rde ih ren Na m en g ib t , gebe ich ihr mein Men schse in. Aufihrfehlen uns nie d ie Wu rzeln; in mirfehlt ihr, Gott sei 's gedankt, nie die Fr uch t , die ic h, ih r Herr, s e lber bin. Deshalb steht v o r m ein e m Nmn e n , von ', denn ich b in d e r Men sch, d e r a ls solc h er ih r en Na m en fiihrt. Wie e in k le in e, Fr ankre ich i;:t m ei11 Lehen me in K ö n igreich; in 111 ir und in 111ei11 e 111 Geschlech t wird d ie Erde vornehm und ade lig, e twas, was 111an nic ht kaufe n kann. " (Gall imard, 1952 , S. 261)

ENTSTEHUNG DES ADELS 13 7

1. Als ein an der Spitze des Lehens stehender Mann hatte er wie ein Licht zu leuchten. Das bedeutet, daß er erklärtermaßen ein christlicher Held zu sein hatte, der bereit war, zum Wohle seines Königs und seines Volkes alles zu opfern als ein bewaffneter weltlicher Arm zur Verteidigung des Glaubens und der Christenheit in den häufigen Auseinandersetzungen mit Heiden und Ketzern.

2. Gleichzeitig hatten er und seine ganze Familie mit gutem, besser gesagt, mit optimalem Beispiel den Untertanen und Gleichgestellten voranzugehen. In der Tugend wie in der Bildung, im vortrefflichen Umgang, im guten Geschmack, in der Ausstattung des Heimes und bei den Festlichkeiten sollte er der Gemeinschaft stets als Vorbild und Ansporn dienen, damit jeder einzelne es ihm nachtäte.

b) Der christliche Ritter- die christliche Dame

Wie wir noch sehen werden, hatten diese beiden Grundsätze in der Praxis eine ungeheure Reichweite. Ihre Anwendung während des Mittelalters entsprang echter Überzeugung und religiösem Gefühl. Und so bildete sich in der europäischen Kultur und später im ganzen Abendland das Idealbild des christlichen Ritters und der christlichen Dame heraus. Ritter oder Ritter und Dame sind zwei Begriffe, die im Laufe der Jahrhunderte und trotz wiederholter Verflüchtigung ihres Inhalts infolge der fortschreitenden Laisierung im Ancien Regime stets ein hervorragendes menschliches Vorbild bezeichneten. Und sie bewahren diesen Vorbildcharakter bis in unsere Tage, wenn die Bezeichnung auch inzwischen leider altmodisch geworden ist.

Nachdem der Adel nicht nur in Italien, auf das sich Papst Pius XII. im besonderen bezog, sondern auch in den übrigen Ländern vieles real verloren hatte, was oben erwähnt wurde, blieb ihm vor allem seine menschliche Vorbildlichkeit. Dieser sein höchster und letzter Schatz wird nur dem verständlich , der das Warum und das Wie seiner Entstehung im Laufe der historischen Entwicklung des Feudalsystems und seiner Hierarchie kennt.

c) Einsatz und Opfer, gepflegte Umgangsformen, Etikette und Protokoll - von der bürgerlichen Welt auferlegte Vereinfachungen und Verstümmelungen

Das Wort Aufopferung verdient es, hervorgehoben zu werden, weil es im Leben des Adeligen eine zentrale Rolle spielte. Auf gewisse Weise war es selbst im gesellschaftlichen Leben in Form einer zutiefst prägenden Askese spürbar. Gepflegte Umgangsformen, die Etikette und das Protokoll bildeten sich nach Mustern, die vom Adeligen eine ständige Unterdrückung all dessen verlangten, was in vielen menschlichen Trieben vulgär, geschmacklos und sogar beschämend wirkt. Unter gewissen Aspekten erwies sich das gesellschaftliche Leben als ein stetiges Opfer, das mit fortschreitender Zivilisation und Raffinement auch höhere Ansprüche stellte.

Vielleicht ruft diese Behauptung bei einigen Lesern ein skeptisches Lächeln hervor. Um jedoch der Wirklichkeit gerecht zu werden, sollten sie all die Abschwächungen, Vereinfachungen und Verstümmelungen bedenken, welche die aus der Französischen Revolution hervorgegangene bürgerliche Welt schrittweise der Etikette und den bis heute überlebenden Zeremonien auferlegt. All diese Verände1ungen haben nur den einen Zweck, den emporgekommenen Magnaten, die in ihrem jungen Überfluß so weit wie möglich die Vulgarität ihrer vorausgegangenen Lebensverhältnisse zu wahren suchen, bürgerlichen Kornf01t, Sorglosigkeit und Bequemlichkeit zu schenken. Auf diese Weise wurde alles, was guter Geschmack, Etikette, gepflegter Umgang bedeutet, ausgehöhlt und einem Wunsch nach Laisser-faire, nach „Ungezwungenheit" untergeordnet. Dazu kam die Vorherrschaft einer launenhaften, skurrilen Hippielebensform,die schließlich 1968 mit den wirren Aufständen an der Sorbonne und mit den späteren Jugendbewegungen der Punks, Darks usw. ihren Höhepunkt erreichte.

138 KAPITEL VII

d) Harmonische Vielfalt in der Ausübung der evangelischen Tugenden: die Selbstverleugnung im Ordensstand und inmitten von Würden und Pracht der weltlichen Gesellschaft

An diese r Stelle muß ein Wesenszug erwähnt werden, der bei vielen Adeligen deutlich in Ersc he inung tritt.

Viele Heilige, die im Schoße des Adels zur Welt gekommen waren, haben später auf ihre gesell schaftliche Stellung verzichtet , um in der irdischen Selbstverleugnung des Ordenss tandes die Perfektion der Tugend zu suchen. Und was für ein strahlendes Beispiel haben sie so der Christenheit und der Welt gegeben!

Andere, ebenfalls als Adelige geborene Heilige bewahrten die Würden dieser Welt und zogen es vor, mit dem ihrem politisch-gesellschaftlichen Stand entgegengebrachten Prestige vor den Augen anderer Gesellschaftsschichten bewundernswerte christliche Tugenden hervorzuheben und der ganzen Kollektivität, der sie vorstanden, mit gutem moralischem Beispiel voranzugehen. Dies gereichte nicht nur dem allgemeinen Seelenheil, sondern auch der weltlichen Gesellschaft selbst zum Vorteil. In diesem Sinne ist für Staat und Gesellschaft nichts förderlicher, als auf den höchsten Poste n mit Menschen von jenem erhabenen Ansehen rechnen zu können , wie es die Heiligen der katholischen Kirche ausstrahlen.

Außerdem waren diese Heiligen, die schon ihres hohen Standes wegen Achtung und Bewunderung verdienten, in den Augen der Massen besonders durch die stete, mustergültige Ausübung der christlichen Nächstenliebe berühmt.

Groß ist die Zahl der Seligen und Heiligen, die sich - ohne auf die ihrer adeligen Abstammung zustehenden irdischen Ehren zu verzichten - ganz besonders im Dienst an den Hilflosen hervortaten, man könnte auch sagen, durch ihre vorrangige Option für die Armen.

Im fürsorglichen Dienst an den Armen glänzten oft auch die Adelspersonen, die sich für die bewunderungswürdigen Entsagungen des Ordenslebens entschieden hatten, um mit den Armen arm zu sein und ihnen so das beschwerliche Leben auf Erden erträglicher zu machen und ihre Seelen auf den Himmel vorzubereiten.

Es würde hier zu weit führen, all die zahllosen Adeligen beiderlei Geschlechts anzuführen, die entweder die evangelischen Tugenden imnitten der Würden und des Glanzes der Welt übten oder aber aus Liebe zu Gott und zum Nächsten dem weltlichen Leben entsagt haben. 1

e) Wie darf nicht regiert werden und wie soll man regieren

Regieren heißt nicht nur oder vor allem Gesetze erlassen und Strafen verhängen, wenn j e ne übertr ete n werden, um so die B evölkerung mit Hilfe einer möglichst umfassenden und damit effizienten Bürokratie und einer möglichst invasiven, einschüchternden und damit mit gewaltsamen Polizeigewalt zum Gehorchen zu zwingen. Auf diese Weise läßt sich zwar bestenfalls ein Gefängnis leiten, aber nicht ein Volk.

Wi e bereits am Anfang des Kapitels gesagt wurde, hat die Führung von Menschen vor allem Bewunderung, Vertrauen und Hingabe der Geführten zur Voraussetzung. Eine solche Haltung ist aber nur dann zu erreichen, wenn es zu einer tiefen Verständigung über Grundsätze, Bestrebungen und Ablehnungen kommt, mit anderen Worten, zu einem Kanon von Kultur und Traditionen , der Regierenden und Regierten gemeinsam ist.

140 KAPITEL VII
1) Zur Zah l der von der Kirche zur Ehre der Altäre e rhobenen Ade ligen vg l. Dokumente XII.

In ihren jeweiligen Lehen erreichten di e F e udalherren dieses Z iel im all g eme inen damit, daß sie die Bevölkerung st et s zu h e rvorra g e nd e n Leistungen au f all en Geb ieten ansp o rnte n. Selbst um die Zustimmung d er Bevölkerung für di e Kriege z u erh a lten, zu d e ne n di e damaligen Verhältnisse oft führten , setzte der Ade l seine Übe rze ugung skra ft e in.

Das verlangte ab er v or a lle m v oll e Unte rstütz ung g egenüber der kirchlichen Hiera rchi e und ihrer Lehren über die s ittlic hen Ge g ebenhe iten , di e e ine n au s r e li g iö sen o d e r w eltli chen Moti v en gefü hrten Kr ieg rechtferti g ten.

f) Das Bonum und das Pulchrum des gerechten Kriegsdie Ritter spürten es bis in die tiefste Seele hinein

Zusamme n mit d e m P ul chrum li e ß der Adel da s B o n um e ine s ger ech ten K ri eges in d e r A us drucks kraft des krie geri s che n Zere moniells im Glanz der Waffe n, im Sc hmu c k de r Pfer de usw. aufsch e ine n .

F ür d en A d e lige n war d e r Krie g ein Opfe rg a n g zur Verherrli c h u n g d e r Ki r ch e , zur Verbreitung des Gla ubens und zum le gitime n ze it lic h e n G e m e in wo hl. Zu diesem A ufopfe rn w ar er a uf v erg leic hbare Weise bestimmt, wi e die Kl e rik e r und O rden s leute z u d e m ihre m Sta nd inh är e nte n m o rali sc h e n Holoca ust bestimmt w aren.

Das Bonum und Pu lc hr u m di eser Aufopfe rung spürten di e Ritte r, di e übri g en s k e ines w e g s imme r A d e lige war e n, in tiefste r Seele . U n d mi t di ese r Ge istes h a lt un g b rac h e n sie in d e n Kri e g a u f . Die Schönh e it, mit der s ie ihr militäri sc h es T un ä uß e rlic h u mgaben , b e de ute te für s ie v ie l me hr a ls nur e in M itte l zu d e m Zweck , di e k a mp ffä hi ge n M ä nn e r aus dem geme ine n Volk zu locken, um s ie a us fre ie r En tsc h e idung mi t s ic h in d e n Kr ieg z u führen . Was nicht aussc hlie ßt, daß die Ritter a uf den G eist der B evö lke run g ta tsächl ic h Einfluß aus übte n . (N e be nbei sei hi er e rkl ä rt, d a ß es fü r die Mä nne r a us de m Vol k e k ei ne Zwangs einziehung in dem Umfang und auf unb e stimmte Daue r gab , w ie es in un se r e n Tage n b e i a llg emeine n Mobilma chungen der F a ll ist. )

Eine n v iel g rößeren Einfluß a ls der g lä n zende ä u ßer e Sche in üb te n auf da s Vo lk in j e nen Jahrhund e rt en d er g lühe nde G la ub e und di e L e hr e d er K irc he aus. U nd diese li eß k ein en Zweifel d aran aufkommen, daß d e r h e ilig e Kri eg nicht n u r ei nfac h e rl a ub t wa r, sond ern für d as ga nze christlic he Volk, z u d e m s ow ohl di e Adeli g en w ie die Ge me in e n zä hl ten, e ine w ahr e Pflic ht sein konn te 1

8. Der Adel unserer Tage - Größe seiner heutigen Sendung

a) Die wesentliche Grundlage jeden Adels, unabhängig von der jeweiligen Nationalität

Wi e h a t ma n sic h nu n a n ges ic hts di eser Ge g ebe nhe iten den Me nsc henty p v or z uste ll en , der d em Ade l a ls Grundlage di en t? Zur B ea ntwo1tu n g dieser Frage k ann sich di e gesc h ic htlic h e G e le hrs amke it a uf e ine M e n g e vo n D aten st üt zen , di e sowo hl d en U rspru ng d ieser K lasse a ls a u ch d ie po liti sc h en , gese llsc h a ftli c hen und w irtsc h aftli c h e n Aufga ben betrifft, di e ih r im La ufe d e r Ja hr hun derte unter d en vers c hi e d ens te n Fo rm e n und in u n ter sc h ie dlic h e m M a ß e zukame n. E s fe hlt a uc h ni c ht a n Qu e lle n z um sp ez ifisc h en E influß d es Ade ls

1) Unte r Doku me n te XI fi nde t d e r Leser die Lehren d er Päpste, He il igen, K irch e n lehrer u nd Theo logen z u den Be d ng u nge n unter d e ne n e in Kri e g erlaubt ist

ENTSTEHUNG DES ADELS 1 4 1

auf Moral, Sitten und Bräuche der Gesellschaft sowie über die Auswirkungen seines Mäzenatentums im Bereich der Förderung von Kunst und Kultur.

Was ist ein Adeliger?

Es ist jemand, der zum Adel gehört. Doch diese Zugehörigkeit setzt voraus, daß der Adelige einem bestimmten psychologischen und moralischen Ideal entspricht, das seinerseits den ganzen Menschen formt. Dieser Stand hat zwar im Laufe der Geschichte einen großen Wandel erlebt und in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Ausprägungen erfahren, trotzdem bleibt das Wesen des Adels immer und überall gleich. So mag sich zwar ein ungarischer Magnat in mancherlei Hinsicht von einem spanischen Granden unterscheiden, oder ein französischer Herzog und Pair mag andere Merkmale aufweisen als ein Herzog des Vereinigten Königreichs, aus Italien , Deutschland oder Portugal, in den Augen der Öffentlichkeit ist ein Adeliger stets ein Adeliger. Genauer gesagt, ein Graf ist stets ein Graf, ein Baron stets ein Baron, ein Edelmann oder Gentleman stets ein Edelmann stets ein Edelmann.

Die Wechselfälle der Geschichte, denen sich der Adel ausgesetzt sah, haben die Lage dieses Standes auf eine sozusagen unermeßliche Art und Weise verändert. Wenn sich daher in unseren Tagen auch einige noch auf der Höhe des Reichtums und Prestiges befinden, so sieht sich doch auch manch einer der Annut ausges etzt und muß wohl oder übel einer harten, niedrigen Arbeit nachgehen , um so sein Leben fristen zu können Oft sehen sich diese dem Spott und dem Hohn vieler unserer vom egalitären, bürgerlichen Geist der Französ ischen Revolution beeinflußten Zeitgenossen ausgesetzt. Wie viele , die s ich der des potischen Herrschaft kommunistischer Regime nicht rechtzeitig durch Flucht entziehe n konnten, haben ihr ganzes Hab und Gut verloren, wurden mit Füßen getreten und zu Proletariern degradiert!

b) Adel: Maßstab Jü,r vorbildliches VerhaltenTriebfeder zu allen Arten der Tugend und Vollkommenheit

Wenn man bedenkt, daß der Adel in den R e publike n von heute seiner politi s chen Macht beraubt ist und selbst in den Monarchien nur noch Spuren seiner früheren Macht innehat, daß er in der Finanzwelt nur schwach oder gar nicht vetireten ist, daß er in Diplomatie, Kultur und Mäzenatentum fast immer eine viel geringere Rolle spielt als das Bürgertum , muß man wohl oder übel zugeben, daß der Adel von heute im allgemeinen nicht mehr als ein Rest früherer Zeiten ist. Ein wertvoller Rest allerdings, der die Tradition vertritt und im we sentlichen von einem bestimmten Menschentyp gebildet wird.

Wie ist dieser Menschentyp zu definieren?

Der Verlauf der Ereignisse hat dazu geführt, daß der Adel Jahrhunderte lang und selbs t noch in unserer von Gleichmacherei und Vulgarität vergifteten Zeit sittlichen Verfalls einen Vortrefflichkeitsstandard zur Erbauung aller Menschen herausgebildet hat, damit gewissermaßen alle hervorragenden Dinge die ihnen zustehende Hervorhebung e rhalten. Denn je mehr man von etwas behauptet, daß es adelig bzw. aristokratisch ist, um so mehr will man damit zum Ausdruck bringen, daß es in seiner Art hervorragend ist.

Noch während der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts war in der weltlichen Gesellschaft wenigstens in großen Zügen die vorherrschende Tendenz festzustellen, sich auf d e n

142 KAPITEL VII
1)
Z u m Adel in sei ne r Rolle al s A ntriebsfaktor der G e s e llsc ha ft zu all e n Au sdrucksform en d e r Tuge nd und d e r V o llko mme nhe it, s auch Anhang IV.

verschiedensten Gebieten und unter allen möglichen Gesichtspunkten zu verbessern. Diese Behauptung verdiente es allerdings, vor allem in den Bereichen der privaten und öffentlichen Religiosität und Sittlichkeit genauer nuanciert zu werden.

Im Gegensatz dazu ist es heute nicht mehr zu verbergen, daß eine allgemeine Tendenz zur Vulgarität, zur skurrilsten Ausgefallenheit und nicht selten sogar zum brutalen, schamlosen Triumph des Widerwärtigen und Schändlichen an Boden gewinnt. In dieser Richtung stellte 1968 die Revolution an der Sorbonne eine Explosion weltweiten Ausmaßes dar, die all die in der heutigen Welt seit langem ausgebrüteten Krankheitserreger zum Ausbruch brachte. Man kann wohl behaupten, daß all diese Erscheinungen zusammen ein Zeichen ausgeprägter Proletarisierung im schlimmsten Wortsinn mit sich bringen.

Dennoch ist der alte, im Mittelalter geborene und in gewisser Hinsicht im Laufe der späteren Jahrhunderte weiterentwickelte Antrieb zu allen Formen der Tugend und Vollkommenheit nicht untergegangen. Im Gegenteil , dieser Antrieb bremst sogar bis zu einem gewissen Punkt die rasante Ausbreitung des entgegengesetzten Triebes. In einigen Kreisengelingt es ihm sogar, einigermaßen die Übermacht zu gewinnen.

Früher war es Aufgabe des Adels als Gesellschaftsklasse, diesen Antrieb aller Klassen zu Höherem zu pflegen, zu nähren und zu verbreiten. Dem Adeligen fiel diese Sendung in besonderer Weise im weltlichen Bereich zu, so wie sie dem Klerus in der geistlichen Ordnung zusteht.

Der Adelige war das Symbol dieses Antriebs, seine Personifizierung, in ihm konnte die ganze Gesellschaft wie in einem lebendigen Buch alles „lesen" , was unsere Vorfahren in ihrem Drang nach Erhabenem angestrebt und verwirklicht haben.

Das war der Adelige. Und von allem, was er je war, ist dieser Antrieb vielleicht das Wertvollste von allem, was er sich bewahrt hat. In unseren Tagen wenden sich immer mehr Menschen mit der stummen, drängenden Frage an den Adel, ob er fähig ist, diesen Antrieb zu wahren und ihn vielleicht sogar mutig auszuweiten und so die Welt vor dem Chaos und den Katastrophen zu retten, in die sie abzugleiten droht.

Wenn sich der Adelige des 20. Jahrhunderts dieser seiner Aufgabe bewußt bleibt und, beseelt vom Glauben und von der Liebe zu einer wohlverstandenen Tradition, alles daran setzt, sie zu erfüllen, wird er einen Sieg erringen, der dem seiner Vorfahren, die einst die Barbaren aufgehalten, den Islam übers Mittelmeer zurückgeschlagen und unter Gottfried von Bouillon die Tore Jerusalems gestürmt haben, in nichts nachsteht.

c) Der Punkt, auf den Papst Pius XIL den größten Wert legt

Wie wir gesehen haben, blieb dem Adel von allem, was er einst war und besaß, ,,nur" diese vielgestaltige Vorbildlichkeit und dazu in den meisten Fällen ein Rest jener unerläßlichen Voraussetzungen, die das Abgleiten in eine typisch proletarische oder proletarisierende Lage verhindern.

Wir haben „nur" gesagt. Tatsächlich ist es sehr wenig, wenn man bedenkt, was die Adeligen einst waren und besaßen. Und doch ist es viel mehr wert, als das, was viele unserer Zeitgenos sen an geschmackloser, angeberischer Vulgarität zu bieten haben.

Wie viel Fehler- und Lückenhaftes finden wir in den keineswegs seltenen v ulgären und geldschweren Korruptionsgeschichte n de s Jetset, in der Überspanntheit so mancher der noch vorhandenen Millionäre, in der egoistischen Haltung, der grenzenlosen Bequemlichkeit und dem eines Sancho Pansa würdigen Sicherheitsstreben gewisser Mittelständler und sogar Kleinbürger, wenn man es mit der noch übriggebliebenen Vortrefflichkeit der wahren Aristokratie v ergleicht.

ENTSTEHUNG DES ADELS 143

Auf di ese n Punkt legt Papst Pius XII. in seinen Ansprachen an das Patriziat und an den Ad e l vo n Ro m den größten Nachdruck. Der Papst zeigt hier den ehrenwerten Mitgliedern die ses S ta nd es und in ihnen der ganzen Welt, daß dieses hervorragende Merkmal dem Adel e in e n unverke nnbaren Platz unter den führenden Klassen verleiht, die von den neuen Lebe ns bedin gungen hervorgebracht werden. Einen Platz von unverkennbar religiöser, sittlic he r und a uch kultureller Tragweite, der aus ihm einen wertvollen Schutzschild gegen den s türmi schen Verfall der heutigen Welt macht.

d) Der Adel: Sauerteig und nicht nur Staub der Vergangenheitpriesterliche Sendung des Adels zur Erhebung, Läuterung und Befriedung der Welt

Bereits Papst Benedikt XV. ( 1914-1922) hatte kurz nach dem Ersten Weltkrieg in einer Ansprache, die er am 5. Januar 1920 an das Patriziat und an den Adel von Rom hielt, mit Worten glühenden Lobes deren hingebungsvolle, heldenhafte Haltung in den Tagen des dramatischen Konflikts hervorgehoben und auf die Bedeutung der Sendung hingewiesen, die sich ihnen in der folgenden Friedensperiode eröffnete.

Bei dieser Gelegenheit erwähnte der Papst ,, das Vorhandensein eines weiteren Priestertums, das dem Priestertum der Kirche ähnlich ist, nämlich das des Adels. "

Mit diesen Worten bezieht sich der Papst nicht nur auf das gute Beispiel, welches das Patriziat und der Adel von Rom im konkreten Fall während des Krieges gegeben haben. Seine Rede erhebt sich auf eine Ebene, die über eine lobende Erwähnung geschichtlicher Tatsachen hinausgeht, denn er behauptet, daß die Sendung des Adels ihrem Wesen nach einen priesterlichen Zug trägt. Wenn man bedenkt, daß dieses Lob von den Lippen eines Papstes kommt, wird deutlich, daß es größer gar nicht sein könnte.

Natürlich will der Papst hier nicht den Status eines Adeligen dem eines Priesters gleichsetzen. Er sagt nicht, daß beide Sendungen identisch seien, er spricht lediglich von einer starken Ähnlichkeit. Und er entwickelt dieses Prinzip, wie nachstehend zu sehen ist, mit Verweisen auf den heiligen Paulus.

Um aber die Authentizität der Pflichten eines Adeligen auf dem Feld des Glaubens und der Sittlichkeit hervorzuheben, bedient sich seine Lehre einer beeindruckenden Ausdruckskraft:

,, Neben dem , regale Sacerdotium' Christi habt auch ihr, Adelige, euch als „ genus electum" aus der Gesellschaft hervorgehoben. Und euer Wirken war es, das mehr als jedes ande re dem Wirken des Klerus ähnlich war und mit ihm wetteiferte. Während der Priester mit seinem Wort, seinem Beispiel, seinem Mut und mit den Verheißungen Christi Beistand, Stütz e und Trost spendete, erfüllte auch der Adel aufdem Kriegsschauplatz, im Sanitätsdienst, in den Städten und aufdem Land seine Pflicht. Und während sie kämpften, halfen, beitrugen und s tarben hielten Alte und Junge, Männer und Frauen den Glauben an die ruhmreichen Tradition e n ihrer Vorfahren und an die Pflichten ihres Standes hoch.

We nn wir also Genugtuung über das Lob verspüren, das den Pries tern der Kirche für ihr Wirke n in dieser leidvollen Kriegszeit ausgesprochen wird, ist es nicht mehr als recht, daß auch Wir da s Priestertum des Adels lobend hervorheben. Das eine wie das andere Priestertum s ind Vertreter des Papstes, weil sie beide in überaus trauriger Stunde Seinen Gefühlen treuen Ausdruck verliehen haben. "

Papst Benedikt XV. geht dann auf die Pflichten des Adels in der nun anbrechenden Friedenszeit ein:

„ Und Wir müssen sage n, daß dieses auch in Friedenszeiten verdie nstvoll fortgeführte Priestertum des Adels von Uns mit ganz besonderem Wohlwollen beobachtet wird! Ja, der in unheilvoller Zeit an den Tag gelegte Eifer gibt Uns die Gewißheit, daß das Patriziat und der

144 KAPITEL VII

Adel Roms auch in freudigeren Stunden ihren Vorsätzen die Treue halten und die heiligen Unternehmungen weiterfahren werden, aus denen sich das Priestertum des Adels ernährt!

Der heilige Apostel Paulus ermahnte die Adeligen seiner Zeit, so zu sein oder zu werden, wie es ihr Stand erheischt. Obwohl er ihnen auch empfohlen hatte, sich in Tun, Lehre, Sittenreinheit und Umsicht beispielhaft zu verhalten, ,in omnibu s te ipsum praebe exemplum bonorum op e rum in doctrina, in integritate , in gravitate' (Tit. 2, 7)ging es dem Heiligen Paulus noch einmal ganz besonders um die Adeligen, als er seinem Schüler Timoth eus schrieb, er solle die R e ich en ermahnen (,divitibus huius saeculi praecipe ' ) das Gute zu tun und reich an guten Werken zu werden (,bene agere , di v ites fieri in bonis operibus') (1 Tim. 6, 17).

Zu Recht kann man hier wohl behaupten, daß sich die Ermahnungen des Apostels in bewunderungswürdiger Weise den Adeligen unserer Tage ziemen. Auch ihr, ge liebte Söhne, habt die Pflicht, den anderen mit dem Licht des guten Bei!>piels voranzugehen , in omnibu s te ipsum praebe exemplum bonorum operum ' "

Nun könnte der Leser fragen, ob diese Pflichten auch für unsere völlig veränderten Tage gelten. Wäre es nicht objektiver zu sagen, daß derlei Pflichten h e ute den Adeligen wie irgendeinem Bürger sonst z ukommen? Die Bel e hrung Papst Benedikts XV. besagt gerade das Gegenteil. Denn er fährt fort:

,, Zu allen Zeiten oblag den Adeligen die Pflicht, die Unterweisung in Wahrh eit, in doctrina' zu fördern. Heute aber, wo die Verwirrung des Geistes, Gefährtin der Völkerrevolution, an so vielen Orten und in so vielen Menschen das wahre Vers tändnis von Recht, Gerech t igkeit und Liebe, von Religion und Vaterland in Vergessenheit geraten ließ, ist die Pflicht der Adeligen noch größer geworden, dafor zu sorgen, daß diese heiligen Begriffe, die unser tägliches Handeln leiten sollen, wieder geistiges Gemeingut der Völker werden Zu allen Zeiten war es die Pflicht des Adels, den Unschicklichkeiten in Wort und Tat zu w ehren, damit die eigene Verwerflichkeit den Untergebenen nicht zum Anreiz diente , in integritate , in gravitate'. Doch selbst diese Pflicht ist infolge der schlechten Sitten unserer Zeit stärker und schwerer geworden! Nicht nur die Kavaliere, auch die Damen sind deshalb angehalten, s i ch zum heiligen Bündnis gegen die Exzesse und d e n Mangel an Zurückhaltung der Mode zu vereinen und alles von sich fernzuhalten, was den Gesetzen christlicher Bescheidenheit widerstrebt, und es auch an anderen nicht zu toleriere n.

Und um schließlich das in die Tat umzusetzen, was der Heilige Paulus nach Unseren Worten vor allem den Adeligen seiner Zeit ans Herz gelegt hat will es Uns genug erscheinen, wenn die Patrizier und Adeligen Roms in Friedenszeiten nur weiterhin jenen Geist der Nächstenliebe a n den Tag legen, den sie in Kriegszeiten so eindeutig unter Beweis gestellt haben

Dann aber wird euer Adel nicht mehr nur als ein nutzloses Überbleibsel verga ngener Zeiten anzusehen sein, sondern als zur Wiedererstehung der verkommenen Gesellschaft aufbewahrter Sauerteig. Er wird Leuchtturm, schützendes Salz und Führer der Irrenden sein; nicht nur hier aufder Erde, wo alles - selbst der Glanz ruhmreicher Dynastien - welkt und untergeht, wird er Unsterblichkeit erlangen, sondern auch im Himmel, wo alles lebt und mit dem Urheber alles Edlen und Schönen vergöttlicht wird. "

Und zum Ende seiner Ansprache äußert der Papst bei der Erteilung seines apostolischen Segens den Wunsch, daß„ ein jeder mit dem seinem Stande eigenen Priestertum zur Erh ebung, Reinigung und Befriedung der Welt beitragen und den anderen Gutes tun möge, um

146 KAPITEL VII

sich aiif diese Weise den Zugang zum R eiche des ewigen L ebens zu sichern: , ut apprehendant veram vitam! "' 1

e) Bewunderer des Adels in unseren Tagen

Es soll hier noch einmal wiederholt werd e n , daß der Adelige, der sich seiner Vorfahren würdig erweist, stets e in Adeliger bleibt, der die besondere Aufmerksamkeit - und oft auch das Zuvorkommen - all derer, die mit ihm z u tun haben, auf s ich z ieht, mag er auch verachtet und gehaßt werden.

Ein Beispiel dieser Aufmerksamke it, die der Adel auf sich zieht, ist in der Tatsache z u sehen, daß es auch in unseren Tagen - und zwar mehr noch als in den zurückliegenden Jahrzehnten - in allen Gesellschaftsschichten Bewunderer des Adels gibt, di e ihm eine ergriffene Hochachtung, e in rührendes, fast könnte man sagen romantisches Interesse entgegenbringen. Man könnte eine endlose Reihe von bezeichnenden Fakten anführen, die beweisen , daß die Zahl derer, die dem Adel ihre Bewundemng zollen, in unseren Tagen zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Zwei Beispiele sprechen für s ich se lbst. Da is t einmal der bereits erwähnte Jub el d er B ege i sterung und Bewunderung z u nennen , mit dem 19 80 eine unzählbare Menge vo n Men sc hen überall auf der Welt di e Hochze it de s Prinzen von Wales mit Prinzessin Di ana im Fernsehen mite rl e bt hat. Ein zweites Beispiel ist da s stä ndige Anwachsen der Verkaufszahlen der Pariser Zeitschrift Point de Vue - Images du Monde, di e s ic h besonders der Berichterstattung über den a deligen Teil der Bevölkerung a ller Länder, ob Mo narch ie n oder Republiken, wi dmet. Während die A ufl age vo n Point de Vue 1956 noch bei 180 Tausend Exemplaren gelegen hatte, en-e ichte sie 199 1 bereits 515 Tausend. Und das Interessa nte ist, d a ß diese Zeitschrift sowo hl in kleinen Ortsc haften im Innern Portugals als auch in den volkstümlichen Stadtteilen moderner Metropolen ihre Leser findet. 2

j) Adel: These und Antithese

Wir h a lten es für angebracht, hi e r e inige Überlegungen über jene geldschweren Eliten anzustellen, die s ich, statt E i ge n schaften zu pflegen, wie s ie ih re r w irtschaftlichen Lage eher entsprechen würden, s ich dadurch herv01tun, daß s ie ihre v ul gären A n gewoh nheiten und Verhaltenswe ise n beibehalten.

Es ist eines der Merkmale des Privateigentums , daß die Eigentümer dazu n e igen , das Privateigentum in der Familie zu erhalten. Die Institution Familie trägt dazu mit allen Kräften bei.

So haben sich immer wieder Hande l s-, Industrie- und Presse-Häuser, j a soga r „Dynastien" geb ildet. Und jeder dieser Familienkonzerne ist in der Lage , einen ungleich g r ößeren Einfluß auf di e politi sc h e n Ere igniss e a usz uüben als der einfache Wähler ..... obwo hl doch vor dem Gesetz alle Bürger g l e ich s ind.

Bilden diese Familien einen neuen Adel?

Rein funktion e ll gese h e n könnte man di ese Frage v ielleicht bejahen. Doch i st d ies ni c ht der e in z ige Ges ichtspunkt und es ist a u ch ni cht unbedingt d er wichtigste. Konkret b etracht e t i st dieser n eue „Adel" vor a ll e m deshalb oft k ei n Adel und kann es a u c h nicht se in , we i l e in große r Teil seine r Mitglieder dies ni ch t se in w ill. Die egalitä r en Vo rurt e il e, di e vie l e dieser

1) ,,L 'Osservatore Romano" , 5.- 6 Jan ua r 1920 Der volle Wo rtl a ut di ese r Ansprache fi ndet sich in Dokume n te I I.

2) Das kann man in dem Dictio1111aire Encyclopedique QU!D un te r „ Le s j o urn aux se racontent" (Robert Laffont, 1991 , S. 12 18) lese n: ,,Die Gesch ichte von 'Point de Vue · ist die e iner Zeitscl,r!fi, d ie sich ganz ohn e finanzi elle Unte rs tiitzung und ohne Ve rkaufsfö rde rung Jahr um Jahr näher a11 die Gr11ppe der großen(,·a nzös ische n Illustrierten v o n int ern atio naler Bedeutung h eranarbe itet " Und die s g eschieht - muß man noch hi nzu fügen - obwo h l die Ze itsc hr ift in Kre isen der französ ischen Eli te durch a us kriti s ch betrachtet w ird

ENTSTEHUNG DES ADELS 147

1:a m iI ie n vo n Anfang an pflegen und zur Schau stellen, führen zu einer zunehmenden Differe nz ie rung vom herkömmlichen Adel, so daß sie für dessen Prestige unempfindlich werden und ihn oft gegenüber der Menge herunterspielen wollen. Dies geschieht nicht durch Aufhe bung von Merkmalen, die den herkömmlichen Adel von der Masse unterscheiden, sond e rn durch die Zurschaustellung eines Merkmals, das der neue „Adel" einsetzt, um eine demagogische Popularität zu pflegen, nämlich die Vulgarität.

Während der historische Adel eine Auslese war und sein wollte, legt diese moderne Antithese zum Adel oft gerade darauf Wert, sich nicht von der Masse abzuheben, sich unter ihren Verhaltensweisen zu tarnen und so der Rache des egalitären, demagogischen Geistes zu entrinnen, der gewöhnlich bis zum Überdruß von den Massenmedien selbst genährt wird, deren höchste Leiter und Verantwortliche oft paradoxerweise eben diesem antithetischen ,,Adel" angehören.

In der natürlichen Ordnung der Dinge bildet der Adel ein organisches Ganzes mit dem Volk, so wie der Kopf mit dem Köiper. Für den antithetischen Adel ist gerade die Tendenz bezeichnend, diese vitale Differenzierung möglichst zu vermeiden und vielmehr - wenigstens dem Anschein nach - in diesem amoiphen, leblosen Ganzen aufzugehen, das sich Masse nennt. 1

Es wäre eine Übertreibung, behaupten zu wollen, daß sich alle heutigen Plutokraten so verhalten. Doch ist es nicht zu leugnen , daß ein großer Teil von ihnen diesem Bild entspricht. Oft sind dies gerade die reichsten unter ihnen, denen ein aufmerksamer Beobachter übrigens keineswegs absprechen wird, daß sie sich besonders durch ihre Dynamik, durch ihre Macht und durch den Archetypus ihrer Merkmale hervortun.

9. Die Blüte der vergleichbaren Elitenzeitgenössische Formen des Adels?

Wenn wir von der bürgerlichen Gesellschaft, dem bürgerlichen Leben und seinen Eigentümlichkeiten sprechen, sind nicht jene Familien des Bürgertums eingeschlossen, in deren Kreisen sich im Laufe der Generationen eine echte Familientradition, reich an sittliche n, kulturellen und gesellschaftlichen Werten, herausgebildet hat.

Im Gegensatz zum antithetischen Adel haben die Treue zur Tradition der Vergangenheit und das Bemühen um ständige Vervollkommnung diese Familien zu wahren Eliten werden lassen.

In einer Gesellschaftsorganisation, die offen ist für alles, was sie an wahren Werten bereichert, haben sich diese Familien nach und nach in eine aristokratisierte Schicht verwandelt und gehen schrittweise allmählich in der Aristokratie auf. Oder aber sie bilden pari passu kraft der Sitten neben der eigentlichen, bereits bestehenden eine neue Aristokratie mit ihren besonderen Eigenheiten. Denen die an der Spitze der politischen Macht und gleichzeitig auch des gesellschaftlichen Einflusses stehen, wie etwa den Monarchen, steht es zu , diese Art von höchst achtenswerter Vervollkommnung der gesellschaftspolitischen Struktur aufnahmebereit, maß- und taktvoll zu lenken. Dabei geht es darum, mehr den die Richtung behutsamer gesellschaftlicher Veränderungen beseelenden und die Wünsche der organischen Gesellschaft zum Ausdruck bringenden Bestrebungen zu lauschen, als den Weg geometrisch durch den Einsatz von Dekreten zu ebnen.

Unter diesem Blickwinkel schließt das Vorhandensein aristokratischer Eliten das volle Aufblühen anderer Eliten nicht eifersüchtig und engstirnig aus, sondern dient ihnen vielmehr als Leitbild für fruchtbare Analogien und als Ansporn zu brüderlicher Vervollkommnung.

KAPITEL VII
I ) Vgl. Kapitel lil

Den abwertenden Sinn des Begriffs Bürgertum verdienen jene Bereiche dieser Gesellschaftsschicht, die nur darauf aus sind, so schnell wie möglich auf eine wirre Modernität zuzusteuern , und die dabei die Bildung eigener Familientraditionen und ihre Weiterführung und Vervollkommnung im Laufe der Generationen vernachlässigen. Selbst wenn einige Generationen vor ihnen im Reichtum oder einfach im Komfort gelebt haben sollten, bilden sie nichts als eine Art „Arriviertenschicht" stets in einem Wandel begriffen , der seinen Ursprung in der autophagischen Entschlossenheit hat, die eigenen Gewohnheiten im Laufe der Zeit unter keinen Umständen zu verfeinern!

a) Ein Thema, das die Päpste nicht angesprochen haben: gibt es vielleicht „zeitgemäße" Formen des Adels?

Die bisher angestellten Betrachtungen führen nun zu einem Aspekt der vorliegenden Problematik, die Papst Pius XII. und seine Vorgänger beziehungsweise Nachfolger vielleicht aus kluger Rücksichtnahme nie angesprochen haben.

In den verschiedenen Kapiteln dieses Werkes haben wir dargestellt, daß Papst Pius XII. dem Adel in unseren Tagen eine wichtige Rolle zuerkennt. Der Papst möchte ihn demnach als eine der führenden Schichten der heutigen Welt erhalten wissen. Und darum öffnet er ihm die Augen für das, was ihm geblieben ist und für die Art und Weise, wie er das Übriggebliebene zum Überleben und Handeln einsetzen kann, damit er nicht nur seine heutige Stellung erfolgreich verteidige, sondern vielleicht sogar einen geräumigeren Platz an der Sonne auf den Höhen des heutigen Gesellschaftskörpers zurückgewinne .

Die Aufgabe, die damit dem Adel zuerkannt wird, ist nun aber so bedeutend, daß ihm der knappe und derart angefochtene Rest dessen, was er einst besaß, normalerweise nicht ausreichen dürfte. Es müßten also Mittel und Wege gefunden werden, die es ihm erlaubten, seine Aktionsgrundlage schrittweise z u erweitern. Auf welche Art wäre dies wünschenswert? Bis zu welchem Grad wäre dieses Wünschenswerte dann unter den heutigen Bedingungen auch machbar?

Warum sollte man zum Beispiel nicht an eine Gesellschaft denken, die dem Adel großzügig eine Grundlage für seine Existenz und für die Fülle seines wohltätigen Wirkens bereitstellt, wenn auch vielleicht unter „zeitgemäßen" Formen, die nicht unbedingt auf dem Besitz von Grund und Boden in Stadt und Land beruhen müßten? Warum sollte man ihn als Träger eines so wertvollen Faktors wie der Tradition zum Beispiel nicht offiziell z u einem besonders gefragten und geachteten Berater derer bestellen, welche die Lenkung der heutigen Welt in Händen halten?

Es ist nicht auszuschließen, daß Papst Pius XII. reiflich an diese Lösung gedacht hat, dann aber die Schlußfolgerungen seiner Überlegungen aus kluger Rücksichtnahme nicht geäußert hat.

Da Papst Pius XII. den heutigen Problemen des Adels eine so nachdrücklic he Aufmerksamkeit geschenkt hat, darf man wohl annehmen, daß ihm auch die folgenden Erwägungen durch den Kopf gegangen sind.

b) Echter Adel, wenn auch von geringerem Glanzgeschichtliche Beispiele

Mit der Zeit, vor allem aber seit dem Ende des Mittelalters, entstanden neben dem eigentlichen Kriegs-, Herren- und Landadel weitere, ebe nfalls authentische Adelsformen, wenn sie auch von weniger Glanz umgeben waren. Dafür gibt es verschiedene Beispiele in europäischen Ländern.

In Portugal eröffnete die Bildung den Zugang zum Adelsstand. Wer an der berühmten Universität von Coimbra das Studium d er Theologie , der Philosophie, des Rechts, der Me-

ENTSTEHUNG DES ADELS 149

dizin oder der Mathematik abgeschlossen hatte, wurde persönlich auf Lebenszeit in den Adelsstand erhoben, konnte diesen Titel aber nicht vererben. Hatten jedoch drei aufeinander folgende Generationen derselben Familie eines der genannten Fächer in Coimbra studiert, so wurde der Adelsstand normalerweise erblich und konnte durch eine Bitte an den König und durch seine entsprechende Genehmigung an die Nachk01mnen we itergegeben werden, auch wenn diese selbst nicht die genannte Universität besucht hatten. 1

In Spanien brachte die Einsetzung in bestimmte öffentliche, militärische oder kulturelle Ämter und unter Umständen sogar einfach die Ausübung bestimmter, dem Lande nützlicher Handels- und Produktionstätigkeiten ipso facto die Erhebung in den Adelsstand mit sich ; dieser Adelsstand konnte sowohl persönlich und auf Lebensze it verliehen werden als auch erblichen Charakter tragen. 2

In Frankreich gab es neben dem Adel im Talar, der noblesse de rohe , der se in en Ursprung im Richterstand hatte, den niedrigen Glockenturm-Adel oder, genau gesagt, die noblesse de cloche, das heißt der Glocke. Der Name rüh1i daher, daß e s in den Gemeinden Brauch war, die Kirchenturmglocke zu läuten, um die Leute zur Versammlung z usammenzurufen. Die noblesse de cloche wurde gewöhnli ch von bürgerlichen Familien gebildet, die sich um das Gemeinwohl kleinerer Städte verdient gemacht hatten. 3

1) Vgl. LUIZ DA SJLVA PEREIRA OLIVEIRA, Privilegios da Nobreza e Fida/guia de Porrugal. Oficina de Joäo Rodrigues Neves , Lissabon 1806, S. 67-81.

2) Aufg nmd d es bekleideten Amtes konnten „hohe Diener des Königshauses, die Erzieherinnen und A111111en der Infamen. die Vögte von Haus und Hof: die Vorsitz e nden, Räte und Richter der königlichen Kanzleien" in den Ad el erhoben werde n (vgl. VICENT E MARIA MARQUEZ DE LA PLATA und LUIS VALERO D E BARNABE, Nob i/iaria Espa,10/a - Origen. Evoluci6n, lnstituciones y Probcmzas , Prensa y Edici o nes lberoameri canas, Madrid 1991, S. 15) . In di ese m Werk , das in der Escuela de Ciencias Nobiliarias, Hernldicas y Genealogicas von Madr id a ls Handbuch benu tz t wird , find e t de r Leser ei ne umfas sende, d idakt isc h aufgebaute Übersicht über das h ier angesprochene Thema. Zu den für mi litär ische Dienste verliehenen Adels titeln kann a ls Beispiel ange führt werden: ,. Philipp IV besti111111t in dem königlichen Erlaß vom 20 August 163 7, daß jede m Offizier, der ein Jahr lang im Kriegsdien st tätig war. das Adelsprivileg zustehen so ll. undj e der. der vier Jahre lang g edient hat soll seinen Adelstitel auch an seine Nachkommen vererben können Persönliche Adelstite l we rden allen Off izier en des Heeres in der königlichen Order vom /6. April 1799 zuerkannt, 1111d 0111 18 Mai 1864 wird angeo rdn e t. daß die Anrede D o n und Edler d e n Söhnen ein es Hauptmanns und höheren Offiz iers sowie d en Enkeln eines Oberstle utnants und de11 im H eer die 11 e11de 11 Ede/111ä1111em gege11iiber zu gebrauche 11 sei" (V IC E NT E DE CADENAS Y VICENT, Cuademos de Doctrina Nob ilia ria, lnst ituto Salazar y Castro , C.S.I.C. - Asoc iaci6n de Hidalgos a F uero de Espa ii a , Ediciones Hida lguia, M a drid 1969, Nr. 1, S. 28). Der Cbdig o das Sete Partidas von Alfons X , dem Weisen ( 1252- 1284), ve rl ieh se inerse its - neben anderen Priv ileg ie n fiir i m Dienste der Ku ltur tätig e Männer - den Grafent itel Justizräten, die ihre Tätigkeit üb er zwanz ig Ja hre lang a usgeüb t hatten (v gl. BARNABE MORENO DE VARGAS , Dis c ursos d e /a Nobleza d e Espa,la. lnsti tuto Salazar y Castro, C.S.l.C. , Edi c ion es 1-1 id alguia, Madrid 197 1, S 28!). Vicente de Cadenas y Vicent faßt in se inem wichtigen Werk Ap1111tes de Nobiliaria y Nocio11 es d e Ge11ea/ogia y Heraldica die Kri te rien für die Verleihung von Adelstiteln wie folgt zusammen: ,, Das Prieste ramt, die A 11s ii b1111g ehrenhafter A'mter. der Waffendie11st, die Schrifistellerei die Verlei/11mg e in es Titels. H eirat, in bes timmten Fälle11 die Ge burt vo11 e iner Edelfrau oder in einem b es timmten Territorium , der Erwe rb g roße r Verdienste 11111 die M e n schh eit, das Vaterland oder de11 H errscher, die A11fopfenmg der e igenen Person oder Güt er zugunsten hoher ide ale u sw. ware n stets e in ger echte r Gmnd zur Aufnahme in den Adels stand 1111d sollten dies auch weiterh in bleiben, geht doch die allgemeine Te nde11 z dahin. d e n Gm11dstock des Adel.,stam/es, des gehildetste11 1111d /eidvollste11 ei11er Nation. zu erweitern und so sei11e Tugenden z 11111 Wohle d er GemeinschC1/i zu nutzen " (lnstituto Lu is de Sa laza r y Castro, C S. l. C., Primer Curso de la Escucla de Ge nea logia, Hcraldica y N o bi liaria, Ediciones Hidalguia, 2 Aufl. , Madrid 1984, S. 30) Auf di e Erhebung in den Adelsstand fti r Verdienste in der Indu s tri e wird un ter 9 c näher eingegangen. ·

3) Tasiichli c h ko nn te der Ade ls ti te l durch d ie Ausübung verschiedene r Äm ter und Aufgaben erworben werden , so e twa durch M il itärd ienste, hö fische Dienste (Sekretär oder Notar des Königs) , Steuerverwa ltung, Hochschulämter usw . In Frankreich ist ma n der M e in ung, d a ß es sehr schwer sein dürfte, eine komplette Liste a ll der Funktionen aufz uste llen, die im Ancie11 Reg ime z u r Adelung fü hre n konnten P hi lippe du Puy de Clinchamps hat etwa in seinem Buch La No blesse, auf das wir uns b e i dieser Aufzählung stü t ze n, be hauptet , d aß„ es in der Geschichte d es Adels kei11 verwicke lteres Kapitel gibt als das der A d e /u11g infolge der A11siibu11g e in er Funktion" (Collection „Que sais-je?", Presses Un iversitaires de France, Pari s 1962 , S 20, 22) Diese Behauptung will s ic h offens ichtlich nich t als Kritik verstanden wissen , sondern ledigl ich a ls Fests tellung, denn alles Organische und Lebendige neigt zur Ko mpl exität und oft sogar zur Kompli z iertheit. Groß ist jedenfalls der Unterschied, wenn man dam it die kalten, lapidaren Beamtenverz eichnisse des Staatskapitalismus ode r gewisse Unternehmens -P yra mi den d es private n Großkapita lismus verg leicht

150 KAPITEL
VII

trlintt ~«gtbl«tt.

O~en : Werner von Siemens in der Z~rchnung von lsmael Gentz, 1887.

Links: Das Ka?elschiff „ Faraday" , dessen Bau Siemens in Auftrag ~egeben hat zur Verlegung von uberseeischen Kabeln.

Unt~ Qes gewaijigEL Siemens We~I< iA Münche -P-Jrla:t = .;

i"B er 1i 11; ~ieuftng, bcn 8. Wlai 1888. X VII. ~alJrgang.

c) Neureiche, Neuadelige

Die Adelung ging übrigens auf eine Weise vonstatten, die keine bemerkenswerten Probleme aufwarf. Das läßt sich vor allem an gewissen Situationen deutlich nachvollziehen.

So beschloß etwa Carlos III., König von Spanien (1759-1788), angesichts der wachsenden Industrialisierung verschiedener Nationen auf dem europäischen Kontinent und angesichts des bedauernswerten Rückstandes Spaniens auf diesem Gebiet den indu strie llen Aufbau seines Landes durch einen königlichen Erlaß vom 18. Mai 1783 zu fördern. Unter anderen Maßnahmen ordnete er dabei an, daß alle Untertanen, die durch die Gründung neue r oder durch die Erweiterung bereits bestehender Industrien ihr Kapital und ihre Kräfte erfolgreich im Dienste des Gemeinwohls investierten, gewissermaßen automatisch in den Adelsstand erhoben werden sollten. 1

Der Beschluß des Königs regte tatsächlich e ine große Zahl von Anwärtern auf den Adelsstand dazu an, eigene Industrien aufzubauen. Man sieht also, daß Adel nicht a ll ein im Gebrauch eines durch königliches Dekret verliehenen Titels besteht, sondern daß es auch und vor allem um ein s ittliche s Erscheinungsbild geht, das für den Ade lsstand charakteristisch ist. So ist es auch durchaus verständlich, daß sich einige durch den königlichen Erlaß zu Neuadeligen beförderte Neureiche beim Erwerb dieses Profils beso nders schwertaten. Es ist ja bekannt, daß ein solches Profil nur aus einer langen Fami li entradition hervorgehen kann, und gerade die pflegt dem Neureichen wie dem Neuadeligen zu feh len, während wichtige Züge dieses Erscheinungsbildes durchaus in traditionellen und weniger reichen bürgerlichen Eliten anzutreffen sind.

Die Zufuhr neuen Blutes konnte dem herkömmlichen Adel unter Umständen einen Zuwachs an Vitalität und Kreat ivität ve rschaffen. Sie brachte aber auch die Gefahr mit sich , vulgäre Züge und eine für Emporköm mlinge typische abschätzige Haltung gegenüber den alten Traditionen einzuschleusen und damit der Integrität im Erscheinungsbild des Adels z u schaden. Damit lief die Authentizität des Adels in ihrer Identität mit sich selbst Gefahr, beeinträchtigt zu werden.

Zu vergleichbaren, ebenfalls durch ana lo ge Situationen hervorgerufene n Entwicklungen kam es auch in verschiedenen anderen Ländern Europas. Im a llgemeinen hielten s ich die Folgen jedoch den jeweiligen Umständen gemäß in engen Grenzen.

Vor allem übte die Durchdringung der damaligen europäischen Gesellschaft m it den Werten der Aristokratie noch eine se hr tiefgehende Wirkung aus. Der neureiche Neuadelige konnte s ich in der neuen gesellschaftlichen Stellung kaum woh lfühlen , wenn er sich nicht bemühte, s ich wenigstens zu einem guten Teil d e m Profil und dem Verhalten dieser Gese llschaftsschicht anzupassen. Die Türen vie ler Salons standen ihm nicht ohne weiteres offen, sodaß er sich stets einem aristokratis ierenden Druck ausgesetzt sah, der auf der anderen Seite noch durch die Einste llung des einfachen Volkes verstärkt wurde. Denn dieses hatte sehr wohl ein Gefühl für die lächerliche Lage eines fri sc h gebackenen Grafen oder Marquis und brachte dies auch durchaus in spöttischen Bemerkungen zum Ausdruck, die in den Ohren des Unglücklichen äußerst unangenehm klingen mußten. Di e N euadeligen gaben sich daher alle Mühe, sich ihrer neuen Umgebung anzupassen und nicht etwa gegen die Eigenheiten des ihnen noch fremden Milieus aufzubegehren . Vor a ll em aber suchten sie ihren Sprößlingen eine echt aristokratische Erziehung zukommen zu lassen .

ENTSTEHUNG DES ADELS 153
1) Vgl. VICENTE DE C AD ENAS Y VICENT, Cuadernos d e Do c tr i11 a Nob iliaria, Nr 1, S. 35- 38

Diese Umstände erleichterten das Aufgehen der neuen Elemente im alten Adel, sodaß die Unterschiede zw ischen dem traditionellen Adel und den Neuadeligen im Laufe e iniger Generationen zu verschwinden pflegten. Die Zeit selbst so rgte dafür, daß sie aufhörten ,,Neulinge" zu sein. Und die Verheiratung von jungen Adeligen mit klangvollen, geschichtsträchtigen Namen mit den Töchtern oder Enkelinnen n e ureiche r Neuadeliger war für manche Familie ein willkommenes Mittel , den wirtschaftlichen Ruin abzuwehren und dem Familienwappen neuen Glanz zu verleihen.

All dies geschieht auch heute noch in einem gewissen Umfang. Doch der stark auf Gleichheit ausgerichtete Drang der modernen Gesell sc haft und weitere Faktoren, die wir an mehreren Stellen dieses Buches dargest e llt haben, würde eine sozusagen automatische Adelung, wie sie in den Zeiten Carlos III. gehandhabt wurde, d e m Adel mehr schaden als nützen , denn ze ige n sich doch die Neureichen heute immer we niger bemüht, auch wirklich Neuadelige zu werden.

d) Besteht im Rahmen der heutigen politischen Gegebenheiten die Möglichkeit der Entstehung neuer Erscheinungsformen des Adels?

Es bleibt di e Frage, ob es in der heutigen Zeit n eu e Formen des Adels mit e inem anderen hierarchischen Aufbau entsprechend den e b e nfalls anders liegenden Aufgaben geben könnte, vorausgesetzt natürlich , daß alle darauf ausgerichtet sind, e in e Stufe jener Fülle an Vorbildlichkeit z u erreichen, die wir mit jener e rblich e n Abfolge verbinden, die noch heute den als solchen anerkannten Adel auszeichnen.

Welche Mittel und Wege gäbe es andererse its, im Rahmen d e r heutigen politischen Voraussetzungen und unabhängig von der Erbfolge Menschen, die s ich um das Gemeinwohl in h e rvorragender Weise verdient gemacht haben, den Zugang zu neu e n Ad e lsfo rmen z u ermöglichen, sei es, wei l sie beso nd e re Talente aufweisen oder weil der Glanz ihrer Persönlichkeit sie hervo rhebt, se i es weil sie sich durch helde nhafte Se lb s tlo sig keit und ritterlich en Mut oder schließlich durch außerordentliche Schaffenskraft auszeichnen?

Sicher ist, daß es im Mittelater und unter dem Ancien Regime immer die Möglichkeit gab, Menschen in die Reihen des Adels aufzunehmen , die, wenngleich aus b esc h e id e n s te n Verhältnissen stammend, dennoch unzweifelhaft bewi ese n hatte n, daß s ie die e rford e rlichen Eigenschaften in außergewöhnlich hoh e m Maße besaß e n. Dies tr ifft z um B e ispi e l auf manchen Krieger z u, d e r s ich im Kampf durch seinen Mut oder se ine taktische Kompetenz hervorgetan hat.

e) Eine neue Stufe in der gesellschaftlichen Hierarchie

Der durch diese Überlegungen erweiterte Hori zo nt läßt den Unterschied zwisc hen Adel und Bürgertum e in bißchen flexibler erscheinen als e r es früher war und sc hafft v ie lleicht Platz für e in te rtium genus, das ebenfalls als adelig bezeichnet werden kann , allerdings würde es sich hier um einen Adel diminutae rationis handeln, der dem e inst in Frankreich üblichen Talar- und Glockenturm-Adel ähnlich wäre.

Nun stellt s ich hier allerdings eine Frage, die mit dem B egriff Adel zu sa mmenhängt.

So wie die fruchtbare Vitalität des Gesellschaftskörpers eines Landes einen n eu e n Adel h e rvorbringen kann, ist sie auch in der Lage, a u s den unteren Schichten der Gesellschaft neue, nichtadelige Klass e n hervorgehen z u lassen. Dies e Erscheinung kennen w ir zum B e ispiel aus der Welt des Handwerks, wo moderne Technologien o ft den E insatz höchst spezialisierter Arbeitskräfte erfordern, deren Verantwortung so weit geht, daß sie e in e A1i dritte Kategori e zwisc hen der geistigen und der körperlichen Arbeit bilden.

Diese Situation stellt den Leser vor neue Gegebenheiten, die viel Takt und jene kluge Langsamkeit verlangen, wie sie den organi schen Ge sellschafte n e ige n is t , um so, gestützt

154 KAPITEL VII

auf feste Grundsätze, auf Gerechtigkeit und Sachlichkeit, vielleicht neue Stufen in der gesellschaftlichen Hierarchie einzuführen.

Wenn dem so ist, fragt sich allerdings, was genau das Wort Adel angesichts dieser packenden Hierarchisierungsarbeit, die der Lauf der Ereignisse von geeigneten Menschen in unseren Tagen verlangt, besagen will. Wenn, mit anderen Worten, eine neue Stufe im Aufbau der Gesellschaft die Bezeichnung adelig verdienen soll, was muß sie dann für Kennzeichen aufweisen? Und welche anderen Merkmale darf sie nicht haben, wenn sie auf eine so noble Bezeichnung Anspruch erheben will?

Die Frage umfaßt so viele Zusammenhänge, die sich außerdem in einem fortwährenden Zustand der Entwicklung befinden, daß es vorerst nicht möglich ist, eine einfache, endgültige Antwort darauf zu geben. Dies trifft vor allem dann zu , wenn man berücksichti gt, daß die Lösung von Problemen dieser Art oft besser aus dem einvernehmlichen Handeln der führenden Köpfe und der gewohnheitsmäßigen Entwicklung der Gesellschaft hervorgeht als allein aus den Überlegungen von reinen Theoretikern, Technokraten usw.

Um die interessante Frage nur kurz anzuschneiden, soll hier lediglich angemerkt werden, daß die Bezeichnung adelig allein solchen Gesellschaftsgruppen zuerkannt werden darf, die z um ursprünglichen Modell und Archetypus des im Mittelalter entstandenen Adels bedeutende Analogien aufweisen, denn an diesem Standard muß sich auch heute noch jeder wahre Adel orientieren.

Das aber bedeutet, daß eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen sind, deren glückliche Konvergenz die Entstehung neuer Erscheinungsformen des Adels ermöglicht. Dazu gehört die besonders enge und starke Bindung des von einer Gesellschaftsschicht angestrebten Ziels an das regionale und nationale Gemeinwohl; außerdem die Bereitschaft der Mitglieder dieser Schicht zur selbstlosen Aufopferung ihrer Rechte und Interessen zugunsten eben dieses Gemeinwohls; auch die wahre Vorbildlichkeit der Mitglieder di ese r Gesellschaftsschicht in ihren g e wohnheitsmäßigen Tätigkeiten; die konsequente, mustergültige Anhebung des menschlichen, sittlichen und gesellschaftlichen Maßstabs ihrer Mitglieder; eine Lebensführung, di e der besonderen Wertschätz ung entspricht, mit der im gesellschaftlichen Umgang der Dank für den Einsatz im Dienste d es Gemeinwohls zum Ausdruck kommt; und schließlich ausreichende und der gesellschaftlich e n Stellung angemessene finanzielle Verhältnisse. 1

j) Die Hoffnung, daß der von Papst Pius XII. vorgezeichnete Weg nicht in Vergessenheit geraten möge

Diese durch die Vertiefung in die An sprachen von Pap st Pius XII. über den Adel h e rvorg e rufenen Überlegungen sind Ausdruck der Hoffnung. Der Hoffnung nämlich, daß d e r v on jenem Papst vorgezeichnete Weg sowohl vom Adel nicht vergessen und unterschätzt werden möge als auch die Aufmerksamkeit jener echten, wenn auch nicht im eigentlichen Wortsinn zum Adel gehörenden gesellschaftlichen Eliten finden möge, deren Lage immerhin der des Adels vergleichbar ist und die nicht nur in Europa, sondern auch in den drei Amerikas , i n Australien und anderswo z u finden sind.

So sollen denn auch die abschließe nden Worte dieses Kapit e ls Hoffnung und nicht nur eine verständliche Nostalgie ausdrücken.

ENTSTEHUNG DES ADELS 155
1) Als Bei sp ie l fü r di e He rau s bil du ng ve rg lei chba re r trad it ionell er El iten so wi e n eu e r Erscheinu n gsfor men de r A ri s tokrat ie w ird im Anha n g I die Ent ste h u ng und E n twi c k lun g der ar is tokratisc h e n E li ten in Brasi lien beschrieben

Auf dem Gipfel der religiösen, sittlichen und ideologischen Krise der heutigen Welt: für den Adel und die traditionellen Eliten

ein geeigneter Moment zum Handeln

7""

.1. ::ei Weltkriege hervorgerufenen E r schütte rungen an den Tag gelegt haben , kann man doch nicht die Feststellung v ermeiden, daß die Erholung von den Schäden, die vor allem der letzte der beiden Krie g e angerichtet hatte, einer großen Anstrengung b e durfte und viel Zeit in Anspruch genommen hat.

t:z der bewundernswerten Vitalität, die die europäischen Vö lke r nach d e n durc h

Während der Jahre, in den e n Papst Pius X II . seine fünfzehn Ansprachen a n das Patriz iat und an den Adel von Rom hi e lt (1940-1958), k a m die nach Krie gsend e bego nnene wi rtschaftliche Erholung Europas nur langsam voran, sodaß d e r Papst sich in seiner väte rlich e n Sorge immer wieder gezwu ngen sah, dies e kriti sc h e Lage auch in sei nen d enkwü rd ige n Reden anzusprechen.

In dem darauffol ge nde n Jahrzehnt b esc hleunigte s ic h dann allerdings d er Aufstieg der eu ropäisch en Wirtsc haft, und es kam zu den berühmten „ Wirts chaftswundern", w ie man den damaligen Aufschwun g etwa in Deutschland und in Ita lien z u ne nn e n pflegt. Diese Abfolge von „Wi rtschaftswundern" pflanzte sich üb e r d ie Jahre fort und wirkt s ic h n oc h he ute im nachgeholten wirtschaftlichen Wac hstum vo n Ländern wie Spanien und Portugal a us , die bi slang kaum am Wohlstand de s Kontinents teilgenommen h atte n.

Mit dem plötzlichen Anstieg des Wohlstandes, dessen Höhepunkt de r 195 8 verstorbene Papst Pius XII. nicht mehr erlebt hat, den aber die Konzilskonstitution Ga udium et Spes 1965 vo ller Genugtuung begrüßte, veränderte sich di e a llge meine Lage in Europa erheblich.

Die Geschichte w ird de r e inst e inma l genau sagen können, we lch e Rolle d er Adel und and ere traditionelle E lite n be i dieser Wiedererstehung gespielt h abe n . Dann w ird es v ielle ic ht auch möglich sein, den Einfluß jener so bede utsa m e n, v on P apst Pius XII angemahnten Ri c htlini en auf das Verhalten dieser Schichten beim Wie d eraufb a u der Wirtscha ft in Europa besser abzuschät ze n.

ABSCHLUSS

Ohne uns hier ein endgültiges Urteil darüber anmaßen zu wollen, scheint uns diese Rolle doch beachtlich, wenngleich proportional zu dem Handlungsspielraum der Aristokratie und der entsprechenden Eliten in den jeweiligen Ländern gewesen zu sein.

Sicher ist jedenfalls, daß sich 1989, als Sowjetrußland und die übrigen Staaten Osteuropas das tragische Ausmaß des Mißerfolges aufzudecken begannen, in den sie die Diktatur des Proletariats und der Staatskapitalismus geführt hatten, die Staaten Europas , die Vereinigten Staaten und andere Länder überraschend schnell bereit gezeigt haben, mit enonnen Geldsummen behilflich zu sein, von denen ein beträchtlicher Teil mit großer Wahrscheinlichkeit nie wird erstattet werden können. Bei dieser Gelegenhe it konnten die großen demokratischen Länder mit der kompetenten Orientierung und Unterstützung der Privatinitiativ e den für sie triumphalen Kontrast zwischen dem Westen und dem Osten vor der g a nzen Menschheit deutlich machen.

Was für eine Enttäuschung sollte jedoch jene erwarten, die angesichts der in großen Zügen beschriebenen Lage angenommen hatten, daß di e von den westlichen Ländern aus den vorausgegangenen Jahrzehnten ererbten Krisen mit dem heraufziehenden Wohlstand gelöst seien, als diese Krisen sich in Wirklichkeit infolge neuer Faktoren noch verschlimmerten.

Die törichte Behauptung, daß der Wohlstand stets die Hauptstütze der Ordnung und der Wohlfahrt der Völker, die Armut aber die Hauptursache aller Krisen sei , die über die Völk e r hereinbrechen werden leicht von den Ereignissen im Nachkriegseuropa widerlegt.

Die Wunden, die der Krieg geschlagen hatte, waren bereits größtenteils vernarbt, und der Alte Kontinent war in neuer Blüte erstanden, als 1968 jene schreckliche Krise an der Sorbonne ausbrach. Hier wurde auf einmal deutlich, daß sich in der Jugend der stürmi sche , zersetzende Einfluß gewisser Philosophien breitgemacht hatte , die bi s her im allgemeinen als extravagante Äußerungen gewisser Snobs aus den Bereichen der Kultur und der g e hobenen Mondänitat angesehen worden waren.

Das Ausmaß der Resonanz, die das Phänomen „Sorbonne" in der ,fortsc hrittlic h en" Jugend Europas und der ganzen Welt auslösen sollte, machte deutlich, was für eine tiefe Kluft sich hier aufgetan hatte. Der bereits von Papst Piu s XII. angeprangerte Verfall der Sitten stieß gerade in diesem Umfeld des Reichtums und der Ex travaganz auf ein so gün s tige s Klima, daß die moralische Krise des Westens die freie Welt in eine schlimmere Situation versetzte als die vorausgegangenen Krisen, die ja lediglich ode r vorrangig wirtschaftlicher Natur gewesen waren. Das Ausmaß des Wohlstandes wird daher mit vollem Recht von hellsichtigen Beobachtern , die sich auf stichhaltiges Material berufen können, als ein wichtiger Faktor der tragischen Zuspitzung der moralischen Krise angesehe n. 1

Da auch die katholische Kirche , Stütze und Fundament der Sittlichkeit und der wahre n sozialen Ordnung, gerade jetzt eine Krise von bis her nie gekannter Reichweite durchmacht, hat sich die Lage nur noch verschärft. 2

Später gesellten sich zu dieser Perspektive noch zwei weitere wichtige Ereignisse: der Golfkrieg und die siegreiche Opposition der baltischen Völker - vor allem aber der ruhmreiche Widerstand des litauischen Volkes - auf dere n Weg in die Unabhängigkeit. Es wäre ein schwerer Fehler, würde man die Bedeutung dieser Ereignisse unterschätzen, geht es doch

158 ABSCHLUSS
TFP-Schw
tli ch t. 2
Ka pite l 1, 4.
1 In d e m Buch Espaiia , an estes iada sin p e r cebirlo, amord azada si11 q u e r er lo, extraviada s in s a berlo - La obr a de/ PSOE (Ed itorial Ferna nd o III , EI Sa nto , Ma d r id 1968, S. 109- 1 13) w ird di es e s P hä nomen im 1-l inblick a uf d ie Ere ign is se in Span ien beschrieben Eine Zu sa m menfa ss u ng de s Werke s wurde a uc h vo n d en au f d e n fünf Kontin e nt e n bestehende n a uto no me n
este rorga n isatione n in ve rs c h ie d e nen S p rachen veröffen
Vgl.

vor allem im Baltikum um Grundsätze der internationalen Moral und Ordnung. Gerade deshalb hat das Geschehen im Bewußtsein der Völker eine durchaus verständliche, nachhaltige Ergriffenheit ausgelöst, wie etwa die von den TFP-Gesellschaften in 26 Ländern durchgeführte Unterschriftensammlung mit ihren beeindruckenden 5.212.580 Unterschriften bezeugt.'

Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Arbeit befindet sich die Menschheit in einer Situation schwerwiegender Ungewißheit.

Die von Papst Pius XII. beschriebene Weltlage hat sich geändert; vor allem sind die wirtschaftlichen Probleme infolge der bereits erwähnten„ Wirts chafts wunder" weit geringer geworden.

Gleichzeitig haben sich seither jedoch zwei bedeutende Krisen immer mehr zugespitzt. Da ist einmal die innere Krise des Imperiums, das sich einst hinter dem Eisernen Vorhang erstreckte, und dann ist da die - ebenfalls innere - Kri se der katholischen Kirche zu nenne n.

Gerade die letztere ist eine besonders schmerzliche Krise, hängt sie doch im Wesentlichen mit den auf diesen Seiten erörterten Problemen z usammen. Angesichts des Ernstes und des Ausmaßes dieser Krise wollen wir hier nicht näher auf sie eingehen, denn ein solches Unterfangen würde ein eigenes Buch, wahrscheinlich sogar mit me hreren Bänden, verlangen.

Von der zuerst genannten Krise weiß die ganze Welt. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes haben sich die Nationen, die einst die UdSSR bildeten, bereits von di eser losgelöst. Dabei kommt es zusehends zu mehr und mehr Reibereien zwischen ihnen, die angesichts der Tatsache, daß einige dieser Nationen über Atomwaffenarsenale verfügen, durchaus gefährliche Ausmaße annehmen können.

Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß in einen im Innern der ehemaligen UdSSR ausgelösten Konflikt auch wichtige westliche Staaten verwickelt würden, und das könnte natürlich schnell apokalyptische Folgen nach s ich z iehen.

Eine dieser Folgen könnte leicht die Flucht ganzer, von Krieg sa ngst und drohendem Hunger getriebenen Völker aus dem Osten nach Mittel - und Westeuropa sein. Eine solche Abwanderung aus dem Osten könnte durchaus zu äußerst kritischen und kaum absehbaren Verhältnissen führen.

Um das Bild ab z urunden, müss e n angesichts der immensen Probleme, die da auf Westeuropa z ukommen können, auch mögliche Reaktionen von Seiten des Maghreb berücksichtigt werden. Daneben ist auch den besonderen Verhältnissen in Nordafrika Beachtung z u schenken und dem tiefen Einfluß , den die weitläufige fundamentalisti sche Bewegung auf die islamisc hen Völker ausübt, zu d e n e n auch der Maghreb zu zählen is t. Wer kann da mit Sicherheit voraussagen, in welche Extremfälle das Zusammenwirken all dieser Umstände die Welt, und vor allem die christliche Welt, hineinziehen wird?

1 Eine D e legation vo n elf TFP-Mi g li ede m u nter d e r Fü hrun g von Dr. Caio Xavier da Silveira, D irek tor des Pa r iser T F P-Bü ro s, war dama ls in V ilnius, d e r Hauptsta dt Lit auens , um dort a m 4 Deze mb er 1990 dem Präs iden ten Vya u ta s Landsberg is persönlich d ie Mikrofilme d ieser ri esige n Unt ersc h riftensa m m lung z u übe rreich e n Diesel be Ko mm m ission reiste d a nn na ch Mos kau weiter, wo sie am 11 Dezem ber im Büro Michail Gorbats chows e inen Brie f h in ter lie ß, in dem geschrieben s ta nd:,, Im Name11 von iiber 5 Millione11 U11 terzeic h11ete11 111 öchte11 wir Sie.form ell bitte11 , die f-li11derniss e aus dem Wege 211 räumen, die Litauen dara11 hi11de m, se i11 e vo lle U11abhä11gigkeit zu erreich e11 Die Weltöffe ntlichk eit 11 11d die Gesc hichte we rde n sichfiirdiese Gesre erkennt lich ze igen

ABSCHLUSS 159
*
* *

Bi s z u di ese m Moment is t die christliche Welt noch nicht in das dreifache Drama der sich als fri edli c h ankündi gend en Invasionen aus dem Osten, der wahrscheinlich weniger friedlichen 1nvas io ne n vo n j e nse its des Mittelmeers und eines eventuellen Weltkrieges verwickelt.

Es %C ic hn e t s ich jedoch bereits der verhängnisvolle Ausgang des langen Revolutionspro;,,csscs ab , d ess en Hauptlinien im letzten Kapitel dieses Buches in zusammengefaßter Form nul 'ge f'ührt s ind.

T rot z z ahlloser Hindernisse ist dieser Prozeß - seit dem geschichtlichen Aufeinanderlrc l'fcn e ines sinkenden und schließlich untergehenden Mittelalters, einer anfangs freudig triumphierenden Renaissance, der religiösen Revolution des Protestantismus, die bereits d e r Französischen Revolution und von weitem sogar der Russischen Revolution von 1917 den Weg bereitet - derart hartnäckig auf seiner siegreichen Bahn vorgedrungen, daß man fa s t geneigt ist, von einer unbesiegbaren Antriebskraft und von endgültigen Ergebnissen zu s prechen.

Einen „endgültigen" Charakter nähmen diese Ergebnisse tatsächlich dann an, wenn das Wesen dieses Vorgangs nicht einer aufmerksamen Analyse unterbreitet würde. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen durchaus konstruktiven Prozeß zu handeln, errichtet er doch sukzessive drei Gebäude: die protestantische Pseudoreformation, die liberal-demokratische Republik und die sozialistische Sowjetrepublik.

Das wahre Wesen dieses Prozesses ist jedoch destruktiver Natur. Er ist die Destruktion selbst. Er hat das wankende Mittelalter, das schwindende Ancien Regime, die apoplektische, frenetische und wirre bürgerliche Welt niedergerissen, unter seinem Druck ist die finstere, geheimnisvolle frühere UdSSR zusammengebrochen, verfault wie eine seit langem vom Ast gefallene Frucht.

Ist es hie et nunc nicht so, daß die echten Kennzeichen dieses Prozesses Trümmer sind? Und was hat die Welt von dem letzten Trümmerhaufen dieses Prozesses zu gewärtigen, wenn nicht ein allgemeines Durcheinander, das jeden Augenblick drohende Katastrophen ankündigt, die sich dann nicht verwirklichen und in Luft auflösen, noch bevor sie über die Sterblichen hereinbrechen und dabei den Ausblick auf weitere, noch bedrohlichere, noch widersprüchlichere Katastrophen eröffnen? Vielleicht lösen sich auch diese wieder auf, um wiederum neue Monster hervorzubringen. Vielleicht verwandeln sie sich aber auch in s chreckliche Wirklichkeit, wie zum Beispiel in den Zug ganzer slawischer Horden von Osten nach Westen oder moslemischer Horden, die von Süden nach Norden vordringen. Wer weiß das schon? Wer weiß, ob es so sein wird? Wer weiß, ob es nur(!) das sein wird? Ode r ob es nicht noch schlimmer kommt?

Für Menschen, die keinen Glauben haben, wäre das ein Bild der Verzweiflung. Für diejeni g en aber, die glauben, erklingt vom fernen, schmutzig verschwommenen Horizont eine Stimm e, die Mut und Vertrauen weckt:

,,Am Ende wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren!"'

Warum aber kann man sich auf diese Stimme verlassen? Sie selbst gibt uns die Antwort in einem e in z igen, kurzen Satz:

„Ich komm e vom Himmel. "2

160 ABSCHLUSS
1 Worte Unserer Lie be n Frau von Fatim a be i de r Ersc hein u ng am 13. Juli 19 17 (vg l. Memorias da lrmä Lzicia, Postu la9äo , 3. Aufl , Fätim a/Portuga l 19 78, S. 150 )
2
Vgl. a. a 0 ., S. 146

Es gibt also Grund zur Hoffnung. Aber was sollen wir uns erhoffen? Die Hilfe der göttlichen Vorsehung bei jeder mit Scharfblick, Strenge und Methodik ausgeführten Arbeit, die es sich zum Ziel setzt, die Welt vor den drohenden Gefahren zu schützen, die wie Damokles-Schwerter über den Menschen schweben.

Es kommt also darauf an zu beten, auf die Vorsehung zu vertrauen und zu handeln.

Um diese Aktion durchzuführen, ist es angebracht, dem Adel und den vergleichbaren Eliten die besondere und vorzügliche Sendung ins Gedächtnis zu rufen, die ihnen unter den heutigen Umständen zukommt.

Möge Unsere Liebe Frau von Fatima, die Schutzherrin dieser stürmischen Welt von heute, dem Adel und den ihm gleichartigen Eliten helfen, die weisen Lehren ernst zu nehmen, die ihnen Papst Pius XII. hinterlassen hat. Diese Lehren weisen ihnen eine Aufgabe zu, die Papst Benedikt XV. ausdrucksvoll als das „Priestertum" des Adels bezeichnet hat. 1

Wenn der Adel und jene Eliten sich dieser außerordentlichen Aufgabe ganz und gar widmen, werden sie selbst und eines Tages auch ihre Nachkommen von der Reichweite der Ergebnisse überrascht sein, die sie für die jeweiligen Länder und die ganze Menschheit erlangt haben werden. Vor allem aber für die heilige katholische Kirche.

ABSCHLUSS 161
1 V g l. K a p itel VII , 8.d

Der „Triumph des Stuhles Petri" - Altar in der Apsis des Petersdomes , wo sich das Reliquiar mit dem wahren Thron Petri befindet, Fotographie während einer Pontifikalmesse aufgenommen

Entstehung, Entwicldu ng und N iede rgang des „Landa dels" i n Brasilien in der Kolonialzei t , im Kai s erreich und in der Repu bl i k~

Die Rolle der Eingliederung der dem ursprünglichen Adel vergleichbaren Elite

Die dem Adel „ve rg le ichb are n El ite n" ste ll e n sowo hl fü r Europa a ls a uch fü r d ie Ne ue We lt e in inte ress ant es The ma d a r. Vie ll e icht in ga nz beso nd ere m Ma ße für di e letz tge nannte , d a der Ade l al s so lch e r im La ufe de r Gesc hi c hte je ne r Lä nde r, d ie auf de m am e rik a ni sc he n Kontin e nt e ntstand e ne n s ind , be i we ite m ni c ht d ie vo rh e rrsche nde Ro ll e spi e lte, d ie de m Ade lss ta nd in de r Gesc hi c hte de r Alt e n We lt zuka m , wenng le ic h se in e Ste llun g a ls klar umri sse ne und mi t e ige ne n Rec hte n ve rse he ne gese ll schaftli c he Sc hi cht in e ini ge n Te ilen Amerik as durc ha us e urop ä isc he n Ve rh ä ltni sse n e ntsprac h. Es wa re n j ed oc h di e orga ni sch a uf de m Bo de n Ame rik as e nts ta nde ne n a ri stok ra ti sc hen Eli te n , in de re n Sc ho ß di e na c h Ibc ro-Am e rika un d Nord am erik a ge ko mm e ne n Adel igen e ing in ge n, d ie üb e r e ine n la nge n Ze itraum hin weg e in e de r z iv il e n Gese ll sc haft fö rd e r lic he A ufga be au s übt e n.

ANHANGI

Infolge ihrer Anzahl, ihrer Rolle im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sowie auch ihrer fast durchgehend friedlichen Beziehungen zu den schlichteren Volksschichten kam den traditionellen Eliten eine führende Rolle zu.

Für den, der sich mit dem Thema „Aristokratie" näher beschäftigt, dient die Berücksichtigung der „vergleichbaren Eliten" als Ausgangspunkt einer Reihe nützlicher Überlegungen darüber, wie in den heutigen Gesellschaften die neuen Erscheinungsformen des Adels aussehen könnten. Diese könnten dadurch entstehen, daß monarchische Regierungen - in unseren Tagen steht ja immer wieder die Wiedereinführung mehrerer dieser Monarchien zur Debatte - sich der Aufgabe zuwenden, neue Adelsvarianten um den historischen Adel herum zu schaffen, die ihrem traditionellen Gepräge nach nicht Gefahr liefen , nichts als Emporkömmlinge zu sein. Auf diese Weise würde es zur Bildung origineller Erscheinungsformen des Adels kommen, die sich harmonisch in den herkömmlichen Ad e l einfügen oder mit der Zeit sogar mit diesem verschmelzen könnten.

Dem geneigten Leser sollen daher beispielhaft einige - wenngleich summarische - Daten über die Bildung dieser Eliten in Brasilien vor Augen geführt werden.

So wird der Leser von der natürlichen, organischen Herausbildung einer ersten Elite in Pernambuco, in Bahia und bis zu einem gewissen Punkt auch in anderen Gebieten des brasilianischen Nordostens während des sozialökonomischen Zuckerzeitalters erfahren.

Getragen von der Absicht, das Anpflanzen von Zuckerrohr zu fördern, um auf diese Weise die Kolonisierung und Besiedelung des Landes zu sichern und damit auch wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen, bewilligte die portugiesische Krone den Pflanzern, die auf ihren Ländereien eine entsprechende Zuckermühle betrieben, einige ursprünglich dem alten Adel vorbehaltene Vorrechte. Diese Pflanzer - oder „Zuckermühlenherren" - entwickelten sich mit der Zeit zu einer aristokratischen Klasse, d. h. zu einem Adel de facto.

Zu der Landelite gehörte auch eine gewisse Anzahl von Familien, die von der portugiesischen Aristokratie abstammten und inzwischen in die üppige Kolonie in Amerika übergesiedelt waren. Und mit der Ausweitung der angebauten Fläche vergrößerte sich auch die Zahl der nicht zur ursprünglichen Elite zählenden Gutsbesitzer.

In einem organi s ch ablaufenden Prozeß wuchsen die verschiedenen Stränge der Gutsbesitzerklasse in einer einzigen EI ite zusammen, die es nach und nach z u größerem Wohlstand, angenehmerem Leben und feineren Sitten brachte.

Einen vergleichbaren Prozeß durchliefen auch die städtischen Eliten im Laufe ihrer Entwicklung.

Überall in Brasilien kam es zur Gründung neuer Ansiedlungen, aus denen z um Teil schon bald zahlreiche Städte hervorgehen sollten. Auch in den Stadtzentren bildete sich schrittweise eine Elite heraus, die sich vor allem aus Inhabern öffentlicher Ämter ziviler und militärischer Natur zusammensetzte Diesen mit adelnden Aufgaben versehenen Staatsbeamten gesellte sich eine gewisse Anzahl portugiesischer Adeliger zu, die sich in der Kolonie niederließen.

Gleichzeitig führten die Bedürfnisse des städtischen Lebens dazu, daß Menschen, die sich der Ausführung der verschiedensten Aufgaben zuwandten, einen bürgerlichen Status und Lebensstandard erringen konnten, der sie deutlich von den Handwerkern unterschied (z. B. Ärzte, Kaufleute usw.). Sie gehörten zur Kategorie der „neuen Männer". Im beschränkten Bereich der damaligen Dörfer und Städte pflegten diese Leute natürlich häufigen Umgang mit den Vertretern der Elite.

Das Nebeneinander von „neuen Männern" und Vertretern der ursprünglichen städtischen Elite tendie1te natürlich zur schrittweisen Verschmelzung beider Gruppen in einer städtischen Aristokratie, die auf ihre Art ebenfalls einen Adel darstellte.

166 ANHANG!

Di e se städtischen Aristokrate n bildete n zusammen mit dem Landadel die leitende Schicht de s Gem einde le b e n s Sie hatten damit Zug ang zu den wi c hti gs ten Ämte rn d e r kommunalen Ve rw a ltung. F ür di ese G rupp e war zu jener Z eit die B e zeichnung „ gute Männe r" üblich.

Währe nd der darauf folgenden soz ioökonomi schen Wirtschaftszyk le n d es Golde s u nd der Edel steine und schließlich de s Kaffeez eita lters li e fen ä hn li c h e Prozesse ab , und zwa r nicht au s einem Hang zur N a c hahmun g, sond e rn infolge e in er verstän d li c h e n Analo gie d er U m s tänd e

Für die damal s in Brasili e n in der E ntst e hung b eg riffene Gesell sch aft und N ation wa r d as Vordringe n leitender E lite n höchs t z utr äglich , wobei für ihr z ahl e nmä ß ig es und qu a litat iv e s Wachs tum die schrittwe ise - auf ve r schi e d e ne n Voraussetzun ge n b e ruh e nd e - Aufn a hm e v on vergleichbar e n Bürg ern in den ursprünglich e n Kern d e r Elite nur v on Vo rteil se in ko nnte. D a h e r lag en die Bildung di e se r v e rgl e ichbare n Bürge r und ihre A ss imili e run g au c h durc haus im Inte resse d es G e m e in w ohl s.

Wi e die Fachleute a u f dies em Studiengebi et bes tätig e n kö nn e n, li ef die Bildun g d es Adels und d e r „ verg le ichbaren Eliten" im spani sch e n Amerika g anz a nd e rs ab Die Vi e l za hl der durch di e E nts te hung und E rw eite nm g der Eliten in d e n ibero-a merikani sc h e n Lä nd e rn a ufge worfe n en Proble me führt e in Late ina m e rik a z u e ige ne n , ori g ine ll e n Lös un ge n

E s muß hier hervorg ehob en werden, d aß d as Z ie l d e r vo rli ege nde n A nm erk un gen übe r den „ Landadel" in d er Kol oni a lzeit , im Ve r e ini g te n K ö ni g re ich B ras ilie n und im Kai serr e ich v or a llem d a rin besteht, den z utie fs t n aturgegeb e nen , o rgan isc h e n C hara kte r de r E nts tehun g e iner Adel s kl ass e v or allem in de n Anfä n ge n unse r er Gesc h ic h te hera u s z u ste ll e n un d di e Art und We ise d e utli c h z u m ac h e n , auf di e s ich da m a ls n ebe n dem eigentli c h e n Ade l

Eliten bildeten, di e zu e inem n atürlichen A ufstie g in den A de lss t a nd führ e n k o nnte n. Es g e ht a lso k e inesw e g s d a rum , auf die se n Seiten e in k o mple tt es Bild de r struktu re ll e n Entwicklung de s b ras ili a ni sche n o d e r, b esse r gesag t , d es po rtug iesisc h- b ras ili a n isc h e n A de ls z u e n twe r fe n und d e n Stand z u ze ige n, d e n di ese r Vorgan g am Tag d e r Un a bh äng i gke it, nämlich a m 7. Se ptember 1822 erreic ht hatte. Es ge ht hi er a uch nic h t u m di e Ve r ä nd erun g en, di e s p ä te r vo n d e r un ter de m s t ark e n Einfluß d e r Franz ö s isc h e n R evolu t ion e r lassen e n kaiserl ic h e n Ge set zge bun g in di esem Stand eing eführ t wurd e n . 1

1 Vgl. zu m b ras ilianische n A de l u a. A NT ON IO JO S E V ICTOR IANO BORGES DA FONS ECA, Nobi/iar c hia Per11amb11ca11a, Bibli o te ca N a c iona l, Rio d e J a nei ro 193 5 ; CA R VA LHO FRANCO , Nobilia rio Co lo 11ia l , 2 Aufl ., S ä o Pa u lo o.J ; F ERNAN DO DE AZEVE DO , Ca11aviais e E 11ge11hos 11 a Vid a Po litica do Brasil , Ed i9öes M el ho ra me nto s, 2. A u fl ., Sao Paulo o.J ; G ILBERTO FREYRE, /11te rp re tG1;iio do B rasil, J ose O lym p io Edi tora, Ri o de Jane iro 194 7; H E NRI QUE W I ED ER S PA HN , A Evohu,:iio d a N obreza Cava lh eiresca e M ilitar Lus o - Bras ile i ra desde o Descobrimelllo ate i, Reptiblica , in : Bolct im do Colegio d e Ann as e Cons ul ta H e n\ ld ica d o Brasi l, Nr. 1, 1955; J CA PIS T R A NO D E A BR EU , Capit u los da Histo r ia Co lonial ( 1500- 1800), Soc ieda d e Capi st ra no d e A b reu , 4 Au fl , 19 54; LU iS P A LA C IN , Sociedade Co/011ia/ - 1549 a 1599, Uni ve rs id ade Fed e ra l de G oiäs, Goiä n ia 198 1; M A NO EL RODR IGUES FERRE I RA, As Rep1iblicas M1111ic ipais 110 Brasil ( 1532-1 820), P refe itura do M un ici pio de Sao Pa ulo, S ao Pa ul o 1980; NE LSO N O M EG NA , A Ciclade Co/011ial, Jose Ol ympio Ed ito ra, Rio d e Jane iro 196 1; NE LSO N WERNE CK SOORE, Formar,:iioda Soci edade Brasileira, Jose O ly m pio Ed ito ra , Rio d e J a neiro 194 4 ; NES TOR D UARTE, A Ordem Pri va da e a Organ izcu;:äo Po litica Naci o11al, Compa nh ia Ed ito ra Nac io na l, Sao Pa ulo 1939; OLJ VE IRA VI ANN A, /11 stitu i<;:oes Po lit icas Br asileiras, Jose O lympio Edi tora, R io d e J ane iro 1955 ; R U I V I Ei RA

DA CUN H A, Estudo d a Noberza Brasile i ra, A rq u ivo Na c ional, Ri o d e J ane iro 1966; R U! V I EI RA D A CUNHA , Figuras e Fa tos da Nobr eza Brasile i ra, A rquivo N ac io na l, R io de Jane iro 1975.

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG U N D NIEDERG ANG ... 167
*
* *

A. Die Entstehung der Eliten in der Kolonialzeit Brasiliens

1. Die ersten Siedler

a) Die schlichten Klassen

In Portugiesisch-Amerika wurden zur Besiedlung vor allem Leute aus den sc hli c hteren Schichten de s Mutterlandes eingesetzt. So betont etwa Oliveira Vianna, daß „ Menschen aus dem gemeinen Volk, Landarbeiter aus Minho, aus Tras-os-Montes, aus B eira, aus Estremadura - nüchterne, ehrbare Me nschen, wenn auch mit geringem Besitz, ,fäh ige Männer', wie es in einigen Sesmaria-Urkunden heißt 1 - um die Überlassung von Land bitten; und so lassen sie s i c h unbekannt in aller Stille mit ihrem Groß- und Kleinvieh aufden Feldern und in den Wäldern des Hinte rlandes nieder. "2

Zu diesen schlichteren Kla ssen gehörten aber nicht nur einfache Leute vo m Land. So können wir etwa bei Alfredo Ellis Jr. lesen , daß „Po rtugal zur Kolonisierung des Landes Leute mit städtischer oder halb städtische,: kaufmännischer Bildu ng aus den R eihen des Bürgertums hierher schickte, die nichts mit der Land- und Viehwirtschafi z u tun hatten. " 3

Unter den ersten Siedlern befanden sich auch einige de s Landes Verwiesene, doch bildeten diese keines w egs die Mehrheit.

Oliveira Lima versichert un s: ,, Daß die Kolonisi erung Brasiliens das Werk von Ausgewiesenen sein soll, is t eine längst widerlegte L egen d e. Die Ausgewiesenen waren damals auch keineswegs n ur Verbrecher im heutigen Sinn des B egr iffs. Mit der Strafe der Landesverweisung wurden damals auch nicht ehrenrührige Vergehen oder gar von s onst guten Menschen begangene einfache B eleidigungen geahndet . D ie beide n größten po rtugiesischen Dichter, Camoes und Bocage, wurde n eins t in die Verbannung nach Indien gesch ickt. "4

Außerdem suchte mancher Flüchtige auf dem amerikanisc hen Kontinent einen Zufluc htso1t, um sich hier vor seinen Verfolgern zu verstecken , die ihn wegen gesetzeswidriger Handlungen in seiner H e imat verfolgte n. So erklärt sich die Bestimmung König Joäo III., ,, daß alle, die hier Zuflucht suchen, wegen ihrer Vergeh e n nicht bestrafi werden sollen " . 5

Im Laufe der Jahrhunderte schlossen sich der Kolonialgesellschaft auch immer wieder katechisierte Indianer an, die fast stets als Handwe rker in die n e ue gesellschaftliche U mgebung hineinwuchsen und gegen deren Vers klavung sich die Kirch e s tets mit a llen ihr z ur Ve rfügung stehenden Kräften einsetzte. Neben den Indianern sind die aus Afrika importierten s chwarzen Sklaven zu nennen , die zwar zum w e itaus größten Teil nach Brasilien gebracht wurden , in mehr oder w e niger großen Gruppen aber auch in der einen oder anderen der s p a ni sc hen Krone unterstellten Kolonie oder e inem Vizekönigreich landeten.

VE IRA VI ANN A

Meridiona is

3 Amador Bue n o e seu tempo - Cole,;iio Hist6ria do Brasil (7), Bo leti rn US P Nr. LXXXVI , Sao Pa ulo 19 48, S 6 1

4 0 Mo vimemo da fndependencia - 1821-1822. Cornpanhia Melhorarnentos de Sao Paulo, Säo Paulo 1922,

P

N

168 ANHANG!
1 D ie Ses marias waren unb eba u tes oder verlassenes Land , das die porn,giesischen Könige zu r Be bauung a n Sesmeir os ve rte ilten 2 F. J. OLI , Pop11la,;oes do Brasil, Cornp a nh ia Editora Nac iona l, 3. A u fl. , Sao Paulo o.J. , Bd 1, S. 15 S.28f. 5 EDRO CALMO , Hist6ria da Bras il, Livraria Jose Ol y mp io Edi tora, Rio de Jane iro 1959, Bd. 1, S. 170.

b) Aristokraten und Gebildete

Zweifellos kamen vom Mutterland in die Kolonie auch Männer von höherem Bildungsniveau und aus besseren Familien, die befähigt waren, öffentliche Ämter von einigem Rang in der zivilen oder kirchlichen Verwaltung zu bekleiden und so in dem noch rohen kolonialen Umfeld erste kulturelle Elemente zu verbreiten.

Unter den königlichen Beamten sind besonders die Generalgouverneure, die Gouvern e ure von Landesteilen und die Vizekönige hervorzuheben. Besondere Erwähnung verdienen auch die an die Spitze der anfänglichen Kapitanate (Länder) gestellten Lehensträger, die übrigens alle von adeligem Stande waren, und die sich wie etwa Duarte Coelho in Pernambuco und Martin Afonso de Sousa in Sao Vicente auf bestimmte Zeit in den entsprechenden Gebieten niederzulassen hatten.

In seinem Buch über die ersten Kolonisatoren des Kapitanats Pemambuco berichtet Carlos Xavier Paes Barreto,,, daß im Nordosten nicht nur Leute aus der unge bildeten Masse zur Besiedlung des Landes herangezogen wurden Viele von denen, die in Nov a Lusitania an Land gega ngen waren, stammten von hohen Beamten und wiirdigen Staatsmännern ab". 1

Und der Historiker Alfredo Ellis Jr. rundet dieses Bild mit den Worten ab: ,, Es war nicht mehr als natürlich, daß Portugal Menschen aus allen gesellsc haftlic hen Schichten hierher sandte. Wenn es stimmt, daß bei der Besiedlung Brasiliens das Bürgertum vorherrschte, s o ist anzunehmen, daß in der ersten Zeit auch Vertreter der alten Aristokratie, Männer von Namen und Wappen kamen, die ihre Geschlechter ohn e Schwierigkeit im Saal von Cintra (Schloß in Portugal) ausfindig machen konnten. " 2

Über diese Vertreter des portugiesischen Adels, die hier an Land gingen, schreibt Oliveira Lima, daß„ es nicht zum Großadel gehörige, mächtige Ve rtreter der vorn e hmste n H ä user waren, die es nach Übersee zog, sondern Vertreter der petite noblesse , die eigentlich zum Ritterstand z ählten". 3

Oliveira Lima fügt dem noch hinzu, daß „ es gerade dies er niedrige Adel war, der d en größten Teil sowohl des brasilianischen als auch des hispano-amerikanisc hen Ade ls ausmachte. Wer hierher kam, waren Menschen, die nur geringen B es itz ihr Eigen nannten oder sogar verarmt waren; hier in Amerika hofften sie, ihrer bedrängten Lage aufder ib e ris chen Halbinsel zu entfliehen und z u Besitz zu kommen. "4

c) Das Erfordernis des Glaubens

Einige Kommentatoren der Geschichte Brasiliens vertreten den Standpunkt, daß e s den portugiesischen Kolonisatoren vor allem um wirtschaftliche Ziele ging. Das Ideal der Verbreitung des Evangeliums habe demnach nur einen äußerst zweitrangigen Platzeingenommen. Vielleicht habe es sich dabei sogar lediglich um eine Inszenierung gehandelt, weil man nicht gegen die überkommenen religiösen Traditionen verstoßen wollte , die im Mutterland noch einen, wenn auch geringen , Einfluß ausübten.

Dies entspricht nicht der Wahrheit. Der missionarische Einsatz nahm sowohl im Denken des König s als auch in dem des ganzen portugiesischen Volkes einen wichtigen Platz ein.

170 ANHANG!
1 Os Primiti vos Co lon izad o res Nordestinos e seus D esc e 11de111es Editora Meise, Rio de J an e iro 1960, S. 20. 2 a. a 0 S. 6 2. 3 a a. 0 S. 27 4 lns rituir;o es Po liticas Bras ile iras Jose Ol y mpio Edito ra , 2. A u fl. , R io de J a nei ro 1955, Bd 1, S. 174

Die von König Johann III. am 17. Dezember 1548 Tome de Souza übergebene Verordnung besagt: ,, Was mich vor allen anderen Überlegungen dazu veranlaßt hat, das Gebiet in Brasilien zu besiedeln, war der Wunsch, die dort lebenden Menschen zu unserem heiligen katholischen Glauben zu bekehren. " 1

Deshalb wurde auch in der ersten Zeit vo n allen Siedlern, gleich ob sie aus Portugal oder anderen Ländern kamen , aus dem gemeinen Volk, dem Bürgertum oder d em Ade l stammten, ve rlangt, daß sie sich vo ll und ganz z um katholi sche n Glauben bekannten.

,,Brasilien en tstand, ohne daß sich sein e Kolonisatoren um Einheitlichkeit und Rassenreinheit gesorgt hätten. Während des ganzen 16. Jahrhunderts stand die Kolonie allen Fremden offen, die hierher kommen wollten; die einzige Bedingung der Kolonialb e hörden war die, daß alle Ankömmlinge dem katholischen Glauben anhingen. H andelmann stellte fest, daß man im 16. Jahrhu ndert nur dann als Kolonist ins L and g e lassen wurde, we nn man als wichtigste Voraussetzung den christlichen Glauben bekannte; , allein Christen' - und das bedeutete in Portugal Katholiken, konnten Sesmaria-Ländereien erwe rben ' .. ..

Lange hielt man sich in der Kolonialzeit an den Brauch , stets e inen Pater an Bord ein es j e den Schiffs zu schicken, das ein en brasilianischen Hafen anlief damit e r Ge w iss en, Glaube und R eligion der Ankömmlinge prüfen sollte Was dem Einwanderer den Weg versp e rrte, war damals die Heterodoxie, der Flecken der Ketzerei aufder Seele und nic ht de r mongolische auf der Haut. Wert g e legt wurde auf di e re ligiös e G esundh e it D er Pater ging an Bord, um nach der Orthodoxie des Einzelnen zu fragen, so wie man sich h e ute nach Gesundh eit und Rasse erkundigt ... D e r Portugi ese kümmert s ich ni c ht um die Ra sse und b e trachtet den als sei nesgleichen, der sich zur se lb e n Reli gion be ke nnt wie er se lbst. Diese Solida r ität blieb während unserer ganzen Kolonialentwicklung erhalten und schloß uns z usammen g egen die französischen Calvinisten , gegen die holländischen Ref ormierte n und di e englischen Pro testanten. D esha lb fällt es so schwer, den Brasilianer vom Katholiken z u tre nn e n: Der Katholizismus war tatsächlich der Kle bstoff unserer Einheit. " 2

2. Entstehung und Vervollkommnung der anfänglichen Eliten im bereits besiedelten Land

Alle di ese Faktoren li e ß en langsam und mit organischer Spontaneität e ine A u s lese vo n M e n sch en entstehen, die-obwohl unte r e inan der versc hi ede n -zusammen eine Elite zu b ilden b ega nn en, oder, wenn man so w ill , die Anfä nge e iner E lite, di e sich noch au s rauen, ungesc hliffenen Mitgliedern zusamme n setzte, wie j a a uch die Daseinsbedingungen auf di esem Kontinent mit sei ner üp pige n , ungezähmten Natur n o c h rau und ungeschliffen waren.

Die Mitglieder dieser anfänglichen E lite pflegten unt ere in a nde r bei ihren ge sellsc h aft lichen Beziehungen eine gewisse Gleichheit d es Umga n gs und der Lebe n sha ltu n g. A n ges ic h ts ihrer geringen Anzahl und des psyc holo g isc hen Drucks von Seiten der Lebens ums tände und der von der Hand des Menschen kaum bearbe iteten Natur wäre e ine a nd ere Haltung auch nicht angebrac ht gewese n.

Im Laufe der Ze it und mit der Aufeinande rfolg e der Generationen bildeten sic h dann a llm ä hli c h Schichtungen und Unterscheidungsmerkmale heraus.

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NIEDERGANG . . . 171
1 R eg im ento de To me de So uza Bibliot e ca N a c io na l de Lisboa, A rqu ivo d a Ma r inha , Livro I d e ofic ios, vo n 159 7 b is 1602. 2 G ILBERTO FREYRE: Casa G rand e e S enzala, Editora Jose Ol ym pi o, 5. A ufl , Rio d e Ja ne iro 194 6, Bd I, S 12 1-1 23.

a) Erhebung in den Adelsstand auf Grund von militärischen Verdiensten Zu der obersten Schicht gehörten jene, di e sic h durch Taperk eit im Kampf gegen die Indianer oder bei der Vertre ibung ausländischer Ketzer, vor allem der Hollände r und Franzosen 1 , ausgeze ichnet hatten, die neb en Hande ls in te re sse n hier auch re lig iöse Ziele verfo lgten.

Di es war allgemein auch e in Kennzeichen des Adels in der alte n Welt gewesen . D ie Fe udalh e rr e n bilde te n vo r allem eine Militärschicht, d e ren Mitglieder m e hr als a ll e ande ren Landsleute ihr Blut für da s geistige und ze itl iche Wohl der A ll ge m e inheit ve rgossen. Di eses Opfer m ac hte die Adeligen d e n Märtyre rn ähnlich. Und der H e lde nmut , den s ie imm e r w ieder unter Beweis s tellten , war ein Bewe is der see li sc he n Kraft , mit dem sie das Opfe r ihrer selb st a uf sich nahmen. Des ha lb stand ihn en auch das Recht a uf außerordentliche Privilegien und Ehrungen z u.

Die Erhe bung des gewö hnlichen Kämpfers in den Ade lss tand o d e r die Befö rd e run g e ines Adeligen in e ine höhere Adelsklasse bild e t e n also e in e m e hr a ls gerec ht e und dem militärischen We rt angemessene Belohnun g .

Diese Auffassung v on der Militä rkla sse fa nd a uch in d e r Bildung d e r bras ili a n isc h en Gesellschaft der Kolonialzeit ihre n Widerhall.

Oliveira Vianna schreibt in se in em be re its zitierten Buch, daß v ie l e z ur R ec htfe rti g un g ihres Antrags auf Z uteilun g e in e r Sesmaria „ ai![ die von Verwundung e n im Kampf herrührenden Narben , aiil Verstümmelungen eines Soldaten, auf den vom Sch we rt e in es Normannen, Bretonen oder Flamen verletzten oder vom Pfeil e ines I ndianers durc hbohrte n Leib verwiesen. Damit gelangten sie in den B esitz von land, dem wi c htigste n Kenn ze ic h e n eines Adeligen Es war die militärische Tapfe rkeit, die dam a ls die Würd e de s Ein z eln e n ausmachte und ihn eines Adels titels und der Zugehörigkeit zur Aris tokratie ve rsi c h ert e' ·. 2

b) Erhebung in den Adelsstand au/Grund von außergewöhnlichen Leistungen bei der Erschließung des Landes

N e ben d e nen , die s ic h durch militäri sche Tapferkeit auszeichneten, gab es and e re, die sich durch ihre Bravour auf verschiedenen Ge bi ete n hervo r ta te n , denn„ wie im Mitt e lalt e r findet in der Kolonialgesellschaji die Auswahl unter Beriic ksichtigung ... d e r Bra vow; d es Wertes, der, Tugend ' im römischen Sinn des Wort es statt". 3

Somit gehörten zu dieser obersten Schicht der Gesellschaft auch j e ne, die bei der sc hw ieri ge n Aufgabe, die unkultivi erte n Weiten unseres La nd es z u ersc hli e ße n , besondere Leistungen erbracht hatte n, ,,jene Titanen der Kolonialzeit, jene vortrefflic he Rasse, d e re n Söhne von grimmigem Aussehen und mit Leder bekleide t mit sta rkem Arm , da s Muske ton in d e r

Im 16. und 17. Jahrhundert war der Ei nnuß vo n Ketzern in den Ge b ieten. d ie heute di e Niede rland e und Be lgie n bilde n. bes onders s ta r k. Auf di es e n Um s ta nd muß hier zu m vo llen Vers tä ndni s de r holHindi sehc n Invas ione n in Brasil ie n aufme rksam ge macht werde n, denn in de n letzten Jahrze hnt en hat d er Katho li zis mus in d iese m La nd so gro ße Fo r1 sc hri t1e e rz ie lt da ß es in der Wel töffe nt li chkeit schon nicht me h r a ls da s e inst s tark e internationale Bollwe rk des Protes tan t imu s a ngese he n wird. Ä hn liches gilt fü r Frankreich. Zwar war in d iesem Land der pro te sta nti sche Ei nfü1ß ni e so entsc heiden d wi e in de n I icdc r la nde n. doch wa r er so bedeu te nd , daß Ludwig XIV. s ich 1685 g ez wunge n sah , das Edikt vo n Na nt es z u w ider rufe n. und ihn m it de n be rü hm te n Drago 11a de 1· unschädl ich zu machen s ucht e Doc h weder di e eine noc h di e and e re Ma ßna hm e ko nnt en dc111 Protes tanti sm us in Frankreich e in End e set ze n. Da sic h d ie un z ufried e nen fra nzös isc hen Prot es ta nte n j edoc h gezw un ge n sah e n. in gro ße r Anza hl das La nd zu verlassen, hat s ich d ieses Beke nntn is ni e 111ehr gan z von de m hart e n Sch lag erholt. De r (vo r all c111 ca lvin is tisc he )

Pro te s tanti s mu s s pielte von nun a n in Fran kre ich nu r no ch e ine unt e rge ordnet e Ro ll e, ga nz anders a ls zu der Zei t , in de r Villega g non Rio de Jan eiro an gegriffe n halt e. Gan z a nd e re r A1t war der Ve rs uch der Fran zose n, in Ma ranh iio Fuß zu fa ssen Diese Invasore n waren Katholi ken und ihn e n ist es zu verdan ke n, da ß d ie Haupts tadt d ieses ß undess ta ates noch he ute de n Na me n Säo Luis trägt.

2 a a. 0.., S. l 77f.

3 F. J. OLIVEIRA V IANN A, Popula ,;:oes Meridio11ois do Bras il 3. Au n , Bd. 1 , S 102

172 ANHANG!

Hand, von Süden nach Norden das unwirtliche Innere des L andes auskundschafteten und die, n ach den Wor ten Taunays, , di e vo n P ap s t A lexa nd e r V I. und im Ve rtra g vo n T o rd es illa s a ls D e mark a ti o n s li n ie fes t ge leg t e n L ä nge ngra de fas t bi s z um Fuß d er A nd e n vo r s chobe n un d da be i ra ue Urwä lder v oll e r Gefa hr e n un d Ge h e imni sse durc hqu e rt e n ' " 1

c) Erhebung in den Adelss tand auf Grund der Herrschaft über Land und Leute

Mit d er Z un ahm e d e r Bevö lkeru ng b ega nn e n sic h schli e ßli c h auc h d ie ihrem Wesen n a ch fri e dli c he n B e täti g un ge n z u e ntw ic keln. Da s hei ß t , a uf d e n un ge h e ure n , vo n d en portu g ies isc h e n K ö ni ge n a ls Ses m a ri as z u geteilten L änd e r e ien b re iteten s ic h zuse h e nds L a nd w irtsc h a ft und V ie h z uc ht a u s

Noc h abe r ve rl a ng t e n di ese T ät igke ite n a l le rh a nd H e lde ntum : ,, Während der Kolon i alperiode s t eht die Eroberung des L andes im wes entlichen unter dem Zeichen des Kampfes Jedem erschlossenen Landgut, jeder , besiedelten' Sesmaria, jeder umzäunten Koppel, jeder e rrichtete n Zuckermühle geht notgedrungen eine harte militärische Unternehmung voraus . Von No rden nach Süden werden land- und viehw irtschaftliche B etriebe mit dem Schwert in der Hand gegründet ... Das Vorgehen bei der Eroberung spielt sich gewöhnlich so ab, daß zuerst e i ne vorläufige, B esiedlung' durc hgeführt wird, das heißt, das Land wird erschlossen, d i e Indianer we rden zurückgedrängt, wilde Tiere werden erlegt, die „foke r werden zu bereitet, Herden werde n gebildet. Erst na c h Durchführung dieser Leistungen beantragt der , B esiedler 'die Zuteilung der Sesmaria. " 2

So tre t e n nun Gro ßg rundb es it ze r mi t ihre m gewa lt ige n , e inträg li c h e n Ve r möge n auf de n P la n , di e für s ic h und d ie Ihre n a u f de m L an d od er i n d e n S tä d te n Wohn si t ze e rri ch t e n , d e re n G lanz oft tatsäc h l ic h b ee indrucke nd w irke n mu ß t e. Wir werd e n n o ch se he n , daß di ese in m a nch e n F äll e n soga r z u r ic hti gge hend e n Festu nge n a u sge b a ut w u rde n , d ie du rc haus mi t mitte la lte rli c he n B urge n ve rg li c h e n we rd en k o nnt e n.

Wie P a tri a rche n sta nde n s ie a n der Spitze e iner zahlre ic hen Nachk o mme nsc haft und ü bte n He n enrec hte üb er e ine beeindruc kende Anza hl vo n Unte rgebe nen, Sklaven oder fre ie n Mensche n aus . N ic ht se lten ve rfü gte n s ie üb e r M ac htb efugnisse, w ie sie son st nur dem Staat z uste he n.

U nte r di ese m Ges ic hts pu nkt besc hre ib t J oao A lfre d o Co rrea de O li ve ira 3 di e Ges t a lt seines Onke ls un d Sc h w i ege r vate r s, d es F re ih e rrn vo n Goia n a , w ie fo lgt:

,, Er g e hörte z uje nen lieb e vollen G e nerationen, die diese Erinnerungen in Ehren hielten, zu jene n sta rken Generationen , die die Erde liebten, in der sie das Gold ihrer Freiheit und Unabhängigkeit schimmern sahen und ai!fder sie die cnif'gegangene Saat des R eichtums und der Tugen d ernteten Aufsie h gestellt, lebten sie aus eigener K raft und von der Gnade Gott es,· we ise Sparsamke it und heilsame Mcißigkeit ließen sie Schätze anhäiifen; sie übten

1 L. A MARA L GU RGEL. Dtsaios Q11i11/te111istas. Edit ora J . Fagundes, Säo Pa u lo 1936, S. 174.

2 F J. O LI VEI RA V IANNA 0 Povo Brasileiro e a sua E vo/ll(;äo. Min isterio da Agricultura. lndu str ia c Comc rcio- Diretoria Gera ! de Es tat is tica. T ipografia da Es1a1 is1ica. Ri o de Ja ne iro 1922, S. 19.

3 De r ka ise rli che Ral Joäo A l frcdo Corr6a de Olivcira. gebo ren am 12 . Deze mbe r 1835, kannt e a us nächster Niihe die La ge, d ie er hi er beschreibt. Sei ne Familie zä hlte zu de n Zuckernüi hle nbesitzern vo n Goia na und war durch verwand tschaft lic he Ban de bzw. Heirat m it allen herrschaft li chen Familien Pernambucos ve rb und e n De r äuße rst intell igente j unge Mann a bsol vi erte sei n Rech tsst udiu m in O l inda und bega nn bald darauf eine Ka rri ere in der Polit ik, die ihn in d ie höchsten Ämter des Kaiserreic hes führe n sollte: so war er u. a Reic hssenator, Staatsrat und Minis terratsp räsi dent. Als e iner der fü hrenden Vert re te r der Bewegung zur Abschaffung de r S kla ve re i und als Vorsitze nder des Mi ni s terra tes un te rsc hri e b e r a m 13 Ma i 1888 zusa mmen mit der Pr in zessin lsabel. de r dama ligen Re ge ntin des Re iches das so genannte Goldene Gesetz, das di e Sk laverei in Brasilien abscha fft e Auch na ch der Au s ru fung der Repub lik im Jahre 1889 b li eb Joäo A lfredo dem mo narch isc he n Idea l treu und fun gierte a ls Mit g li ed des Monarchierates, der im Auftrag der Pri nzessin die monarchischen Akt ionen in Brasi lien le it ete Er sta rb am 6. März 19 19 in Rio d e Janeiro

ENTST EHUNG, ENTWI C KLU NG U N D N IEDE R GANG 1 73

einen Beruf aus, der nicht auffremden Gewinn aus war, noch Werbung und List brauchte; unter ihren Füßen fohlten sie die Festigkeit ihres unzerstörbaren Eigentums, das auch dann noch erhalten bleibt, wenn andere Güter ihren Wert verlieren und in Vergessenheit geraten; sie besaßen eine unerschöpfliche Quelle far ihren Unterhalt, nämlich den gut bearbeiteten Boden, aus dem sie Kraft, Standhaftigkeit und Geduld schöpften - dies erschien ihnen als die sicherste und würdigste Haltung, und sie ist es auch. Für diese Generationen war der ererbte Grund und Boden ein Familiengut und ein Wappen, denen man, neben der Ehre, höheren Wert beimaß als dem eigenen Leben. " 1

Die moralische Statur und die rechtliche Lage des Großgrundbesitzers waren durchaus mit denen eines Feudalherrn vergleichbar. Aus diesem Grunde wurde denn auch die sozioökonomische Organisation Brasiliens zur Kolonialzeit von Historikern mehrmals mit der des Feudalismus verglichen.

Wie sollte diese Kategorie nicht ipso facto zu der herrschenden gesellschaftlichen Elite gezählt werden, hebt doch Oliveira Vianna - einen Schriftsteller aus dem Nordosten zitierend - in seiner Beschreibung dessen , ,, was im ganzen Land während der jahrhundertelangen Kolonialzeit geschah", hervor: ,, Ererbten Grund und Boden zu besitzen, war ein Zeichen von Adel, und die Ländereien hatten unaufgeteilt in den Händen der Nachkommenschaft zu verbleiben. " 2

d) Erhebung in den Adelsstand auf Grund der Machtbefugnisse, die von zivilen und militärischen A"mtern ausgehen

Mit der Zeit sollten sich noch weitere Personengruppen zu dieser Auslese gesellen, allerdings durch eine andere Zugangstür

Die Ausübung von Machtbefugnissen wurde stets - einschließlich im privaten Bereichals eine wesentlich ehrenvolle Aufgabe angesehen, denn leitende Funktionen verdienen mehr Respekt als dienende oder gehorsamspflichtige Aufgaben.

Wenn die Machtbefugnis im öffentlichen Bereich im Namen des Staates und auf Ernennung durch eine höher gestellte Autorität hin ausgeübt wird, verkörpert der Inhaber bei der Ausübung seines Auftrags sozusagen die öffentliche Gewalt. In diesem Falle sind ihm die entsprechenden Ehrenbezeigungen zu leisten, ist er doch eine Art verlängerter Arm des Inhabers der höchsten Gewalt. Dieser Vorrang wird dem Machtinhaber während der ganzen Amtsdauer geschuldet.

Geht er aber seines Amtes verlustig, kehrt er in den Stand eines bloßen Privatmannes zurück, das heißt, er erfährt eine capitis diminutio. Er wird zu einer losgelösten, unvollständigen Person, die einem Weichtier ähnelt, das die Wechselfälle des Lebens im Meer aus seiner Schale gerissen haben. Man könnte behaupten, daß die ihm noch verbleibenden Lebenstage nichts als ein wehmütiges Warten auf den Tod sind.

In Europa aber, von woher wir mit dem Glauben und der Kultur auch die Art und Weise, wie wir fühlen und handeln, erhalten haben, gab es häufig Ämter, in die der Amtsinhaber für die Dauer seines Lebens berufen wurde, vorausgesetzt, daß es in der Natur des Amtes lag, daß seine Ausübung die völlige Hingabe des Amtsinhabers in Gedanken und Werken verlangte, sodaß er sich mit dieser schließlich identifizierte. Man war überzeugt, daß der ganz seiner Aufgabe Zugewandte in der Lage ist, bei der Ausübung seiner Funktion sein Bestes zu geben, und daß Amtsausübung und persönliche Interessen nicht dermaßen

174 ANHANG!
1 0 Baräo de Goiana e sua Epoca Genea/6gica, in: M inha M e ninice eou/ros ens aios, Edi tora Ma ss angana, Reci fe 1988 , S. 56 2 lnstitui,:;o es Politicas Brasileiras 2. Au fl , Bd. I, S. 256f

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NIEDERGANG 175

auseinande rklaffen, wie dies in den heute meist vorherrschenden Regierung s - und Verwaltungssystemen der Fall ist. Die Amtsausübung auf Lebenszeit schuf günstige Voraussetzungen für ein rechtschaffenes, hingebungsvolles Verhalten des Amtsinhabers.

Wenden wir nun diese Betrachtungen auf die wichtigsten Aufgaben an, die in der Kolonie Brasilien mit zunehmendem Wachstum auch in dem noch kl e inen Staatsapparat immer komplexer wurden, versteht es sich von selbst, daß ihre Ausübung die entsprechenden Amtsinhaber natürlicherweise in die Reihen der Elite beförderte.

Bei der Aufzählung der verschiedenen Qualitäten und Titel , welche die Bewohner unserer Städte und Dörfer aufzuweisen hatten, um als Adelige angenommen zu werden , weist Nelson Omegna daraufhin, daß „ zu den besten Kategorien die Beamten der Krone und das Militär gezählt wurden". 1

Selbst wenn es sich nur um vorübergehende Aufgaben handelte, behielt der jeweilige Amtsinhaber doch eine Art besonderer Würde, die ihn weiterhin mit seiner Gemahlin und seinen Kindern der gesellschaftlichen Elite zugegliedert sein ließ. Sagt doch das Sprichwort: ,, Wer König ist, verliert nie die Majestät. "

e) Die Familie als Grundlage der Eliten

Bisher haben wir die verschiedenen Möglichkeiten besc hrieb e n , wie s ich einzelne Männer durch ihren persönlichen Wert hervortaten und so in jene gesellschaftliche Elite aufsteigen konnten, di e zu einem späteren Zeitpunkt dann den „Landadel" bilden sollte.

Da es sich bei der Aristokratie um eine Institution g nmdlegend familiären Wesens hand e lt, erstreckte sich der gesellschaftliche Aufstieg eines Mannes ipso facto auch auf die Ehefrau: ,,Erunt duo in carne una" (Mt 19,6) sagt das Evangelium im Hinblick auf die Verheirateten. Und natürlich gehörten dann auch die Kinder dieser Ehe z ur selben Elite. Der U rkern des künftigen „Landadels" wurde also nicht von Individuen, sondern von Kernfamilien gebildet.

„ Die Familie", hebt Gilberto Freyre hervor, ,, und nicht das Individuum oder der Staat oder irgendeine Handelsgesellschaft stellt seit dem 16. Jahrhundert den großen Kolonis ierungsfaktor in Brasilien dar und wird z ur mächtigsten Kolonialaristokratie ganz Amerikas. "2

3. Der „Landadel"

a) Grundlegende Elemente und Bildungsprozeß

Di e ersten, mit dem Nimbu s von Gründern d er Neuen Welt umgebenen Be siedler, die tapferen und oft sogar h ero isc h e n Erschließer des Hinterlandes, die heldenhaften Verteidiger d es Landes gegen fremde E indring linge und Ketzer, die e rste n Nut ze r des land- und viehwirtschaftlichen Reichtums , welche die Grundlagen für eine dauerhafte Bewirtschaftun g des Bodens legten und aufgrund ihres b et rächtliche n Eigentums sta rken Einfluß ausübten, die mit d e r mittleren und hohen Verwaltung beauftragten und allein sc hon wegen ihrer Macht mit Respekt behande lten Beamten - s ie a lle hinterließen mit der Zeit Nachkommen , di e untersc hieds los Ehen unterein a nder sc hlo sse n . Diese Nachkommen g ingen bereits da zu über, in geräumigeren Gebäuden z u wohnen, die oft mit Gegenständen aus d e m Mutterland oder aus anderen portugiesischen N ie d e rla ss un gen in Indien oder im Femen Osten ausgeschm ückt waren bzw. in Siedlungen lage n, die s ich ihrerseits zu urbanen Ze ntre n mit

2
1 A Cidade Colonia/ Livraria Jose O lympia, Rio de Jan e iro , S. 124 a. a. 0 , S. 107.

e iner unaufhörlich wachsenden B evö lkerung entwickelten. Deren Schmuck waren Kirchen von großem künstl e ri s chen Wert besonders in Bahia, Pernambuco und Minas Gerais.

Die koloniale Kunst und Kultur nahm an Reichtum z u, a ls die bereits in Brasilien geborenen Generationen anfingen, in Coimbra oder anderen europäischen Universitätsstädten zu studieren und nach ihrer Rückkehr in die Heimat die Einrichtung höherer Schulen zu ermöglichen. Das E rgebnis kam einem regelrechten kulturellen Freibrief gleich.

Diese Elite identifizierte sich derart mit den Merkmalen einer in der Entstehung begriffenen oder bereits gebildeten Aristokratie , daß ihr üblicherweise die Bezeichnung „La ndadel " zuerkannt wurde.

Brandonio, der Verfasser von Dialog über die Größe Brasiliens, weist in se iner Antwort auf den Einwurf, daß es hier keinen eigentlichen Adel geben könne, weil die meisten Kolonisatoren keine Adeligen gewesen seien, eigens auf diesen Entstehungsprozeß der Eliten hin: ,, Die Feststellung ist natürlich richtig. Es ist jedoch gut zu wissen, daß die Siedle,~ die als erste nach Brasilien kamen, um das Land zu bevökern, angesichts der Freigebigkeit des Bodens in kurzer Zeit reich wurden und mit wachsendem Reichtum ihre erbärmliche Natur ablegten, die ihnen die im Mutterland erlittene Not und Armut aufgezwungen hatte. Und so legten ihre Kinder, die bereits mit demselben Reichtum und mit der Leitung des Landes vertraut waren, wie eine Schlange die alte Haut ab und gingen da z u über, in allem ehrbaren Umgang zu pflegen. Zu ihnen gesellten sich in diesem lande später viele Männer von höchstem Adel und Edelleute, die mit den hier Ansässigen verwandtschaftliche Bande knüpften, sodaß in aller Adern letztendlich eine durchaus edle Mischung Blut floß. " 1

Zutreffend sind auch die Worte Palacins über die Bildung diese r Elite in Bras ilien: ,,So war hier am Ende d es 16. Jahrhunderts infolge der Übernahme gemeinsamer Lebensformen und ideale sowie durch die Ausübung der selben Privilegien aus der Verschmelzung so unterschiedlich er Elemente ein echter kolonialer Adel hervorgegangen. "2

Derselbe Verfasser behauptet weiter, daß zu diesem Adel„ die höheren Beamten und ihre Familien, die Zuckerrohrmühlen- und Großgrundb es itzer, die reicheren Kaufleute - Prof Fram;a nennt sie die„ Handels herren mit Obergeschoß" - und die ersten Besiedle r z ählten. Diese infolge der Lebensbedingungen der neuen Siedlungen noch relativ offene Grupp e, die sich mit der Zeit jedoch abzukapseln begin nt, setzt s ich aus jenen ,guten Männern 'zusammen, deren Namen in den Ratsverzeichnissen gefiihrt wurden" 3

Dieser organische Differenzierungsprozeß der Klassen in der kolonialen Gesellschaft wurde von Fernando de Azevedo in seiner Beschreibung der gesellschaftlichen Organi sation hervorgehoben. Diese war „ zuti~fet in Klassen oder, besser gesagt, in Schichten aufgete ilt, deren Stellung zwar nicht vom Gesetz, wohl aber von Sitte und Brau ch festgelegt war. Die Oberschicht bildete mit ihren Privilegien, wie etwa privater Gerichtsbarkeit, und mit ihren übrigen lmmunitäten, wie etwa der prinzipiellen Steuerbefreiung die Landaristokratie. Diese Feudalstntktur, die nicht aus dem Mutterland übernommen worden war, war spontan in der Kolonie selbst aufgrundjener Umstände entstanden, die durch die Kolonisierung der entdeckten Länder bedingt war. Die Landaristokratie schwebte in dieser Feudalstruktur über dem Bürgertum (den Kaiifleuten und Handwerkern) sowie über Landarbeitern und Sklaven " . 4

1. 76 ANHANG!
1 Dialogodas Grandezas do Brasil, Rio d e Janeiro 1943, S. 15 5, zi tiert bei LUiS PALAC IN, Vieira ea Visiio Tragica do Barroco, Hucitec/ Pr6-Mem6ria und ln stituto Naciona l do Liv ro, S. 105. 2 LU i S PALA CIN , Sociedade Colo nial - 1549 a 1599, Editora da U niversidade Federa l de Go ias, Go iä nia 1981 , S. 18 6. 3 a a 0., S. 181. 4 Canaviais e E11ge11hos 11a Vida Politica do Brasil - Obras Completas, Edi~öes Me lhoramentos, Sao Paula , 2. Au n , Bd. XI, S. 86.

b) Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem europäischen Adel

Auf diese Weise entstand also der „Landadel", der während der Kolonialzeit die Spitze der Gesellschaftsstruktur bildete.

In der jungen Kolonie herrschte die rechte, damals auch in Europa geläufige Überzeugung, daß den Eliten der Antrieb und die Wahl der Ausrichtung des Fortschritts zusteht.

Diese Eliten mußten sich demnach so schnell wie möglich auf authentische und kraftvolle Weise konstituieren, damit auch die Entscheidung über die einzuschlagende Richtung mit Kraft und Weisheit getroffen werden konnte.

Die Eile, die bei der Bildung dieser Elite geboten war, veranlaßte jene erste Gruppe von Besiedlem, andere Männer in ihren Kreis aufzunehmen, die auf Grund unterschiedlicher Verdienste in diesen ersten Kern einverleibt werden konnten, ohne ihn zu beflecken oder abzuwerten.

Auf diese Weise erreichte der aufkeimende „Landadel" die notwendigen Ausmaße, indem er Einzelne und ihre Familien, die sich ihm auf Grund vergleichbarer Ansprüche gleichstellen konnten, in seine Reihen aufnahm.

Dieser Weg, der sich organisch aus den örtlichen Bedingungen ergeben hat, war ein anderer, als der in vielen Ländern Europas übliche. Auch in der „Alten Welt" bildeten sich zwar parallele Eliten, doch blieben sie auf lange Zeit vom ursprünglichen Adel getrennt. Später verwandelten sich mehrere von ihnen ebenfalls in authentischen Adel, ohne daß dieser jedoch im Adel schlechthin aufgegangen wäre, der weiterhin seinen vornehmlich militärischen Charakter beibehielt.

In Europa könnte man den Aufstieg nichtadeliger Eliten in drei Etappen deutlich machen:

1. Menschen aus dem Volke, die einander unter einem besonderen Gesichtspunkt ähnlich sind, bilden eine Gruppe, die sich nach und nach in eine eigene Klasse ve1wandelt.

2. In dieser Klasse bildet sich mit der Zeit die Tradition, auf einem gewissen Gebiet mit Selbstlosigkeit und Erfolg dem geistigen und zivilen Gemeinwohl zu dienen. Damit gewinnt diese Klasse immer mehr an Ansehen und Respekt.

3. Schon auf einer dem Adel vergleichbaren Stufe bildet die Elite kraft der Gewohnheit oder des Gesetzes einen Adel diminutae rationis, wie dies zum Beispiel in Frankreich lange Zeit die noblesse de robe war.

Gesellschaftliche Beziehungen, Lebensführung und Eheschließungen verbinden nun die beiden Adelsformen immer enger miteinander.

Dann bricht 1789 die Revolution aus. Es ist schwer zu sagen, wie diese Entwicklung weitergegangen wäre, wenn nicht beide Klassen im Blutbad den Untergang gefunden hätten. Wahrscheinlich wären sie wohl ineinander aufgegangen.

Der durch die besonderen Umstände der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Europa bedingte historische Werdegang weicht also beträchtlich von der Entwicklung ab, die in Brasilien zur Bildung des „Landadels" führte.

Bis zu welchem Punkte war dieser „Landadel" ein authentischer Adel, der von der Staatsgewalt, deren höchste Instanz sich während der ganzen Kolonialzeit in Lissabon, der Hauptstadt des Reiches, befand, auch als solcher anerkannt wurde? Welchen Einfluß übte auf diesen Zustand die Verlegung des portugiesischen Hofes im Jahre 1808 nach Brasilien aus, wo er bis zur Rückkehr nach Portugal im Jahre 1821 verblieb? Welche Auswirkungen brachten die darauf folgende Unabhängigkeit, das Kaiserreich und die Republik für den

178 ANHANG!
* * *

,,Landadel"? Das alles sind Fragen, die ein solcher Überblick wohl oder übel aufw irft. Wenden wir uns nun einigen dieser Fragen zu.

B. Die sozioökonomischen Perioden Brasiliens und der geschichtliche Werdegang des „Landadels"

Die sozioökonomische Geschichte Brasiliens teilt sich in verschiedene Perioden auf. Wenn auch nicht alle Autoren darin übereinstimmen , welche Krite ri en b e i dies e r Auft eilung anzuwenden sind, so spricht doch ein großer Teil von ihnen normal erwe ise v on vier großen Perioden, nämlich von d e r Brasilholz -Periode, von der Zuckerrohrperiode, von der Goldund Edelsteinperiode und schließlich von der Kaffeeperiode.

Jeder dieser Perioden entspricht ein Produkt, da s während eines bes timm te n Zeitraums die „Achse" der Volkswirtschaft bildete. Das will aber nicht heißen , daß mit dem Beginn einer neuen Periode das Produkt oder die wirtschaftliche Ausbeutung des Produk ts, das die vorausgegangene Periode gekennzeichnet hatte, verschwand. Die E inteilung b esag t lediglich, daß ein bestimmtes Produkt mit dem Beginn einer neuen Pe riode aufhörte, die wichtigste Gewinnquell e des Landes z u sein. Andererse its wird damit ke ineswegs d as Vorhandensein anderer Reichtümer ausgeschlossen, die für die bras iliani sc he Wirtschaft ebenfalls von großer Bedeutung waren, wie etwa die Vieh zucht, der Anbau vo n Ka kao und Tabak , die Gummigewinnung usw. Doch diese fügen s ich als wichtige und oft soga r als le be n sw ichtige Elemente in die Geschichte der zuerst g enannten gro ßen Perioden ein.

Was diese Perioden jedoch am tiefsten prägte, waren nicht die Produktionssyste me und -techniken sowie die Bewirtschaftung von Grund und Bode n, genauso wenig wie die Umweltbedingungen, unter den en s ie stattfanden, sondern ihre gesellschaftlichen Auswirkungen.

„ Es handelt sich um e in so umfassendes Zusammenspiel von Kräften , daß man durchaus von ,Agrarzivilisation en' wie der des Z u ckers oder des Kaffees sprechen kann" , m e int Fernando de Azevedo .,, Eine jede von ihn en ist aufs engste mit einer bestimmten Epoche sowie mit den je weilige n Naturgegebenheiten und der menschlichen Ges chichte verbunden J edes dieser landwirtschaftlic h en Systeme oder Regime dringt nicht nur bis ins I nnerste der Institutionen vor, sondern fahrt auch zu ei n em besonderen L ebensstil und einer eigenen M entalität Zum Verständnis der Struktur des Agrarsystems a ls Ganzes" is t e in e Analyse vonnöten, die auch „ e in e möglichst tiefgehende Untersuchung jener Prinzip ien oder Richtlinien einschließt, an denen sich die ländliche Gemeinschaft orientiert, sowie (eine Untersuchung) der Arten von gesellschaftlic h en Beziehungen und des für sie geschaffenen rechtlic h en G erüsts, das aus Traditionen , Gesetzen und Sitt e n h e rvorgegangen ist. " 1

1. Die Brasilholzperiode und die Kapitanate

Drei Jahre nach d e r E ntdeckung Brasilien s b egann über Ha nde lsn ie d e rla ss un ge n di e Nutzung des Brasilholzes, das von einem in großen M e n ge n an un serer Kü ste wac hsenden Baum g ewonnen wurde. D as Hol z di eses Baumes war auf d e n e urop äisc h e n Märkten se hr gefragt , weil man daraus e ine rote Farb e gewinnen konnte. Die Hande l s ni ede rl assu n gen hatten den Auftrag, die ents prechenden Bäume fällen z u lassen und ihr Hol z an Stellen zusa mmenzutragen, wo es l e icht auf Schiffe ve rl a d e n werden konnte.

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NIEDERGANG 17 9
1 a. a 0 , S 65

Zur Rodun g d ieses J lolzes wurden vor a ll em di e Ureinwohner herangezogen, denen ihre Auftra ggeber di e notwendige n Äxte und so nstiges Gerät zur Verfügung ste llten. Vo n e in e r K oloni s ierung konnt e man also zu d ie se m Zeitpunkt noch ni cht sp rech e n.

Da s ich Köni g Jono III. um die Ve rteid ig un g Brasi li ens So rgen machte, besch loß e r, Vorke h ru ngen für die eigentlic he Kolo nis ie run g z u treffen , indem er das Land in e rblich e Kapitan atc auf'tci ltc und dic~c Kapit ana tc Mä nn e rn unterstellte, di e „ e ntschlossen waren, in Bras ilien ::. 11 leh en. 1111c! clie iiher ge n iig e nd M itte l z ur Kolonisiernng des Landes ve1.fiigten ''. 1

Die erste Schenkungsu rkunde w urde am 10. Mä rz 1534 zugunsten e in es Mannes Na men s Duarte Coclho au sges te ll t. A nfang s ware n es in sgesa mt zwölf Kap itanate, be i de ren Vergab e der König dara uf ac htete, daß ~s .,die besten Leute waren..fi ·iih ere Seefahrei; Kri egsleu te, /Iiiflinge". (die diese er hi c lte n) -

Es han delte sich „11111 ei ne Art , on Fe u da lismus ·. 3 Nesto r Du arte vers ichert denn a uch: ,, Di e K apitan ate ,ind ihrer;/ 11sric ht1111 g und ihre n Au s wirkunge n nach einefeudale Organis a t io ns/arm , ist clocl, cliefe uda l e Ein ri c htun g g eg e niiber der königlic hen Gewalt vor a llem a n :::, rni Vora11sset:::1111ge11 :::11 erk e nn e n: l'O llst ri11rlige Oh e rtragung durch Ve rerbung und Verschm el::.ung ,·011 Oherho lieit und E igentu m . ... Di e z ur S c henkung g e höre nden Fre ibriefe e tablieren eine 1rnhre 1/'irtschafis /ii e rn rc hie, d e nn durc h den ,E rbleihevertrag we rd e n die Em pfän ger zu immerwii hren den Tr ibu tpflichtigen gege nüb er der Krone und deren L e hensträ gern_ den Kapitanatsgouve rn e urcn . 'Das i s t F e udalhie rarchie mit eiern König an der Spitze und mit den Tffritorialhe/'/'en au/den d a runter liege nde n St1 !fe n , bis hin z um Pä c hter und K o lonisten

Nac h Ro cha Pombo" war de r Lehe nsträgcr im Kapitanaten-Reg ime, der de n Titel „Ka pitä n" oder Gouvern eur trug, ein Stcl Ivcrtrete r des Kön igs Mit der Sche nkun gsu rkund e bew ilIigte ihm de r Monarc h bestimmte Lä nde re ie n des Kapitanats a ls vo ll ständi ges, unmi tte lbares und persö n li ches Eigentum, vom restl iche n Land stand dem Le he nsträger nur die Nutznießung zu .

A u s dem Lehen, das ihm de r He rr scher überla ssen hatte, zog e r se in en N utzen.

Di e mit dem Besitz des Ka pita nats ve r bu nde nen T it e l und Vo rt ei le wa ren un ve räußerlich und wurden als unteilbares Erbe a uf de n ältes ten Sohn übertragen . In der E rbfol ge ka me n a uf den näch sten Plätzen d ie j ewe il s jü ngeren männlichen Nac hkomm e n g le ich e n Verwandt schaftsgrad es, \\'Obe i d ie e he lich e n Kin de r Vorrang hatten vo r d e n uneh elic hen.

Im Rahm en der Gese tze de s Rei c he s un d inn e rha lb se in es Mac ht bere ic hs übte de r Lehenst räger die Rechte ei ne s So uv e rä ns au s . [hrn stand d ie bü rge rli c he und s trafrec htlich e Gerichtsbarkeit zu . Er e rna nn te de n Rev is ion s richter und di e Ju st izbeam te n und führte pe rsö n lich oder vertreten durc h de n R ev ision s richter den Vorsitz bei der Wahl vo n Rich te rn und Ra tsdienern.

Der Kapitän hatte a uße rde m da s Recht, S iedlungen zu g rü nden, wo immer ihm d ies angebracht erschien. Er hatte das Recht, ein e m jeden Antragste ll er, vorausgesetzt, daß es s ich um Ch ri sten handelte und da ß der Beg ün sti gte weder se ine e igene Ehefrau noch se in Nachfolge r im Kapita nat wa r, Grund un d Boden zuzuw e ise n. Er wa r der Eigentümer a ller Sa linen und Wassennü hle n oder so nstige r a uf de m Boden des Kapita nats errichtete r technische r An lagen.

180 ANHANG I
P EDRO Ci\l:--10'-. "I' cir Bel. 1. S 170 2 a II 0. J II. II 0. .-1 Ordem Pril'lu/11 e11 Org11ni:11('ao Polirica .\lacion11I. [ d it o ra Naci o na l. Col. ßras iliana r. 172 , S iio Paulo 193 9. S. 4 2 u. 44. 5 Vg l. /-lis16ri11 t!o /Jrmil. \\ ' ~ I. .J ackson ln c. Ed i to rcs. R io de J anei ro 1942 ßd 1. S. 131 ff.

Es standen ihm auch der zwanz igste Te il de s durch den Ve r ka uf vo n B ras ilholz und F ischerei produkte n erz ie lte n Gew in ns, der doppelt e Ze hnt e von allen Ste ue re innahme n des Fi skus, di e Binn e nhafen z öll e sow ie eine Ja hresrente in Höhe von 500 Re a l zu, die ih m di e Notare der im Kapit a nat ge legenen Städte und Dörfer z u en tri chten hatte n .

De r Ha nd e l mit de n übrig e n Lä nd e rn de s Kö ni g rei c hs und mit dem A us la nd wa r fre i, a uf letztere n w urd e alle rding s de r kön iglich e Z ehnt erhoben.

Rec hte und Pfli ch te n de r Koloni s te n waren in Fre ibri efe n festge legt. D ie Just iz sowi e d ie bürgerlichen und politi sche n Rec ht e w urd en nach de n Gese tzen un d Usa nce n des M utterla nd es ge han dh abt. So wa re n e twa d as Beantra gen und das ln empfa ng ne hmen vo n Ses mari a-Lände reien , die Befreiun g vo n nich t ausdr ücklich im Freibrief a u fge li stete n Ste ue rn , sowie vö llige Hand e lsfrei he it und d as Privileg gege nüb e r au slä nd ische n Kau fleute n gewährle iste t.

Die Koloni sten wa re n ve r pflicht et, im Kriegsfall m it a llen ihre n Abhän g ige n - Sö hnen , A ngehörigen und Skla ve n - de m Ka pitä n Gefol gschaft zu le iste n.

Di e Krone besa ß das Mo nop o l a uf Bra s ilhol z Spezerei e n und Kräut e r und e in Anrec ht auf de n fü nfte n Te iI a l!e r im Land gewo nn ene n Edcl stc inc und Edel meta! lc (nac h A bz ug des für d e n Lebensherrn bes timm ten Zeh nte n) sowie a uf de n Ze hnt en der Fe ldl'rüc hte u nd des Fi sc hfangs.

Di e Au sgaben fü r de n c hri s tli c he n Kult hatt e de r Köni g z u tragen

Auf di ese We ise na hm die sys te m ati sc he Aneignung und Ko lo n is ierung brasilian ische n Boden s ihre n A nfan g. Ped ro Ca lm o n ber ich te t üb er Du a rt e Coe lho , de n e rsten Le henshe r rn , daß di ese r „ au/se in e n Ländereie n Woh n sitz nahm und das weise Vo,geh en Mart in Afo nsos in S ao Vi cente wiederh olte : E r gründe t e eine Si edlung, legte Zuck e rroh ,.felder an. li eß e ine Z u c k ermühle e rri chten, su c hte d i e Ve rständigung mit den e in s ich tige n Indi ane rn und g ing hart gegen diefe indlich ges innten vo r ' 1

2. Die Zuckerrohrperio de

Da s Anl ege n von Zu c k e r ro hrpfla nzungen und di e Erri c htung vo n Z uck e m,iihlen, wo vo n der Historiker s pricht, s ind Hinweise a uf e in e a ngehende Landw ir tsc haft, die den Me nsc he n an di e Erde z u bind e n bega nn.

Damit nahm di e Zuckerroh rp e ri ode im feuda le n Ra hm en de r Ka pitanatc ihr e n Anfa ng . „ Der Anbau d er von Madeira iiben· Meer geb ra chten Zucke rmlzrpjlanzen 11w d e ::u der bereits in de n S chen kungsu rkunden der brasilianisch en Kapitanate vo1ges eh e11e11 und empfohlenen Hauptb eschäfiigung in Sao Vi cente, E.spirito Santo, Bahia, P ema111buco, Ilh eus und Itamaraca .... D ie erste n Z ~1ck ermiihlenherren wa ren d enn au ch die L ehensherren selbst. ' '2

An fa ngs widm e ten s ich no rm a le rwe ise nur vermöge nde Leu te de m Zucke rroh ra nb a u, de nn. , der hoh e Pre is, derßir die importi e rte n N eger z u z ahlen wen; schrec kt e viele N e uank ömm lin ge, d ie sich auße rd em noch nic ht an d ie klimatisch e n Ve rhältniss e ge1 l'öhnt hatte n , von dies er Tätig k e it ab. Di e Z uck e r h erstellung lag daher in den Hände n e in es .spärliche n , durc h E h esch ließunge n verbunde n e n Landade ls, d er s i c h lan gsam in dieser dii(ßigen Umgebung bilde te, in d e rj ed e Tä tigke it e in e n geruh sa m e n Rhyt hmu s ve rlangt e ..'

ENT STEHU NG, ENTWICKLUNG U ND N IEDERG ANG .. . 18 1
1 " ·· a 0.. 13d 1, S . 172 2 P EDRO CA Ll'vlON a a 0. 13d.
3 a a 0.. S.
II. S 355 f".
358.

a) Auftreten des Zuckermühlenherrn

Pedro Calmon spricht von einem „Landadel", denn der steuerfreie Zuckerhandel mit dem Mutterland , der zu einer raschen Ausdehnung des Zuckerrohranbaus und zur Errichtung weiterer Mühlen führte, schufnach und nach einen soliden Reichtum und konsolidierte damit die Kolonisierung und die entsprechende gesellschaftliche Organisation, an deren Spitze sich eine Landaristokratie herausbildete. ,,Das Prestige ihrerfamiliären, wirtschaftlich e n und religiösen Organisation - mit Herrenhaus, Mühle und Kapelle - und die auf ihre m Großgrundbesitz angesammelte Macht lassen aus den Eigentümern des fruchtbaren Küstenlandes eine Landaristokratie hervorfehen: Mühlenherren sind oder werden die , Wohlgeborenen ', die Edelleute jener Zeit. "

Ein anderer Autor weist daraufhin, daß„ das Auftreten des ,Zuckermühlenherrn 'und der Sippe, die sich um ihn herum bildete" ohne Zweifel als die wichtigste gesellschaftliche Folge der brasilianischen Zuckerrohrperiode anzusehen sei. ,,Ausgehend von der Inbesitznahme das Bodens wirkt sich der herrschaftliche Einfluß umgehend im Anlegen von Zuckerrohrplantagen aus. Dieses Anlegen der Plantagen wurde entweder aufder Basis der Pacht oder des unmittelbar vom Unternehmer selbst durchgeführten Anbaus in Angriff genommen. In diesem Fall haben wir die Sesmaria-Ländereien. In anderen Fällen fand die - stets auf Knechtschaft gestützte - Kolonisierungsarbeit in Form von ,Selbsthilfeaktionen' mit dem ,solidarischen Beitrag' der ärmeren Nachbarn statt.

Mit der Errichtung von Zuckermühlen wird eine komplexere Arbeitsteilung notwendig. Die Befeuerung der Kessel und die Verpackungsherstellung e,forderten die Zulieferung von größeren Holzmengen. Der Transport bedurfte geregelter Schifffahrtsverbindungen innerhalb der Buchten, auf den Flüssen und übers Meer. Es mußten Verbindungen mit Aufkäufern, Zwischenhändlern und oft auch mit internationalen Kapitalgebern geknüpft werden. War erst einmal unter natürlicher Führung das Fabrikations- und Siedlungszentrum angelegt, zog dieses immer mehr Menschen an, die sich über die Rassengrenzen hinweg vermischten Über allen aber stand der allmächtige Mühlenhen; dessen wachsender Wohlstand, wenn nicht gar Reichtum, ein allgemeines Merkmal dieser Wirtschaftsordnung darstellte. ... In großen Zügen sind dies die bedeutendsten Aspekte der für die ganze Entwicklung Brasiliens folgenreichen Zuckerrohrperiode, denn als erste landwirtschaftliche und industrielle Tätigkeit bestimmte die Zuckerherstellung während der ersten beiden Jahrhunderte das nationale Leben und war noch während der Kaiserzeit für weite Gebiete bestimmend. "2

b) Umfeld und Sitten der Mühlenherren

Am Anfang war das Dasein dieser edlen Klasse von großer Härte geprägt und es fehlte auch nicht an Gefahren, denen der Mühlenherr sich mutig zu stellen hatte. Unter diesem Aspekt ähnelte seine Lage durchaus der des Adeligen Herrn in der Frühzeit des Feudalismus in Europa.

In dieses Bild paßt denn auch die Beschreibung seines Wohnsitzes, der - wie übrigens auch die Burg der Feudalherrn - einer Mischung aus Re s idenz und Festung glich. ,,Das Herrenhaus", wie man üblicherweise das Haus des Mühlenherrn bezeichnete, ,, glich einer Redoute. "Im Inventar des Generalgouverneurs Mem de Sa ist folgender Eintrag zu lesen: ,, Neues, befestigtes Haus aus Stein und Kalk, mit neuem Ziegeldach und halb mit Fußboden ausgelegt und gänzlich mit Holz für die Veranda umgeben, die noch ausgelegt

182 ANHANG!
1 FERNANDO DE AZEVEDO , a. a 0. , Bd XI , S 107. 2 HELIO VIAN NA, Formar;cio Brasileira. Livraria Jose O lympio Editora , Ri o de J aneiro 1935, S. 36, 38 u 39.

werden muß." Außerdem wird ein„ überdachtes, mit Palisaden umgebenes Bollwerk " erwähnt.'

„Aufden Landgütern fohlte man sich wie im Krieg", schreibt Theodoro Sampaio über das erste Jahrhundert der Kolonisierung. ,, Die reichen Herrschaften suchten ihre Wohnund Hofsitze mit doppelten, mächtigen Palisadenzäunen zu schützen, wie sie bei den Ureinwohnern üblich waren. Die Wälle wurden von Dienern, Anhängern und Jndian ersklaven bewacht. Im Notfall dienten sie auch den Nachbarn als Zufluchtsort, wenn diese sich plötzlich von den Barbaren angegriffen sahen. " 2

Der wirtschaftliche Aufstieg erlaubte den Mühlenherren in einer späteren Epoche den Bau von komfortableren, ansehnlicheren Wolmsitzen. ,,Herrenhäuser mit der Ziegel- und Sklavenhütten überragenden Kapelle bezeugten die Dauerhafiigkeit der hier angehäuften Reichtüme,: Generation um Gen eration verstand es, diese im Schutz ländlich er Ruhe und im Schatten der Institutionen zu erhalten, die den Fortbestand der Zuckermühle und ihre lebendige Einheit in jener defensiven Abschirmung gewährleisteten, in der sich in aller Diskretion und Würde das Klassen-, National- und Autonomiebewußtsein der Herren entwickelte "3

Der patriarchalen Autorität, der Macht und den Gütern der Mühlenherren entsprachen „ e ine Größe und ein Prunk, die nicht nur ai!fdie Chronistenjener Zeit, sondern auch

ausländischen Reisenden einen tiefen Eindruck machten. Alles an ihren Häu sern aus Stein und Kalk oder aus Backstein verriet neben dem Reichtum die Umsicht und Gastlichkeit der alteingesessenen Familien und der patriarchalen Lebensweise, deren religiöser Geist in Zierkreuzen, Heiligenschreinen und Kapellen ihren Ausdruckfand". 4

Der Glan z dieser herrschaftlichen Landsitze war so b ee indruckend, daß Labatut5, als e r durch das G e biet um die Bahia-Bucht zog, um Salvador zu belage rn , bei ihrer Ansicht verwundert ausrief: ,,Sie seh en aus wie Fürstentümer". 6

Gastlichkeit und Überfluß entsprachen dem gezeigten Prunk. So erklärt s ich etwa der übe1wältigende Eindruck, den P. Fernäo Cardim in se inem Bericht festhielt:,, Was auf diese r Reise mein Erstaunen erregte, war die Leichtigkeit, mit der die Besucher untergebracht und verköstigt wurden. Wir konnten zu irgendeiner Tages- oder Nachtstunde ankommen, in kürzester Zeit stand/ur die Mitglieder der GesellschG;[t Jesu (undfii r un sere Reisebegleitet) ein Mahl bereit. .... Alles ist in diesen Häu sern in so großer Fülle vorhanden, daß man meinen könnte, man sei bei Grafen zu Besu c h. " 7

Die baulichen Verbesserungen entsprachen der Kleidung der Damen und Herren und dem Glanz ihrer Belustigungen.

Zu Beginn des zweiten Jahrhunderts der Kolonisierung berichtet der Verfasser d es Valeroso Lucideno8 von den Adeligen in Pernambuco, daß „ der unter ihnen als arm angesehen wird, d er nicht ein Silber-Service sein Eigen nennt, und daß die Damen so reich gekleidet

1 PEDRO CALMON , a. a. 0 ., Bd. ll , S. 360

2 GILBERTO FREYR E, a. a. 0., Bd. 1, S. 24.

3 PEDRO CALMON: a a. 0.. Bd. 111 , S. 916.

4 FERNANDO DE AZEVEDO. a a 0 ., Bd XI , S. 80.

5 Ein französischer Offizier, der im Dienst des ersten Kaiserreiches die brasiliani sc hen Truppen anführte , welche die gerade erst erlangte Unabhängig keit zu festigen hatten.

6 Vgl. FERNANDO DE AZEVEDO, a. a 0. . Bd. XI , S. 4 8

7 Tratados da Terra e Genie do Brasil. Livraria lta tia ia Ed itora, Belo Hor izo nte, S l 57 f.

8 Das Werk O Valeroso lucideno wurde 1648 in Lissabon veröffent licht. Es beschreibt inmitten des Kampfgeschehens den epischen Aufstand gegen die holländichen Ketzer in Pemambuco. Der Verfasser dieser Schrift ist P. Manu e l Ca la do , au c h P. Manuel von Salvador genannt, einer der Helden dieser Erhebung.

184 ANHANGI
ai!{die

und geschmückt sind, daß man meinen könnte, es habe, Perlen, Rubine , Smaragde und Diamanten auf sie geregnet' " 1

Derselbe Historiker fügt ein paar Seiten weiter noch hinzu: ,,Diese Aristokraten Pernambucos pflegten noch die Reittraditionen aus der Zeit König Duartes, des Reiterkönigs

Welch eine Hingabe legen sie bei den Stierkämpfen, den Pferderennen, den Ritterspielen an den Tag. Als ausgezeichnete Reiter legen sie Wert auf Stolz und Kühnheit, alle glänzen durch Eleganz und Anmut im Sattel, durch das reiche, mit Silber bedeckte Pferdegeschirr, durch die Gewandtheit im Stierkampf: durch das ritterliche Aussehen, mit dem sie s ich im Lanzenstechen, Kugelwurfund Stabspi e l üben. "2 Diese Traditionen und Ritterspiele galten in portugiesischen Adelskreisen als ein beliebter Zeitve1treib.

Bedeutungsvoll ist auch die Aussage, die wir von Joäo Alfredo Cornea de Oliveira bes itzen: „ Die Zuckermühlenherren bildeten eine würdevolle, in Einigkeit verbundene, wohltätige und gastliche Klasse. Sie pflegten einen noblen Umgangston, ritten korpulente, reich geschmückte Pferde, ließen sich von Pagen in tressenbesetzten Un(formen begleiten. Das Volk achtete sie und grüßte sie eh,:fitrchtsvoll. In der Stadt gingen s ie im Frack zu den Kirchenfesten, zu den Sitzungen des Schöffenrats oder des Geschworenengerichts und zu den Wahlen. "3

c) Militärischer Einsatz der Zuckermühlenherren

Das Leben der Edlen des Mittelalters und des A ncien R egimes erschöpfte s ich j e doch keineswegs im Luxus und im Glanz gesellschaftlicher Veranstaltungen. Auch der durch die jeweiligen Umstände auferlegte Krieg nahm darin einen ganz b eso ndere n Platz ein.

Nicht anders erging es e inst den „guten Männern" und den Adeligen in Brasilien. So bildeten die Zuckermühlenherrenjene große Streitmacht, die sich den Invasion e n von Holländern , Franzosen und Engländern -den Feinden des königlichen Glaubens - entgegenstellte , und die ebenso die Angriffe jener Wilden zurückschlug, die sich der Evangelisierungsarbeit der Missionare widersetzten. Die Landari stokratie bestärkte dabei ihre n noblen Charakter durch ein militärisches Heldentum, das stets zu Wesen sz ügen der adeligen Klasse gehörte und den übrigen Adelsvarianten als Vorbild diente.

„Die Organisation der Zuckermühle, die gleichzeitig als H erstellungsbetrieb und als Festung diente, trug entscheidend zur Verteidigung des Küsten streifens bei. Als Fabrikationsb e trieb und Festungsanlage mit seiner zahlreichen, von Sklaven und Landarbeitern gebildeten Bevölkerung setzte das auf engste mit der Geschichte der Zuckerrohrperiode verbundene Herrenhaus der Zuckermühlen, das den Grundstein unserer Zivilisation gelegt hatte, der holländischen Inva sion den zähesten Widerstand entgegen. Der fi-uchtbare schwarze Boden unterhielt in den Küstengebieten die Zuckermühlen , in deren mit Mauern umgebenen und zur Verteidigung gegen anstürmende lndianerstämme .festungsgleich ausgebauten Herrenhäusern mit Organisation sgeist und Disziplin die Waffen gesc hmiedet wurden, mit denen sie~ die Kolonie der einfallende n Korsarensch([/e und der holländischen Invasoren erwehrte. "

Gilberto Freyre hebt übrigens den grundsätzlich religiösen Charakter dieser militärischen Aktionen hervor:

186 ANHANG!
2 a a. 0. , S. 9. 3 a a. 0. , S. 7 1.
1 F. J. OLIVEIRA VIANNA , Populw;oes Meridio11ais do Brasil. Bd. 1, S.7. 4 FERNANDO D E AZEVEDO,A C11/t11ra Brasileira - flltrod11r.;iio ao Estudo da C11/t11ra 110 Brasil, Ed itora Melhoramentos, Säo Paulo,2. Aufl., S. 154.

„Aiif' dem amerikanischen Kontinent wiederholte sich unter den über ein ausgedehntes Territorium verstreuten Portugiesen der gleich e Einigungsvorgang, der auch aiifder iberischen Halbin sel s tat~fand: Christen gegen Ungläubige. Unsere Kriege gegen die Indianer waren nie Kriege von Weißen gegen Rothäute, sondern von Christen gegen wilde Indian er Unse re Fe inds eligkeit gegen Englände1; Franzosen und Holländer hatte stets denselben relig iös-vorbeugenden Sinn: K ath oliken gegen Ketze1: ... Es sind Sünde, Häres ie, Untreue, denen d er Zugang zur Kolonie verweigert wird, nicht dem Auslände1: Im Indian er wil d der Unffläubige als Feind bekämpft, nicht der Vertreter einer anderen Rasse oder anderen Hautfarbe."

3. Die Gold- und Edelsteinperiode

Nach der Kolonisierung der Kü ste nimmt di e Eroberung d es H inte rl andes ihre n Anfa n g . Mit ihr beginnt auch die P e riod e des Go ldes und der Ede ls t e ine , di e vo r a lle m vo m Ein satz d e r Bandeirantes ( Pioni e re) geprägt wi rd. In ihn en kommt auc h ein neuer Zug un se re r Landari s tokratie zum Vorschein.

a) ,,Erkundungs"- (Entradas) und „Fahnenzüge" (Bandeiras)

Um die Bedeutung und die große Wichtigkeit der „ Fahne nzü ge" z u verstehen, m uß man berück s ichtigen, daß s ich di e Koloni sie rung unse res Landes durch Po1t uga l zue rst e inm a l auf de n ausgedehnten Küstenstre ifen beschränkte. Die ungeheu ren We ite n des Hinte rl and es , da s hinter dem Küstenstreifen aufstieg, waren noch längst nicht erktmde t, e rschlosse n und a usge nützt.

Zu diesem Zweck mobili s ierten s ich nun sowoh l die s taatliche In it iat ive, d as he ißt die Krone, als auch di e Privatinitiative.

Gewöhnlich wurden di e vo n der Kron e, d as he ißt hi e r konkret v on den ö rtli c he n B e hö rden geförderten Aktionen d es Vordringe n s in s L a nd es inn e re als „E ntrada s" (Erk undun gszüge) und di e von d e r privaten Initi a ti ve a u s g e h e nd en a ls „Bande iras" (Fahnenz üge) bezeichnet. Als sollten sie bereits se it d e n Anfängen die g rö ße r e Durch sc hl agskraft d e r Pri va tinitiative unter Beweis ste ll e n , hatte n die Fahne nz ü ge unte r un s e in en un g le ich g röße re n Aktionsradius und Erfolg z u ver buch en .

Nach Ro c ha Pombo s t a nd e n die e r ste n Exped it ion e n , di e man a l s „Fa hn e nz üge" b ezeichnen kann , ,, unter der Führung von Mem de Sa, Dia s Adorno und N icolau Barreto •·. Derselbe Historiker we ist darauf hin , daß „ die A l!fgabe dieser e rste n Expedit io n en vor all em darin besta n d, die später immer wieder begangenen Wege in di e Mitte d es Kontinents zu bahnen, die von nun an als Ventil e dien en sollten, durch welche die wiederaufleb e nde Kraft der am Meer gelegenen Zentren ins tiefe Hint erland gepumpt wi rd". 2

Ein anderer Autor hebt di e L e istung d e r „Fa hnen z üg e" a ls Erobe re r und Ersc hli eßer d es La nd es herv or: ,,Das abenteuerliche Element ihrer Natur li eß s ie m e hr aitfAusbre i tung denn aufSeßhaftigkeit aus sein, s ie wo llten mehr e robern als sic h nie de rlassen, mehr ausbeuten als produz ieren. Ihr erobernder Arm war es, der die Grenzen immer weiter nach vo rn sch ob , nicht die tägl iche, unermüdliche A rbeit mit d er Ha cke, d ie vo n ji·iih bis spät un s ere Gesellschaftsstruktur aiifbaute . Diese kam dann aus dem N orden mit der Ausbreitung der kulture lle n· Zentren Bahias und Pernambu cos . " 3

Ohne j ede n Zweifel war de r G ew inn e ine der Anh·iebsfedem der „ Fahnenz üge". Doch wä re es s icher e in große r Intu m , in ihm das e inz ige Ziel zu sehe n, das ihnen vor Augen sta nd.

188 ANHANGI
1 a. a. 0 ., ßd. 1, S 350f. 2 a a 0 ßd. II , S. 293 3 ALM IR DE AN DRADE, Formtu;:äo da So ciologia Brasileira , Livraria Jose Ol ympio Ed itora. Rio de Ja nei ro 194 1, ßd. 1 S 100

„ D er Ausgangspunkt d er„ Fahnen züge" ist i m wesen tlichen e in moralischer; eine rseits spiel t ein bißchen der p e rsön lic h e Ehrgeiz mit, Schätze entdecke n zu wollen, und andererseits der große Traum der S i edler von Sao Paulo,jiir ihren K önig ein riesiges Reich zu erobem, dessen G renzen mit den vo n der Natu r geschaffenen zusammenfallen sollten - vom Atla n tik so llte es über die Ströme des P la ta , des Parana und des Paraguay b is z u den Anden und zum Amazon as reichen . " 1

M an ka nn j e d oc h ke in eswegs b e h a upt e n , d a ß di e A u s brei tun g d es G la ub e n s d er Meh rhe it d e r Bandeirantes ( F ah n e n z ug te il ne hm e r) nicht a m H e rze n ge le g e n is t. Si e wa r n otged run ge n d as Erge bni s ih re r Ersc hl ie ßun gs b e mühun ge n u n d d e r A n s ie dlun g ei n e r ge t a uft e n Bevö lke run g in jen e n G e bi e t e n , ü be r w e lch e di e M o narc he n Portu ga ls nun ihre O b e rhoh e it a us üb en ko nn te n. F ür di ese M ona rc h e n wa r di e A u sbrei tu ng d es Gl a ub e n s stet s e in es d e r Ha up tz ie le d e r ü be rseeisc h e n E rob e run ge n gewese n. A u s d iese m G rund be trac hte t e n s ie a uc h E rkun d un gsz üge und Fäh nl e in mit d e m g leic h e n Wo hl wo ll e n ,, Di e aus Baumstämmen und L ehm errichtete und mit Riedgras bedeckte rustikale Kapel le war das erste ö_ffe n tl iche Bauwerk im Durcheinander desfreien Feldes Sie konnte an irgendeiner Ste lle stehen, etwa attf der K uppe eines Hügels, wo ihr ein grob gezimmertes Kreuz zur Seile stand und von wo aus sie die strenge Landschaft beherrschte, oder a ber in einem abgel egenen Tal Wenn sich die H ojji1Ungen erfüllten, das heißt, wenn in der Umgebung des Flußlaitfs' Gold in genügender Menge gefimden wurde, brei tete sich das Lager schnel l aus, Hütten wurden gebaut, Pfade wurden in Straßen verwandelt, und die Kapelle wurde vergrößert,jester gebaut oder überhaupt neu errichtet. Viele dieser ersten Klausen , von denen ein ige wah rscheinlich noch aus den letzten Jahren des 17 J ahrhunderts stammen, stehen mehr oder weniger verändert noch heute in der Umgebung der Städte und Dörfer in Minas Gerais und erinnern mit ihrer Gegenwart an die ersten Versuche geistlichen Leb e ns i n diesem Teil B rasiliens. "2

U m s ic h e in besse res Bild vo m ho h e n geistige n Idea l d e r B ewoh ne r vo n Sao P au lo i n der K o lo ni a lze it z u m ac h e n , brauc ht m an sic h nur vor A uge n zu fü hre n , ,,wieviele Männer aus den besten Fami l ien Piratiningas [ d as wa r d a m a l s d er e r s t e Na m e Sao P aul os ] H aus und Herd, H ab und Gut verließen, um den L andsleuten im Nordosten in ihrem Kampfgegen die Hollände1; gegen d ie l ndianerstämme der Cariri und Guere m oder gegen die geflohenen Schwarze n von Palmares beizustehen . ... Sao Paula ve rdanken wir diesen ersten Entwurfeine r e inigen Nation, denn nie hat es seinen Schutz den e n versagt, die seiner an irgendeiner Stelle der Kolonie bedurften. " 3

b) D e r „Ba n d eirismu s" u nd d e r „ Landade l"

We nd e n w ir u ns nun d e r Ro ll e de r „Fa hn en z ü ge" b e i de r H e rau s bildung un se res La n dade ls z u.

Z u di ese r Ze it, a ls nac h e in e m von Ja ime Cortesao gep r ägte n A u sd ru c k „ die Vororte Sao Paulas der Atlantik und di e Anden und seine Haup t verkehrsadern der Plata und der Amazonas waren "4 , ka m e n di e Anführer d iese r U nte rn e hmun ge n vo r a lle m aus d en Re ih e n de r „g ut en Män ner" . Und ma nc h er, de r noc h ni c h t z u d iesen z ä hl te, st ieg in ihre n R a n g a u f, we il

1 F CONTREIRAS RODR IGU ES , Tra ras da Eco110111ia Social e Politica do Brasil Colo11ial Ar ie ! Editora, 1935 S 181

2 AFONSO AR INOS DE MELO F RANCO A Sociedade Ba11deira11te das Mi11as , in : A A V.V , Curso d e Bandeirologia, Dcpanamcnto Estadual de lnforma9öcs. 1946, S 90.

3 F. CONTRE IRAS RODR IGUES a. a 0.. S . 190

4 Rapos o Tarnres e a Forma<:äo Tel'l'irorial do Brasil. lrnprcnsa Nacio nal, Rio de Janeiro 1958. S. 135.

ENTSTEHUNG, ENTWI C KL UNG UND NI EDER GANG .. . 1 89

er sich unerschrocken zeigte, denn „ damals war es die Bravour, die das gesellschaftliche Prestige bestimmte". 1

Deshalb kann man bei Oliveira Vianna weiter lesen , daß„ der Adel Siio Paulas damals vor allem ein kriegerischer Adel war. Die Adelstitel gründeten auf die Heldentaten der Fahnenträger bei den Expeditionen . ... Diesen Aspekt des Bandeirismus und der Gesellschaft Sao Paulas während der ersten beiden Jahrhunderte der Kolonialzeit gilt es zu verstehen. Was hier geschah, entsprach in allem aufs genaueste den Ereignissen, die wir zur Genüge aus dem Frühmitte/alter kennen. In den ersten Jahrhunderten des Mittelalters hing der gesellschaftliche Wert eines Mannes von seiner Bravour, das heißt von den im Krieg errungenen Verdiensten ab. Auf diese Weise bahnte er sich seinen Weg in die Schicht der Aristokratie". 2

4. Der „Landadel" vor dem König und dem Adel des Mutterlandes

Nun gilt es auf die Frage einzugehen, welche Haltung die po1tugiesischen Könige, der Hof und die Adeligen des Mutterlandes gegenüber den „guten Männern" und dem „Landadel" einnahmen. War es eine Haltung freimütiger Aufnahme mit der Tendenz zur völligen Anpassung selbst in den Fällen, wo es sich nicht um Auszeichnung wegen heldenhaften Verhaltens handelte?

a) Zuckermühlenherr - ein dem Adel vergleichbarer Rang

Pedro Calmon zitiert folgenden Text aus dem Dialog über die Größe Brasiliens: ,, 'Die reichsten unter ihnen besitzen Zuckermühlen und den entsprechenden Herrschaftstitel, d en ihnen seine Majestät in Schreiben und Einsetzungsurkunden gewährt hat, und die übrigen nennen lediglich Zuckerrohrposten ihr Eigen' Zuckermühlenherr bedeutete demnach eine ,Lehensherrlichkeit' adeligen Gehalts und feudaler Natur: Er war ein Hinweis auf Herrschaftlichkeit. Dah er konnte Ferniio Cardim behaupten, daß sich die brasilianischen Edelleute , wie Grafen verhielten'. " 3

Und Fernando de Azevedo sagt kategorisch:,, Zuckermühlenherr war ein unter den Edlen des Reiches üblicher Adelstitel. "4

Auch Luis Palacin äußert sich in diesem Sinne: ,.Der Titel eines Zuckermühlenbesitzers führte seinen Träger von selbst in die R eihen des Adels und der Macht ein . ... Antonil5 verglich die Zuckermühle mit der europäischen Lehen s h errschaft: , Viele bemühen sich um den Titel eines Zuckermühlenherrn Ein Zuckermühlenherr zu sein bedeutet in Brasilien so viel wie entsprechende Titel unter den Edlen des Reiches'. " 6

P. Serafim Leite, der ausgezeichnete Historiker der Gesellschaft Jesu in Brasilien, zitiert in seinem Werk den Brief eines Jesuiten aus Bahia, Henrique Gomes, aus dem Jahre 1614: ,, Zuckermühlenherr, , das ist der Titel auf den sie sich bei besonderen Gelegenheiten berufen, um sich als Adelige auszuweisen, was tatsächlich auch für den größten Teil der großen

3 a. a. 0 ., Bd. II , S. 358

4 Canaviais e Engenhos na Vida Polfrica do Brasil, S. 88

5

190 ANHANG!
I F. J. 0LIVEIRA VIANNA, lnstituit,:oes Polfticas Brasileiras. 2 Aufl., Bd. 1, S. 170 2 a. a. 0., S l70f. Pseudonym des Jesuitenpaters Joäo Anto nio Andreoni , der sich 17 1 1 in Brasilien a ufhielt und aus se iner Erfahrung heraus d as Werk Culrura e 0pulencia do Brasil por s uas D rogas e M ina s ve rfaßte. 6 a. a. 0„ S. l8lf.

Herren in Brasilien zutrifft'." Und P. Serafim Leite meint da zu: ,,Alle modernen Autoren, die sich mit dem gesellschaftlichen Leben in Brasilien beschäftigen, weisen aufden aristokratisierenden Charakter der Zuckerwirtschaft und der Zuckermühle hin. So ist die Beobachtung des Jesuiten aus dem Jahre 1614 mit den Ausdrücken, die er benutzt, als ein beredtes zeitgenössisches Zeugnis anzusehen. " 1

Carlos Xavier Paes Barreto behauptet im Hinblick auf die Zuckermühlenherren: ,,Der Adel war eng mit dem Boden verbunden. Wenn die Namen der Bauern auch nicht wie einst im alten Rom aufMarmorplatten in den Amphitheatern verewigt wurden, so standen ihnen doch alle Vorrechte des Adels zu. " 2

Die Behauptungen der hier zitierten Autoren scheinen eine gew isse Nuancierung zu verlangen. Mit anderen Worten , der Leser darf aus den obigen Zitaten k e ineswegs sc hli eße n , daß sich der Zuckermühlenherr unter dem Gesichtspunkt der Adelung in einer so p räz ise n und eindeutigen Lage befand oder so genau bestimmte öffentliche Aufgaben wa hrnahm wie der eigentliche Adel in Portugal.

b) Die „ehrbaren Männer" und die „guten Männer"

Luis Palacin weist darauf hin , daß zu Beginn der Kolonialzeit in Brasilien zweifelsohne ,, auch die feststehenden Adelsbezeichnungen z ur Benennung von Personen zu finden sind: ,Edelmann', ,Ritter', ,Adeliger'. Doch stößt man selten auf den Gebrauch dieser Titel; viel häufiger wird eine verallgemeinernde Bezeichnungjiir all diejenigen benutzt, die infolge ihres Reichtums, ihrer Macht und ihres gesellschaftlichen Prestiges eine mehr oder wen iger einheitliche Klasse bildeten: , die Prinzipalen des Landes', , die Mächtigen', , die Angesehenen' waren einige der damals gebräuchlichen Bez eichnungen. immer wieder wird aber eine Bezeichnung gebraucht, die in besonderer Weise den adelnden Wert von Macht und Geld in der Kolonialgesellschaft zum Ausdruck bringt: , homem honrado' (ehrbarer Mann). Dabei ist es bestimmt nicht leicht, das Ideal eines ehrbaren Lebens genau zu umschreiben. In seiner Wurzel beinhaltet der Ausdruck aber sicherlich das ritterliche Streben des mittelalterlichen Adels. "3

Die verschiedenen gesellschaftlichen Kategorien, aus denen sich d e r „Landadel" zusammensetzte, sowie andere gesellschaftliche Gruppen, die im Leben der Kolonie eine herau sragende Rolle sp ie lten , beinhalteten auch die Bezeichnung „gute Männer". Dazu schreibt Alfredo Ellis Jr.: ,,In jeder Ansiedlung gab es die Gruppe der ,guten Männ er', das heißt der Hauptpersonen des entsprechenden Gebietes, die sich durch Geburt, Besitzsta nd und du rch den Ruhm auszeichneten, den sie im Kampfgegen die Wilden, gegen die Feinde von außen oder gegen die Widrigkeiten der Umwelt usw. erlangt hatten. "4

Nach Oliveira Vianna „ wurden die Namen dies er ,guten Männer ' in d ie Adel s bücher der Gemeinderäte eingetragen . ... Daß e in er in di e Stimmkugel, das heißt in das Gemeinderatsverzeichnis eingetragen war, war ein Hinweis aiifseinen Adel. AufAntrag der Interess ierten wurden entsprechende , Geschlechterbriefe' ausges tellt. " 5

c) Privilegien des „Landadels" - die Gemeindeleitung

Wie wir gesehen haben, stellten die E lite n, die den „Landadel" bildeten, sowoh l b e i der Verteidigung der brasilianischen Küste gegen ausländische Mächte wie Frankre ic h und

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NIEDERGANG ... 191
1 Hist6ria da Compa11h ia d e J esus 110 Brasil, l nst ituto Nac io na l do Livro, R io de Janeiro 19 45 , Bd. V , S. 452. 2 a. a 0 ., S. 127. 3 a. a. 0. , S. 184. 4 Res111110 da Histuria de Sciu Pau/u, Tipografia Brasi l, Säo Paulo 194 2, S. 109 5 a. a. 0. , Bd l, S. 162.

Holland, als auch bei der Erschließung des Hinte rland es und den Kämpfen , die z ur Bes iedlung notwendig wurden, immer wieder ihren Mut unter Bewe is.

Für die in diese m Zusammenhang geleisteten Dien s te gewährte der Monarch den genannten Eliten Privilegien, Auszeichnungen und Ehren. Unter den Pri v ilegien möchten w ir besonders die Leitung der Gemeind e kammern herv orheb e n Di es e wo hl wolle nde Haltu ng der Krone gegenüber der brasilianisch e n Gesellschaft und dem s ich hi er al !mählich s trukturierenden Staats we se n beschränkte s ich übrigens k e ineswegs a u f E hrun ge n gelegentlichen militärischen Heldentums.

Rocha Pombo berichtet , daß die Aristokrati e Pernambucos , di e s ich wä hrend d es Aufstands gegen die holländi sc hen Protestanten mit großem Ruhm bedeckt hatte , nun eine R e ih e von Privilegien für sich in Anspruch nahm und daß „sich die Metropole e(fi-ig bemühte, die Forderungen der B evölkerung Pern ambucos z u e,jiillen und ihr alle Zugeständnisse einzuräumen. So entsprach die Metropol e auch dem B egehren der Bevölkerung, die Verwaltung und Regierung des Landes jenen Helden anzuvertrauen, die es befi'eit hatten" 1

Und Alfredo Ellis Jr. bes tätigt di es mit den Worten: ,, I n den Gemeinden wurde die Ma cht nun von den legitimen Eroberern des Landes ausgeübt, die es gegen seine inneren und äußeren Feinde verteidigt hatten " . 2

Die Tend e nz d e r Metropole ging tatsächlich imm e r wiede r da hi n, den Bevö lkerunge n de r Kolonien eine jewe ils angemessene A utonomie einzuräumen. So wa r es zum Be is piel üblich, daß die Kammerherren un serer G e m e inden durch Wahlen bes timmt wurd en. Allerdings kann man die damalige n Wahlen nicht mit dem heute übli c he n Wahlmodu s verg le ic hen . ,, Di e L eitung unserer Ra tskammern war n i cht im h eute gebräuchlichen Sinn des Ausdrucks demokratisch. D as Volk, das in der damaligen Zeit wählte und gewählt wurde, das also das aktive und passive Wahlrecht besaß, bildete eine ausgewählte Klasse , einen Adelden Adel der „gut en Männer". Es handelte sich um eine wahre Aristokratie, zu der nur Einwanderer und hier Niedergelassene aus adeligem Geschlecht und ihre Nachkommen, die reichen Zuckermühlenherren, sowie die hohen Zivil- und Militärbeamten der Kolonie und ihre Nachkommen zählten. Zu diesem Adel stießen Männer aus einer anderen Kla sse, die s ich aus den, neuen Männern' zusammensetzte, das heißt aus Bürgern, die im H andel reich geworden waren und durc h ihr Verhalten, ihre L ebensweise, ihr Vermögen und ihre Dienste z um Wohl der lokalen Gemeins c haft oder der Stadt in di e ge-Jellschafilichen Kreise des angestammten oder des B eamten -Adels aufgestiegen waren " '

Auch Alfredo Ellis Jr. bestät i gt d as Privil eg, d as„ den ,guten Männern ', das heißt dem Landadel, die Ausübung der Ma ch t in den Gemeinden "4 zue rkannt e Selbst d er unverdäc htig e brasi liani sc he Kommunist Caio Prado Jr. h eb t das Privi leg he rvo r, das di e Leitung der Gemeindekammern d e r Landa ri stokratie vorbe hi e lt : ,, Bei den Wahlen zur Besetzung der imter d er Gemeindeverwaltu ng haben allein die ,guten Männ e r', oder der Adel, wie man die Gutsb es itz er bezeichne t e, Stimm recht Un d eifersüchtig bes tehen sie auf diesem Vorrecht "5

Manoel R o drigu es Ferreira behaupte t weiterhin , daß „ die Namen [der Gewählten] dem Gen e ralauditor unterbre itet wurden, der diese zu priifen hatte und dann e ine Urkunde aus -

1 a a. 0., Bel. II I, S. l 79f.

2 Am ador B11 e110 e se11 Tempo. S. 66

3 F J. OLIVE IR A VIANNA , a. a. 0 ., Bd. 1, S . 162.

4 Res 111110 da Histuria de Säo Pa11l0, S 107.

5 Evoh1<;äo Politica do Bra sil e 0 11tros Es111dos, Editora Brasi li ense. 7 Aun , Sao Paulo 197 1 S. 29.

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NI EDERGANG .. . 193

stellte, welche als ,Amtsbestätigungsschreiben' oder einfach als ,Bestätigungsschreiben' bezeichnet wurde und die einmal getroffene Wahl ratifizierte, damit die G ewählten ihr Amt antreten konnten . ... Diese ,Amtsbestätigungen' waren durchaus gerechtfertigt, denn, wie wir bereits gesehen haben, konnten allein die den örtlichen Adel bildenden ,guten Männer' eines Dorfes (oder einer Stadt) gewählt werden. " 1

5. Ein „brasilianischer Feudalismus"

Die bisher beschriebenen Tatsachen rufen die Grundlegung und Ausbreitung der Macht der örtlichen Eliten in den Ansiedlungen der brasilianischen Kolonialzeit in Erinnerung sowie den Einfluß einer Reihe feudaler Elemente auf den Ablauf dieses Prozesses.

Angesichts der heute weitverbreiteten Überzeugung, daß der amerikanische Kontinent ein ganz und gar demokratischer Kontinent sei, auf dessen Boden die Monarchien und Aristokratien keine Wurzeln zu schlagen vermochten ( dies war z um Beispiel eines der Leitmotive der republikanischen Propaganda, die in Brasilien den Thron derer von Braganza stürzte), scheint es angebracht, dem Lese r vor der Beschreibung des Niedergangs des brasilianischen „Kolonialfeudalismus" einige Texte von Historikern zu unterbreiten, die den feudalen - dem europäischen Feudalismus vergleichbaren - Charakter dieser Gesellschaftsform belegen, die man analogerweise als den „brasilianischen Feudalismus" bezeichnen könnte.

So kann man etwa bei Gilberto Freyre lesen: ,,Das Volk, das nach Herculano kaum den Feudalismus gekannt hatte, kehrte im 16. Jahrhundert in die Feudalzeit zurück und erlebte im Zuge der Kolonisierung Amerikas erneut aristokratische Vorgehensweisen. Es kam zu einer Art Ausgleich oder Berichtigung seiner eigenen Geschichte. " 2

,, Silvio Romero nennt das erste Jahrhundert unserer Kolonialzeit unser F eudaljahrhundert, unser Mitte/alte,: Und Martins Junior berichtigt diese seine Auffassung mit der durchaus angebrachten kritischen Bemerkung, daß dieses Mittelalter oder dieser Feudalismus eigentlich bis ins zweite und dritte Jahrhundert andauert. " 3

Und Charles Moraze4 fügt dem hinzu: ,, Diese mächtigen Landeigentümer organisierten sich unter dem Zeichen einer ganz und garfeudalen Autorität. Ihre Stütze ist die patriarchale Familie, deren Tradition noch heute im modernen Brasilien lebendig ist. " 5

Auch Nestor Duarte hebt die Rolle der Familie als Basis der feudalen Struktur hervor, wenn er schreibt, daß „die Familienorganisation mit ihrem portugiesischen eigenen Charakter verpflanzt wird und hier unter Bedingungen wieder aiifkeimt, die ihrem ursprünglichen Prestige und ihrer Kraji am Anfang der menschlichen Gesellschajien höchst förderlich sind. Es handelt sich um eine wahre Wiederbelebungjener heroischen oder - wenn man so will -feudalen Zeiten. " 6

Es soll zwar an die Ähnlichkeit gewisser Züge des Feudalismus diesseits und jenseits des Atlantiks erinnert werden, es darf dabei aber nicht übersehen oder vergessen werden, was die Organisation der brasilianischen Kolonie auf diesem Gebiet an Originellem hervorgebracht hat.

2

3

4 Einst iger Po lit ik-Profes sor an der Philosophischen Fakultät d e r Univers itä t Sao Paulo und Professor am In stitut für Poli tisc he Studie n der U n ivers ität Paris.

5

6 a. a. 0., S. 126.

194 ANHANG!
1 As Rep tiblicas M1111icipais do Brasil. Prefeitura do Municipio de Sao Pa ulo , Sao Paulo 1980, S. 45f. a a. 0., Bd. 1, S. 347. NESTOR DUART E, a a. 0., S. 82. l es trois Ages du Bres il - Essai de Politique. Librairie Armand Colin, Paris 1954, S. 65

Einer der sensibelsten Aspekte die ser Originalität liegt in der großen Bedeutung, die in diesem feudalen Kontext der Stadtverwaltung (Munizipium) mit ihren b eso nderen Freiheiten zukam Wir haben ja b e r e its gesehen, daß ihre Organi sation auf e in e r äußerst aristo kra tisc hen Struktur fußte.

So unterstreicht Charles Moraze, da ß „die kommunale Autorität zu einer Zeit, in der in Frankreich unter Ludwig XIV die Zentralisierung vorherrschte, in Bras ilien im Großen und Ganzen ein rein.feudales System al{frecht erhielt. "Und er fügt hinzu, daß da s politi sc he Leben in den brasilianische n G em e inde n „ mit einer starken Originalität aiifwartet, die es völlig von dem politischen Gemeinde/eben in den europäischen Ländern dieser Epoche un terscheidet. " 1

Diese Aussage wird e rgän z t von Nestor Duarte : ,, In dem feudalherrschafilichen Gemeinwesen werden die Kammern oder der Senat der Kammern von den Zuckermühlenherren gebild et,jenen Landadeligen, diefiir sich das Vorrecht in Anspruch nehmen, die einzigen wäh lbaren Männer zu sein . " 2

Oli ve ira Vianna kommt zu d em entschiedenen Schluß ,,, daß vor allem während der Kolonialzeit der öffentliche Dienst e in es Gemeinderates einz ig und allein von Adeligen oder anderen qualifizierten Männern a usgeübt werden konnte". Was d iese Qualifizierung angeht, so konnte s ie „ auf adeliger Abstammung nach dem B lute (Geschlecht) oder nach dem Amte beruhen oder aber auf dem B esitzsta nd, wie im Falle der Kaiifleute (vorausgesetzt, siefiihrten ein dem , Gesetz des Adels' entsprechendes Leben, wie es damals hieß - was so viel bedeutete wie e in Leben im Stil der alten Edelmänner der iberischen Halbinsel) " 3

6. Machtzentralisierung und Einschränkung der Privilegien des „Landadels"

a) Die Offensive der Legisten und der Verlust der Gemeindeautonomie

Diese ganze Struktur, die s ic h in Brasilien unter dem wohlwollenden Blick der p ortugies isc hen Kron e n ac h und nach a ls Gewohnheitsrecht eta bli ert hatte , ger ie t gege n End e de s 17. Jahrhundert s unter den Druck e ine r vo n a uß e rhalb d er Koloni e komm e nd e n Offe n s ive, die schließlich ihren sc hrittwe ise n N ie d ergan g h e rb e iführte.

„Aufdem amerikanischen Kontinent wiederholt sich in Ve rwaltung und Politik dieselbe Entwicklung, die sich auch im Mutterland abspielte Aiif.die martialische Phase der Generalkapitäne, d e r arbiträren kommandierenden Generäle,folgt die zivile und gebildete Generation der königlichen Richter und der Stadtrichta Es ist die Zeit der von Coimbra kommenden (oder z urückkehrenden) Doktore n, die aus R e ichs landen die Überz eugung der eigenen Vorrangstellung mitbringen und einer Jurisdiktion, die schon bald über die Grenzen der Gerichtsbarkeit hinausge ht und die Leitung der Gemeindeangelegenheiten einschließt. . .. Wie einst in Portugal die Stadtrichter des Königs Johann 11. den Widerstand der großen Machthab er mit der unnachgiebigen Durchfiihrung ihrer amtlic hen Entscheidungen gebrochen hatten, so werden j etz t (aufdem amerikanischen Kontin ent) die restlichen P rivilegien des Adels (d. h. der lokalen Pote ntate) aufgelöst.... Di eser Stadtrichter, ist nichts als e in L egis t. .... Er ist (wohlgemerkt) nicht nur ein Vertreter des dogmatischen Rechts, er ist vor al-

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND N IEDERGANG 195
1 a a 0. S 65f. 2 a. Cl. 0. S 143 3 a a. 0., Bd. 1. S 165

lern ein Beamter des Einheitsstaates . ... Die z en tralisierende, pa tern alistisch e Tendenz der Monarchie beginnt mit der Int ervention in den Stadtkammern. '" 1

b) Rückzug des „Landadels" auf die eigenen Güter

Es ist durchaus verständlich, daß im Laufe der Entwicklung der wichtigs te n s tädti sc hen Ze ntren mit ihren Kirchen , die oft einen außerordentlichen kün s tleris chen Wert besaße n , und mit ihre n imponierenden Gebäuden, wie etwa den Rathäu se rn und ande re n öffentlichen Einrichtungen oder luxuriö se n Wohnsit ze n , diese Z e ntr e n eine immer stärkere Anziehungskraft auf die Familien der „guten Männer" und d es „La ndad e ls" a usübte n, förderten doch Faktoren wie da s Zusammenleben in die se n Zentre n , die familiären Belus tigungen und der oft glanzvolle Prunk der religiöse n Feiern da s gesellschaftliche Leben unter Menschen gle ichen Standes. Die e ng en gegenseitigen B ezi e hung e n wirkten s ich auch günstig auf di e Anbahnung von Verlobungen und Heirat aus.

Mit dem E influß der L egi s ten sa hen s ich der „ Landadel" und die „guten Männer", di e bisher an der Spitze der mit beträchtlicher Autonomie au sges tatteten Kommunalverwal t ungen gestanden hatt en, oft an de n Rand des politi sc h en Lebens in den Gemeinden gedrängt. Di e Folge war, daß s ie s ich wieder auf ihre Landg üter zurückzuziehen begannen , wo ihnen die Weite ihrer Ländereien Gelegenheit ge nu g bot, s ich mit ga n ze r Hingabe dem Anbau vo n Nutzpflanze n und d e r Viehzucht z u widmen.

Diesem ge ruhsamen , w ürdi ge n Dasein fehlte es keineswegs a n Verd ie n ste n um das Gem e inwohl, wie e twa Olive ira Vianna b etont: ,,Fern der hoh en A"mter der Kolonialverwaltung zieht sich der Landadel bescheiden in den Schatten d es Landlebens zurück und weidet seine Rinderherden, produz iert Zucke,: s c hürft nach Gold undfördert damit die Besiedlung und die Kultur im Landesinn ern, wo immer mehr Land gerodet und immer mehr Weideland eingezäunt wird. " 2

Auf diese Weise vergrößerten die Eliten auf dem L and ihr Vennögen und wurden damit in die Lage versetzt, einen noch größeren Luxus an den Tag z u legen , nicht so se hr in der E insamkeit des anspruchslosen Alltagslebens der Herrenhäuser, als v ielmehr bei den besonderen Gelegenheiten, zu denen di e Mitglieder der Oberschicht in der Stadt zusammenkamen.

Eine Ze it lang hat al so di e aristokratische Kl asse da s, was s ie a n politischer M a cht e in gebüßt hatte, an gesellschaftlichem Prestige zurückgewonnen.

c)

Rückgang des aristokratischen Einflusses

Doch sollte m an s ic h in di ese r Hins ic ht keinen Illus io ne n hingeb en Weit w eg von der Küste, w o der Handel s te t s mit den neues te n , der in Europa ge rad e ge lte nd e n Mode e ntsp r ec hende n Waren , aber a uch mit ze itge m äßen Möbeln und Gegenständen de s persönlichen Gebrauchs aufwartete , stagnierte di e Lebensweise des „ L a nd a d e ls" zuse h e n ds. Und dam it g ing auc h e ine unvermeidliche Anpassung a n di e Sitten und Bräuche d e r jewe ili gen Gegend e inhe r. Mit and eren Worten, die aristokratischen Aus druck sform e n der Eliten im La nd esi nn e rn vermi s chte n s ich m e hr und m e hr mit hinte rwäldlerische n E le m e nt en.

Wieder ist es Oliveira Vianna, d er a uf das Dil e mm a un se re r unter der Beze ichnung „La ndad e l" zusa mm e n gefa ßt en Eliten hinwe ist: ,,Entweder e ntscheiden sie sichfiir das Leben aufd em Land, wo ihre H auptinteresse n liegen, oderfiir die S tadt, wo lediglich Zerstreuung und Verschwendun g aufsie warten Mit der Zeit entscheiden sie sich natürlichfiir das L eben

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NIEDERGANG ... 197
1 P EDRO CA LM ON, a a. 0., Bd. 3, S. 892f. 2 Popular;öes Meridiona is do Brasil, Bd . 1, S 34

auf dem Land, und so ziehen sie sich nach und nach zurück ins Schattendasein und ins Schweigen des Landlebens. Von diesem Zurückweichen, diesem Rückzug, dieser Abwanderung des Ade ls der Kolonie in s Landesinnere legt Graf de Cunha, unser erster Vizekönig, beredtes Zeugnis ab . In einem Briefan den König schreibt er 1767: ... 'Diese Menschen, die in den Städten zu glänzen und aufzutreten wußten, sind heute in die abgelegensten Winkel zerstr e ut, wo sie weit voneinander enffernt wohne n, keinen Kontakt mit ihresgleichen pflegen, wo s ich viele schlecht verheiraten und manche nur uneheliche,farbige Kinder hinterla ssen, die dann auch ihr Erbe antreten '. " 1

Und derselbe Autor fügte dem no c h hinzu: ,, Unser Landadel hat sich jetzt im vierten Jahrhundert in seinen Sitten , Bräuchen und vor allem in seinem Geist und Charakter fast ausschließ/ich in einen Landadel ve,wandelt. Von den Traditionen des alten iberischen Adels ist nichts mehr übrig geblieben als die ritterliche Ho chhaltung der Familie und der Ehre. "2

7. Die Übersiedlung des portugiesischen Hofes nach Brasilien

Diese Periode bukolischer Ruhe so llte in fo lge der g roß e n Kriege und Re vo luti onen, d ie se it zwanzig Jahren Europa e rschütterten, ein un erwartetes Ende finden , a l s Dom Joao , der portugiesische Prinzregent, der auc h den Titel Prinz von Brasilien trug und a ls Thronfol ger alle e inem Monarchen zustehende Macht ausübte, da seine Mutter, König in Mar ia I. dem Wahnsinn verfa ll en war, in Brasilien landete.

Oliveira Vianna lie fert un s eine lebendige Beschreibungjener Vorgänge: ,,Dieses große, geschichtsträchtige Ereignis löst eine Epoche beträchtlicher Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Leben unseres einheimischen Adels aus. Tatsächlich beginnt sich unser glanzvolles Landpatriarchat aus Minas, Scio Paula und aus dem Inn ern Rios von diesem Zeitpunkt an in Richtung Rio, der Haupt sta dt des neuen Kaiserreichs, zu bewegen. Seine besten Vertrete!'; die Blüten seiner Aristokratie, gehen von nun an in dem in Sao Crist6vcio gelegenen tropischen Versailles ein und aus. " 3

In Rio stoße n sie„ einerseits aiif'ein gerade erst entstandenes Bürgertum, das in z wischen durch die Belebung des Handels infolge der Öffnung der Häfen zu einigem Reichtum gekommen ist, und andererseits Cil!feine große Anzahl portugiesischer Edelleute, die mit dem König ins Land gekommen sind". 4

Es verwundert daher nicht , daß das Aufeinandertreffen so heterogener Elemente z u beträc htlichen Reibereien führte. In dieser Hinsicht führt Oliveira Vianna weite r aus: ,, Die drei Klassen tr~ffen in der vertraulichen Umgebung des königlichen Hofes unverwechselbar und in feindlicher Haltung au.feinanda Da sind die an den Übe;jluß ihrer Zuckermühl en und Landgüter gewohnten Adeligen des Landes, die mit Verachtung aiif alle gemeinen Bürger und Kaufleute hinabschauen. Die Kaiifleute, die sich ihres R eichtums und ihrer Macht durchaus bewußt sind,fiihlen sich angesichts der herablassenden Behandlung beleidigt. Die verpflanzten portugiesischen Edelleute aber sind stolz au.f ihre adelige Abstammung und legen den unverschämten Dünkel an den Tag, als Zivilisierte mitten unter Barbaren leben zu müssen. " 5

198 ANHANG!
1 a a 0 . S. 18. 2 a a. 0 S. 23. 3 a. a 0 . S. 34. 4 a a 0 S. 35 5 a. a. 0.

Wir kö nn e n d a mit d e n hi s tori s che n Üb e rbli c k üb e r d e n „L a nd a d e l" in d e r Kolon ialze it mit d e n W o ti e n 01 ive ira V ia nn as a b sc hli e ßen , w enn e r sagt: ,, Man k a nn a ls o erkennen, daß diese F amilienorganisationen, die im öffentlichen w i e im p riv a ten Leben und in der Verwaltungstätigkeit a u/ Verwa ndtsc h a/i und auf d ie Masse ih rerfeudalen Sippen gestiitz t sin d, d ie dre i J ah rh under te Kolonialzeit im G la nz ihres Prestiges und ihrer Macht übersta nden haben " 1

8. Die Adelstitel des Kaiserreichs

We lch e A usw irkung h a tt e di e Sch affun g v on A d e l stite ln in d e r Kai se rze it a uf d e n „ Landad e l"? Si e w a r so gerin g, daß man ruhi g sage n ka nn: P rak t is ch ü ber h a upt ke ine

Di e k a iserli c h e Ve rfa ss un g B rasi li e n s a us d e m Jahre 1824 e rka nn te k e ine durch G e burt erw orbe n e n Vo rrec hte an: ,, Es werden hiermit alle P ri vilegien ai!fgehoben , die n icht wegen ihrer Gemeinnützigkeit wesentlich und ganz mit den entsprechenden / f mtern verbunden sind. " 2

Di ese Ve rfü g un g un se r er e r s t e n k a ise rli c he n Ve r fass un g hatte zur Fo lge, d a ß di e E rbli c hke it der vom K a i se r v erlie h e n e n Ad e l s tit e l n ic ht m e hr an e rkannt w urd e.

Es kommt in di ese r Ve rfü g ung d e r E influß j e n es indi v iduali s ti sc he n und lib era le n G e i st es z um A us dru c k , der im Ve rl a u fe d es ga nz e n 19 Jahrhund e rt s in Europ a und A m e rika we hte und d e r no c h he ut e in v iel e n Ins tituti o ne n , G ese tz e n und Si tte n gege n w äiii g is t.

M a n g ing d a b e i vo n d e m G e d a nk e n a u s, daß ein A d e ls ti te l nur d a nn mit d en fo rt sc hrittlichen Zeite n v on d a m a ls ve rein b ar se in k onn te , we nn e r indi v idu e ll e Ve rdi e n s t e b e lo hnt e Auf kein en F all s ollte n di e Ve rdi e n s t e d e r Vo rfahre n d e n j ewe ili ge n Nac hk o mm e n z ug ut e k omm e n. D a h e r al so di e N ic htve re rbb a rk e it d e r Tite l.

A ls r e ine B e lo hnun g ko nnte d e r A d e ls tit e l d e nn a uc h ke in e s pez ifis ch e Juri s dikti o n üb e r irge nd e in e n Land es t e il v erl e ih e n, v or a ll e m ni c ht üb er L ä nd e r e ie n , di e b e r e its z um B es itz de s Ausgeze ic hn e t e n ge hö rte n. Die p e inlich e Tre nnun g vo n Pri vate ige ntum und p o li t is ch er Macht w urd e damal s a ls e in e G rund v orau ssetz un g d a für a n gese he n , d a ß e in ze itge mäß es, m it den Prinz ipi e n d e r Fra nzös i s che n R evolu t ion z u ve re inba re nd es Reg im e ni c ht mit d e m Fe udali s mu s, gege n d e n di e libe ral e n F raktion e n no ch imm e r Sturm li e fe n , ve rw ec h se lt w ürd e .

Oli ve ira Vi a nn a k o mmt dah e r z u d e m Schluß , daß „ das brasilianische K aiserreich nicht nur dem A ufkleber nach dem o kratisch war, denn als es seinen Adel organis ierte, hat es diesen n icht erb li ch sein lassen und ih m damit d as A ttribut der Fortdauer geno m men . D ie mona rchisc h e Konsti t ution von 1824 erkennt keine angebo renen P rivilegien a n : Die aus diesen Gegebenheiten hervorgegangene Aristokratie hatte ih re Titel entweder i hren Verdiensten und persönlichen Gefä ll igk e iten oder aber dem R e i ch tum z u verdanken , der eine r der Stützpfeiler des Staates und ein Feld ist, aiif' dem der Einzelne sich e 1folgreich betätigen 0 kann". 0

Es ga b zw ar Fä lle, w o Va t e r und S o hn Inh a b er d es g le ic h e n k a ise rli c he n Tite ls wa re n. M a nc hm a l wa r e n d ie Titelb e z e ic hnun ge n a uch ve rsc hi e d e n , o b wo hl s ie mi t de r g le ich e n Orts b e z e ic hnun g o d e r d e m g le i c hen Fa mili e nn a m e n v e rbund e n wa re n D as b e d e ut e t e j e -

\ /11 s1i111 i<;tles Po litic a s Bras i/e iras , \. A u n. , 1949, Bd 1, S 270 2 Co 11stil11i9äo Pol itica do lmpe rio do Brasil. A rt. 179. Nr. XVI. 3 a a. 0 .. S. 29f.

200 ANHANG !

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NIEDERGANG 201

doch nicht, daß es sich um erbliche Adelstitel handelte, denn der Titel wurde stet s persön1ich dem Vater und ebenso dem Sohn als Auszeichnung für individuelle Verdienste verliehen.

Dies geschah zum Beispiel im Falle des Vizegrafen von Rio Branco, der 1871 das Amt des Premierministers des Kaiserreiches bekleidete, und seines Sohnes , d e s berühmten Barons von Rio Branco , der ein geachteter Diplomat war und sich besondere Verdienste um die Aushandlung der Verträge zur endgültigen Festlegung der Grenzen zwischen Brasili en und seinen zahlreichen Nachbarn erworben hat.

Der Baron von Rio Branco hat zwar erst während des ersten Jahrzehnts de s 20. Jahrhunderts , also bereits in republikanischer Zeit, große n Ruhm als Außenminister geerntet, doch den Titel eines Barons „ von Rio Branco" hatte ihm der Kaiser bereits vor dem Sturz der Monarchie - gewiß z um Gefallen seines Vaters - verliehen.

Andererseits haben die Nachkommen einiger Titelträger der Kaiserzeit, wenn der Adelstitel einen Ortsnamen einschloß (z.B. Vizeg raf von Ouro Preto , Ma rkgraf v on Paranagua), ihre m Vornamen an Stelle des Familiennamens d e n Orts namen angefügt, mit dem der einstige Titel verbunden gewesen war (also etwa Matthias de Ouro Preto od e r Rud o lf de Paranagua) Dieses nicht unbedingt legale Vorgehen konnte all e rdings d e n Adelstitel auch nicht mehr erblich machen.

Das Ges agte macht damit deutlich , daß Ad e lstite l, die allein dem jew eiligen A u sgezeichneten unter Ausschluß se iner Nachkommens chaft verliehen wurden , kein e g ese llschaftliche Klasse im Wortsinne begründe n konnten , denn die Vo rausse t z ungen z ur Bildung e iner solchen Klasse sind nur dann g egeben, w e nn s ich dies e aus Familien und ni c ht allein aus Individuen zusammen s etz t.

Es kam also, wie bereits weiter oben v orwegge nommen, prakti s ch zu k einen Au s wirkungen dieser Titel auf den „Landad e l".

Der seines historischen Inhalts beraubte, e inem „ Landadeligen" v e r liehene Ad els titel der Kais e rzeit b e deutete demn a ch kaum mehr als e ine Orden s v e rl e ihung Der Au sge z eichnete fühlte s ich z war innerhalb sein e r Klass e h e rvorg e hoben und geehrt , doch kam dem v i e l weniger Bedeutung zu als d e r Landb e willig ung durch die Könige v on Portu g al. Vor all e m wenn man bede nkt, daß die Kaiser Dom Pedro I. und Dom Pedro II. Adel sti t el ni c ht nur a n Landherren v erg aben, sondern auch an Brasiliane r jedweder Herkunft, di e s i e diese r Auszeichnung anges ichts d er dem Lande geleisteten Diens te für würdig hielte n.

9. Die parlamentarische Monarchie und der „Landadel"

a) Die Wählersippen

Die brasilianische Unabhängi g keitse rkl ä rung v on 1822 führte die parlam e nt a ri sc h e Mon a rchie und mit ihr da s repräs e ntative Wahlsystem e in und lös t e damit e in e ti e f gehende Ve ränderung des politischen Kräfteverhältni sses aus

E s w a r a uch z u e rwart en , daß s ich der „ Landa d e l" a n g e s ic ht s di ese r v on G rund auf v erä nde rt e n p o liti s chen Gege b e nh e ite n und d er n e u e n kai s erliche n P rax i s, Ad els titel nur no c h g e leg entlich und al s individue ll e Ausze ic hnung z u v erg eben , mit d e r Zeit al s e ine re in geschichtliche R e minis z enz ohne Ve rbindun g mit d e r G ege n wa rt ve rflüchti gen würde

Di es g e s cha h j e doch nicht.

D e r „Landade l" b eg nü g t e s ich a n ges ic hts di ese r Veränderung en k e ineswegs d ami t, di e Hände in de n Schoß z u legen. Er s etz te v ie lme hr all es d aran , unt e r de n neu e n Beding u ng en ,

wie sie die Einführung einer gekrönten Demokratie in Brasilien geschaffen hatte, seine politische Macht zu erhalten.

Im demokratischen System liegt die ganze oder fast die ganze Souveränität in den Händen der Wählerschaft. Es regiert also, wer die Wähler zu beeinflussen vermag. Mit Ausnahme einiger weniger, wirklich bedeutender Städte stand die Wählerschaft unter dem Einfluß des Landherrn. Das bedeutet, daß die meisten Stimmen vom „Landadel" abhingen, der seine Macht über die politischen Parteien auszuüben wußte, denn die Parteien leben ja ihrerseits von ihrer Durchschlagskraft bei den Wahlen, und diese lag in den Händen der Adeligen des Landes.

Um ihr ehemaliges Prestige zu wahren , griffen diese oft zu recht malerischen und überraschenden Mitteln.

Auch hier können wir uns wieder an Oliveira Vianna und seine Informationen halten: ,, Die Herren aufdem Lande, die bis dahin weit verstreut und autark allein aufsich selbst gestellt gelebt hatten, traten nun vereint und organisiert auf Sie finden sich nun in zwei kompakten Gruppen zusammen. von denen jede ihren weithin sichtbaren Ch ef vorze igen kann. der für die ganze Kommune Anordnungen und Entscheidungen tr([ft und dessen Führung sich alle unterordnen . ... Alle versammeln sich nun in einem der beiden politische n Lager .... auf der einen Seite die Konservativen, auf der andern die Liberalen. " 1

Daher überrascht es auch nicht, daß es vor allem während der ersten Jahrzehnte des kaiserlichen Regimes zu bedeutsamen Veränderungen im politischen Gesamtbild des Landes kam. Oliveira Vianna beschreibt dies so:

,, Wir nennen diese neuen, kleinen Strukturen, die sic h im 4. Jahrhundert na c h d e r Entdeckung auflokaler Ebene herausbildeten, Wählersippen, denn auch in diesem Fall handelt es sich um Sippen, so wie im Feudal- oder im Verwandtschaftssystem, ... Sie habe n dies elbe Struktur, dieselbe Zusammensetz ung und denselben Zweck wie jene, nur ist ihre geog raphische Grundlage bre ite,~ erstreckt sie sich doch aufdie ganze Gemeinde und nicht nur aufdes jeweilige Lehen (Zuckermühle oder Landgut). Diese kleinen, örtlic hen Gruppi e rungen s chließen sich dann ab 18322 z u größeren Vereinigungen zusammen und bilde n reg e lrec hte politische Parteien , zuerst aufProvinz ebene und schließlic h im gan zen Reich. So haben wir es am Ende mit einer Konservativen Partei und einer Liberalen Partei mit Sitz in der Hauptstadt des Reiches zu tun. ln den einzelnen Provinzen üben die jeweiligen Parteifiihrer das Amt des Provinzpräsidenten aus. "3

a a 0. S. 2 79

2 Derse lbe Ve r fas ser erk lärt, da ß di ese ne ue n, vo n der Land a ri s to krati e auf G e m e indee bene o rga ni sierten Wa hl g ru p pi erun gen mi t d e m 18 28 erl assenen Gesetz zur Ne uo rdnung der Kom m unen , vor allem a ber m it d e r Unterze ich nun g d es Pro zeß -Gesetzbuch s 18 32 ftir a ll e klar und sichtbar auftret e n Mit sein er Ko mmunal- D em o kratie z wang, j a n ötig te dieses Gesetzb u c h die He rre n a11f d e m Lande geradezu, sie /, z ur Wahl d e r ö rtlich e n Be hörden wie e twa des Stadt r ichte rs ( m it sein er p o lize ilic h e n Gewa lt), d e r G e meinderichte r (den e n als Strafric h ter ebe11fa lls gewisse p oliz eilic h e Fun kt io n e n zusta nde n), de r Ge m e ind e räte 1111d d e r O ffizi e re d e r N ational g arde unte r e inande r z u verstä ndigen. A 1/e diese A"mte r wurden dama ls d urch Wal,/ b estimmt und es s ta nden ihn e n e ine Re ihe von Aufg ab e n z ur Erhalrung vo n R echt und Ord nung z u ( F. J. OLIVEIRA V IANNA, a . a 0 , S. 28 1) Olivei ra Vianna besc hre ibt auch d e n Zus amm e ns chluß d e r Wä hlersi ppen: Dies er Prozeß , pielt sic h zu ers t 11111 d ie Provi11za111o rität l,e rwn a b (mit n och geringer K o nzentration infolge d es Erg än z ungsakte ) undfli llt vor allem in d ie Jahre z w isc h en 1835- 40 D ann b eginnt mit der U111erzeic l,11u11g des Ges e tzes vo m 3 D ezem ber 18 41 e in s tärker er Z usa mm e n schluß au/ R e ic h seben e. die s ie/, b is z ur A us rufung d er Republik 188 9 e rs treckt ; mit ihr k ommt es z u ein e r landesweite n Ko nzentration d e r Sippe n . Vo n da a n b ilde n die kommunalen , Wähl e rs ippe n' nur noch Unterte il ungen d e r beiden großen Pa rt e ie n. näm lich d e r Konservati ve n und de r Li be ralen Partei . •· (a a. 0., S 28 1t)

3 a a. 0., S. 2 80

202 ANHANGI

b) N ationalg arde und „Landadel"

Mit d em Gesetz vo m 18 . Aug us t 1831 w urde n di e h erk ö mmli c h e n M i li t ä r i n s t itu t io n en de r K olo n ie a u fge ho b e n , n äm li c h d as Mi li zko r ps, d ie Gemei ndega rden un d d ie O r d o nn a nze n , u nd a n ihre r St e ll e wu rd e di e Nati o n a lga rde gesc haffe n.

A nges ic hts de r Ta tsac he, da ß d ie be iden P a r te i e n a b wec h se lnd di e Re i c h sregie ru ng ste llt en, un d vo n dem Auge nbli ck an, wo di e Zentra lgewa lt di e N om ini e run g d er ö rt l ic h en B eh örd en, die bi s da hi n gewählt wo rde n wa re n, in di e e ige n e n Hä nde n a hm , wuc h s a uc h das Bedü rfn i s j e n er A ri stokraten , di e d e n Wä hl ers ipp e n vors t a nd e n , s ic h m i t d em Provi n zp r äs ide nte n g ut zu stell e n . D e nn di ese r Prov in zpräsi d e n t„ hatte der Zentralmacht die Namen derer vorzuschlagen, die aufdie damals äußerst wichtigen Posten der Natio n a lgarde berufen und in das kaiserliche A d e lsve r ze ichni s eingetragen werden sollten". 1

Z u r B ez ieh un g zw isc h e n Natio na lgarde und „La nd ad e l " ist fo l gend es anz umerk e n : „Hinsichtlich der Bildung von Wählersippen ... . kann gar nicht genug hervorgehoben werden, welch wichtige R olle die Nationalgarde in diesem Prozeß spielte Im Offizierskorps dieser Garde sammelte sich der ganze Landadel an I n der Kaiserzeit kam den Offiziersposten in der Nationalgarde die gleiche Bede utung und Würde zu wie dem ,Stadtrichter' oder dem , Kommandierenden Kapitän' in der Kolonialze it und die I nhaber dieser Posten bildeten einen durchaus qualifizierten örtlichen Adel. Der Titel eines , Obersten" oder , Oberstleutnant', der später von der R epu blik entwertet und g emein gemacht wurde, war damals die höchste Auszeichnung, die ein Gutsbesitzer in seinem Gemeindesprengel erhalten konnte Selbst der vergleic hsweise bescheidene Tl"tel eines , Fähnrichs' wurde nur Männern zuerkannt, die auf örtlicher Ebene Einfluß und Anerkennung besaßen Gerade darauf liefdie politische Aufgabe der Nationalgarde hinaus : Sie sollte dem reichsten oder mächtigsten Herrn die Möglichk eit geben, sich (mit Hilfe des Rückhalts, den ihm der Gouverneur bot, indem er ihm die Rekrutierung, Zivil- und Militärpolizei u n d die Ratskammer mit ihren Stadtvögten überließ) bei den feudalen, herrschaftlichen Sippen Respekt zu verschaffen. "2

Bei Rui Vie ira da Cun h a kön nen w ir daz u lese n : ,, Die Größe der von der Nationalgarde erlangten Bedeutung ist fiir das Verständnis der gesellschaftlichen Struktur des Kaiserreichs von höchster Wichtigkeit. Im Gegensatz z ur Demokratisierung der Adelstitel und Ehrenb ezeigungen verlieh sie Macht und Einfluß und gewann damit aristokratischen Charakter. Die systematische Auslegung der Gesetz esartikel, die über die Schaffu ng der Nationalgarde verfiigten führt zu dem Schluß, daß , d ie O ffi zie re der Na ti o n a lgarde im Hinblick auf ih re n A de l k e i neswegs hi nter denen de r Stre itkräfte zu r ücks tehen.' "j

10 . Die Kaffeepe riode

A ls in der M itte des 18 . Jah rh u nd e rts d i e Kaffeeperiode ihre n Anfang na h m, gewann u nse r „ L anda d el" eine we ite re Facett e h i nz u. Es ist die Geb urt de r so ge n a nn ten „Kaffee- A r istokrat ie", de re n Pr est ige un d E influ ß vor a ll em das Le b en des Ka iserre ic h s und n ach dessen Ende n oc h e inige Jah rze hn te de r rep ubli ka n ische n Zeit p r ägte n.

Darü b er sc hre ibt Roger Basti de: ,, Nach den Zi vilisationen des Zuckers und des Goldes entwickelte sich in Brasilien e in e dritte große Zivilisation - die des Kaffees ... S eit den

ENT STEHU NG, ENT W IC KLUNG UND N IED ERGANG .. . 203
1 F. J. OLIVE IRA VIANNA , a a 0., S. 283 2 {I, ll. 0. S 284 f. 3 Estudo da Nobreza Brasi/eim (Cadetes), Arquivo Nac io nal , Ri o de Janeiro 1966, S 4
2

prunkvollen Zeiten des Reiches bis zum Tod Getulio Vargas' zieht der Kaffee durch das land. Er schafft eine Aristokratie ' und zerstört (oder verwandelt zumindest) diese seine Schöpfung Der Kaffee fällt mit der Geschichte des 19. und mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen."

Auf eine Meinung Gilberto Freyres zurückgreifend fährt Bastide fort:,, Es ist der Kaffee, der fast zwei Jahrhunderte nach Bahia und Pernambuco in der Provinz Sao P aula eine identische patriarchale Gesellschaft aufblühen läßt. Die Kaffee-Barone- behauptet er [Gilberto Freyre] - setzen die Zuckeraristokratie fort und machen sie nach. " 2

a) Die Ausrufung der Republik und die Landaristokratie

Mit der Ausrufung der Republik 1889 verschwand keineswegs der politische Einfluß jener Familien, die vom alten „Landadel" abstammen.

Ihr gesellschaftlichens Prestige war ungebrochen. Sie verfeinerten ihre Lebensweise und ihre Sitten, indem sie schnell und intensiv die Manieren und den glänzenden Lebenstil der besten europäischen Gesellschaftskreise annahmen. Unter diesem Aspekt sc heint es angebracht, das Zeugnis wiederzugeben, das Georges Clemenceau nach se iner Brasilienreise im Jahre 1911 ablegte. Der weltweit bekannte französische Diplomat, der während des 1. Weltkriegs das Amt des Ministerratspräsidenten von Frankreich bekleidete , schrieb damals so :

„ Hinsichtlich der ,gesellschaftlichen Elite' ... müssen wir immer wieder zu dem Ausgangspunkt einer Feudaloligarchie, dem Mittelpunkt einer ganzen Kultur mit ihrem Raffinement zurückkehren Man muß den Pflanzer inmitten seiner Pflanzung (Fazenda) aufsuchen, dem Zentrum seines H errschaftsbereichs. Als vollendeter Feudalherr ist er vom europäischen Denken durchdrungen und zeigt sich allen hohen Gefahlen sozialer Großzügigkeit gegenüber, wie sie zu einem gewissen Zeitpunkt des 18. Jahrhunderts unsere Aristokratie auszeichneten, offen Er steht unendlich höher als der Durchschnitt der ihm vergleichbaren, aus der Tradition oder aus den Zufallen der D emokratie hervorgegangenen europäischen Standesgenossen . ... In Paris geht ihr an diesem Beherrscher vorüber, ohne daß ihr euch dessen bewußt werdet, denn an ihm werdet ihr keinen der in der Satire hervorgehobenen Zügefinden, ist er doch bescheiden beim Sprechen und einfach von Gestalt ... Die Stadt Sifo Paula erweist sich in einigen Aspekten merkwürdigerweise so französisch, daß ich mich eine Woche lang keineswegs im Ausland fohlte Die Gesellschaft Sao Paulas versteht es, sich einerseits aufs entschiedenste am französischen Geist auszurichten und gleichzeitig alle Züge ihrer brasilianischen Individualität zu entwickeln, die ihren Charakter bestimmen. Ihr könnt sicher sein, daß der Bewohner von Sao Paula bis in die tiefste Seele seiner Stadt verbunden ist. Er ist stets ,Paulista ', sei es in Brasilien, in Frankreich oder sonstwo. Ich kenne keinen Franzosen, der als kluger und zugleich wagemutiger Geschäftsmann, der dem Kaffee seinen Wert beizumessen wußte, höflichere Manieren, eine angenehmere Konversation gepflegt und eine aristokratischere Leichtigkeit des Geistes gezeigt hätte. "3

Doch die allgemeinen Veränderungen des westlichen Lebens übten sowohl währe nd der Kaiserzeit als auch während der ersten Jahrzehnte der R epublik auch auf die bras ilianisc he Gesellschaft e inen unentrinnbaren Einfluß aus. Und das z um Schaden der alten Eliten vom Lande.

I Aus dem Kontext geh t hervor, da ß der Begriff hier im weiteren Sinne gebrauc ht wird, in dem e r nic ht eine vo m Gesetz anerkann te Gesellschaftsklasse meint, sondern led iglich eine ungenau aus den gegebenen Umständen hervorgeg angene definierte Klasse.

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NIEDERGANG 205
1
2 Brasil Terra d e C o 11tras tes, Difus äo Europeia do Livro, 4. Aufl , Sao Paulo 197 1, S I 2 7f und I 29f
3
GEORGESC LEMENCEAU , Notes d e Voyag edans l'Ameriq11 e d11S11d - XIII, in: ,, L'Illustra ti on", 22.4 .1
9
I , S 310und 3 13

Die immer leichter werdende Kommunikation mit Europa und den Vereinigten Staaten führte zur Verbreitung eines zusehends egalitäreren Denkens , das sowohl in der Alten Welt als auch in der jungen , kräftigen amerikanischen Föderation um sich griff und gegen jede Art von Aristokratie und sonstige ges ellschaftliche Elite n gerichtet war.

Die gebildetsten Vertreter der brasilianischen Gesell s chaft schlossen sich bald mehrh e itlich den aus den großen Zentren der Welt kommenden Tenden z en an und s ahen unwillig den Widerspruch zwischen einer fiktiven Demokratie , wie sie hierzulande prakti z iert wurd e , und der immer effektiver werdenden Demokratie , wi e sie in den pre s tigereichere n Nation e n zur Anwendung kam. Die politische Macht der Ackerbau treibenden Kla sse kam ihnen wi e ein Betrug, wie eine Verfälschung de s bestehend e n Systems vor.

,, Mit d e r Schulbildung verbre itet sic h auch das lib e rale Ideeng ut. ... Mit d e m Kaffee gedeiht es auch unter den Söhnen d er Pflanzer in d e n Flure n d e r R ec ht.~ f äk ultät in Scio Pa ula, und so kommt es nach und na c h zu m Trium p h de r A bsch4fung d e r Skla vere i, d er Republik und des Aufstandes g ege n das politisc h e Monopol d e r re ic h e n , Ob e rs t en ' ' "

Überall im Lande entstanden Pre sseorg an e , die s ich mehrheitlich für di e Er richtun g e iner authentischen Demokratie - wie s ie es nannt e n - ein s etzten.

Neben der Republikani s chen Partei , die sich di s kret für di e Be ibe haltung de s s t a tu s qu a aussprach, erhielt mehr und mehr die Demokrati s che Parte i al s Spra c hrohr politi s ch e r Veränderungen Zulauf.

b) Die Kaffeekrise

Gegen Ende der z wanziger Jahre uns e re s Jahrhunderts e rs chütterte e ine furchtbar e Kri se den Kaffeeanbau vor allem in den Bundess taaten Minas Gerai s, Rio d e Jan e iro und S a o Paulo. Schuld an die s er Krise war die Unfähigkeit der R e publik, d e n s t e ige nden Üb e rs chuß gegenüber der Nachfrag e auf d e m Weltmarkt vorau s zu s ehen. Di e un e rwarte te Kri se traf vi e le Kaffeepflanzer in einer äußerst schwierige n Lage, de nn e inige hatte n s ich in S c huld e n gestürzt, um die ohnehin s chon übermäßige Produktion noch z u ste ig ern , währe nd a nd e r e d as Geld in den Bau oder in di e Ve rs chön e run g ihres Wohn s itz e s in e in e r d e r Groß s tädt e d es Landes gesteckt hatten.

Dank der sich rasch vergrößernden Eisenbahn- und Straßennetz e war e n nämlich in di eser Zeit viele Kaffeepflanzer dazu überg e gange n , ihre Stadts it z e nicht m e hr in d e n kl e in e n Landstädtchen ein z urichten , di e in der Näh e ihrer Güte r lage n , s ond e rn in d e n inzwi s ch e n leichter erreichbaren großen Zentren, wo s ie ein glän ze nd es gese ll s chaftlich es Le b e n führen und gleich z eitig ihren Kindern ein e ausge ze ichn e t e Schulbildung in den Obe r schulen für Jungen ode r Mädchen bieten konnten , die von m e is t europäi s chen Ord e ns le uten g e le ite t wurden. Außerdem hatten die Eltern in der Stadt Geleg enh e it, d as Le ben ihre r Söhn e z u begleiten, die nun an den allerorts ins Leben gerufen e n Fakultäte n ihrem Studium nach g inge n. So hatten sich viele große Kaffeepflanz e r mit einer g e wi s s e n Le ichtfertigk e it ve rsc huld e t und waren sogar zum Te il au s Unvorsichtigkeit ve rarmt, al s s ie die Wirtschafts krise wie e in Blitz aus heiterem Himmel trafund ihrem g ese ll s chaftlichen , vor all e m aber auch ihre m politischen Prestige Abbruch tat.

Als diese Ereignisse im Süden des Landes eintrate n , waren di e Zuckermühlenh e rre n Pernambucos und anderer Staaten des bras ilianischen N ordosten s s chon läng s t in e in e Pha se des Niedergangs geraten, denn dort hatte s ich in z wischen „ e ine r ic htigge h e nde Zu c k e r in -

206 ANHANG!
1 ROG ER B A ST I D E, a. a 0 S. 13 9.

dustrie mit ihren Mühlenzentralen entwickelt, welche die kleineren Produzen ten ausschaltete, und die in Arbeitnehmer verwandelten L andarbeiter um die Mühlenanlagen herum ansiedelte. Mit der Abschaffung des durch die Kompanie ersetzten Mühlenherrn wurde der aristokratischen Periode des Zuckeranbaus endgültig ein Ende gesetzt. Einige dieser Kompanien wurden von England aus geführt und trugen nun englische Namen. Und an die Stelle der hartnäckigen Initiative der alten Eigentümer trat bald das Zonenmonopol. " 1

Der Gewinn vieler Zuckermühlen ging dermaßen zurück, daß die Zuckermühlen einer großen Zahl von Mühlenherren kaum no ch eine Existenzgrundlage z u bieten vermochten.

c) Die Revolution im Jahre 1930 und das Ende der traditionellen Landeliten in Brasilien

Der Lauf der Ereignisse sollte aber dem Land scho n bald neue Rahmenbedingung en bescheren, in deren Folge di e Landaristokratie praktisch ausgelöscht wurde.

,, Diese Landaristokratie, welche die brasilianische Gesellschaft Jahrhunderte lang angefahrt hatte, verlor 1930 endgültig die Kontrolle über die Nation. " 2

In Wirklichkeit e ntmachtete die Revolution 1930 den Präsidenten Washington Lui z, de ssen Gestalt an s ich schon ein ausdrucksvolles Symbol jener Ordnung d e r Dinge war, die mit ihm unte rging, und setzte Getulio Vargas als Präsidenten der Republik ein.

Mit dieser Revolution begann eine Diktatur, die fast ununterbrochen 15 Jahre dauerte und sich zwa r auf der einen Seite antikommunistisch gab, auf der anderen Seite aber die vo n der Linken geforderten gesellschaftlichen Veränderungen unterstützte. So verwandelte s ich Brasilien unter Getulio Vargas in eine populistische Republik.

Die Klasse der Landherren schmolz auf e inen kleinen, weit verstre uten Rest zusammen: , rari nantes in gurgite vasta '3 , das heißt, nur noch einzelne „Trümmer" trieben auf d e n Wassern eines Landes, de ssen Bevölkerungszahl rapide anstieg, wobei dieses Land dabei ein immer städtischeres und industrialisi erteres Gesicht gewann. Die Kinder von Immigranten aus aller Herren Lände r s ti ege n in führende Positione n auf und erwarben auf dem Land die Güter, welche die früheren Besitzer mit ihre n erschöpften Energien und ausgehöhlten Finanzen sc hon nicht mehr halten konnt en.

Die wenigen noch übrigg eb li e benen Vertreter der alten Elite bildeten kaum noch eine fest umrissene Klasse und gingen im Tumult eines s ich immer mehr verändernden und immer reicher werdenden Brasilien in der Anonymität oder Halbanonymität unter.

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND NIEDERGANG ... 207
I P E DRO CA LM ON , a. a. 0. , Bd. 7 , S. 2300 2 ROBERT J. HAVIGHURST und J. ROBERTO MO RE IRA, Socie ty and Edu ca tio n in Brazil, U n i ve rs i ty of Pittsburg h P ress, 1969,S.42 3 VI RGILIO , En e ida , I, II 8

Die revolutionäre Dreiheit

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in den Äußerungen verschiedener Päpste

Die Zwe ihundertjahr feier d e r Fran zös i sc h e n R evo luti o n war e in e g ute Gelegenheit, überall auf d e r Welt di e Erinnerung an die g roßen Ersc hü tterungen jener Zeit w ieder wachzurufen. D e r Widerhall diese r Gedenktage klin g t a uch heute noch nach und ver leiht d er The matik di eses Buches eine g röß e re Aktua lität , a ls s ie vor d e n Fe ie rlichk e iten b esaß

Es verwundert a l so k e ines w egs, we nn d e m historis c h bewande rten Lese r be i de r L ektüre dieses Tex tes m e hrmal s di e Bilder der Französ i sc he n Revo lution in E rin ne rung ge rufen werden Dabei wird ihm woh l auc h die b e rühmt gewordene Revoluti o n s dre ih eit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wieder eingefa llen sein

Um dem eventue llen Wu n sc h di eser Lese r nac h Vert iefung d es Themas n ac hzuk o mm en, we rden neb e n d e m b e reits z itierte n Tex t 1 im fol g end e n we itere päpstli c h e Ä uß e run ge n zu d iese r T riad e angefühti.

ANHANG
II
1 Vgl. Kapitel I II , 4

ANHANG II

1. Allseitige Freiheit und absolute Gleichheit: törichte, wenn nicht gar monströse Begriffe

In se in em Dekretsc hreiben vom 10. März 179 1 a n de n K a rdi n a l de la Rochefouca ul d u nd d en Erz b ischof vo n Aix - en- Prove n ce üb er d ie G run dzü ge d e r Zivi lverfass ung für d e n Kl eru s nimm t Piu s V I. w ie fo lgt Ste ll u ng:

,, So dekretiert diese Versa mmlung [ d ie fra n zösisc he Natio n a lversammlu ng] als unumstößl iches Rec ht, d c~ß der in Gesells c haft lebende M e nsch allseitige Freih eit genießt, daß diese s omit auch nicht von der R eligion gestört werden da rf, daß er vielmehr nach seinem Gutdünken über Themen, welc he die Religion selbst angehen, sein e M e inung äußern, s prec h en, schreiben u nd sogar ver öffentlic hen dürfe , was immer e r wolle. S olch e rlei Ungeh e uerliclt k e ite n solle n au s d e r Gl e ic hh eit d e r Men s ch e n u nte r u nd aus d e r Fre ih e it d e r N atur abgel eit et sein und h errühre n. Kann man s i c h ab e r e twas Törichte res au sd enke n als die F estset z ung diese r Gleichh e it und F reih e it unter alle n , wenn man bedenkt, daß damit die Vernunft a ußer acht gelassen wird, mit der die Na t ur aufbeson d e re We ise das Men schengeschler.ht ausgestattet hat, um es so vom restlic hen Tie rreich zu unte rscheid en? Als G ott denM e n schen sc hufund ihn ins Paradi es vers etz t e, hat er ihm da nicht auch gleichzeitig die Tod ess trafe angekiindig t ,falls er vom Baum der Erke nntnis von Gut und B öse essen sollt e? Hat er mit dieser ersten Vorschrift nic ht von vornherein der Freiheit des Mens c hen Grenzen gesetzt? Hat er d e m Men schen nicht e twa später, nachdem dieser sich durch sein en Ungehors am sch uldig gemacht hatte, durch Mo ses eine noch größe re Anzahl von Geboten auferl egt? Zwa 1~, be li eß er i hm se i ne n freien Wi ll e n ', um s ich so Gutes oder B ös es verdienen zu können, do c h da z u gab er ihm auch Gebo t e un d Vo r sc hrift en, da mit d iese ihn rette ten, fa ll s er s ie zu b eobac h ten gew illt sei ' (Sir 15, 15- 16).

Wie ste ht es abe r dann um d iese Freiheit des D enkens und Handeln s, die die D e kret e de r N ationalver sammlung dem in Gesellschaft leb enden Mensch en als unabänderliches Naturrecht z u er kenne n ? ... Wenn man bede nkt, daß der M e nsch sich von Anfang an den A·lte re n zu seiner L eitung und Erziehung unterzuordnen hat, damit er so sein L eben an Vernwifi, Menschlichkeit und R eligio n ausrich ten kann, so ist von Geburt an diese hochgepriesene Gleichheit und Freiheit unter den M ensch e n gewiß null und nich tig. , So mu ß man s ich also ihr (der Obrigkeit) unterwerfen ' (Röm 13,5) Damit s ic h also die Mens c hen z u ein er z ivile n Gese llsch aft z usammerifinden konnte n, war es notwendig, eine R egierungsform z u finden, kraft derer die R echte der Freiheit durch Gesetze und die oberste G ewa lt der Regierenden abgegrenzt wurden. D araus ergibt sich ein e Tatsa c he, die der Hl. Augustinus in folgenden Wort en beschreibt: 'Es g il t demna ch a ls a llgemeine Üb ere inkunft der me nsc hli chen Gesellsc haft, d aß de n Kön ige n Ge horsam z u leiste n is t ' (Bekenntnisse, Bu ch III, Kap. VIII, op. ed. Maurin., Bd. !, S. 94). Darum ist der Ursprung dieser G ewalt a u c h weniger in eitlem G esellschaftsvertrag als in Gott selbst, dem Urlieber a lles Rechten und Gerechten, zu suchen " 1

210
l Pii VI Po111 M<Lr Acta, Typis S Co ng rcg de Pro paganda Fidc, Rom, I 8 71 , Bd 1, S 70-71.

2. Die von der Französischen Revolution verbreitete Freiheit und Gleichheit: trügerische Begriffe, ausgesät von äußerst perfiden Philosophen

Papst Piu s VI. hat w ie derholte M a l e die fal sc h e Auffa ss un g vo n F reiheit und Gleichheit verurte ilt. Im g eheimen Kon s is t o rium vom 17. Juni 1793 z itie rt e e r in se in e r Erk lä ru ng den Wo rt laut d e r E n zyk li k a / nsc r utabile D ivinae Sap ientiae vo m 2 5 . Deze mb e r 1775 w ie fo lg t: ,,' Di ese äuß e r s t p erfid en Phil osophen wage n es soga r, a ll j e n e B a nd e a ufz ulöse n , d ur c h we lc he di e Me n sc he n unte r e ina nd e r un d mi t ih re n Vorgesetz t en verbunde n si nd u nd zu r Pflichte rfüll u n g a n ge h a lten werd e n . U n d so fo rd e rn und ve rkün de n s i e bi s z u m Ü b erdru ß, daß d e r M e n sc h fr e i gebo re n un d ke in erl e i H e ITs chaft un terwo r fe n se i; d ie Gese ll sc haft se i d e m e nts prec h end n ic hts an d er es als e ine Ans a mmlu ng dummer M ensc h e n , di e s ic h i n ihr e m Sch wac hs inn v or d e n P ri es t e rn ni e d erwe r fe n , di e sie b e t rü gen , u nd v or d en K ön igen, di e sie un te rdrü cke n . D as Z u sa mm e nw irke n vo n Pri estertum un d H eITsc h aft ko mm e d esh a lb im G rund e e in e r un ge h eure n Ve rsc hwö run g gege n di e a n ge bo re n e Fre ihe it d es Me ns ch e n g le ic h. ' Diesem falschen und trügerischen Wort Freiheit haben diese eitlen Verteidiger des Menschengeschlechts ein weiteres, ebenso betrügerisches Wort zugesellt, die Gleichh e it . Als ob es unter den in Gesellschaft z usammengejiihrten Menschen infolge der Tatsache, daß sie ve rschiedenen Willensregungen unterw01:fen sind und sich jeweils nach der E ingabe des eigenen Wünschens auf mannigfaltige und ungewisse Art bewegen , n i cht jemanden geben müsse, der la-afi seiner Autorität und Macht die Oberhand b e hält, zwingt und regiert und auch die in d ie Pflicht nimmt, die sich regelwidrig verhalten , damit nic ht die Gesellschaft selbst unter dem dreisten und w iderspruchsvollen Ansturm unzähliger Leidenschaften in Anarchie verfällt und sich völlig auflöst ,-{hnlich ist es ja auch mit der Harmonie, die sich aus dem Einklang vieler Töne zusammensetzt, ohne die rechte Zusammensetzung von Saite n und S timmen jedoch in ungeordnete, m ißtönende Geräusche auseinander fällt". 1

3. Der Mißbrauch von Freih eit und Gleichheit führt zu Sozialis mus und Kommuni s mus

In seine r E nzy kli ka Nostis et Nobiscum vom 8 . D eze mb e r 1849 ve rkünde t P ap st P ius IX.:

„ Bez üglich dieserfalschen Lehre [ nä ml ic h d ie V ölker Ita li e n s vo m Ge h o r sa m z um Papst und d e m H e ili ge n Stuhl a b z uh a lte n] und deren Systeme, weiß jede,: daß sie vor allem bez wecken, u nt e r Mißbrauch d er Wo rt e Freih e it und Gle i c hheit die verderblichen I deen des Kommunismus und des Sozialismus im Volke zu verbreiten". 2

1 Pii VI ?0111 Max Acra, Typis S. Cong reg. d e Propagan da Fide, Rom 187 1 Bd. II S 26-27

2 Die Karholische Sozialdokrrin in ihre r Geschichtlichen E11rfa//1111g - Eine Sa111111/11ng päpsrliche r Dok11111e111e vom 15. Jal,rhunderr bis in die Gegemvarr (Originaltexte mi t Überset z ung) - herausgegeben vo n Prof. Dr. A11 hur Ut z und Dr. Brigina Gräfi n von Ga len, Aach e n 1976 , 1, 17

DIE REVOLUTIONÄRE
DREIHEIT
211

ANHANG II

Au s der gegen di e Fre imaure rei ge r ichtete n E nzyklika Hum an u m G enus v on P ap st L eo XIII. vom 20. A pril 188 4 heben w ir den fol ge nd e n A b sc hnitt h e r v o r : ,, N ic ht oh n e Grund ergreifen Wi r h ie r d i e Gelegenheit, um erneut darauf h inz u we isen, w ie n otwendig es ist, de n D r i tte n O rden d es hl. Franziskus ( .)von der noch vie le F r üchte zu e r warten s ind, vor allem jene höchs t kostbare, daß in ihr d ie Gemüter z ur wa h ren Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichh eit der R ech t e gefahrt werde n ; fi'e i lich nicht zu je n er, wi e s ie die F reimaurer tö rich terweise erträu m e n , sondern wie s i e J esus Ch ristus uns gebrac h t, u n d w ie sie d er hl Franziskus in seinem Leb en ver wirklich t hat. Wir meinen d ie Frei heit der K inder Go ttes, durch die wir weder d em S ata n dienen, noc h in d ie hart e K nechtsch aft der Begierde n.fa llen, die Brüderlichkeit, d ie in G ott, dem ge m e i ns a men Va t e r und Schöpfer a ller Menschen ihren Urspr u ng hat, d ie Gleichheit, d i e - aufdem festen Grund der G erechtigkeit un d Liebe r uh end - die Unters chiede in der Ges ellschaft nicht aufh e bt, aber b e i alle r Ve rs chiedenheit d e r Leben s weisen, Ä·mter und Leistung en jene h e rrlich e Üb e rein s timmung und Harmonie hervorbringt, d i e ihrer Natur nach dem Gemeinwesen Nutze n br ingen und Würde verle ih en" 1

5. Eine Philosophie, die der Kirche überhaupt keinen Anlaß zur Freude gibt

In seine m A po stoli s che n S chre iben No tre Charge Apostoliq ue vom 25. Au g u s t 19 10, in d e m der he ili ge Paps t Piu s X. di e fran z ö s i sch e B eweg un g d e r k at holi sc h e n Linke n L e S illon vo n M arc Sag ni er ve rurt e ilt , an a lys ie r t d e r P a p s t di e b e rühm te D r e ih e it fo lge nd e rm a ß e n:

„ Die , Sillon-B e w eg un g' vertritt in anerken nenswerter We ise die Menschenwürde. Aber sie versteht diese Wü rde im Sin n e gewisser Philosophien, die der Kirche d u rchaus nicht z um Ruhm gereic hen. D as erste Element dieser Wü rde ist d i e Freiheit, die so versta nden wird, daß jeder Me nsch , a ußer in religiösen D ingen, autonom is t. Aus diese m Grundprinzip z i e ht die ,Si/Ion-Be wegung' folge nde Schlü s se: H eute steh t das Vo lk un ter der Vormundschcdi einer m it ihm nicht identischen A u t o rität; von ihr muß es sich befi·eien, das ist 'politis ch e E man z ipation'. Das Volk steh t in der Abhängigkeit von Arbeitgebern, die seine Produkti onsmittel i n der H a n d haben und es dadurch ausbeuten, unterdrücken und ern iedrigen; es muß ihr Jo ch abschütteln, das ist , wirts chaftlich e E man z ipation'. Es is t schließlich beherrscht von der sogena nn ten herrschenden K lasse, die ai1fgrund ihrer besseren intellektuellen Bildung eine ungebührliche Vorrangstellung im Wirtschaftsleben besitzt; es muß sich dieser Herrschaft entziehen, das ist ,inte llektuelle Eman z ipation'. Eine Nivellierung unter diesen dre i Gesic h tsp unkten w ird d ie Gleichheit unter de n Me nschen her be{fiihren, und die Gl e ic hh eit is t die wahre menschliche Ge rechtigkeit. Eine politische u nd soz iale Ordn u ng, die auf d ieser doppelte n B asis der F reiheit und Gleichh eit (zu d e nen sich bald noch d i e Brüderlichke it hinzugesellt) aufruft, das ist es, was sie D emokratie nen nen ...

2 12
4. Die christliche Gleichheit, ,,die Unterschiede in der Gesellschaft nicht aufhebt und bei aller Verschiedenheit der Lebensweisen, Ämter und Leistungen herrliche Übereinstimmung und Harmonie hervorbringt"
1 Utz -von Galen , 1, 154

In der Politik zunächst will die ,Sillon '-Bewegung die Autorität nicht abschaffen, sie hält sie im Gegenteilfiir notwendig; aber sie will sie aufteilen oder- besser gesagt - vervielfältigen, so daß jeder Bürger eine Art König wird. ...

In en tsprechender Weise gilt das Gleiche für die Wirtschaftsordnung. D ie Wirtschaftslenkung wird dadurch, daß sie einer gewissen Klasse genommen wird, so gut vervielfältigt, daß jeder Arbeitnehmer eine Art Arbeitgeber wird. .. .

Und nun zum wichtigsten Element, dem sittlichen Der Enge seiner Privatinteressen entrissen und zu den Höhen der Interessen seines Berufsstandes erhoben, und höher noch zu den Interessen der gesamten Nation,ja der ganzen Menschen (denn der Horizont der Sillon-Bewegung endet nicht an den Grenzen des Vaterlandes, er erstreckt sich über alle Menschen hin bis an die Grenzen der Erde), wird das menschliche Herz - geweitet durch die Liebe zum allgemeinen Wohl - alle Berufskam eraden, alle Volksgenossen, ja alle Menschen umarmen. So wird die Größe und ideale Würde des Menschen realisiert in der berühmten Dreiheit: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. ...

Das ist - kurz zusammengefaßt - die Th eorie, man könnte auch sagen der Traum der Si/Ion- Bewegung". ' 1

Der heilige Pap st Pius X. folgt also ganz den Spuren seiner Vorgänger, die seit Papst Pius VI. die von dem Wahlspruch der Französischen Revolution eingegebenen IITtümer verurteilt haben.

6. Die revolutionären Grundsätze von 1789 enthalten die Summe aller Lehren der falschen Propheten

Papst Benedikt XV. hielt aus Anlaß der Veröffentlichun~ des Dekrets üb e r di e H e ldenhaftigkeit der Tugenden des Seligen Marcelin Champagnar am 11. Juli 1920 eine Ansprache, aus der wir die folgenden Auszüge wiedergeben:

„Man braucht sich ja nu r den Anfang des 19. Jahrhunderts anzuschauen, um sofort zu erkennen, daß in Frankreich vielefalsche Propheten aiiftauchten, die von hier aus versuchten, überall den schädlichen Einfluß ihrer perversen L ehren zu verbreiten. Es waren Propheten, die sich als Rächer der Volksrechte aufspielten und ein Zeitalter der Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit ankündigten. Wer sah denn nicht sogleich, daß sie nur als Schafe ve rkleidet waren - 'in vestimentis ovium'?

Doch die von diesen Proph eten verkündete Freiheit öjjiiete nicht die Tore zum Guten sondern zum Bösen. Die von ihnen gepredigte Brüderlichkeit grüßte Gott nicht als einzigen Vater aller Brüder; und die von ihnen angepriesene Gleichheit stützte sich nicht aiif den gleichen Ursprung oder die gemeinsame Erlösung und auch nich t aiifdas Ziel, das fiir alle Menschen dasselbe ist. Es waren Propheten, die eine Gleichheit predigten, welche die von Gott in der Gesellschaft gewollten Klassenunterschiede vernichtet. Es waren Propheten, welche die Menschen Brüder nannten, um ihnen d e n Gedanken gegenseitiger Unterordnung zu nehmen. Es waren Propheten, welche die Freiheit verkündeten, das Böse zu tun, das Licht Dunkelheit zu nennen, das Falsche mit dem Wahren zu verwechseln und das erstere dem letzteren vorzuziehen, dem Irrtum und dem Laster die Rechte und Gründe der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu opfern.

DIE REVOLUTIONÄRE DREIHEIT 213
-2
l Utz- von Galen, XX III, 241 -243- 244- 245
4 7 2
Der Seli ge Ma rceli n Joseph Benedi kt Champagnat , Grü nd er d er Maristen-Schulb rüder, g ebo ren am 20. Ma i 1759 und g estorben am 6. Jun i 1840, wurde von Pa ps t Pius X I I. am 2 9 Mai 1955 se li gges pro chen

Es ist leicht verständlich, daß diese Propheten i m S chafspe l z ihrem Wesen nach, d.h. in Wirklichkeit reißende Wölfe ·waren ' qui ve niu nt a d v o s i n vest im e nt is ov i um, int ri nsecus a ut e m s unt lupi rap a c is' [sie ko mm e n z u e uc h im Sch afs p e lz, s ind abe r in W i rkli c h ke it r e i ße nde W ö lfe ].

Wen wundert es da, daß gegen diese falschen Propheten das schreckliche Wort erklingen mußten: 'Hüte t euch vor ihnen! ' - 'att e n d ite a fa l sis pro phe ti s' .

Marce lin Champagnat hat dieses Wort vernommen, und er vers t and auch, daß es nicht nur ihm galt. D eshalb wollte er zum Echo dieses Wortes un ter den Kindern des Volkes werden, denn er sah sehr wohl, daß gerade diese Kinder wegen ihrer eigenen Une,fahrenheit und infolge der Unkenntnis ihrer E ltern in R eligionsfragen den Grundsätzen von 1789 am leichtesten zum Opfer.fielen . ..

'Att end ite a fa ls is p ro ph e ti s' : das waren die Worte dessen, der d em Strom d e r Ir rtü m er und Las t e r Einhall gebieten wollte, d e m Strom, d e r s i c h infolge d er Fran zös isc he n Revolution über die g an z e Erde z u e rgieß e n dro hte.' Atte ndi te a fa ls is prop h etis' : das waren die Wor te, die den Auftrag deutlich machen, den Marcelin Champagnat zu dem seinigen machte. D iese Worte dü,je n nicht in Vergessenheit geraten, wenn man sein Leben studieren will.

Es ist nicht uninteressant, daß Marcelin Champagnat, geboren 1789, dazu bestimmt wa,; die praktische Umsetzung eben der Grundsätze zu bekämpfen, d ie mit der Zahl seines Geburtsjahres bezeichnet wurden und eine traurige, schmerzliche Berühmtheit erlangen sollten.

Um sein Werk zu rechtfertigen, hätte es genügt, das heutige Tagesevangelium weiterzulesen, denn e in e i nfa c her Blick auf die Wunde n , we l c h e die 89er Grundsätze i n d e n S c hoß d e r bürgerlic h e n und re ligiösen Ges ellschaft gerissen h a be n, w ürde n zeigen, i n we l ch e m M aße j e n e Grundsät ze die S umm e aller Le hre n d e r fals ch e n Proph e t e n b e inh a lte t e n : 'a fruc t ib u s eo rum c o g n oscet i s eos' . ..

Zum Wachstum der Häuser der Kleinen Brüder Mariens [Mar iste n -Br üder] und zur Orientierung der dort lebenden jungen Menschen trug ohne Zweifel die Gottesmutter durch ein B ild bei, das zuerst erschien, da nn wiede r verschwand und schließlich wiedergefi111den wurde. Wahrhcift wundervoll warjenes erste Aufblühen der Gemeinschafi, und es läßt sich nur durch das ununterbrochene, außerordentliche Anwachsen erklären, daß nicht gan z fünfzig Jahre nach der Gründung bereits.fiinfiausend Brüder der neuen I nstitution hunderttausend über den ganzen Erdkreis zerstreuten Burschen auf dem ganzen Erdkre is heilsame Erziehung zukommen ließen .

Hätte der ehrwürdige Champagnat in prophetischern Licht diesen außerordentlichen Erfo lg vorausgesehen, würde er sicherlich jene übergroße Anzahl von Jungen bedauert haben, die weiterhin im Schatten des Todes und in der Dunkelheit des Unwissens verblieben waren. Mehr noch hätte er bedauert, daß er nic ht no c h b esser die unh e ilvolle En t wi c klu ng des schädlich e n Sam ens, der durc h die Fran z ö s isch e R evolutio n ve rb reitet wo rde n war, aufhalten konnte. Ein Ge.fiihf tiefster Dankbarkeit Gott gegenüber.für das Gute, das von der Kongregation getan worden wa,~ hätte ihn jedoch auch z u der Feststellung veranlaßt, daß so, wie sich aus den schlimmen Früchten der Lehre einiger zeitgenössischer Propheten deren Falschheit ableiten läßt, auch das Heranre[fen guter Früchte aus einem Werk aufdessen Güte schließen lcißt ' Ig itu r ex fructibu s eo rum cog noscetis eos' " 1

2 14 ANH ANG II
1
L "Osservatore Romano, 12 - 13.7 1920, 2 Aufl

7. Christliche Begriffe wurden zu antichristlichen, laizistischen und antireligiösen Zwecken mißbraucht

B e i s einem B es uch in Frascat i a m 1. S epte mb er 19 6 3 s t e llte P a p st Paul V I. - auf das Wirk e n d es hl. Vin ze n z Pallotti in di ese r S ta dt e i nge h e nd - fol ge nd e Betrac h t un ge n über die F ran z ö s isc h e Rev oluti o n und ihre n Wa hl s p ruc h Freiheit, Gleichheit, Br üderlichkeit a n :

,,Es war die Zeit nach der Französischen R evolution mit all dem Unglück und den verwirrten, c haotischen u n d zugleic h leidenschaftlic hen und hoffnungsvollen I deen, welche d ie R evolutio n den Me nschen des vorausgegangenen J a h rhunderts in den Kopfgesetzt hatte Es war unbedingt notwendig geworden, die D inge wied er in Ordnung zu bringen und dieses Zeita l ter sozusagen zu stabilisieren und zu festigen, wie es sich gehört. Gleichzeitig war jedoch a uch de r S auerte ig von etwas Neuem z u v erspü ren . L ebendige I deen tauch t en auf, die mit den Haup tgrun dsätzen der R evolution übereinstimmten, denn schließlich hatte sich jene j a n ur einige e igen t lic h ch ris t l ic h e B egriffe angeeignet: Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Fortschri tt, der Wu nsch, die niedrigen K lassen aufzurichten. D as alles waren c hrist liche I deen , w aren aber n u n aufeine a n tichristliche, laizistische, religionslose Fah n e g eschri eben worden, die sie ihrer evangelischen Züge zu berauben trachtete, die dem menschlichen L eben ja einen höheren, edleren Sinn geben sollen". 1

8. Im Grunde handelt es sich um christliche Ideen, aber diejenigen, die sie zuerst formulierten, nahmen keinen Bezug auf den Bund des Menschen mit Gott

W ä hr end de r M e ß fe i e r a uf dem Fl u g h afe n Le Bourget in Pa ri s a m 1. Ju n i 198 0 sagte P ap s t Joh a nn es Pa ul II in seiner Pre di g t:

,,Was haben die Söhne und Töchter eures Volkes nicht alles zur Kenntnis des Menschen, zum Ausdruck des Menschen durch die Festlegung seiner unveräußerlichen Rechte beigetragen! Es ist ja bekannt, welche Rolle die Idee der Freih eit, der Gleichh eit und der Brüderlichkeit in eurer Kultur und eurer Geschichte spielt Im Grunde sind dies christliche / deale Und ich sage dies wohl wissend, daß diejenigen, die als ers te dieses Idealformuliert haben, keineswegs den Bund des Menschen mit der ewigen Weisheit im Sinne hatten. Doch sie wollten etwas tun fiir den Menschen " 2

9. Die Französische Revolution - eine von einer unges tümen Welle der Gewalt und des Hasses mitgeris sene Bewegung gegen die Reli gion

Wä hre n d der A u d i en z fü r di e P ilge r von A n gers, d ie z ur Se ligsp rec hu ng W ilhe lm Repin s und se in e r Gefährten nac h Ro m geko m me n waren , sagte Paps t Jo h a n nes Paul II. am 20. Februar 1984 :

I ch weiß, daß die Französis c he Revolution - vor allem während der, Zeit des Terrors ' in eurem Vaterland und im Westen taus e nde Opfer verursacht hat, die unter der Guillotine starben, erschossen oder ertränkt wurden, sowie in den Gefängnissen von Angers umka -

DIE REVOLU TIO N ÄRE DREIHEIT
2 15
1 l11s eg11amemi di Pao/o VI , T ipografi a Poliglotta Vat icana , 1963 , 13V. 1, S 569 2 !n segnamellli di Ciova1111i Pao/o II. , Librer ia Edi tric e Vaticana , 1980, Bd. 11 1, 1, S. 189.

men. Nur Gott k e nnt ihre Verdienste, ih re Opfe r , ihren Glaub e n. Die Diözese und der Heilige Stuhl konnten nur einen kleinen Teil dieser Fälle priifen, in denen das Z eugn is des Martyriums in bezug cn!fdie religiösen Beweggr ünde besser bekannt und offensichtlicher war Ihre Gefangenna hme [des Seligen Repin und seiner 98 G e fährten] und Verurteilung hänge n sicherlich mit e in em politischen Kontext des Widerstandes gegen ein R egim e zusa mm en, das in jener Zeit so viele religiöse Werte abwies. Wenn diese geschichtliche Bewegung auch von einem Gejiihl der Großzügigkeit- Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeitund dem Wunsch nach no twendig gewo rdenen Reform en im,piri ert worden wa,; so w ar sie doch in den Sog d e r Vergeltungsmaßnahmen, der Gewalt und des R eligionshasses geraten. Dies ist eine Tatsache. Es s teht uns hier nicht zu, überjene politische Entwicklung zu urteilen. Wir überlassen d en Historikern die schwierige Ai!fgabe, ihre Maßlosigkeit zu bestimmen" 1

Vielleicht stellt d er Leser in den Texten hin und wieder einen s cheinbaren Widers pruch in den Reden d e r v e rschiedenen Päpste zum Thema d e r Dreih e it Freiheit, Gleichheit, B rüderlichkeit fest.

Doch löst s ich dieser Eindruck zusehends au f, we nn man bedenkt, daß j e der Auss pruc hwird er erst einmal auf die rechte Weise , d.h. im Lichte d e r Prinzipien de s k a tholi sc hen Glaubens gesehen - durchaus unsere Z ustimmung v e rdient, d e nn sc hließlich hand e lt es sich jeweils um die Aspekte , die jenen Päp s ten wichtig w aren.

Im allgemeinen muß man jedoch festhalten , daß jene Denker und Schrifts teller, welche die Französische Revolution vorbereiteten, wie auch die Männer der Aktion , di e di ese schrecklichen gesellschaftlichen und politi sc hen Unruhen, die F rankreich vo n 1789 an e rschütterten, angestiftet haben , wie auch die Pamphleti ste n und Demagoge n, di e s ie auf die Straße trugen und damit z ur Ausübung vo n sovie l Ungerechtigkeit und so ungeheure n Verbrechen beigetragen haben , j e ne Worte b es timmt ganz anders verstanden. Denn ihn e n ging es um die Zerstörung der R e ligion , um den Haß gege n jede Art von legitimer A utorität und um die wütend e Leugnung aller Ungleichh e ite n , selbst d e r gerechten und notw endi ge n.

Die Dreiheit Freiheit, Gleichheit, Brüderlic hkeit an sic h z u loben b e de utet ni c ht, di e radikalen und absurden Irrtümer gutzuheißen, welche die Revolutionäre im Ganzen gesehen in di ese Begriffe miteinbezogen. Die se Irrtüm er wurden gerade in der letz te n Aufwallung der Französischen Revolution , dem kommunistischen Aufstand Babeufs , besonders deutlich. 2 Hier offenbarte s ic h , wie tief in der l 789er Re v olu t ion d er Keim d es Kommunismus steckte - dieses Inbegriffs religiö se r, philo s ophi sc h er , politi sc her,

!) /nsegnamenti di Giovanni Paolo II. , Libreria Ed itrice Vat icana, 1984,13d. VII , ! , S. 447-448.

2) Babeuf. Francois Noel ( 1760- 1797) - fra nzösischer Revolutionär, befehl igte d ie „Verschwö run g der G leichen", die im W in ter 1795 -96 au f den Pla n trat und „den ersten Versuch darstellte. den Komm u nismus zu verwirkliche n ··. Er ve röffe nt lic hte d as „ Manifest d e r Gle ichen ' '•das d ie Gemeinsa mk eit von Gut und Arbe it vertra t un d „die ers te Form r e vo/111ionärer Ideologie in der aus der Revo/111ion selbst hervorgegangenen Gesel/schaji war Mit dem Babouvismus wurde der Kommunismus der bi s her nich ts als e in e utopische Phantasie gewesen war, Zllm ideologis che n System e rhoben: mit der Verschwö rw 1g der Gleichen tat er seinen S chrill in die politische Geschichte" {ALBE RT SOBOUL, La Revo l111ion Frall!;aise, Ga ll imard, Pa ris, 1962, Bd 11 , S 2l6u.2l9).

Was d ie Roll e an geht, die Babeuf im we itere n Verlauf der revo lu t ionäre n Beweg u ng spiel te, behaupte t Ma rx in seinem We rk , daß e r auf gotteslästerl iche Weise den Titel Die heilige Familie gegebe n hat , daß ,die revolutionäre Bewegung, die 1789 in gesellschaftlicl1en Kr eisen ihren A nfang genommen und in der darauffolgenden E11twick/11ng ledere und Roux als wich tigs te Vertreter gehab t hatte, mit der Verschwörung Babeuj~ zwar vodibergehend unterlegen gewesen sei, der kommunistischen ldeo!ogiejedoc/1 , die 8 110narroti, der Freund Babe1,j}, nach der R evolutio n 1830 in Frankreich wieder eingejiih rt habe, damit der Durchbrnch gelungen sei. Diese konsequent weiterentwickelte Ideologie bilde den Beginn der 111 odem e n Welt" (vg l.

FRA NCOIS F URET , Dictiunnuire Critique de !a Re vulu tiun Franc;aise, Flammario n , Paris , 1988 , S . 199).

Babeufs Bewegung wurde vo m Direktorium bekämpft. Er selbst wurde gefan ge ngenommen und 1797 h ingerich tet.

216 ANHANG II
*
* *

g e sellschaftlicher und w irtschaftlicher Irrtümer - dem da s name nlose morali sc he und materielle Unheil zu verdanken ist , mit dem heute die V ölker O s teuropas z u k ämpfen haben.

Eine List, die von der Franz ösischen Revolution mit be sonder e m E rfolg angew and t w urde, bestand gerade darin, viele einfache und un v orsichtige Geister durch den Einsa tz ehrbarer ode r gar lobenswerter Begriffe mi t eine m ung e h eu e rlichen Hau fe n v on Irrtüme rn und verbreche risch en Ereigniss en durcheinand e rz ubringe n. Vi e le di eser G e is te r w ar en d e nn auch g ern bere it , die Lehren der Franzö sischen Rev olution in ihre r Wurzel al s gu t z u bezeichnen , obwohl die v on der Revolution geschaffenen Tatsachen ä ußers t v erdammen swert waren.

Andere w iederum waren der M einung, daß di e Lehren der Franz ö sischen R evo luti on, die derartiges Unhe il hervorgebracht hatten , nicht we ni g er verdamm e n swert sein k onnten a ls ihre Aus w irkunge n D es h a lb kam e n die se M e nschen z u d e m Schluß , d a ß di ese Dre ihe it , die al s Inbegriff dieser perversen Lehre n einge hämmert worden sind , ebenfall s ni c hts a ndere s al s Ablehnung v erdiente.

All dies e schädliche Verwirrung in den Köpfen sollte s ich al s äußers t l a n g lebi g erwe ise n. D a es nur l a ng sam g e lingt, s ie aufzul öse n , kann man sie auch heute n o ch a ntre ffe n.

Man sieht, daß e inige Päpste in ihre n Worte n a n e in Publikum, d a s größte nteil s no c h e ine r fa lsche n Ori e nti erung anhing , ve r s u c ht hab e n , g ew isse E inse itigke ite n und üb e rm ä ßig strenge Beurteilungen dieser Dreiheit, die au f schlaue Weise aus g e schlac htet w or den w a r en , zu b e richti ge n. Andere w iede rum v e r suchte n z u ve rhind e rn , d a ß d ie im Grunde unsc hädli c he n B e griffe d e r Dre ihe it „ Fre ih e it, Gle ichhe it, Brüd erl ic h ke i t" die M e n sc h e n über di e w e se nhafte Ve rd e rbtheit d er Ere i gniss e, di e mit d en g roß e n Umw äl zun ge n am Ende d es 18. Jahrhunde rt s ve rbund e n w are n , hin weg täuschte n. Üb e r j e n e Ere i g ni sse hinw eg täuschte n, die schli eßlich unt er d en B ezeichnunge n Soz ia lis mu s und Kommunis mus auch d a s 19. und fast das ganz e 20. J ahrhund ert überdauert h a ben , und d ere n e i ge ntlich e r Inhalt h eut e in Oste urop a in d e n le t zte n Z ü ge n li egt. Vi e ll e ic ht s oll te n w ir lie b e r sagen, d a ß die ser Inha lt a uc h dort nur wiede r e inma l seine Ge s talt ändert und mit der Suc h e nach neuen Wörtern , neuen Formeln , neuen N a c h s tellun ge n w eiter se ine radi ka l gottlose n ode r b esse r panthe is ti schen , j e d e nfall s ab solut und um fasse nd g l e ic hma c h e ri sc h e n Z ie le ans trebt.

DIE REVOLUTIONÄRE DREIHEIT 21 7

Regierungsformen im Lichte der l{irchlichen Soziallehre:

Theorie und Praxis

A. Päpstliche und andere Aussagen über die Regierungsformen: Monarchie, Aristokratie und Demokratie

1. Monarchie: die beste Regierungsform

Aus der Ansprache Papst Pius' VI. zur Hinri c htun g König Ludwigs XVI.: ,,Nach Abschaffimg der besten, nämlich der monarchisch e n Regierungsform, übertrug er [de r Konv en t] die gan z e öffentliche Ma cht auf das Volk". 1

2. Die Kirche widersetzt sich keiner Regierungsform, soweit sie gerecht ist und dem Gemeinwohl dient

III
ANHANG
A u s d er Enzyk lika Diuturnum illud (29 .6.1 88 1) vo n Papst L eo XIII.: 1 Pii VI ?011 1. Max Acta , T yp is S Co ngrcg d e Propa ga nda Fide , Rom, 18 7 1, ßd II, S. 17

„Ebenso handelt es sich hier nicht um die Formen der politischen Gewalt; denn die Kirche .findet weder in der Herrschaft eines Einzigen, noch in der von vielen etwas Unangeme sse nes, wenn diese nur gerecht ist und durch sie das allgemeine Wohl besorgt wird. We nn daher die Gerechtigkeit nicht verletzt wird, ist es den Vökern unbenommen,jene Regie rungsform anzunehmen, die am meisten den tradierten Institutionen und Gewohnheiten am meisten entspricht. ' " 1

Aus der Enzyklika Immortale Dei (1.11.1885):

,, Das Befehlsrecht ist aber an sich mit keiner bestimmten Staatsform notwendig verknüp.fi. Es kann die eine oder andere Form annehmen, wenn diese nur das gemeinsame Wohl und Gedeihen wirksam fördert

Alle diese Bestimmungen aber sprechen sich, wenn man s ie richtig durchdenkt, in keiner Weise gegen irgendeine der verschiedenen Staatsformen aus; denn in keiner liegt ein der katholischen Kirche feindliches Element, vielmehr sind alle bei weiser und gerechter Durchfohrung höchst dienlich zu r gedeihlichen Entwicklung des Staatswesens" 2

In den oben angeführten Textstellen geht Papst Leo XIII. von einer Nation aus , die s ichohne jede Verletzung des Autoritätsprinzips oder erworbener Rechte - angesichts der Umstände vor die Wahl gestellt sieht, sich für die geltende Regierungsform oder irgendeine andere Regierungsform zu entscheiden.

Die von ihm angesichts einer solchen Lage vertretene Lehre gilt mutatis mutandis auch für eine Person, die sich als Privatperson in die Lage ve rsetzt sieht, eine derartige Wahl z u treffen. Wenn es zum Beispiel bei einer Volksbefragung darum geht, mit seiner Stimme z wischen Monarchie, aristokratischer Republik oder demokrati sc her Republik zu entsc heiden. Oder wenn sie vor der Wahl steht, welc her Partei sie sich anschließen soll.

3. Diese oder jene Regierungsform kann den Vorzug verdienen, weil sie besser dem Wesen oder den Bräuchen des jeweiligen Volkes entspricht

Aus der Enzyklika Au milieu des sollicitudes (16.2.1910) Papst Pius ' X.: ,, Verschiedene politische Regierungen haben in Frankreich im Verlauf dieses Jahrhunderts einander abgelöst, und jede hatte ihre bestimmte Form: Kaiserreiche , Monarchien, Republiken. Wenn man im Abstrakten verbleibt, könnte man leicht d efinieren, welche, in sich betrachtet, die beste Form ist; man kann auch mit vollem Recht sagen, daß jede von ihnen gut sei, sofern sie nur fähig ist, geradlinig auf ihr Ziel zuzugehen, aufdas Gemeinwohl nämlich,for das die gesellschaftliche Autorität eingesetzt worden ist; schließlich muß noch hinzugefogt werden, daß unter einem bestimmten G eschichtspunkt dies e oder jene Regierungsform vorzuziehen sei, weil sie dem Charakter und den Sitten dieser oder jener bestimmten Nation besser angepaßt ist. In der Ordnung des theoretischen Denkens haben die Katholiken wie jeder andere Staatsbürger die volle Freiheit, eine Regierungsform der andern vorzuziehen, eben deshalb, weil keine der gesellschaftlichen Formen von sich aus den Regeln der gesunden Vernunft und den Maximen der christlichen Doktrin widerspricht. "

220 ANHANG III
3
1 Die Ka tholische Soz ialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung - Ein e Sammlung päpstlicher Dok11me11te vom 15 Jahrh1111dert bis i11 die Gegenwart (Originaltexte mi t Übersetzung) - hera usgegeben von Pro f. Dr. Arthur Utz und Dr. Brigitta Gräfin von Galen, Aachen, 1976, XXI , 4. 2 Utz-von Galen, XXI, 25 und 4 1 3 Utz-11011 Galen XXlll , 190

4. Irrtum des Sillon: allein die Demokratie wird das Reich vollkommener Gerechtigkeit schaffen

Aus dem Apostolischen SchreibenNotre charge apostolique (25.8.1910) des hl. Papst Pius' X.:

„Die ,Si/Ion-Bewegung' verbreitet demnach unter Eurer katholischen Jugend falsche und gefährliche Begriffe von Autorität, Freiheit und Gehorsam. Das Gleiche gilt für Gerechtigkeit und Gleichheit. Sie (Die Sillon-Bewegung) arbeitet - sagt sie - für ein Zeitalter größerer Gleichheit, das dadurch zugleich ein Zeitalter größerer Gerechtigkeit sein würde. Für sie ist also jede Ungleichheit des Standes eine Ungerechtigkeit oder zumindest eine geringere Gerechtigkeit! Ein Prinzip, das der Natur der Dinge aufs höchste widerspricht, Neid und Ungerechtigkeit erzeugt undjede soziale Ordnung zerstört! Somit würde nur die Demokratie das Reich der wahrhaftigen Gerechtigkeit eröffnen! Ist es nicht eine Beleidigung für alle übrigen Regierungsformen, die man auf diese Weise auf den Rang von machtlosen Notbehelfs-Regierungen erniedrigt? Im übrigen verstößt die Sillon-Bewegung auch in diesem Punkt gegen die Leh re Papst Leos XIII. Sie hätte in der bereits erwähnten Enzyklika über die politische Herrschaft lesen können, daß, , wenn die Gerechtigkeit gewahrt bleibt, es den Völkern unbenommen ist, sich jene Regierungsform zu geben, die ihrem Charakter oder ihren traditionellen Institutionen und Bräuchen am besten entspricht'. Die Enzyklika erwähnt hierbei die bekannten drei Regierungsformen. Sie setzt also voraus, daß die Gerechtigkeit mit jeder von ihnen vereinbar ist. Und bejaht die Enzyklika über die Lage der Arbeiter nicht ausdrücklich die Möglichkeit, die Gerechtigkeit in den gegenwärtigen Organisationsformen der Gesellschaft wiederherzustellen, da sie die Mittel dazu angibt? Zweifellos wollte aber Papst Leo XIII. nicht von irgendeiner, sondern von der vollkommenen Gerechtigkeit sprechen. Wenn er also lehrte, daß die Gerechtigkeit mit den drei bekannten Regierungsformen vereinbar ist, so lehrte er damit, daß unter diesem Gesichtspunkt der Demokratie kein privilegierter Rang zukommt. Entweder weigern sich die Sillonisten, die das Gegenteil behaupten, auf die Kirche zu hören, oder sie haben eine Vorstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit, die nicht katholisch ist. " 1

5. Der katholischen Kirche fällt es nicht schwer, mit den verschiedenen Regierungsformen auszukommen

Aus der Enzyklika Dilectissima nobis (3.6.1933) Papst Pius' XI.:

„Allen ist ja bekannt, daß die katholische Kirche keine Staatsordnung gegenüber e iner anderen besonders bevorzugt, sofern nur die Rechte Gottes und des christlichen Gewissens gewahrt und geschützt werden, und daß sie sich daher ohne Schwierigkeit mit jeder Staatsform ins Einvernehmen setzen kann, sei es ein Königreich oder eine Republik, eine A r istokratie oder eine Demokratie. "2

6. Die wahre Demokratie ist mit der Monarchie keineswegs unvereinbar

Aus der Rundfunkansprache Papst Pius' XII. zum Weihnachtsfest 1944:

,, ... die Demokratie, im weiteren Sinn e verstanden, verschiedene Farmen zuläßt und sich ebensogut in Monarchien wie in Republiken verwirklichen kann

REGIERUNGSFORMEN
221
1
1 2
Utz-von Galen, XXIII , 25
Utz- von Ga/en , XXV, 10 1.

Der demokratische Staat, ob monarchisch oder republikanisch, muß wie jede andere Regierung.~form mit wahrer und wirksamer Autorität ausgestattet sein . " 1

7. Die katholi sche Kirche läßt jede Regierungsform zu, die s ich nicht dem göttlichen und menschlichen Recht widers e tzt

A u s de r A n sprac he P apst Piu s ' XII. an das a uß erorde n t li c he Gehe ime Kons i sto rium ( 14. 2 . 194 9):

„ Die katholische Kirche duldet jede Regierungsform, die nicht zum göttlichen oder menschlichen Recht im Gegensatz steht. Wenn aber ein solcher Gegensatz bes tehen sollte, so sind d i e Bischöfe und die pflichtbewußte n Gläubigen da z u angehalten, sich den ungerechten Gesetzen zu widersetzen. "2

8. Bei der Festlegung der politischen Struktur ein es Landes sind die Verhältnisse des jeweiligen Volkes zu berücksi chtigen

A u s de r Enzykli ka Pacem in Terris ( 1I .4. 1963) Papst Jo ha n nes' XX 11 I. :

,,Im übrigen kann nicht ein.für allemal entschieden werde n, we lc h e Staatsform di e geeignetere ist oder welches die angemesse nste Art und Weise ist, in de r die Staatsgewa lt in Gesetzgebung, öffentlicher Verwaltung und Rechtsprechung ihre Aufgabe e rfiillt

Um tatsächlich fest z ustellen, in we lcher Form ein Staat regi e rt werden und wie e r seine Aufgaben e1:fiillen s oll, müsse n vielmehr der augenblicklic h e Z ustand und di e Lage einesjeden Volkes in Betracht gezogen werden, dieje nach O rt und Z eit verschieden s ind " 3

9. Die Kirch e gibt keinem politisc h e n Sys t e m und keiner institutionellen Lö s ung de n Vorrang

A u s d er E nzy klik a Sollicitudo Rei Socialis (30. 12. 1987) Papst Jo h a nn es' Pa ul II. :

„ D ie Kirche ... legt ja kein e w irts c haftlich e n und politischen Sys te me ode r Progra mm e vor, noch zieht sie die einen den anderen vor, wenn nur di e Würde d es Mens c h e n ric htig geachtet und gefördert wird und ihr selbst der notwendige Raum gelassen wird, ihren Di e ns t in der Welt aus zuüben "4

A u s d e r E n zyk lika Centes imus Annus ( 1. 5 .1 99 1) Pa p st J o ha nn e s' Pau l II . :

„ D ie Kirche achtet die berechtigte Autonomie der demokratisc hen Ordnung. Es steht ihr nicht zu, sich zugunsten der einen oder anderen institutione llen oder ve,fassungsmäßigen Lösung zu äußern. Der Beitrag, den s ie zu dieser Ordnung anbietet, ist die S icht von d er Würde d er P erso n, die sich im Geheimnis des Mensch gewordenen Wort es in ihrer ganzen Fülle offenbart. "5

5 Enzyklika Ce11res i11111s A111111s , I Mai 199 J, Sekretar iat de r De u tsc hen Bischofskonferenz, Bonn, 1991 , S. 55.

222 ANHANG III
Mi ch a el Chi nig o , Verlag He inrich Sc hcfne r. F ran kfu rt , 1959 , S. 298 un d 300
l Pi11s X II. sagt. Zus ammenge ste ll l von
Vat
Bd
2 Discorsi e Radiomessagi di Sua Samirci Pio X II. T ip ografia Poli g lotta
ic a na
X , S 38 1
i. 8 1963 S
3 Die Fried e11se11zyklika Papst Johm111 es XXIII. - Pacem i11 Terris , l-lcrdcr, Freib urg
108
4 Enzyklika So//icir11 do re i so cia lis , 30 Dezembe r 1987 , Sekreta r iat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, 1988 , S 5 1.

10. Die Grundstruktur der politischen Gemeinschaft ist das Ergebnis der Veranlagung eines jeden Volkes und seines geschichtlichen Werdegangs

Aus der Konstitution Gaudium et Spes (1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils:

,,Die einzelnen, die Familien und die verschiedenen Gruppen, aus denen sich die politische Gemeinschaft zusammensetzt, wissen, daß sie allein nicht imstande sind, alles das zu le isten, was zu einem in jeder Richtung menschlichen Leben gehört. Sie erfassen die Notwendigkeit einer umfassenderen Gesellschaft, in der alle täglich ihre eigenen Kräfte zusammen zur ständig besseren Verwirklichung des Gemeinwohls einsetzen. So begründen sie denn die politische Gemeinschaft in ihren verschiedenen Formen. Die politische Gemeinschaft besteht also um dieses Gemeinwohls willen ; in ihm hat sie ihre letztgültige R echifertigung und ihren Sinn, aus ihm leitet s i e ihr ursprüngliches Eigenrecht ab

Die konkrete Art und Weise, wie d ie politische Gemeinschaft ihre eigene Ve,fassung und die Ausübung der öffentlichen Gewalt ordnet, kann entsprechend der Eigenart der verschiedenen Völker und der geschichtlichen Entwicklung verschieden sein. Immer aber muß sie im Dienst der Formung eines gebildeten, friedliebenden Mens c hen stehen, der ffegenüber allen anderen wohlwollend ist, zum Vorteil der gesamten Menschheitsfamilie. "

11. Die Monarchie ist die beste Regierungsform, weil sie dem Frieden am meisten dient

Neben den oben angeführten päpstlichen Te x ten zur Soziallehre d er Kirche in di eser Frage finden wi r es ange bracht , angesichts d er Bedeutung, die dem heiligen Kirchenlehrer in der tradition e ll e n kirchlichen Lehre zukommt, e ini ge Stellen a us den Schriften Thomas von Aquins zum g leichen Thema z u z itieren.

In sei nem Werk De R egimine Principum lehrt der hl. Thomas von A quin:

„ Von diesen Prämissen ausgehend [daß es nämlich d e n Menschen z iemt, in Gesellschaft zu leben , und daß es daher unbedin gt no tw e ndi g ist, d aß s ie von e inem Vorsteher auf die rechte Weise regiert werden], müssen wir uns fragen, was fiir die Provinz oder die Stadt am besten ist: Ob sie besser von einem oder von mehreren regiert wird. Dies gilt es, unter dem Gesichtspunkt des eigentlichen Zwecks der Herrschaft zu betrachten.

Ta tsäch lich müssen alle Herrschenden das Wohlergehen derer zum Zie le haben, über die sie die H errschaft übernommen haben , so wie es dem Steuermann zusteht, das Schifj'durch Überwindung der Gefahren des Meeres wohlbehalten zum rettenden Hafen z u bringen.

Nun bedeutet aber die Bewahrung der Einheit der Gesellschaft, das heißt des Friedens , das Gut und die R ettung der Gesellschaft schlechthin. Mit dem Verlust der Einheit geht auch der Nutzen des Lebens in der Gesellschaft verloren, und dies um so mehr als die Gesellschaft, in der es zur Uneinigkeit kommt, sich selbst zur Last wird.

Der Leiter einer Gesellschaft hat sich also vor allemjiir Einheit und Frieden einzusetzen. D em R egierenden steht es überhaupt nicht zu, darüber rechtmäßig zu befinden, ob er den Frieden in der ihm unterstellten Gesellschaftfördern s oll oder nicht, so wie sich ja auch der Arzt nicht fragt, ob er den ihm anvertrauten Kranken heilen soll oder nicht. Denn niemand hat über das Ziel selbst zu befinden, das zu erreichen seine Aufgabe ist, sondern ledig-

224
ANHANG III
1 Utz- von Ga/en, IV, 795 u nd 800

lieh üb e r die M i tte l , die zu die s em Ziel fi ihren. D eshalb sagt au c h der Apos te l , na c hdem er dem gläubigen Volk di e Einheit ans H e rz gelegt hat: ,Seid eifrig bemüht, die Ei nheit des Ge is t es durch da s Band des Fri e de n s z u bewahren" (Eph 4,3).

Je m e hr E1jo lg demna c h ein R e g i me b e i der B ewahru ng der Einh e it i n Fri e d e n hat, d es to nützlic h e r is t e s, s agen wir doch gemeinhin , daß das am nütz lic h s te n ist, w as am b es ten zum Z iel fiihrt .

Nun i s t e s a ber augen scheinlic h, daß da s , wa s s elbst e in s i s t, b es s e r die Einh e it b e wirke n kann a ls das, w a s mannig/ältig is t, ähnlic h w ie d ie beste H e iz wirkung von d e m ausgeht, was von s ic h aus warm is t.

Die R eg ierung eines e inzeln e n ist als o nützlic her als die vie le ,~

Wenn auße,dem viele g anz verschieden er M e inung un t ereinander s ind, so s ind s ie natürlic h nic ht in d er Lage, die G es e lls chaft z u e rhalten. Es muß also unter d en vie len e in e g ewisse Einigke it h errsch e n, damit s ie irgendwie regierungsfahig sind, denn vie le verm ögen e in Schif.f'nur dann z u einem gewissen Pun k t zu bringen , wenn s ie aiif irgendein e Weise zu ein er Üb ereins timmung kommen. N un h eißt e s abe r; daß vie le in d em Maße eins sind, a ls sie d er Einhe it nahe ko mmen. E s is t also besse1; d aß nur ein er regiert statt viele, die durch die Näh e eins w eiden

D a rübe r h i n a u s jimkt ion ier e n di e Dinge besser, we1111 s ie s i c h in Üb ereinstimmung mit der Natur befinden, denn dann wirkt i11jedem die N atur, und da s ist da s beste. Nun ist es ab e r so, daß die 11atiirlic he R egi erung vo n einem einzigen au sge ht, d e nn au c h unter d e r g roße n A n zahl von Organen beweg t e ins alle a nde ren, n ä mlic h d as Herz, und un te r d e n Te il e n der See le h errs cht e in e Kraft üb e r die ande re n v01; und das is t die Ve rnunft Auc h die Bi enen habe n ein e Kön ig in, u nd im g an zen Univ ers um g i b t es nur e in e n Gott, we lc her d er Sch öpfe r u nd H e rrs c h e r a lle r D in ge i s t . Und das is t recht so, d e nn alle Menge le itet s ic h von einem ab. D enn w e nn die Dinge, die in der Kunst ents t e hen, di e Dinge , die na c h der Nat u r ents teh e n , n a chahme n, und we nn d as Kun s twerk um s o b esse r is t.je m ehr es d e m natürlichen iihnelt, so müssen wir wohl ode r iib e l an erk enn e n , daß es fiir die m e nsc hlic h e Gesellschaft das beste ist, wenn sie von e inem einzigen geleitet wird.

Dies macht auch je11e E,fahrung de utlich, daß die Provinzen und Stiidte, die nicht von einem ein zigen regiert werden, unter der Uneinigkeit leide n und fi-iedlos dahintreibe n, so d aß s ich an ihnen d as B ed a u ern d es H errn z u e,fiillen s ch eint, we nn er durch die Stimme d es Pmph eten sagt: 'Zahlre iche Hitte n haben me inen Weinberg ze rs tö1t ' (J er 12, 10) Die Provin zen und Stiidte aber, die von einem König regiert werde11, genieße n den Frieden, bliihen in Gerechtigkeit u11d erfreuen sich an der Fülle der Güte1; Dah er verspricht es der H err s ein em Vo lke durch der Pmph e ten Mund a ls e ine g roß e Gnade, d cif] er nur e inen einz igen H errsch er a n seine Spit ze s tellen werde, und daß es unter ihnen nur ein en Fürs ten g eben werde. ,. t

Diese n A us führun g en d es Doctor An g e lic u s fü g t d e r h er vorrag ende Thomi s t P. V ictor ino Rodriguez OP2 fo lg e nd e, mit we itere n Z itate n au s den Werken des HI. Thomas bereich e rte Glos s e hin z u :

1 De Regi111i11 e Pri11cip 11111 ad Regem Cypri, Buc h 1. Ka p itel II. Marictt i. Ro m . 195 0 S . 2 59- 260

2 Der tre u e S c hü ler d es b e rühmte n P. Sa n tia go Ram irez O P. b e i d e m e r sc hol as t isc he P hi lo sop hi e Stud ie n hatte. ve röfic n t lichtc e r m eh r a ls 2 50 Arbe it en ü be r phil o s o ph ische un d th eo log isc h e T he m e n in Fo rm v on A rtikel n un d Büc he rn Unt e r se ine n We r ke n s ind b es o nde rs he r vorz u heben Sc!,!iisse /rli e111 e11 d es cli ristlicl, e11 H11111a11 is11111s u nd S111di e11 =ur tli eologiscli e11 A 11 1/,ropo!ogie.

P Vi c to ri n o Rodr igu ez. d e r e h em a lige P rior v o n S a nt o Do m ingo e l Rea l in Madr id wa r vorher Pro fesso r an de r T h eo lo g isc he n Fak ultä t S t. Step han in Sa la m a n ca und Le hrs tu h lin habe r an d e r Ka th o lisc hen Hoc hs chule d e r s elbe n S tadt. Er w a r a uc h Professo r d e s Obe rsten Ra tes für W isse nsc h a ft s fo rsc hung in M ad ri d , M itg li e d d e r Köni g li c he n Ak a d e m ie d er Do kto re n in d e r gena n nten S tad t u n d d er Päpstl ic hen T h eo log ische n A ka de m ie in Ro m.

REGIERUNGSFORMEN 2 25

,, Vorrang der monarchischen Regierungsform zur Erhaltung des Friedens. Unzweifelhaft stellt der Friede im positiven, dynamischen Sinne einer ,ruhigen Freiheit' (Cicero, 11 Philipp., c.44) oder ,Ruhe der Ordnung' (Hl. Augustinus, De Civitate Dei, XIX 1 3, 1) den wichtigsten Faktor des Gemeinwohls da,; wenn er nicht gar als die Synthese aller integrierenden Elemente angesehen werden kann, die schließlich alle ehrlichen Regierungen anstreben. Nun stellt natürlich der Friede, was Ordnung und Einigkeit anbelangt, in direkterem und engerem Zusammenhang mit der einigen oder monarchischen Herrschaftsform als mit anderen, pluralistischeren oder vielfältigeren Regierungsformen. Es handelt sich hier um einen Aspekt der Bevorzugung der monarchischen Staatsform, der in diesen Kapiteln deutlich hervorgehoben wird, sei es aus den fiir die Einheit wesenhaften Gründen, sei es wegen der Analogien mit der natürlichen Ordnung oder wegen seiner Übereinstimmung mit der theokratischen Gewalt. Wir werden später noch sehen, in welchem Sinne eine demokratische Regierung für den sozialen Frieden von Vorteil ist.

,, Was den hier angesprochenen Aspekt angeht, so hat er (der Hl. Thomas} uns eine weitere glänzende Seite in seiner Summa Theologica 1,103, 3 hinterlassen: ,Die beste Regierung ist die, die von einem einzigen ausgeübt wird. Der Grund dafür liegt darin, daß Regieren nichts anderes bedeutet, als die regierten Dinge ihrem Ziel , das heißt irgendeinem Gut zuzuführen. Nun befindet sich aber im Wesen des Guten die Einheit, wie Boecius in seinem III. De Consolatione durch die Tatsache belegt, daß, so wie alle Dinge das Gute wollen, sie auch die Einheit wollen, ohne die sie nicht sein können, denn ein Ding besteht nur als eines; wir sehen deshalb, daß sich die Dinge der Teilung so lange wie möglich widersetzen, und daß ihre Auflösung eine Folge ihrer Unzulänglichkeit ist. Daher geht es dem, der eine Menge regiert, um die Einheit oder den Frieden. Der Grund der Einheit selbst aber ist das Eine , denn offensichtlich können viele das Verschiedene nicht einen und ausgleichen, wenn sie nicht selbst irgendwie eins sind. Was also wesentlich eins ist, kann besser und leichter der Grund der Einheit sein als viele Vereinte. Daraus kann man schließen , daß die Menge besser von einem als von vielen regiert wird'. " 1

12. Die beste Weise, die Monarchie zu mäßigen und zu stärken, besteht darin, sie mit Aristokratie und Demokratie zu umgeben.

Was die Meinung des HI. Thomas von Aquin über eine gemischte Regierungsform angeht, äußert sich P. Victorino Rodriguez OP wie folgt:

„ Das gemischte System ist theoretisch eine sehr gute Regierungsform. In diesem Werk [De Regimine Principum] und vor allem im siebten Kapitel neigt der HI. Thomas nach seiner Analyse der drei Regierungsformen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) zur monarchischen Form, wenn auch mit eingeschränkten Machtbefi1gnissen, damit sie nicht in Tyrannei ausartet: ,Simul etiam sie eius temperetur potestas, ut in tyrannidem ne facili declinare non possit' [ihre Macht ist so abzuschwächen, daß sie nicht ohne weiteres in Willkürherrschaft ausarten kann].

„ Diese Idee der gemäßigten Macht des Herrschers veranlaßte ihn in späteren Werken zu der Ausarbeitung einer Theorie vom gemischten System als einer sehr guten Regierungsform: Die beste Weise, die Monarchie zu mäßigen und zu stärken, besteht darin, sie mit Aristokratie und Demofa,atie zu umgeben. Ich beschränke mich hier darauf, die beiden Textstellen zu zitieren, die mir in dieser Hinsicht grundlegend und klar genug scheinen: Es ist kaum

226 ANHANG III
1 In HI. Thomas v o n Aquin , EI Reg imen Poliric o Fuerza Nue v a Editorial , Madrid , 1978, S. 3 7 u.39.

z u ve r steh en, w i e aus zwe i se hr s chlec ht en Reg i e run gsformen (T yra nn e i un d Demokrati e o d e r D e m ag og i e) e ine se hr g ute R egie run gsfo rm he rv orgeh e n so ll te . D a ist sicher lic h das Vo rge h e n j e ne r b esse r, di e ve r sc hi e d ene n r i c ht ige n R eg ie run gsfonn en Z u ga n g in d ie R eg ie run g d e r Stad t gewä hre n , d e nn j e g emi sc h te r um so b esser, d a j a dan n mehr B ürge r an der S tadtr egieru n g te ilhab e n ' (in II. Po li ticorum, lect. 7, Nr. 247).

,Eini ge be haup ten, d aß di e b es te R eg ie run g e ine r Stadt in e ine r A rt Mischung der bereits ge n a nnten S yste me (M on a r c hi e, A ri s tokrati e, De m okrati e) bes te ht. D as liegt d aran , d aß au f d iese We ise e in e R eg ie run gsform durc h d ie Gege nwa rt d er an d e r en gem äß i gt wird und som it we ni ge r R a um für A u fr u hr gege b e n is t, d a j a a lle a n d e r Regie run g de r Stadt b e te ili g t s ind , so d a ß das Vo lk in e in igen D inge n das Sagen h at, in an d eren d ie A r istokratie und in w i e d e r a nd ere n d e r Kö n ig' (a a. O ., Ni~ 245)" 1

13. Eine demokratische Verfa s sung h a t die christlichen Glaubenswerte zu übernehmen und zu schütz en, ohne die sie nicht bestehen kann

A n ges ic h ts d er beso nd ere n Lage, in d e r w ir un s h e u te befind e n , ist es a n gebrac ht, di e v e rstä nd ige n Erwägun ge n des d a m a lige n Kard in a l R a t z inge r z u b e d e nke n , d ie er 1988 in e in em I nterv iew geä ußert h at:

,,Alexis de Tocqueville hat bereits vor! SO Jahren daraufhingewiesen, daß die Demokratie nur dann bestehen kann, wenn ihr ein gewisses Ethos vorausgeht. Die M echanismen der Demokratie fimktionieren nur, wenn dieses Ethos sozusagen sinnfällig und unbestreitbar vorhanden ist, denn nur dann werden diese Mechanismen zu Werkzeugen der Gerech tigke it. Das Prinzip der Mehrheit ist nur dann annehmbar; wenn auch diese Mehrheit nicht e infa ch alles nach ihrem Gutdünken veranlassen kann, denn sowohl die Mehrheit als au ch die Minderheit haben gemeinsam einer Gerechtigkeit gegenüber Achtung zu zollen, die.für beide verpflichtend ist. Es gibt demnach grundlegende Elem en t e, die der Existe nz des Staates vorausgehen und nicht dem Spiel der Kräfte von Mehrheit und Minderh e it unterli egen, und die deshalb far alle als unverletzlich zu gelten haben.

D ie Frage ist, wer l egt diese, Grundwerte ' fest? Und wer schützt sie? Dieses P roblem, wie Tocqueville es angesprochen hat, wurde in der ersten amerikanischen Demokratie n icht als ein Ve,jassungsproblem angesehen, weil eine gewisse christliche - protestantischeGrundauffassung vorhanden war, die überhaupt nic ht in F rage gestellt und einfach als o_f fensic h tlich angenommen wurde Dieses Prinzip entsprang ein er den Bürgern gemeinsamen Überze ugung, die über jeden Zweifel erhaben wa,: Was gesc hieh t ab e r; wen n d iese Überzeugungen aufhören zu beste h en ? Ka nn dann ein Mehrheitsbeschluß etwas, wa s bisher als Unrecht galt, in Recht verwande ln, oder umgeke hrt ? Dazu h at im dritten Jahrhund e rt Origenes erklärt: Wenn im Land der Kythen da s Unrecht zu m Gesetz erho b en wird, müssen die dort lebenden Christen eben gegen das Gesetz handeln. Di eses Prinz ip läßt s i ch leicht auf das 20. Jahrhundert übertragen : Als das Unrecht unter dem Nationalsozialismus zum Gesetz erklärt wurde, war ein Christ verpflic htet, während dieses Sta ndes d er Dinge

1 Wa s den B egr iff Demokratie an geht, s o erklärt P Yi ctorino Ro d riguc z OP: ,. Dieser h e ra b s e tze nde Si1111 vo11 De mokratie im W erk D e Regimine Pri nci p u m ta11 c ht i11 d e n Komm e 11tare11 w den Bii c h e m der E thi k 1111d d e r Politik des Aristo teles a 11(. wo sie a11ch als. p le bejis c h e' Reg ierun g , als ,pop11/äre ' R egie rung o d e r R egierung d er Arm e n ' be~eicl111 e t wird. i11 d e r die zahle nmäßig e Me hrheit d e r Biirg er sic h iibe r di e qualifiz ie rte Minde rh e it e rh eb t und sie i11 d e r F o lg e unger echt 1111terdriick t (deshalb dann d e r herabsetz e nde Sinn dies e r A rt vo11 D e mokrati e) /11 d er Summa Th e o/ogica e rsc h e int allerdings bei d er Envä/11111ng d er Regierungsform e n (v. / -II, 05, 4; 11-11 , 61 ,2) nur d ie Tyra nn e i als unrechte Regie rung sf orm. n icht abe r d ie Oligarchie und die D e mokratie , die m e hr o d e r weniger korrekt s e in kö1111 e 11" (a.a O„ S. 31 u. 3 3)

REG IERU NGSFORMEN 227

dem Gesetz entgegenzuhandeln. ,Man muß Gott mehr gehorc hen als den Menschen'. Wie kann aber dieser Faktor dem Demokratie-Begriffeinverleibt werden?

Es ist aufjeden Fall klCll: daß eine demokratische Verfassung die aus dem christlichen Glauben hervorgegangenen Werte als Grundlage zu verteidigen und gerade im Namen der Freiheit als unantastbar zu erklären hat. Die Wahrung des Rechts hat allerdings nur Bestand, wenn sie sich aufden Rückhalt in der Überzeugung e iner großen Anzahl von Bürgern benffen kann. Es ist daher von größter Wichtigkeit.für die Einführung und Erhaltung der Dem okratie, daß diese grundlegenden moralischen Überzeugungen, ohne die sie nic ht.fortbestehen kann, gewahrt und vertiefi werden " 1

B. Regierungsformen: Die abstrakten Grundsätze und ihr Einfluß auf die Bildung einer politischen Mentalität

Es ist wohl angebracht , gerade in di ese m Teil des Anhangs e ini ge Überlegungen üb er die päp stlich en Dokumente und über di e Lehre des he ili ge n Thomas bezüg li ch der Regi e run gsformen, di e in dem vo rli ege nden Buch erwähnt we rd e n , anzustellen.

1. Konkrete Nützlichkeit abstrakter Grundsätze

Erwägen w ir z uerst folgendes. Die ge nannte n Dokumente e nthalte n vo r a ll e m abstrakte Grund sätze. Nun meine n aber heute viele Menschen, daß den Abstra kti onen nicht die gerin gs te politische , gesellschaftliche oder w itisc ha ftlich e Nützlichkeit z ukomm t. S ie stellen daher von vornherein di e Bede utun g der e r wäh nt en Do kum e nte in Frage ode r leh nen s ie vö llig ab. N un ze igt abe r e in e , wenn a uch no c h so allgemein ge ha lte ne Beobachtung der Wirklichkeit aufs deutli c hste, daß gera de das Gegenteil der Fall ist.

So übt zum Beis pi e l das Vorhand e nse in vo n Gru ndsätze n a bstr akte r A rt bei de r Entsc he idung für e in e der drei Regierungsformen in der Mentalität der me isten un se re r Zeitgeno sse n e inen bedeutsamen , wen n ni c ht gar vorherrsc hende n Einfluß au s Sehen w ir uns dies doch e inmal gena ue r a n:

* Von den drei Regierungsformen - Monarchie , Aristokrati e und Demokratie - ist in der reinen Monarchie die g rößte U ngleichhei t zw isc he n de ne n, we lch e die Macht inn e haben , und den e n, üb e r die die Macht a u sge übt w ird , fest zustellen. In ihr hat der Mo narch di e Aufgabe zu herrsch e n, und a lle a nd e re n hab e n zu gehorc he n.

* Besteht nun aber die Mo narchi e z usa mm e n mit de r Ar istokrat ie, durch die jene abgemild e rt w ird , so w ird die Un g le ic hh e it zwischen dem König und de n Unte1ian e n dadurch gemäßigt, daß ei ni ge , nämli ch ebe n die Aristokraten , nicht nur z u ge horc he n hab e n, so nd ern auch auf e in e bestimmte Art und Weise a n der kö ni g li chen Mac ht A nt e il haben

* Wenn die köni g lich e Macht zusamm en mit der Macht der Ari stokratie und der des Volkes ausgeübt w ird, ist di e Ungleichheit noch ge rin ge r. De nn in di ese m Fa ll e steht es a uch d e m Vo lke zu, einen Teil der öffen tlich e n Macht a uszuüben, wie es etwa der De mokrati e e ntspric ht.

* Bei dieser Aufzählung muß auch di e Hypo th ese ber ück s ich t igt we rden , d a ß es Staa te n ge b e n kann , in denen dem König oder der A ri stokrat ie ni c ht der gerin gs te A nte il an der

228 ANHANG III
1 Inter v iew fiir d ie Z eitung , .E I M e rcur io " a us S a n t iago de C h ile. 12 .6.198 8

Machtausübung zukommt, daß der Staat also völlig republikanisch reg iert wird. In e ine m solchen Staat herrscht natürlich ips o facto keine politische Ungleichheit-wenigstens in der Theorie nicht. 1 Die vom Volk gewählten Regierenden hab e n di e Macht au ssc hließlich im Sinn e ihre r Wählerschaft auszuüben.

Heute geben nun viele gerade dieser letzten Regierungsform den Vorzug, weil sie sich an dem abstrakten (übrigens von Pius X. ve rurteilten) Grundsatz orientiere n, daß die Monarchie und impliz it auch die Aristokratie ungerechte Regierungsformen seien, weil sie eine politische und gesellschaftliche Ungleichheit unter den Menschen ein und desselben Landes zulassen. Eine so lche Überlegung ist ihrerse its aus einem metaphysisc hen Grundsatz abgeleitet der da von ausge ht, daß alle Ungleichheit unter den Menschen we se ntlich ungerecht sei.

2. Die Haltung der Katholiken gegenüber den Regierungsformen

Wenn man nun di ese radikal egalitären Grundsätze mit de n vorher zitierten Tex te n de r Päp ste und des heiligen Thomas vergleicht, kommt man zu dem Schluß, daß di e genannten egalitären Grundsätze formell de r rec hten Denkwei se widersprechen, wie s ie in die se r Frage einem Katholik e n z ukommt.

Tatsächlich ist di e Mon a rchie ( und impli z it auch di e Aristokratie) nicht nur e ine gerechte Regierungsfo rm , di e nach de r Lehre de r Päp ste geeignet ist, wirksam das Gemeinwohl zu förd e rn , so ndern s ie ist soga r, wenn man sich a n die Behauptun g Pap st Piu s VI. und die Lehre des g roßen heilige n Thomas hält, die beste aller Reg ieru ngsfo rmen. 2

Aus all e m bi s her Gesagten kann man schließen:

* E in Katholik d ar f nicht z urec htgew iese n werden, we nn e r angesichts der konkreten Gegebenheiten seines Landes der republikani sc he n und de mokrati sc he n Reg ie run gsfo rm den Vor zug gibt. Denn die s e ist weder un ge rec ht noch tadeln swe rt an s ich. Im Gegente il , sie is t ihrem Wesen n ac h ge recht und ka nn , je nach de n vorherrschenden Unständen, w irk sa m das Gemeinwohl fördern.

* Nach der rec hte n Vorzugsordnung aber hat de r um Treue gegenüber der Lehre de r Kirche beso rgte K atholik me hr das zu bewund e rn und zu e rw ünsc hen , was ausgezeichnet ist , und di ese m den Vor z ug z u geben gege nüber dem , was e infac h nu r g ut ist. Er sollte s ich dahe r der göttlichen Vo rse hung gege nüb e r beso nd e rs dankbar ze ige n, wenn di e konkrete n Bedin g un ge n se ines La nde s die Einrichtung d e r bes ten Reg ierungsfo rm - nach de m heiligen Thomas3 - di e Einführung d e r Monarc hie e rlaub e n od e r ga r ve rlange n.

Und wenn ihm e ine ve rnün ft ige Abwägung de r Gegebenheiten ze ige n so llte , d a ß s ich e ine klu ge Änderung de r konkret e n Um stä nd e günstig a uf da s Gemeinwohl se in es Land es auswirken könnte , wird ihm Lob z u zollen se in , we nn e r im Umfeld der Fre iheit , di e ihm das demokrati sc he Reg ime gewährt, in de m e r le bt, z u de n e hrenh a ften , vo m G ese tz e r la ubt en

1 Vgl. Ka p. VI I. 6 c.

2 E in w eitere r K irc h e n le hrer. d e r hl. Fra nz von Sa le s, sp ric ht vo rn ho h e n Vollko rn rne n h ei tsgrad d er M on a rchie als Re g ieru ngs fo r m , d a s ie de r S c hö pfun gs o rd n ung ge mäfl e r sei: Da Go ll also alle D inge g ut 11 11d s ch ö n m achen wollte...füh rte e r ihre große A nz aJ,/ und Ve rsc hie d e nhe it a11f"e in e vollkomm ene Einh eit wriic k und ordn e te sie ge wissermaßen alle in Fo rm einer 1Ho11archie, in d e r a ll e Dinge gege nseirig von e inander und scl,/ieß/ic h alle vo n Ihm dem obers te n H errs c h er, abhängen Alle G lied er werde n z u e inem Leib unt er d er Fiihr1111g des Ha up tes: m e hre r e M en s ch e n bilden ein e Fa m ilie, m e hrere Fam ilien e ine S tadl. me hrere Stiidt e e in e P rovin z . mehre r e Provinzen e in Reich, und das g anze Reic h is t e in e m einz igen Kön ig untergeordn et. " ( Traite d e 1· a 1110 11r d e D ie u , in O eu vres Co 111p letes de S a int F1w1,ois d e Sa/es , V ives, Pa r is, 18 6 6 3. Aull. , Bd. 1, S 32 1)

3 Fast a lle s c h o las tis ch e n A w o re n. die alte n wie die n e u en , behaupte n zusamm en mit e in e r g roßen A n zal,/ n ichtsc/10/astischer A 111 o re n d aß die gem äßigte M onarch ie in a bs tra c to die vorz11=iehe11de R egierungsform se i ( P l re ne u Gon z a lez M ora S J , Ph i los oph iac Sch o lastic ae Sum ma, BAC, Ma d r id , 1952, Bd. III , S 836-837)

REGIERUNGSFORMEN 229

M itte ln greift, um di e W ählerschaft zur Änd e run g der konkr ete n Umstände z u bewege n und da s monarc hi sc h e Syst e m e in zuführe n (o d e r g ege b e nenfall s w ie d e rh e rzu s tell e n )

* Wie b e re its gesagt, leitet s ic h di es all es v on dem a ll ge m e ine r e n mo ra li sc h en Grundsatz a b , d e r b esag t, daß all e Me n sc h e n da s Böse a bweise n , d as Gute li e b e n und tun und d as B es t e ihre r Vo rli e b e n fü r d as Exze ll e nt e b ewa h re n k ö nn e n und s ollen. Wird di eser Grund satz a uf die W a hl d e r R eg ie run gsfo rm an gewa ndt, so führt di es z ur A bl e hnun g d e r Mißregi e run g, der An a rc hi e und d es C h a o s sow ie z ur A nn a hm e e in e r leg itime n, d emo kra ti sc h e n o d e r a ri st o krat isch e n R e publik und z ur Bevo rz ug un g d e r b es t e n Reg ie run gs form , d as h e ißt d e r gem ä ßigte n M on a r c hie , vora u sgese tzt, daß di ese F o rm , s o muß m a n s t e t s w ie d e rh o le n , de m Ge m e in wo hl z u t rä g lich ist. D e nn s ollte di ese ni c ht d e n B e din g un ge n d es La nd es e ntsprechen, k a nn d ie E in fü hrun g d es v o ll kom me n e re n G u tes a u fg rund b lo ß e r p o liti sc he r S y mp athi e se hr wo hl e ine m Z uw id er ha nd e ln gege n di e A b s ic ht e n d e r Vo rse hun g e nts prec h e n.

* A ufj e d e n F a ll läßt s ic h d ara us sc hli e ße n , d a ß d e r wa hre Ka t holik p o liti sc h e in e m o n a rchisc he M e nta litä t , ver e in t mit e ine m ro bu s t e n , sc ha rfe n S inn fü r W irkli c hk e it und M ö glich ke i t b es itze n so llte.

3 . Soziokulturelle Auswirkungen einer monarchisch-aristokratischen politischen Mentalität

Die se p o liti sc h e n Grun dsätze w ir ke n s ic h a uf di e Ges t a lt un g d e r Gese ll sc haft:, d e r K ul t ur und d e r Wi rt sc haft e in es Volk es aus. In fo lge d es wese nh a ft e n , na turgege be ne n Z usa mm e nha n gs zw isc h e n di ese n Be reic h e n und d e m d e r P o li t ik, m uß - natürli c h s tets in de n G re nze n d es Sinn vo ll e n - e i n gew isse r m o n a rc hi sc h- a ri stokrati sc he r Ge is t a uf a ll e n E b e ne n de r Gese ll sc ha ft sow ie i n a ll e n E rsc he inun gsfor m e n d e r T ät igke it e in es Vo lk es vo rh a nd e n se in , u na bhän g ig davo n, f ür welc h e R eg ie run gsfo rm es s ic h letzte n d li c h e ntsc he idet.

Se lb s t we nn de r St aa t d e m o k ra ti sc h a usge richte t ist, muß a lso di ese r m o na rc hi sc h- a ri stokratisc he Ge is t z um Be is pi e l in e in e r b eso nd e r s d e u t li c he n Ha lt un g des R es p ek t s gege nü be r de m Fa m i li e n vate r, d e m Le hre r, d e m P rofesso r o d e r d e m Re k to r e in e r U ni vers ität, d e m E ige nt üme r un d d e n Direkto re n w irtsc h a ftli c h e r U nt erne hm e n u sw. z um Au s dru ck ko mm e n.

Pa p s t Piu s X II le hrte, daß di e Gese ll sc h aft se lb s t in re pu b li ka ni sc h e n St aa t e n bes timm te e cht a ri s t o kra ti sc he In st ituti o ne n bes itzen mu ß, und e r erwä hnt e rühm e nd di e Ro ll e j e ne r hera u srage nd e n Fam ili e n , di e„ im Dorf, in der Stadt, in der Region oder im ganzen La n d to nangebend sind" . 1 D iese Be le hrun g w ie d e rh o lte d e r Pap st in se ine n R ede n a n d as P at ri z ia t und a n d e n Ad e l v on R o m sowo hl wä h re nd d e r Ze it , in d e r I ta li e n e ine M o na r c hi e wa r (1 9 40 bi s 19 4 6) , a l s a uc h wä hre nd d e r rep ublik a ni sc h e n Ze it ( 194 7 bi s 1952 und 1958). Worau s z u sc hli eße n ist, da ß di e E in fü hrun g e ine r a nd e r e n Reg ie run gsfo rm ke in eswegs d e n gesellsc h aftli c h e n A uf tra g d e r Ari s tokra ti e ver mind e rt.

W as d ie Bez ie hun g zw isc h e n e in er m o na rc hi s ch -a ri sto kra t isc he n Me n ta li tät und de r K ul tur e ines Vo lkes a nge ht, m u ß a u c h d ara uf hin gew iese n we rd e n , d aß di ese M e n ta li tät s ic h a u s drüc ke n k a n n in Kun st und Li tera tur und di es s o wo hl in e in e m v olks tümli c h ge prägte n L e b e n s s t il d e r besc h e id e n e r e n Gese ll sc h a ft ss chi c h te n ein e r N a ti o n, a ls a uc h in d e m bürge rli c h und a ri s to kra ti sc h ge präg t e n L e be n ss til d e r a nd e r e n Kl asse n.

1 PA R 1946, Ut:-Groner. S. 1636; vgl. Kap V , 1. 10

23 0 AN HANG III

In den europäischen Staaten und Gesell sc haften waren diese Varianten vo r 1789 durc haus gang und gäbe. Jede von ihnen spiegelte auf ihre Art und We ise di e Einheit und die Vielfalt des Geistes der jeweiligen Nation wieder. U nd dieser Gei s t brachte in j e dem Gesellsc hafts segment herrliche Werke her vor, die bi s in unsere Tage hin ei n ni c ht nur in Händen privater Sammler, sondern auch in Musee n und Archi ve n bester Qualität so rgsa m a ufb ewahrt werden. Und die s g ilt sowohl für Wohnhäuser und Möbel vo n Famili e n , di e von ihrer Hände Arbeit leben, als auch für kulturelle Werte, die d e n höhere n Gesellschaftsschichten zu verdanken sind. Betrachten wir doch nur einmal di e Volkskunst der geschichtlichen Epochen, die d e m Ze ita lter des Egalitarismus vorausgingen! Wie v iel Wahres, Gerechtes und sogar Bewegendes wäre allein z um Lob de s Kun s t gewerbe s zu sage n

Die echte Kunst, wie übrig e ns auch die echte Kultur, ma g noch so v olks tümlich und b eliebt se in - dem re volutionäre n Gei s t unse res Jahrhund e1ts w ird s ie imme r mißfallen. D as erkennt man schon allein daran, daß der Egali tar ismu s auf e ine Familie oder Familie ngru ppe, di e etwa durch die unvorhersehbaren Umstände d es mod erne n Wirtschaftslebens zu Wohlstand gelangt ist , sofort dahin ge hend Druck ausübt, ni ch t in der beschei den eren Umgebung weiterzuleben, son d e rn unbedingt in eine gesellschaft lich höh e r stehende Kl asse aufzurücken, obwohl diese Familie oder Gruppe oft lange Jahrzehnte persönlicher Vervollkommnung benötigen würde, um di ese m Anspruch zu ge nüg e n. N icht um so n st stößt man in den Reihen der so genannten „E mporkömmlinge" so oft auf a lle Art vo n M iß verhä ltni ssen und Ungereimtheiten.

Wir haben es hier nur mit einigen unte r unzähli ge n anderen Beispi e le n z u t un , die den Einfluß abstrakter Grundsätze au f di e Geschichte dieses imme n sen Kultur kr e ises bekräftig en, den wir A b e ndland n en n e n.

4. Legitimität der anti-egalitären Grundsätze

Bisher wurde hier d er Gegensatz zwischen dem radikal e n Egalitarismus un d d e r Sozia ll ehre der Kirche z u diesem Thema untersucht. D er Ega litari sm u s b ee influ ßt v iele un serer Zeitgenossen bei ihre r Entscheidung für eine Re gie run gsform und er ist in Wirklichke it d er Grundsatz, der g leich e inem Wirbelsturm oder e inem Erdbeben d ie größten und spürbarsten Veränderungen im Abendland ausgelöst h at.

Es i st daher an der Ze it, auch e t was über die Rechtmäßigkeit a nt i-ega litärer Grundsätze und ihrer Anwendung auf die Regierungsformen z u sagen . Die se Gru nd sätze s ind rec htmäßig, we nn s i e aus d e n christlichen Unterweisungen ab ge le itet s ind und s ich daher nicht nur vo n einem radikalen Egalitarismus ab h ebe n , so nd e rn auch a nd ere po liti sche und sozi a le F onnen z ulassen und soga r vorz ie h e n , die a uf e iner h armon isc h en und gerec hten Ungleichheit der Klassen beruhen

Im Wesentli c hen muß gesag t we rd en, daß di ese Grundsätz e a n e r ste r Stelle durchaus die Gleichheit unte r den Me n sc h e n anerkennen, sowe it es um jene Rechte ge h t, die a ll e n alle in sc hon von der Tatsache her zu steh e n , daß s ie M e n sc h en sind. G l e ic hzeitig behaupten sie a ber a uch die R ec htm äß i gkeit von akzidente ll en Ungleichheiten, die un te r ebe n diesen Menschen vo rk o mmen und von der Vielfalt d er Tugenden , ge i st ige n un d kö rperli c h en Gaben usw. abhä ngen. Diese Ungleichheit g ibt es ni c ht nur z w isc h en einz e ln e n Mensc hen, so nd ern ebenso z wischen ganze n Fam ili en, denn es geht hier um da s h e n-liche Prin z ip, daß Papst Pius X II. e inma l mit fo lge nd e n Wo rten b esc hri eben h at: ,, Di e soziale n Ungleichhei-

REGIERUNGSFORMEN 23 1

ten, auch die mit der Geburt verbundenen, sind nicht zu verme iden Die Güte der Natur und Gottes S egen.fur di e M ensch h eit leuchten über den Wiegen, beschütz en und liebkosen sie, machen sie a ber nicht gleich". 1

Nach diesen Grundsätzen tendi e re n Ungleichheiten außerdem da zu , s ich im Laufe der Generationen und Jahrhundetie zu erhalten und z u verfeinern , ohne deshalb d e r Übertreibung zu verfallen. Das kann sogar zur Entste hung einer s tr e ngen , gewohnheitsmäßigen oder schriftlich nied e rgel e gten Gesetzgebung führen , die all j e n e n mit d e m Ausschluß aus dem Adel droht, die s ich se iner aus irge nd e inem Grunde unwürdig erweisen , und die andererseits den echten traditionellen und vergleichbaren Eliten d en Z uga ng z um Adelsstand eröffnet.

Wenn wir also davon ausgehen könn e n , daß die zwischen Pers on e n , F a milien und Gese llschaft ssc hichten beste hend e Un g leichh e it legitim i s t , läßt s ich d ara us ohne weiteres auch auf die Legitimität und besondere Qua lität jener Regierungsfo rm e n sc hließe n , in denen die naturgegebene Ungleichh e it auf ausgewogene und organische Art und Wei se gewahrt und gefördert wird. Gemeint sind in diesem Falle die Monarchie und di e Ar is tokra ti e, se i es in ihrer reinen , se i es in ihrer gemäßiglen Form.

5. Auswirkungen der politischen Mentalität auf die intermediären sozialen Gruppen

Bi s he r behandelten wir einige der wichtigsten Gesichtspunkte d es komplexen, aber trotzdem ansprechenden Them as der Regierungsformen sow ie ergänzend dazu e inige Auswi rkungen j ener Mentalität, die diesen Formen d es gese ll sc haft li c h e n , kulture ll e n und wirtschaftlichen Leben s d e r Nationen eigen s ind .

Angezeigt wäre nun auch eine Studie d er A usw irkun ge n dieser M e ntalität a uf di e intermediären sozialen Gruppen, die zwischen dem Staat und d em E in z e ln en ste he n. D e nn die se Gruppen waren es, welche die Völker de s von-evolutionären Europa z u kraftvollen Ge bilden „organi sc her Gesellschaften " machte n. D as Thema is t j e doch so a us lad e nd und reich , daß dies unmöglich im Rahmen d es vorliegenden Buches geschehen kann.

Wenn alle Zeitgenossen e in e n klare n Begriff da vo n hätten, was im Konte xt e in e r „organischen Gesellschaft" eine R eg ion , ein Lehen, e in Gemeinwesen , e in e große a utonom e Körp e rschaft waren, würd e n einerseits die Vorausse t zungen manch e r Üb erleg un ge n üb e r die Regi e rung sfo rmen an Klarh e it und andererseits di e manchm a l le id e nsc ha ft lich , man c hmal einschläfernd geführten Di s ku ss ione n zu di ese m T he ma eine d e utli c h ere A u s richtun g und an praktisch e m N ut ze n gewinnen.

Die „organis chen Gesell schafte n" s ind übrigens a ls e in Thema anzusehen, dessen Bede utun g heute wohl niemand in Frage stellen wird. Die Überlegungen und Versuche, die darauf abzielen, ein politisch, sozial, kultmell, militärisc h und wüischaftlich geeintes Emopa z u schaffen, hab en e ine Reihe von erbitte1ten Regionalismu s- und Zentralis musbes tre bun ge n ausgelöst, di e w ie Schiffe ohne Kompaß , Ruder und Ballast in der ve1win-enden B e richterstattun g der zeitgenössischen Presse hin und her geworfen werden. We il diesen Überlegungen und Versuchen grundlegende Entscheidungshilfen fehlen , e rweisen sie s ich an v iel e n Stellen als beda uemswe1t zerbrechlich und bedrohe n das Ganze mü Ze1fall und E nde.

232 ANH ANG III
1 PAR 1942 , Ut z-G ron e r, S. 1617

C. Die Französische Revolution: Urbild einer revolutionären Republik

Es war die Rede von monarchi sc her Mentalität. Im Gegensatz z u dieser kann man s ich auch eine republikani sc he oder gar eine revolutionäre republikanische Geisteshaltung vo rstellen, das is t eine aus einer Revolutionsb eweg ung herv orgega ng e n e Mentalität mit dem Ziel der Einführung der Republik, wie s ie s ich z um Beispiel bei de r Französi sc h e n Revolution zeigte.

Um genau zu verstehen, was ei ne revolutionäre republikani sc he Mentalität ausma ch t, muß man s ie vo n der eines R e publikaners untersch e iden, der nic h t r evoluti on är gesinnt i st. Wir hab e n ja gesehen , daß dieser z war unt er gegebenen Umständen eine re publikani sc he Regierungs form für se in Land gutheißt, im Grunde aber monarchi s ch e inges t e llt ist.

Das aber bede ut et wiederum, daß man s ich ge nau überlegen muß, was R evolution b edeutet, 1 und worin s ie s ich von der Republik in thomi s ti sc h e m Sinne , da s h e ißt als objektive r und spekulativer B egriff für e ine bestimm te leg itim e Regie rung sfo rm un te rs che ide t.

Die ser Unterschied war z ur Zeit der Französ isc hen Re vo lution so k lar, daß mehrere von denen , die auf den Stufen des Thrones in he lde nhaft em Kampf für d en fra nzös ischen Monarche n fi e le n - wie etwa di e be rühmt e Schwei z er G a rd e - Bürge r von Rep ubliken - in diesem Fall der eidgenössischen Republike n - waren. Sie sah e n keineswegs e inen Widerspruch datin , daß s ie, di e für ihr kleines Land die republikani sc he Regie run gsfo nn vorzogen , g le ichze iti g für den französischen Thron ihr Leben gabe n. A nd e re rse its sah auch d er König von F rankreich die Festigkeit seines Thrones kein esw e gs durch di e Tatsac he gefährdet, daß zu se inen treuesten Wächtern g erad e jene z ählten, die für ihr e ige nes Land di e R epubli k wo ll te n.

E s so llen nun einige Gedanken z ur Bez ie hun g z wischen der Re vol ution und der vo n ihr gesc haffe nen R e gierungs form , nämlich der revo lutionären Re publik , folgen. A u f k e in e n Fall darf di ese mit der nichtrevo lutionären Republik ve rwec h se lt we rd en, d ie n ac h d e n Au ssagen d e r Päpste und in d e n Schriften des heil igen Thomas a ls e ine leg itime Reg ie run gsform anzusehen ist.

Außerdem is t zu prüfen, wieso di e Öffentlichkeit da z u gebracht we rd e n k an n, diese revolutionäre Republik mit der U nt e r s tüt z un g vo n revo luti o n s fr e undli c h en , pseudo-ge mäßi g ten Kräften hin z un e hm e n. Um di ese These z u b e lege n , so ll ein historisches Urmodell, nämlich di e Französ i s che Revolution, h era n gezoge n werden.

1. Die Revolution in ihren wesentlichen Bestandteilen

a)

Impuls im Dienste einer Ideologie

Einga ngs s ind a n d e r Revo luti on z w e i Bes tandt e il e z u untersc h e iden :

Sie i st e in e Ideologie, und di ese Ideologie b e dient s ic h eines Impulses. Sowohl in ihre r Ideo log ie a ls a uch in ihre m Impul s i s t di e R evo lution radikal und totalitär.

Als Ideol og ie beste ht de r To talita ri s mus darin , a ll e Grundsätze , di e z um Wese n se ine r

L e hr e ge h ö re n , bi s z u d en le t z ten Konsequen z en durch z u se t ze n.

Z um

n de s Wortes Revo/111io11 vg l. Ka p. V , 3 b (F u ß no te ) .

REGIERUNGSFORMEN 233
1 S in

Der Impuls verfolgt stets das Ziel, die revolutionären Grundsätze in Tatsachen, Sitten und Institutionen hineinzutragen, in denen dann die entsprechenden ideologischen Elemente umfassend in die konkrete Wirklichkeit umgesetzt werden.

Das letzte Ziel des revolutionären Impulses kann so definiert werden: alles ist sofort und für immer zu erreichen.

Die Tatsache, daß eines der wesentlichen Elemente der Revolution ein Impuls ist, bedeutet nicht, daß es sich um etwas Impulsives im allgemein üblichen Sinn d es Wortes handelt. Es ist also nicht etwas Unüberlegtes gemeint, das sich v on Begierde und Unbeherrschtheit herleitet.

Im Gegenteil , der vorbildhafte Revolutionär weiß sehr wohl, daß er oft auf Hindernisse stößt, die sich nicht einfach mit Gewalt aus dem Weg räumen lassen. Er ist sich dessen bewußt, daß er oft nachgeben, zurückweichen, sich anpassen und sogar Zugeständni sse machen muß, um vom Gegner nicht schimpflich geschlagen zu werd e n und großen Schaden davonzutragen. Wenn er sich auf den Rückzug ve rlegt , so tut er dies jedoch nur, um Verluste zu vermeiden. Lasse n es die Umstände wieder zu, nimmt der Revo lutionär sein möglichst rasch es Vorwärtsdringen hartnäckig wieder auf, wenn auch mit der gebotenen Vorsicht. 1

Die Totalität und Radikalität der Revolution kann man auch daran erkennen, daß sie vers ucht, ihre Grundsätze in allen B e re ichen des menschlichen und gesellschaftlichen Seins und Handelns anzuwenden. Das wird deutlich , wenn wir un s all die Veränderungen ansehen, welche die Welt in den letzten hunde11 Jahren durchgem ac ht hat.

Die Dreiheit Freih eit, Gle ichheit, Brüderlichkeit ve1wandelt nach und nac h den Ein zelnen, die Familie und ganze Nationen. Es gibt fast keinen Bereich mehr, in dem d as siegreiche Vordringen d es e inen oder anderen Prin zips der berühmten Dreiheit nicht auf irge nd e ine Weise seine Spuren hint erlasse n hat. Wenn sie auch die oben genannten Prinzipien der Klugh e it berücksichtigt , so bewegt s ich die Re vo lution im Gan ze n doch fast bestän dig und unabänd erlich nach vom.

Sehen wir uns doch einmal die Veränderungen in d e r Familie wä hrend der let z t en hundert Jahre an! Die Autorität der Eltern verliert zusehends an Einfluß: Gleichheit. D as Band, da s die Ehepartner vereint, wird immer schwächer: Freiheit.

Sehen wir uns doch di e Klassenzimmer in den Schulen und die Hörsäle in den Universitäten an! Die re s pekt vo lle Haltung, di e sich d e m Le hr er oder Professor gegen üb e r gezi emt, nimmt zu se hends ab: Gleichheit. Die Unterrichtenden se lb s t s uchen sowe it wie möglich auf die Ebene der Lernend e n hinab zuste ige n : Gleichheit, Brüderlichkeit

Auf den verschiedensten Gebieten ließe n s ich ähnliche Beobachtungen anste lle n: in den Beziehungen z wischen Regierenden und Regierten, zw isc he n Arbeitgebern und Arbeitnehm e rn , und s oga r zw ischen Mitgliedern der kirc hlichen Hierarchie und den Gläubigen. Wir käm e n zu k e in e m Ende, wo llten wir hier auch nur annähernd a ll die Veränderungen a u fzählen, die infolge des Einflusses der revolu t ionären Dre ih e it auf d er Welt stattgefunde n hab e n.

b) Ein weiterer Bestandteil der Revolution: ihr Massencharakter

Es ist die Masse, die unzä hlbare Masse derer, di e aus Überzeugung oder getriebe n von dem Bedürfnis, es anderen nachzutun, oder auch aus An gst vor der Kritik, mit der die Revolutionäre

1 E ine z u samme nfa sse nde, au sdru cksvolle Erklärung d ieser takti sche n Fl ex ib ilit ät d e r Revolut ion ka nn ma n in den fo lge nden Wort en Mao Tse - tun gs finden:,, We1111 der F e ind angre ifi, weic h e ic h zurüc k. Wenn der Feind zurückweic h t, ve,fo/ge ich ihn We nn d e r Fe i11d anhälr , quäle ich ih11 We1111 der Feind s ic h wieder auj.,tellt, z ers treue ich mic h " (s P ie rre Da rcourt , Mao, le maquisard, in „ Miro ir de l' H is toire" , Nr. 267 , März 1972 , S 98).

REGIERUNGSFORMEN 235

mit ihren Parolen über sie herfallen würden, die ungestrafte, übennächtige, mündlich oder schriftlich verbreitete Revolutionspropaganda fördern oder auch einfach nur tole1ieren.

Wäre die Revolution einfach nur eine Ideologie, di e sich des Impulses bedient, käme ihr kaum historische Bedeutung zu. Der Massencharakter der Revolution ist der entscheidende Faktor ihres Erfolgs.

2. Die Meinung der Katholiken über die Französische Revolution: Uneinigkeit

Das alles macht deutlich, wanun die Französische Revolution fa st von Anfang an für die große Mehrheit vor allem eine trunkene Masse darstellte, di e - in ihrer Seele durch die revolutionäre Dreiheit vergiftet - mitge1issen wurde von einer impulsiven Begeisterung, ausgelöst durch ebe n diese Dreiheit. Eine Masse, die unter dem Einfluß dieser Tnmkenheit so schnell wie möglich die letzten (d.h. die gewaltsamsten, despotischsten, blutigsten) Konsequenzen aus der Dreihei t ziehen wollte und daher alles zu zestören trachtete, was mit Glaube, Autorität, Hierarchie, politischer, sozialer oder wi1tsehaftlieher Stellung zusammenhing.

So war die Französische Revolution , als sie in den le tzt e n Zuckunge n ihre r grausamsten Phase lag und nachdem sie di e Bilder und Altäre ni ederge ri sse n , die Kirchen geschlossen, die Diener Gottes verfolgt , den König und die Königin entthront und hingerichtet, den Adel abgeschafft und zahllose Mitglieder dieses Standes zum Tode verurteilt hatte und somit dem Zi e l nahegekommen war, eine „in allem, sofort und für immer" ne u e Welt zu e rrichten , bereit, das zu verwirklichen, was einer ihrer wichtigsten Vorläufer, Diderot , äußerst z utreffend so beschrieben hatte: ,,Ihre Hände werden aus den Eingeweiden des Pri esters d e n Stric k.fiir den letzten König.flechten".

a) Verschiedene Anschauungen der Katholiken über die Französische Revolution

Anges ichts der zahlreichen Aspekte , die mit dem Phänom en Revolution - mit dem revolutionären Chaos- z usammenhängen , i st es verständlich, daß für viele der e rste Aspekt der Französischen Revolution , sein globaler Aspekt, m e hr ins Auge sp rin g t als der gewissermaßen harmlose, auf Gerechtigkeit ausgerichtete Aspekt ihrer Dre ihe it , oder aber der s ubv e rs ive, blutrünstige, fanatische Aspekt, den man in der Vieldeutigkeit di ese r Dreih e it ebenfalls erahnen kann.

Es ist also nicht weiter verwunderlich, daß sich e ine große Za hl von Katholiken angesichts dieser Aspekte fragte, was sie als Katholiken von der Französischen Revolution z u halten hätten.

Einige, die zwischen der revolutionären Le hre, wi e sie etwa in der mehrd e uti gen Dre iheit zum Ausdruck kommt, und den Ereignissen , die s ie ausgelöst hat, untersc hieden , neigten dazu , allein die wohlwollende Interpre tation , die man der Dreih e it abgewinnen konnte , als die wahre anzunehmen. Diese Haltung machte sie zu Sympathisanten der Revolution , obgleich sie gleichzeitig die von ihr begangenen Verbrec he n entschieden , wenn auch mit einer gewissen Trägheit ablehnten.

236 ANHANG III
1
1 Diderot, les Elewhero111a11es, in Hippolyt c Tainc, Les Origines de la France c o 11te111porai11e Robert L a ffont , Paris, 1986. S. 165.

Andere w iederum sa h e n in ihr vor a llem die ruchlo se Ur heb e rin all d er Grausamke iten und d es Unrechts, v on de nen ge rade di e R e de w ar. Diese ve r s teiften s ic h auf e ine h öchs t na c ht e ilige, a ber durchaus ge rechtferti g te Au s leg un g der revolutionären Dreihe it. Sie prangerten in ihr da s ve rbrec h e ri sc h e Erge bni s e iner t e ufli sc h e n Vers c hw örung an , der es im Grunde darum ging , den Ein z e lnen, die Na ti one n und die christli c he Zivilisation s elb s t, von der s ie no c h vor kurz em ge lenkt word e n war, nach dem Geist und dem Leitbild de s e r s ten Re vo lution ärs um z ubilden , we lcher es gewagt hatte, i n di e Endl os ig k eit des Himmel s se in „non se rviam " hin e inzurufen. 1

Nac h diese n Kennern der Fra nzö s ische n Revolution konnte ein Katholik an ges ichts dieses Aufstandes nur die g le ic he H a ltun g wie di e En ge l des Lichtes e innehm e n und s ich dem Erze nge l Michae l und se inem Ruf „ Quis ut D eus?" (we r is t wie Gott?) ansc hli eße n . Und w ie einst di e Enge l im Himmel , mußte der Katholik a uf Erde n ein „proelium magnum " führen: um di e dunklen Höhl e n z u s pre n ge n , in de nen die R evo luti on ausge heckt w urd e, ih re Anführer mit d e n strengsten Strafen z u b e lege n , ihre ve r sc hwö re ri sc h en R e ih e n zu ze rs chl age n , ihre p se udo- ver dien stvo llen „E n-un ge n sc ha ften " a u sz umerzen, die Altäre wieder a u fzu bau e n , die Tempe l w ieder z u öffnen, die Bild e r wiede r a ufz us t e ll e n , den Gottesdi e n s t w ied er abzuhalten , den Thron , de n A d e l und a lle Formen von Hierarchie und Autorität w iederherzustellen. Da mit so s chließlich w ieder die Kontinuität der gesc hi c htlich e n Entwicklung fortgesetz t w ird , di e di e revo lu t ion ä r e Ve rd erbnis ges tört und sc hä ndli ch von se inem Kurs abge le nkt h atte

b) Die Französische Revolution aus der Sicht Papst Pius VI.

Be tracht e n w ir nun di e wahrh aft üb e rn atü rli c he und p ro ph e ti sc he Analyse der Fran zösisc he n Re vo lutio n , die P apst Piu s V I. in se iner A n sprache au s An la ß d er En thaup tung Ludwig XVI. a n s tellte :

,, D er alle rchristlichste König Ludw ig XVI. wurde von gottlosen Vers c h wörern zur Todesstrafe verurte ilt, und dieses Urteil wurde ausgeführt.

In kurzen Wort en möchten w ir e uch die Anordnungen un d die G riin defiir dies es Urteil in Erinn e rung rufen. Die Nat ion alversammlung hatte weder das R ec ht no ch die Autorität zu dies e m Urteilssp ru ch. Denn na c h Absc h affimg d e r bes tm öglichen Regierungsfo rm, der Monarch ie, hatte sie alle öffentliche Ma ch t dem Volke übertragen

N un verlangte aber gerade der grausamste Teil dieses Volkes, dem es noch nicht gen ug wa,; die Majestät seines Königs gesc hmäht z u haben, und e ntschlossen darauf aus wen; ihm a uch noc h da s Leben zu nehme n, dcif] e r von sein en e igenen Anklägern gerichtet werden sollte, die s ich doch mit aller Deutlic hkeit zu seinen un erbittlichsten Feinden erkliirt hatten. ...

Nachdem d ie Abtrünnigen so durch allerlei List einen sehr großen Teil des Volk es auf ihre Seite gebrac ht hatten, um diese Massen mit ihren We r ken und Versprechungen besser ve,fii hren zu könn en bzw. s ie z u ihrem Spielball in alle n Provinzen Frankreichs z u mache n, habe n je ne Abtrünnigen s ic h des Wort es Fre ih e it in trügerisc her Absic ht bemächtigt, es wie

Z um sa tani sche n Chara kt er de r Fra nzösisc he n Revo lutio n bemer kt Ka rd ina l Bill o t:

Der 11innerst gegen die Religion gerichtete Wesens=11g. die Go ulosigkeit des liberalen Pri,i=ips wird in den Augen eines jeden de111lich der bedenkt. daß es gerade dieser Libemlismus ll'ar der am Anfang diese r g roßen Re \'Olution stand 1·011 der mit mllem Recht behauptet wurde daß sie ei11e11 unverkennbar satanisc hen Chara kter trägt 1111 d sich gerade dad11rcl1 11011 allem unterscheide t. ,rns man jemals erlebt hat. ,. Die Fran zösische Re vol ut io n hat ke ine Äh nli chke it mit vergangenen Ere ignisse n. Ihr Wese n ist von satani scher Na tu r'" (De Ma istre. Du Pape. Disco urs preliminairc) ' Die Fran zösische Revolut ion hat etwas Satanisches a n sic h. das s ie von allem je Gesehenen und viellei cht auc h von alle m. was man j e erleben w ird , unterscheidet" (ders , Cansiderations s 11 r la Fra11ce. e. 5) " (Kard in a l Lo ui s Billot. Les prin c ipes de 89 e t leurs co11seq11ences, Tequi. Paris. S. 30).

RE G IERUNGSFORMEN 237

eine Trophäe aufgepflanzt und die Massen aiifgefordert, sich unter ihren überall im L ande wehenden Fahnen zu sammeln.

Das ist also jene philosophisc he Freiheit, die dazu dient, die G eister zu verwirren, die Sitten zu verderben, alle Gesetze und Institutionen umzustürzen . ...

Wer wollte nach dieser ununterbrochenen Folge von Ruchlosigkei ten, d ie in Frankreich ihren Anfang genommen haben, noch bezweifeln, daß die ersten Anstiftungen zu diesen Komplotte n, die h eute ganz E uropa erschüttern und in Verwirrung bringen, dem Haß gegen die Religion zuzuschre ib en sind? Niemand wird leugnen können, daß dieser Haß auch der Grundfiir den grausam e n Tod Ludwig XVI. war. ...

Frankreich! A c h Frankreich !, das unsere Vorgänger den Spiegel der Christenheit und den unerschütterlichen Pfeiler des Glaubens genannt ha tte n , das in seinem Eifer fi ir den christlichen Glaub en und in seiner kindlichen Liebe zu diesem Apos tolischen Stuhl nicht hinte r anderen Nationen zurückgeblieben, sondern ihnen vorangegangen ist, wi e stehst du heute gegen Uns! Wa s fiir ein feindlicher Geist scheint sich gegen die wahre Religion anzusta c h eln!

Und noch einma l, ac h Frankreich! Früher batest du um einen katholischen Königfiir dich. Du sagtest, daß das Grundgesetz des R eiches es nich t zuließe, e in en König anz uerkennen, der nicht katholisch sei. Undjetzt, da du ihn hattest, diesen katholischen König, hast du ihn gerade deshalb ermordet, weil er katholisc h war!" 1

Das Phänomen Re v olution muß hier in seinem Zusammenhang gese h e n werd e n: Di e Ideologie, der Impuls, di e ung e heuren , Straßen und Plätze füllend e n Mensc h e nmasse n , di e gottlosen, im Verborgenen wirkenden Rädel sfü hrer, di e radik a le n le tzten Ziele, we lche di e Revolutionäre von Anfang bis zum Ende anzogen. Und in di ese m Ende voller Schrecken konnte man hinter den oft anbiedernden Formulierungen d e r Anfänge hindurc h di e wahren Ab s ichten erkennen, an d e nen s ich die Revolution als Ganzes z un e hm e nd weniger ve rschleiert ausrichtete und vorwärts bewegte

c) Zusammenleben der„ Gemäßigten" mit der Radikalität der Revolution

Diese Sicht d e r R evolution sc hließt nicht aus, daß man im Phän o men Revolution dennoch die eine oder andere Nuancierung vornehmen kann.

So darf man etwa keines wegs die zu Beginn d e r Revoluti o n auftretenden Feuillan ts (liberale Monarchi sten, die im Vergleich zu den b ege is t e rten , bedin g ung s lo se n Anhängern des Ancien Regime als Revolutionäre angesehen werden mußten) mit d e n Girondi s t e n verwechseln. Letztere setzten sich m e isten s für e ine dem Klerus und d e m Adel entgegengesetzte Republik ein, wollten aber da s liberale sozioökonomische Regime beibe halten , um so die freie Initiative, da s Privateigentum usw. vor d e m herannahenden Sturm z u bew a hren. Die Einstellung der Girondisten mußt e sowohl den en tsc hieden konterrevolutionär D e nkend e n (Emigranten, Chouans und anderen Parti sa nen de s Königtum s) als auch den Feuillants radikal revo lutionär erscheinen, doch erweckte di ese Einstellung der Girondisten a ndererseits den Zorn der völlig unnachgi e bige n Montagnards, die nicht nur die Abschaffung des Königtums und die radikale, blutige Verfolgung des Klerus und des Adels forderten, sondern oft auch mit drohendem Blick auf die g rößeren Vermö ge n swerte d er Bourgeo i s ie schauten.

238 ANHANG III
1
Pii
VI
Pont. Max. Acta , Typis S. Cong r. de Propaganda Fidc, Rom , 1871, Bd.11, S 17 , 25-26, 29-30, 33.

Wenn man alle Nuancen, angefangen von den ge mäßigtenFeuillants bis hin zu d e n rad ikalen Mitgliedern des Comite de Salut Public und den Scharen ihrer Bewund ere r, Pun k t für Punkt durchgeht, s tellt man fest, daß jede neue Nuance oder Etappe im Ve rlauf der Re v olut ion entsc hieden linker erscheint als die vorhergehende, und entsprechend auch entsc h ieden konservativer als di e nachfolgende. Und so ging es weiter bis zum letzten Atemzug der 1795 bereits im Sterben liegenden Revolution , als Babeuf seine kommunis t ische R evo lution vo m Zaune brach , di e links von sich nur noch C haos und Leere aufzuweisen h a tte und rechts alles , was ihr vorausgegangen war.

Man kann innerhalb der Rev olution verschiedene Nuancierungen fe ststellen. Dies trifft z.B. dann zu, wenn wir berücksichtigen, daß man sogar bei d en gemäßigten Geschichtsschreibern die Absicht, Mäßigung zu üben, findet , gleichzeitig aber auch offene Sympathie gegenüber den Ve rbrechen und den Verbrechern der Re volution

Di e gleichzeitige Präsenz gemäßigter Tendenzen und revolutionärer Nachsichtigkeit in den Köpfen der „ Gemäßigten" im Verlauf der verschiedenen Re v olutions etap p en ve ranlaßte einen der feurigsten Fürspreche r d es Phänomens Re v olution, Clemenceau, angesichts der aufkommenden Anklage der Widersprüchlichkeit zu der bündigen Fests tellung: La Revolution est un bloc, in dem Risse und Widersprüche nichts als Schei n se ie n. 1

Das bedeutet, daß die Revolution als Ergebnis einer Mi sc hun g von Tendenzen , Lehre n und Programmen weder gelobt noch getadelt werden kann, we nn s ie le diglich mit e in e r ihrer Nuancen oder Etappen gleichgesetz t wird, s tatt sie unter diesem Aspekt eb e n diese r Mischung zu sehen, der doch unmittelbar ins Auge springt.

Der v on Clemenceau gebrauchte Ausdruck mag zwar vielen Geistern r e izvoll erscheinen, im Grunde wird die historische Wirklichkeit damit jedoch nur un zure iche nd w ie d ergegeben.

In dem scheinbaren Allerle i läßt sich nämlich e in ordnendes Prin zi p von e ntsc h e idender Bedeutung ausmachen: Von allem Anfang an bis fast z u Babeufhat e s die Re vo lution stets darauf abgesehen, einen Bestandteil de s alten sozioökonomischen und p o liti sc h en Gebäudes, das der Versammlung der Generalstaaten v orausg ing, zu ze rstören und gleichzeitig e twas zu bewahren Das kann und muß zugegeben werden. N ur darf m a n d a nn auch nicht ve rgessen, einschränkend hinzuzufü g en, daß bei jeder Etappe di e H efe d e r Ze rstö rung effiz ie nter, se lbsts ich e rer und si egesgewisse r wirkte als die bewahre nde Tendenz. Letztere zei g te sich in Wirklichkeit fast immer bedroht, unsicher, auf ein Minimum desse n redu z i ert, was es zu wahren galt, und nur zu gern b e reit, das aufzugeben, was mit ihrem E in ve r s tä ndni s geopfert werden konnte

Anders a u sgedrückt, diese lbe Hefe arbeitet in a ll di esen Etappen - N uan ce n - vo m Anfang bis zum Ende mit dem Ziel, di ese e in zelne n Etappen z u eine m vorübergehenden Marks te in auf dem Weg zur umfass end e n Kapitulation z u m ac hen. D as bedeutet, d a ß die Revolution b ereits in ihrem Ursprung vo ll und ganz vorhanden war, so w ie e in Baum vo ll und ga n z in seinem Samenkern e nthalten ist.

Gerade die se Hefe h at d er unvergeßliche Papst Pius VI., der se lbst zum Gefangene n der revolutionären Wut wurde und l 799 ihr Märty re r werden sollte , mit der ihm e igenen Hellsichtigkeit wahrgenommen.

U nd zweihundert Jahre nach d er Fran z ösi sc hen Revolution ergeben vo m Fernsehen durc hgeführte Befragun gen , b e i denen die Franzosen von h eu t e ihre M e inung darübe r äu -

REGIERUNGSFORMEN 239
1 In Fran9ois Fure t, Mo na O zouf, Dic tionnaire critiq ue d e /a Revo/111io11 j iwu;:aise, F lam ma rion , Paris , 1988, S. 980

ßem sollen, ob sie den König und die Königin 1 von damals für schuldig halten, immer no c h dasselbe Bild: Viele unserer Zeitgenossen -auch unter den N icht-Franzosen -se hen die Revolution nach wie vor genauso wie Clemenceau als un bloc.

Die Hinrichtung der königlichen Gatten ( 1793) an sich würde gewiß vo n vielen, die ihnen auch heute noch die Treue halte n, abgelehnt we rd e n. Und dennoch billigen s ie diesen Königsmord , weil s ie in ihm das e inzige Mittel sehen, daß die Revolution, ihre „Errungensc haften", ihre „a u sg leichende Gerechtigkeit", die von ihr geweckte n Hoffnungen in diesem wahren Strudel s ich widersprech e nder Gesichtspunkte retten konnte, diesen ganzen konfusen, brodelnde n „ Block" von Id eo logien , Sehnsüchte n , Rachegefühl e n und e hrgei z igen Ansprüchen , der sozusagen die Seele der Revolution bildete.

Diese Menschen führen bis in unse re Tage diese Art „Seele ng eme in sc haft" fort, die in der Hinrichtung des schwachen, gutmütigen Königs Ludwig XVI. und der Königin Marie Antoinette einen Akt der Gerec htigkei t sieht.

Gewiß würde ein Gutteil d e r üb e rra sche nd za hlreich e n zeitgenössischen Anhänger des Königsmordes in ke ine der Gruppen passen, die mit ihre n Nuancen die Fra nzö s isc he R evolution bildeten, denn sie gehören inzwischen scho n z u e iner fo rtgesc hritte nere n Etappe des R evo lutionspro zesses. Diese Etappe unt e r sc h e id et s ich z war von den früheren, s teh t j edoc h im Zusammenhang mit den Nuancen, die sc hon vor z weihundert Jahren in E rsc he inung traten. Da wären etwa j ene kompromißlosen Um we ltsc hütze r zu nennen , fü r die es zwar ein Unrecht i st, einen Vogel oder e inen Fisch zu töten , die jedoch ni c ht die geringste E mp ö run g darüber verspüren , daß Ludwi g XVL und se ine anmutige Gemahlin Marie Antoinette z um Tode verurteilt wurden, die im Gegenteil di ese n Mord sogar befürworten. Über letz t e re, eine Österreicherin von Geburt , die jedoch so vom französischen Geist und der Kultur dieses Lande s durchdrungen war, daß sie bis he ut e von za hllo se n Franzosen und N ic htfran zose n als Person ifi z ie run g all jener Qualitäten a ngese h en w ird , die in unüb e r h·effl ich em Grad Frankreich charakterisieren, sc hrieb mit großem Einfühlungsvermögen der bekannte eng l ische Historiker Edmund Burke:

„ Es istjetz t 16 oder 17 Jahre, daß ich die Königin von Frankreic h, damals noch als des Dauphins G e mahlin, zu Versailles sah; und nie hat wo hl di esen Erdkreis, d en die leichte Göttergestalt kaum zu b erühren schien , e in e holdere Ers c heinung b egrüßt. Ic h sah si e, nur so eben über den Horizont ai!fgegangen, den S c hmuck und die Wonn e d e r erhabenen Sphäre, in der siejetzt zu wandeln begann -.fimke lnd wie der Mo;ge ns te rn, voll von Lebe n und Schönheit und Hojfinmg. 0 ! Welch e ine Verwandlung! Und welch ein H erz müßte ich habe n, um in schnöder Unempfindli c hkeit eine solche Erhebung und e in e n s olc h e n Fafl an z usehen! Damals, als sich zu a fl en ihren Ansprüchen ai!fschwärmerische, stumme, anb e ten d e liebe der Anspruch au/Verehrung eines Volkes gesellte, damals hätte ic h mir wohl nicht träumen lassen, daß s ie j e g e nötigt sein würde, das schcu:fe G egeng(fi d e r Schmach in diesem Bus e n zu verstecken,· damals konnte ich wohl nicht ahnen , daß ich es e rle b e n sollte, in einer Nation, die sonst der Hauptsitz d e r Ehre, der Galanterie und der Ritte rtugen d e n gewesen wa, ; solche Ung lücksfalle über eine solche Frau au sbrec hen zu sehen. Ich hätte geglaubt, z e hntausend Schwerter müßten aus ihren Scheidenfahren, um einen Blick zu bestr(!fen, der sie zu

Am 12. Dezem be r 1988 zeig te d as Französische Fe rn se hen den Prozeß gege n Ludwig XV I. und gab d a nn d en Zuscha u ern d ie Gelegenheit , selbst das Urtei l au szuspreche n Übe r 100.000 Bürger ä ußert e n s ich wie folgt: 55 , 5% waren fiir Freis p ruch , 17.5% sprachen sich fiir Verbannung aus un d 27% er ka nnt en auf T odesst rafe. Ku rz darauf, am 3. J anua r d es d ara uffo lgende n Jahres brachte e ine we ite re Fernsehsendung den Pr ozeß gegen Marie An toin e tt e im Beisei n von kom p e tenten Fachleu te n und H istorikernn. Diesmal wa re n d ie Zusch a ue r nicht mehr ang e halten. sich fiir oder gege n d ie Todess tra fe aus z u sprechen. sie so llten nur auf sc huldig o d e r un sc huldi g entsche iden. 75% der Zuschauer e rkannten daraufliin auf „ un sch ul dig" und 25 % auf ,,schuldig".

240 ANHANG III

beschimpfen drohte. Aber die Zeiten der Rittersitte sind dahin. Das Jahrhundert der Sophisten, der Ökonomisten und der Rechenmeister ist an ihre Stelle getreten, und der Glanz von Europa ist ausgelöscht aiifewig. Niemals, niemals werden wir sie wiedersehen, diese edelmütige Ergeb e nheit an Rang und Geschlecht, diese stolze Unterwürfigkeit, diesen würdevollen Gehorsam, diese Dienstbarkeit der Herzen, die selbst in Sklavenseelen den Geist und die Gefiihle einer erhabenen Freiheit hauchte. Der unerkaufte Reiz des Lebens, die wohlfeile Verteidigung der Nationen , die Pjlanzschule männlicher Gesinnungen und heroischer Taten ist dahin ! Sie ist dahin, diese Feinheit des Ehrgefühls, diese Keuschheit des Stolzes, die einen Schimpf wie eine Wunde fühlte, die den Mut befeuerte, indem sie die Wildheit niederschlug, die alles adelte, was s ie berührte, und unter der das Laster selbst halbe Schrecklichkeit einbüßte, indem es seine gan z e Rohheit verlor. " 1

Es wäre für das vorliegende Buch bestimmt eine zu umfassende und subtile Aufgabe, all die Zusammenhänge aufspüren und beschreiben zu wollen , die über die Jahrhunderte hinweg gewisse Ausdrucksformen der Umweltbewegung mit den Girondisten, Montagnards oder gar mit Babeuf und seinen Anhängern in Verbindung bringen. Es soll hier nur beiläufig erwähnt werden , daß so mancher Zeitgenosse bereit s darauf aufmerksam gemacht hat, daß in den extremen Standpunkten der Umweltschützer und ihnen nahestehender Bewegungen eine Verwandlung des scheinbar „euthanasierten" Kommuni s mus in der früheren UdSSR und ihren Satellitenstaaten zu sehen sei.

3. Papst Leo XIII. greift ein

Diese Einschätzung der Dinge ist zwar vielen Menschen heute durchaus vertraut. Doch gibt es andere , die unter dem mildernden Einfluß des Vergessens, das mit der Zeit über Personen, Lehren, Denkrichtungen, Auseinandersetz ungen und ihre Geschichte zu s inken pflegt, viel weniger Bescheid wissen.

Es war deshalb notwendig, all diese Dinge in Erinnerung zu rufen , um die Lage verständlich z u machen, in die sich Papst Leo XIII. versetzt s ah , als er sich für die Politik des Ralliement entschied und damit versuchte, alle Katholiken trot z ihrer unterschiedlichen Einschätzung des Phänomens Revolution wieder um sich zu scharen.

Frankreich lebte ab 1870 unter einem republikanischen Regim e Die III. Republik , die in diesem Jahr ihren Anfang genommen hatte, wurde dann 1873 definitiv bestätigt, als die Nationalvers ammlung die Ansprüche des legitimen Thronanwärters, des Grafen von Chambord und Nachkommen König Karls X. , zurückwies. Mit dem Rücktritt von Marschall Mac-Mahon im Jahre 1879 schlug das republikanische Regime eine Richtung ein , die sich immer stärker an die revolutionären und antikatholischen Prinzipien anlehnte , die einst die Französische Revolution ausgelöst hatten.

Konnte es zwischen dem Vatikan und diesem Regime zu einer Verständigung kommen? Wäre das nicht einem Konkordatsabschluß mit dem Teufel selbst gleichgekommen? Auf diese heikle Frage mußte der 1878 auf den Papstthron erhobene Leo XIII. eine Antwort finden.

In katholischen Kreisen wollten damals die Auseinandersetz ungen, bei denen es keineswegs nur um Fragen zu Lehre und Geschichte ging, kein Ende nehmen.

242 ANHANG III
1 Be tracht1111ge11 über d ie fiw 1z ös ische Re vo/11tio11, S u hrk a mp Verlag , Frankfurt, 1967 , S. 129-130

Zur Scheidung der Geister kam es vor allem bei d e r Einschätzung der Französ ischen Revolution, insbesondere aber ihrer politischen Einstellung gegenüber der Religion.

Es gab Katholik en, die unnachgiebig an der Beibehaltung all der Rechte festhielten, di e der Kirche Jahrhunderte lang, nämlich seit d e n Zeiten des heiligen Remigius und Chlodwigs, zue rkannt wurden.

Neben diesen unbeugsam an ihrer religiö sen, antirevolutionären Einstellung festhaltenden Katholiken, gab es andere, die der religionsfeindlichen Politik d e r Revolution b is zu einem gewissen Punkt zustimmten und dab e i üb e r ze ugt waren , di e wa hre Haltung der revo lutionären Feuillants und eines Teils der Girondisten zu vertreten.

Andere wiederum standen der gewagteren religionsfe indlich en Politik des linken Flügels der Girondi s ten näh e r. Doch kaum ein Katholik verstieg s ich so weit, den extrem a ntireligiös gesinnten Montagnards Beifall zu zollen.

In vielen Fällen e nts prach den Tendenzen in der Religionspolitik ei ne verg l eichbare Haltung im s trikt politischen Bereich.

Der extremen Rechten gehörten jene K a tholiken an , die hin te r dem Königtum de s Ancien Regimes standen und sich für die Wiedereinführung der Monarchie in der Person des legitimen Thronanwärters, Graf von Chambord, einsetzten. Es wa ren dies gewissermaßen die Nachfolger j ene r Gruppe von Menschen, von denen Talleyrand in deutlich karikaturistischer Absicht einmal behauptet hatte , di e hätte n hinsichtlich d er Re v olution„ nichts gelernt und nichts vergessen". 1

Die Katholiken, die in religiösen Fragen gegenüber der Revolution „ge m äß igt" dachten , behielten diese Haltung auch oft auf politi sc hem Gebiet bei. Ihr Monarchismus entsprach ihrem Katholi z ismus, d.h. ihre Bestrebunge n gingen in Richtung der Beibehaltung einer blassen Religion, so wie sie auch ein farbloses Königtum für das Beste hi e lte n.

Es gab auch die Anhänger einer r e in republikanischen Regierungsform, in der der Staat ganz oder fast ganz von der Kirche getrennt werden sollte. Di ese Richtung wur d e vo n Republikanern vertreten, die sich selbst als „gemäß igt" betrachteten , weil sie sich von den weniger zahlreichen Republikanern abheben wollten, die als geistige Nachkommen der Mo ntagnards galten.

Die „Montag nard s" des 19. Jahrhund erts vertraten gewö hnli c h einen scharfen A th eismus und e inen radikalen Republikanismus. Auch hi e r k a nn man w ie d e r C lemencea u z itieren: ,, Seit der Revolution befinden wir uns im Ai!fruhr gegen die göttliche und menschliche Autorität, mit der wir am 21. Januar 1793 [Entha uptun g Ludwigs XVI.] mit einem Schlag eine schreckliche Abrechnung gehalten haben". 2

Die Französische Republik , mit der Papst Leo XIII. konfrontie1t war, lebte von der U nterstützung, die ihr von Seiten der Anhänger des radikalen Staatslaizismus , aber auc h von ängstlichen Katholiken zute il wurde, die es für e in e gut e Politik a n sa h e n , der Repub lik gegenüber eine banne mine und dem Laizismu s sogar das e ine oder a nd ere Z ugestä ndn is zu machen, wenn der Staat im Gegenzug nur seine zunehmend feindlicher e Haltung gege nüber d e r Kirche aufgab.

Diese a ls Zentristen bezeichneten Katholiken meinten, daß ihn en die Republik ein Minimum an Rechten garantieren würde, wenn sie sic h nur bereit zeigten , den e ntspreche nden

REGIERUNGSFORMEN 243
1 Vg l. Jea n O rie u x , Talley rand Oll /e Sphinx in co mpris , Flammarion Paris, 19 70, S. 638. 2 s Kardinal Louis Billot , L es prin c ipes d e 89 et leurs conseq 11 e11ces, Tcqui , Par is, S. 33

ANHANG III

Pre is zu z a hl e n . D as b ed e utete, d ie V e rg an g enh e it, ei n s chli e ßlich d es mi t d e r We ih e Ch lodw igs e nts tand e n e n ka th o li s ch e n Köni gtum s , z u vergesse n s o w ie d e m S chick s al d es Ad e ls mit s chlec ht gela unte r Gl e ic hg ülti g ke it und d e n laizi s ti s ch e n EtTun ge n s ch a ft e n mit res ignierte m Läc h e ln z u begeg ne n. A u f di e se W e i s e w ürd e eine in d e r Poli t ik gesc hi c kt t ak ti erend e Kirch e e in e r so rg lose n Z u k unft e ntgege nge h e n.

Al s P a p st Leo X III. d e n Pa p s tthron b esti eg, w a r e r e ntsc hl osse n, di ese P o liti k zur se in e n zu m a ch e n. E r ga b ni c ht n ur in d e n be re its e rw ähnt e n Punkte n nac h , so nd e rn ve rz ic ht e t e d amit a u c h a uf di e Unte r st ü tzu ng, di e ihm j e n e Ka th o li ke n hä tte n le is t e n k ö nn e n , di e a uf d e r p o liti sc he n Eb ene d e m leg it ime n m o n a rchi s ti s che n Ans pru c h d es G rafe n vo n C h a mb o rd a nhin ge n u nd im rel ig iö se n B e reic h für di e K irch e a ll e o d e r fa s t a ll e R ec ht e zurü c k ve rl a n gt en, di e ihr d ie Revol u t io n e ntri sse n ha tt e . Di ese K a th o like n , di e v oll e r We hmut a n di e po lit i s ch e Strat eg ie e ines Pa ps t Piu s V I. z urü c kd ac h te n, w a re n g le ic h ze iti g d ie g lüh e nd ste n un d b ege is t e rts t e n An hänger d es P a pstt um s und di e unn a chg ie bi gs t e n Ve rfec hte r d e r Dog m e n.

M it sei n e r P o litik g ing es P a p s t Leo X III. gerade d aru m , j e ne z u en tmu t ige n, di e t a p fe r Ve rfol g un g und Ve rlu ste a ll e r A rt vo n S e i te n d e r R ev o luti o n e r trage n und s ic h fro h e n He rze ns für Alta r u nd Th ro n , für Go tt und de n Kö ni g geo p fe rt ha tt e n. E in e Unte rs tüt z un g a u s ihre n R e ih e n wa r n un ni c h t m e hr ge frag t.

D a für k o n n te sich d er P apst nun d es Be ifa ll s a ll j e n e r K a th o like n s ic he r se in , di e d e n W ech se lbe zi eh u ngen zw isc he n we lt li c he n und ge i s tlich e n Prob le m e n k a um A ufm e r ksa mk e i t s ch e n k t e n o d e r abe r sow ieso a uf A np ass un g a u s wa re n.

,, H a t sic h de r E insatz ge lo hn t?", fragt e n s ic h d a m a ls v ie le.

P a p s t Leo XIII. wo llte di es b ewe ise n. M it d e m To ast von A lg ie r 1 un d d e r E n zyk lika Au milieu des solli c il udes fuh r e r mi t vo ll e n Sege ln in Ri c h t un g An pass un g, o hn e d abe i irge nde in e n d e r vo n ihm u nd se in e n Vo rgä n ge rn ge le h rt e n Grundsätze d es Gla ub e n s o d e r d e r M oral a ufz uge b e n , w ie e r e ige ns vo rs ic hti g h e rvo rh o b.

Wie vo ra usz use h en wa r , n a hm e n nun in k a th o li sc he n K re ise n di e D is ku ss io n e n da rü be r z u, o b es e in e m K atholiken erlaubt sei, Republikan e r zu sein.

P a p s t Leo X II I. legt e z u di ese r Frage di e Lehre d er Kir c h e fes t. D oc h in de r Hit ze d e r A u se inande r setz un ge n ka m m a n c h e m K ä mp fe r di e kl a r e S ic ht d e r Dinge ab h an d e n. So ist es ni c h t ve r wu nd e rli c h , da ß unte r d e n K a th o liken a uc h fa lsc h e S t a ndpun k te ver t rete n w ur-

Im November 1890 ging im Hafen von Algier d ie fran zös ische Kricgsno u c vo r Ank er. Aus diesem A nlaß vera nsta lte te Kardi na l Lavigc r ic. der Erzb ischof der St ad t und e iner de r wicht igste n Helfer, die zu r Durchfü hrun g der Ral!ie m e nt-l'olit i k mit Fran kre ich h inter Pa pst Leo XII I. standen, ein Banken zu Ehren der Offiziere in se iner Res idenz.

Der Kommandan t der Flotte, Admira l Dupe rre, wurde zum Kla ng des Revolutio nsliedes, der Mars eillaise, empfo n gen. das von de n Schülern der berüh mt en Peres Blancs d ie als Missiona re in A lgerie n tätig wa ren, gesp ielt wurde, und da s damals von de r Spitze des französi sc hen Monarchismus noch ke ineswegs als Nationa lh ymne a nerkannt wa r

Zu m Nachtisch erhob s ich der Kard ina l, und a lle Gäste taten d as gle iche. Der Tr in kspruc h. d e n er nu n vor tru g, bestand dari n, daß er einen im vo ra us niedergeschriebe ne n Text vo rl as. Darin grüßte er z unäc hst d ie Geladenen und ging daz u über, z ur Annahme der repub l ikanischen Reg ierungsform aufzurufen, indem er vers iche11e, daß „ein e Reg ie nmg.\:fOrm, die die e inde utige Z11sti11111111ng d es Vo lkes hat und 011 s ich i1111ichts d e n ein z ige n Pr i11zipie n. nac h de11 e 11 die z ivilisie rte n c hristlichen Völke rlehen kö nn e n. e 11tge ge11geset::t ist. 1rie Papst leo XIII. l e tzthin verkiindet hat", ei ne „ vo rbe haltslose Zus timmung" verdiene.

A ls de r Kardina l sei ne n T ext beende t hane, ve rharrten die ge ladenen Offizie re, größtenteils Mo narch iste n. überrasc ht in Schweige n und klat sch te n keinen Be i fall. Man nahm w ieder Pl at z, und de r Kard ina l wand te sic h an den Admiral mi t der Frage: A 111 wort e n Sie dem Kardi11al nich t. H e rr Admiral?'· Wora u f de r Ad m iral , e in alter Bo napart is t, nu r das sagt e : Ich trinke aufdie G es undh e it Sein e r Emine n~ und d e s Klerus vo11 Algerie 11'".

Diese Halt ung Ka rdinal La v igeries s t ieß trotz der Z ust immung und Unterstiitzu ng Papst Leo X II I. in de n mo narch ische n und kathol ischen Kre ise n Frankreichs auf e in denkbar sc hle ch te s Ec ho , und se lbst der fran zös ische Ep is kopat gab Kardin a l La vi ger ie n icht d i e e rwün sc ht e H i lfestel l ung (vgl. Adrien Dansettc, flistoire Relig icuse de la France co 111emporai11 e - s o us la troisie m e R ep 11b liq11 e Collection L ' 1-lis toire, Flammarion , Pari s, 195 1. S . 129-131 ).

2 44

den, die dann zum Teil vo n Papst Leo X rII. se lb s t oder aber von s e inem Nachfo lge r , dem heiligen Papst Piu s X. , richtig geste ll t wurde n.

Weil Papst Leo XIII . die Frage d e r H a ltun g d e r Kathol ik en gege nüb er den R egie run gsfo rm en thesenhaft e nt sc hi ede n h atte, kam es ni c ht zu e in e r klaren Unterscheidung zw i sc h en d e r aus der Französischen R evo lution hervorgegangenen r evo lutionären Republik und d e r au ssc hließlich nach ab s tra kte n Prinz ipi en beurtei lten republikanischen Regierungsform, di e d e n Verhältni s sen d es j ewe ili gen Landes entsprechend legitimer Nat ur sei n konnt e.

Vielleicht ist e in Großteil der Konfusion in dieser Frage ?erad e auf das Bemüh en Papst Leos XIII. zurückzuführen , Besonnenheit walten z u la ssen .

Infolge der Lehre und de r gei s ti ge n H a ltung d e r Kirche w urd e nun in d e r Öffentlichkeit Frankre ich s die Zahl jener Katholiken v ie l geringer, a l s es wü n sc he n swert gewe s e n wä re , die di e monarchische R egierun gsfo nn , ge mäßi gt durch eine gew isse Machtb et e ili gung der Aristokratie und des Vo lke s, vorzoge n Sie h ä tten aber auc h ohne Gewissensb is s e die repub-

In se in en versch ie d e n e n A u ss a gen z u d e n Reg ie rungsfon ne n h at sich Pa pst Lc o X III. n ic ht ges c heu t , a uc h die beso n de ren U m stände in Betrac ht zu zie h e n , i n cl e r s ic h d as da m ali ge Frank rei c h befand V ie l mehr ha t e r m it m eh r o d e r wen ige r Nac hd ruck se i ner Ü be rzeu g un g Au sdru ck verli e he n , d a ß die Re p ub li k fü r d as Fran k re ic h se i ne r Zei t e in für d as Ge m e in woh l fö rder lic hes System darst ell te

D er Pap st ließ au c h deut li ch er ke nnen , d a ß d ie me is ten republi k a ni sc he n F üh re r d ie K irc h e ke i n eswegs aus Haß anfei nde ten, so nde rn we il s ie si ch n ic ht mi t d e n A n g r i ffe n a bfin de n k onn te n , d ie zahl rei che, der m o na rch ische n Sac he verschriebene Ka tho like n gege n d ie Repu blik vo rtr uge n. U nte r di ese m Gesichts p u nkt wa r z u erwa rte n , daß die e rn sth afte, von e i ner z un eh me n den An z ah l v on Gl ä ub ig e n n ac h vo ll zoge n e Ve rsöhn u ng des Papstes m i t d e r Re publik i hr e Fü hrer da z u br in gen würde ei n e a uf Ge g e n se it igke it be ruh e nde Ve rs öh n u ng m it d e r Kirc he e inzu le it e n.

Die E nt w ickl un g d e r E re ign isse h a t j edoch d ie Erwa rtu n gen Pap s t L eo XI II. n ic ht er füll t, w ie d ieser se l bs t i m Juni 1900 m i t B itterke it i n se i nem Brie f a n den fra n zö s ische n Präs id enten E m i le L ou b e t z ugeben mu ß te:

Wir \\'Ollen Ihn en Herr Präsiden / im Ve r1 rau e11 auf Ihren edlen Charak te r , Ih ren erhabe 11 e11 G esichtsp w 1k1 und den auji-ic h1ige11 W1111 sch nach relig iöser Be/i"iedung. von dem Wir Sie e1.fii ll1 wissen 11 11ser l1111ers1es öjjile11. weil Wir gla 11he11. daß Sie den Einfl uß. de n Ihn e n Ihr hohes .4 1111 verlei/11 dafiir einsetzen werden .jeden Anlaß zu 11 eue11 religiösen Venvirr1111ge11 aus dem Vege z u räum e n. Es \räre dies doch e in außero r d en tlich großer Sch me r:; und eine b it1ere En ttäusclumg, l ve1111 l,Jlir an uns e r em Leb e nsabend angekomm e n erke1me11 miiß1e11 daß unsere g 111en Absichten gege nii ber der fra11zös is che11 Na1io11 und i hrer Regierung. den en gege11iiber Wi r 11·ieder l10il niclll 1111 r Unsere .fi-e1111dlic/1s1e11 Absichten sondern a 11 ch Unsere wirk11 11gs vo lle 1111d ga,c besondere Z 1111 eig 1111g 11111 er Be weis gest ellt ha ben. so.fr11c/11/os bleiben sollen." (s. Em rn a n uel Barbier, Histo ire d11 Cmh o /i cisme Liberal e1 d 11 Ca1ho licis me Social e11 Fra11 ce, L ' 1mpr i m e r ie Yvcs Cadoret. Borde a ux, 1924. ßd. 11, S 531 ) Au c h in sei n e m Brie f vo n 23 De z e m ber de sse lb e n J a hres an de n Ka rd ina l Fnm,o is R icha rd, E rzbischo f von Paris. i n dem es um d ie Ver fo lgu n g d e r k irc hl ic he n Kong rega t io n en du rch d ie Regi eru ng des La ndes geh t , ga b d e r Papst se i ner E nttäuschung üb er da s Sc he itern d e r /? a lli eme111- Po litik A usd ru ck:

Seit Begi11111111 seres Pomi/i ka1s haben Wir kein e Mii he gesche11 1 , in Fra nkreich dieses Friedenswerk ;::11 s1ifie11, das dem lande 11ic/111111 r a 11f r elig iöse m so ndern auc h a 11fzi vilem 1111d po lilisc he m 0 ebiet 1111 zählige Voneile gebracht hi11te Wir sind vor Sch ll'i erigkeiten 11 ich 1 ;::uriickgeschreckr 1111d haben Frankreich imm e r wieder Be ireis e unserer besonderen Hoclw c ht1111g 1111serer Sorge 11n d 1111ser er Lieb e rntgege11gebrach1 , de11 11 Wir rech11ete11 damit, daß es dara11/reagie r e11 wiiirde, wie es einer g roßen. ed e lmiitigen Na tio n z usteht.

Unser Schm er;:: wäre ä11ßers1 groß 1r e1111 Wir Uns an 11nserem Lebensabend in diesen En var1t111gen ge1ä11sc/11 sähen, we1111 unsere Fiite rlic he So rge wusonst geH'esen H·äre. und in de m Uns so teueren Land die Leidenschaft en und Parteie n e in en noch erbi11erter en Kamp/ßihren 1n'irden. alme ermesse n ::u kö1111e11 , b is =11 we/cl,em Punkt e ihre 1:.-_t ::esse gelangen 1riirde11. 1111d oh ne das Ungliic k ba1111e11 ;::11 kö1111e11. das Wir 111i1 allen Uns zur Ve1.fiig 1111g s1ehe11de11 Mi11el11 :::11 verhindern s11c/11e111111 d wojiir Wir die Verc111 t ll'Orl1111g vo n vo m he re in ablehn en." (Actes d e L eon X III, Ma ison d e la Bo nne P resse. Pa ris , Bel. V I, S. 190- 191 ).

V ie le Katho lik en h a be n d ie F ra nk rei ch - P ol itik d es b erü hm ten Papstes m it Besorg n is ve r folgt. d e n n s ie ware n d a von überz e ugt, daß die m eis te n Repu b lika n e r vo n d en l ntünnc rn du rch d ru n ge n war e n , d ie s ie von de r A ufk lä ru ng d es 18 Ja hrh u nd e rt s ererbt ha tte n d as he iß t vo n ei ne m rad i ka le m Ega lita r ismu s und d e r a u s d eis ti scher u n d athe ist isc he r W urze l st a m m e n d e n P ho bi e g eg enüb e r d e r Ka t ho lisch e n Ki rc h e

Die den F rie d e n mi t d er Rep ub lik s uc h e nde n De ma rc h e n vo n Pap st Leo XII I. wa ren in i hren A u gen k a um dazu geeign et, di e g roße M eh rh ei t d e r Re pub li ka ne r gege n üb er d er Kirche z u demob il isieren

T a tsäc h lic h d a ue r1e di e re pu b lik a n isc he O ffen si ve gege n die K irc h e a uc h u nt e r de m Po nti fi k a t Pa ps t Pi us X we iter fo 11. M i t de m

A u sb ru c h d es E rst e n W e lk rieges sc h lossen sic h d ie Fra nzose n all er relig iöse n und poli ti sc h e n S tröm un gen z ur Un ion

Sacree' gegen d e n e ind r i nge nde n Fe ind z u sa m me n Da ra u s e rgab s ich e in W a ffens till stand in den po lit isc h e n u nd re li giösen

S trei t ig ke ite n , d er prakti sch b is n ac h de m Sieg der A lli e rt e n anh iel t.

Au f d ie späte re n Ere ig n isse w oll e n w ir h ie r n ic h t m e hr e in ge he n , u m d ie Dars te ll un g n ic ht zu sehr i hn d ie Länge z u z iehen

REGIERUNGSFORMEN 24 5

likanische Regierungsfonn hingenommen, wenn erwiesen gewesen wäre, daß dies für das Gemeinwohl notwendig war.

Andererseits nahm unter den Katholiken die Zahl der Anhänger der republikanischen Regierungsfonn immer mehr zu. Was diese Katholiken zu dieser Überzeugung führte, war weniger die Notwendigkeit einer Republik für Frankreich als vielmehr das falsche Prinzip, daß die Gleichheit unter den Menschen die höchste Regel der Gerechtigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen sei. Daraus zogen sie den Schluß, daß allein die Demokratie , d.h. die uneingeschränkte Republik , im Rahmen einer perfekten Moral zur perfekten Gerechtigkeit unter den Menschen führt: Gerade diesen Intum hat aber der heilige Pap s t Pius X. in seinem Apostolischen Rundschreiben Notre charge apostolique verurteilt.

Auf diese Weise endete die Frage übrigens nicht allein in Frankreich , sondern in der ganzen westlichen Welt.

Die damit verbundenen Di sk ussionen fanden weltweiten Widerhall und führten natürlich zu Spaltungen und Verwirrungen unter den Katholiken der verschiedensten Länder. Viele dieser Spaltungen bestehen noch heute.

So lebt auch h e ute noch die große Illusion de s radikalen Egalitarismus mit seinem unerbittlichen Kampf gegen Monarchie und Aristokratie fort.

Hinter der Erstellung dieses Anhangs stand die Absicht, da zu beizutragen, daß die Klarheit des Blicks und die Einigkeit der Gemüter im Lichte der päp s tlichen Verlautbarungen an Boden gewinnen. Alle wirklich katholischen Herzen sollten danach streben, daß der Spruch ,, Dilatentur spatia veritatis" [Möge die Wahrheit mehr Raum gewinnen], und als Folge davon auch dieser andere „ Dilatentur spatia caritatis" [Möge die Liebe mehr Raum gewinnen] Wirklichkeit werden.

246 ANHANG III

Die Aristol,ratie im Denl,en eines umstrittenen, jedoch unbedenldichen Kardinals des 20.

Jahrhunderts

Das umfangreiche , ge leh rt e Pre di g tw e rk Verbum Vitae-La Palabra de Cristo, d as unter der L e itung d es damali ge n Bischofs von Malaga, Angel Herre ra Oria 1 , entsta nd, bietet im dritten Band (S. 720-724) eine Predigtanleitung, di e e ini ge Punkte der kirchlichen Lehre über di e Aris t okratie zum Inhalt h at.

1) Verbum Vitae - La Palab ra de Cristo - Repertorio orgimico d e textos para e l estu dio de las homilias do111i11ic ales y festivas , erstellt von ei n er K ommission vo n A ut ore n unter d e r Lei tu ng von Mgr. Ange l Herrern Or ia , Bischof vo n M älaga, 10 Bände, BAC, Madrid, 1953 -59

Mgr. Herrera Oria war ei n e der hervors techenden Pe r sö n lic hk e iten der Kirch e in Span ie n im 20. J ahrh und ert Geboren wurde er 1886 in Santande r. 1940 zum P riester ge we iht, erh ie lt er 1947 d ie B isch ofswei he. Wä hre n d sei ner b ischöflic h e n A mtszeit wa r er fed erführen d bei d e r Ausarb ei tung de s bedeutenden W erkes, das d e n h ier kommentiert e n P lan b e inh a lt et. 1965 w urde e r von P aps t P aul VI. z um Kardin a l e rho b en. E r verstarb 1968. (Vgl. Diccionario de Historia Ec les iastica de Espai'ia, ed. E n r ique Flore z , C.S I.C., Madrid, 19 72, Si tc h wort Herrera O r ia, Ange l).

A ls Denk e r, Schriftsteller und M a nn der Tat wa r d ie Person Mg r. Herre ra Oria Gege n stand e r h itzter A u se ina nderse tz ungen. W ä hre nd sei n e bege isterten Bewunderer n om1 a ler.veise in der Mi tte u nd lin ks standen, g ehör ten d iej en igen, die an dere r M e inun g w a ren als er, m it ni c ht geri ngerem E ifer de r Re c hten an. es ist h ier nicht z we ckmäß ig , in bezug auf d iese v ielfä lt ige n Au sei n a ndersetzu ngen Stell u ng z u bezie hen. Es mu ß led ig li c h b etont werden , daß d e r vorli egende Text über Aristo k rat ie d ie unein gesc hränkte Billi gung - viell e icht sogar die M itarbei t - ei n es ho h en , ei n er Parteinahme z ug u nsten d es Ade lsstandes vo llkommen un verdächt ige n Prälaten erhielt.

ANHANGIV

Wir gehen nun dazu über, Stellen aus dieser Anleitung zu zitieren und jeweils einige Kommentare dazu beizusteuern. 1

Zuerst wird die Aristokratie in Verbindung mit der Gesellschaft und nicht mit dem Staat gesehen:

,,Die Aristokratie ist ein notwendiger Bestandteil einer wohlkonstituierten Gesellschaft."

Es folgt der Hinweis: ,,Rufen wir uns in Erinnerung, was christliche Philosophie, Theologie und R echt zur Aristokratie zu sagen haben. "

1. Philosophischer Sinn

Nach dem e tymologischen Sinn d es Wo1ies s ind „Aristokraten die Besten". Darin„ verwurzelt ist der Gedanke der Vollkommenheit, der Gedanke der Tugend".

Tatsächlich hat „ die Aristokratie tugendhafte Gepflogenheiten". Gemeint s ind Gepflogenheiten„ der Einsicht und des Willens " , durch welche„ die Ari stokratie sich h e rvortut " .

,,Individuell gesehen versteht die antike Philosophie unter einem Aris tokraten den Weisen "

Die grundlegenden Tugenden der Aristokratie sind„ s ittli che Vollkommenheit und Liebe zum Volke".

2. Theologischer Sinn

„Die Theologie wirft ein strahlendes Licht auf den Begriff Aristokratie und verscha.ffi dem christlichen Recht solide Grundlagen.

Die Aristokratie ist Vollkommenheit. Und es ist Pflicht des Christen, nach Vollkommenheit zu streben. , Seid vollkommen, w ie euer Vater im Himmel vo llkomm en ist' (Mt 5,48). ,Der Gerechte werde noch gerechter, und der Heilig e h e ili ge sich weiter' (O.ffb 22, 11). Und Gott sprach zu Moses: , Wandle in meiner Gegenwa1i und se i vollkommen'! "

,, Worin besteht die Vollkommenheit?"

Der heilige Thomas lehrt:

„ 1. Die Vollkommenheit des christlichen Lebens besteht vor alle m in der liebe [da s heißt, in der Gottesliebe].

2. Tatsächlich sagt man von einem Wesen, daß es vollkommen sei, wenn es sein eigenes Ziel erreicht, das die letzte Vollkommenheit eines Dinges ist.

Bezüglich se iner Teilnahme an der Ausarbeitung des b et reffend e n Predigtwerkes gibt M gr. 1-l e rrern Or ia im Vorwort d azu folgende Hinweise:

,, Das ist nicht mein Werk, obwohl die Idee, die o b e r e Le ifling 1111d e in Te il des Text es von mir s tamm e n. Das We rk ist Fmc ht d er Arbeit einer Ko111111issio11, d eren Mitglieder am Ende dies es Vo rwo rts at,fgeJiihrt s ind." Und später kom m t er au f d a s Th e ma zurück: ,, Das Werk ist Fr11ch1 einer Gem e insc haftsarbe it. Ich hahe mit e ine r Grnppe von P e rs on e n mitgearbei te t. die in ihre n e111sprechende11 Fächem sehr kompe tent sind." ( z i tiert e s W e rk , Vorwort , Band 1, S . L XV und LXX I).

1) Der Autor weist daraufhin, daß in bezug a u f d e n Originalplan zur Erle ichterung ein e r Ausfuhrung z we i k le in e Änderungen bei der Aufzählung der versch iedenen Punkte vorgenommen wurden. Dies gesc hah , ohne im g er i ng sten da s Denken d e r A uto ren des Pla nes zu beinträcht igen, und gestattet, daß im Ausdruck se in e Klarheit und sein Reichtum b e wahrt bleiben Die erst e dav o n bezieht sich auf den Tausch zwischen den Kapiteln „Aristokratie i11 d e r Familie" und , polirisc h e A ristokratie ". Und d ie zwei te der iden t ische T ausch zwischen den Kapiteln „Modeme soz iale A ufgabe der Aristokratie" und ,.die 11 e 11 e Aris to krarie".

248 ANHANG IV

3 Die Liebe vereint uns mit Gott, dem höchsten Ziel des menschlichen Geistes, denn, wer in der Liebe bl e ibt , d e r b le ibt in Got t, un d Gott bl e ib t in ih m' (1 Joh 4, 16) (vgl II- II q. 184 a. 1, 2, 3 c; a a 0 , q 81 a 7 c)

Die christliche Vollkommenhei t wird demnach vor allem durch die Liebe erreicht. "

D araus is t z u fo lge rn:

„ D ieser leuchtende Gedanke ist sehr beachtenswert, denn er belebt die ganze Soziologie und Politik im Hinblick aiif die Aristokratie

a. Aristokrat i e ist Vollkommenheit

b. Vollkommenhei t ist wese n t lich christliche Liebe "

3. Das öffentliche christliche Recht

„Aristokratie und Eigentum. Es wird nicht genug betont, daa eine der Grundlagen des P rivateigentums in der Pflicht besteht, sich zu vervollkommnen ... "

In Rerum Nova rum le hrt P a p s t L eo XHI , d a ß „ die Güter als eigene besessen werden und als gemeinsame veri,valtet werden sollen. Das heißt, , hat der E ige nt ü m e r se in e n Bedar f befr ie di gt und s ind Sc hi c kli c hk e it un d Pe rfe kti on bed ac ht ', ist der Rest als Almosen z u verschenken. Bedürfnis und Schicklichkeit werden zwar oft erwähnt, es wirdjedoch ve rgessen, daa die Pe,:fektion eine Pflicht ist."

Di e Predi g ta nl e itung d es K a rd ina l s Herrera O r ia ge ht nun z u Aussage n ü ber, we lc he di e ega lit ä re U m geb un g u nse rer Ta ge le id e r vö lli g in Vergesse nh e it gerate n lassen.

,,Es ist Pflicht derer; die in der Welt leben und eine Familie haben, diese zu vervollkommnen und in den Kindern die S chicklichkeit und die gesellschafiliche Achtung der Familie in christlichem Sinne zu erhöhen.

Wenn sie unter dem Einfluß der christlichen Liebe leben, haben die Eltern die Pflicht, da.für Sorge zu tragen, daß ihre Kinder soweit wie möglic h in Wissen, Kunst, Technik, Kultur und in allem besser seien als sie selbst. Nicht um sie zur Eit elkeit zu erz ieh en, sondern um der Gesellschafi zum Wohle des Volkes immer vollkommenere Generationen z u bieten.

D ie Aristokraten haben vor allem stets danach zu streben, alle technischen, sozialen usw. Fortschritte aiifzunehmen und an z uwenden, die den Bediirnisse n der weniger bemittelten Schi c hten entgegenkommen können."

D iese Le h re n zeige n , d aß e in wese ntli c he r Aspek t d es Str ebe n s nac h um fasse n der P erfe kti o n - se i es zu r E hre Gottes , se i es zu m Geme in wo hl de r we l t li chen Gese ll sc haft - gerade in de m Be müh e n der A ri s tokratie beste ht , Ge n era ti o n um Ge n era ti on d en U m ga n g mi t Woh nun ge n , E inr ic h t ungsgegenstän d e n , K le idung, Fa h rze uge n , abe r a uc h pe r sön li che Ha lt ungen u nd Ma ni ere n im me r meh r z u ve rvo llk o m m n e n.

De r vo llko mmene ka th o li sche Aristo krat ve1wend et demnac h in se in em Be m ühen um das Gemein wo hl a lle n E ife r dara u f, den bed ürft ige n Schi c hten z u ihren Rec hte n z u ve rh e lfe n .

Diese A r t von Ari stokraten b ilde n jen e „Besten", di e we iter obe n a l s„ notwendige Bestandteile einer wohlkonstituierten Gesellschaft " b eze ic hn et wurde n

4. Gesellschaftliche Aristokratie

Ansch li eße n d besc häfti gt s ic h d ie An le itu ng n ic h t me hr mi t d em A ri s to kraten a ls E in zelnen, so nd ern m it de r a ri s t okratisc h e n Fam ili e:

,,In dem Maße, in dem der Aristokrat sich selbst und s e ine Familie vervollkommnet, schafft er innerhalb der Gesellschaft eine Institution : die aristokratische Familie."

DIE ARI ST O KRATIE IM D ENKE N EIN ES UMSTRITTENEN KARDI NALS 249

Diese Anleitung macht deutlich, daß das familiäre Gewebe der Aristokratie selbst von großem Vorteil ist, wenn es darum geht, Quelle und Abtriebskraft des Strebens nach Höherem zu sein, bildet sich die Tradition einer jeden Familie doch gerade im Familienschoße aller gesellschaftlichen Klassen. Im familiären Zusammenleben bieten sich den Eltern sowie den älteren Menschen überhaupt die psychologischen Voraussetzungen und Tausende von günstigen Gelegenheiten, ihre Überzeugungen und die Früchte ihrer Erfahrungen an die nachkommenden Generationen weiterzugeben. Auf diese Weise sind hier optimale Bedingungen für das Streben nach „Vollkommenheit" gegeben. Und dieses Streben hat nicht nur das individuelle Gut der Familienmitglieder zum Ziel, sondern auch entscheidend das Gemeinwohl der Gesellschaft als Ganzes.

Nun ist aber die Gesellschaft als kollektives Wesen dauerhafter als die Familie und die Familien sind ihrereseits wieder dauerhafter als die Einzelnen, aus denen sich die Generationen zusammensetzen. Und dem Dauerhaften wird die Antriebskraft der Aristokratie zum Gewinn, weil ihre treibende Kraft im Prinzip von derselben Dauer ist wie die Gesellschaft selbst.

Der Tradition aber fällt die Aufgabe zu, dieser treibenden Kraft Dauer, Richtung und Merkmale zu verleihen.

In dieser Anleitung heißt es nun weiter:

,,Man könnte sagen, das die Tugenden und die Vollkommenheit selbst die Tendenz haben, erblich zu werden.

Diese Institution darf nicht egoistisch nur an sich denken, sondern hat ausgesprochen sozial zu sein und das Wohl der andern im Auge zu behalten. "

Aus diesen mit aller Deutlichkeit vertretenen Grundsätzen ergibt sich die Rechtfertigung eines der in unseren Tagen am wenigsten verstandenen Aspekte der Aristokratie: die Erblichkeit.

Nicht wenige finden es gerecht, daß einem Menschen, der Schwieriges vollbracht und dabei seine persönlichen Qualitäten unter Beweis gestellt hat, vor allem wenn diese seine Taten vielen als Beispiel dienen können und noch dazu einen wichtigen Beitrag zum Gemeinwohl geleistet haben, ein Adelstitel zuerkannt wird.

Allerdings fügen sie dann hinzu, daß dies nicht die Übertragung des Adelstitels auf die Nachkommen des auf diese Weise Ausgezeichneten rechtfertige. Denn oft folgen auf große Männer nur mittelmäßige Söhne, die den wohlverdienten Ehrungen ihrer Vorfahren keineswegs gerecht werden.

Solche Überlegungen verhindern aber gerade die Entstehung adeliger Familien und hemmen damit die Verwirklichung ihres Auftrags, als treibende Kräfte auf dem Weg der fortschreitenden Vervollkommnung des ganzen Gesellschaftkörpers zu wirken. Diese Vervollkommnung ist jedoch ein unerläßlicher Bestandteil des mitreißenden Fortschreitens einer Gesellschaft oder eines Landes in Richtung all jener Formen der Vollkommenheit, welche die Einzelnen zu erreichen gedenken, weil sie Gott lieben, der die Vollkommenheit selbst ist.

Wenn es also einerseits nicht mehr als gerecht ist, großen Menschen Achtung zu zollen und sie auszuzeichnen, wäre es ungerecht und wirklichkeitsfremd, andererseits die Sendung der großen Adelsgeschlechter als Antriebskräfte ihrer aufstrebenden Länder abzustreiten:

„Die so genannte historische Aristokratie ist in der menschlichen Natur begründet und entspricht durchaus dem christlichen Lebensverständnis, sofern sie sich an die Forderungen dieses Verständnisses hält.

Keine Schule kommt dem Schoß der Familie eines echten, christlich aristokratischen Geschlechts gleich. Wenn es seinen Pflichten getreu nachkommt, hat die Gesellschaft die

250 ANHANG IV

Pflicht, ihm die Mitt el zukommen zu lassen, deren es zur E rfüllung dieses höchsten sozialen Lehramts bedarf. "

,, Paläs te, Gemälde, P ergamente, Kunstgegenstände, Meisterwerke, Reisen, Biblio theken us w.,dies alles gehört mittel- oder unmittelbar zum D ase in der großen F amilien. D och der Gebrauch dieser Güter hat sich an die Aszese und Soziallehre der Kirche zu halten.

Wenn sie dafar eingese tz t werden, auser lesene Staatsbürger zum Wohl der Gemeinschaft auszubilden und wenn dabei der wahre christliche Sinn des Lebens berücksichtigt wird, kann man behaupten, daß es s ich um eine Art öffentliches, ko llektives Vermögen handelt, das der ganzen Gesellschaft zugute kommt.

Di e Aristokratie en tsp r ich t so sehr der christli c h en Gesellschaft, daß sich eine Gesellschaft nicht vollkommen nennen kann, wenn es in ihr keine aristokratische Schicht gibt. Die heile Aris tokratie bildet die Blüte und die Creme der christlichen Zivilisation."

Aussagen üb e r die Aristokratie wie dies e findet man heute im ka t holi sc hen Schrifttum immer seltener. Doch wurden sie bisher ni e v om Lehramt der Kirche zurückgewies en. Und s ie dürfe n natürlich nicht in e ine m Werk w ie diesem fe hlen, das di e Ari sto krati e besonders im Zusammenhang mit der christlichen Zivilisation sieht, die alle Nationen der westlichen Welt gebildet hat.

5. Aristokratie in der Familie

Hinsichtlich der Bezi e hun ge n zwischen Aristokratie und Famili e e rwähnt di e Anleitung einen brisanten und äußerst wichtigen A s pekt de s Leben s e iner a ri stokrat is che n Kl asse:

„A G ewissermqß en analog dazu k ann man behaupten, daß die aristokratische Macht in der Familie d e r Frau zusteht.

a Die Autorität ist Sache des Mannes.

b. Aber die Frau ist innerhalb d e r Familie ein Element d er Mäßigung und des Rates.

c. Sie ist ein Element der B ez iehung zw ischen Vater und Kindern.

1. Oft werden d ie Anordnungen des Vaters gerade durch ihre Vermittlung erst wirksam.

2. Durch sie nimmt der Vaters Kenntnis von den B ediiljiiissen und Wüns c hen der Kinder.

B. D er heilige Thomas sagt, daß der Vat e r die Kinder im Sinne der klassischen Bede utung des Wortes, despotisch' regiert, während die Art des R egierens der Mutter ,politisch' genannt werden kann.

a. D enn die Mutter ist B eraterin und hat Teil an der Ma cht des Vaters

b Die Frau aber ist sozusagen die Vertreterin der Liebe inn erhalb der Familie Sie ist im S c hoß der Familie e in e Art Personifizierung der Ba rmhe rzigkeit.

c. I hre Aufgabe ist es, aiifdi e B edürfnisse der Kinder und der Dienerschaft zu achten und den Vater dazu zu bewegen, d iese zu befriedigen

C. Im Evangelium wird in der von uns angesprochenen Sz ene der Kontrast z wischen dem Mangel an Mitl e id, L iebe und aris tokratischem Geist bei d e n Aposteln und der unsagbar aristokratischen Aufgabe, die der Muttergottes bei der H ochzeit von Kana zukommt, deutlich gemacht.

a . Maria ve,jolgt aufmerksam die B edürfnisse d er a nde rn und trägt sie dem vor, der sie befriedigen kann.

DIE ARISTOKRATIE IM DENKEN EINES UMSTRITTENEN KARDINALS - - 25 1

b. Dann g e ht s ie zum Volke, das hier durch die Diener vertreten ist, und zeigt ihn en, daß sie zu gehorchen haben. "

Der Vergleich zwischen der Aufgabe der Ari s tokratie im Sta at und in der Nation mit der der Frau - als Gemahlin und Mutter - im Hause klingt für den modernen Lese r sicher etwas überraschend. Denn di e spärlichen populärw iss e nschaftlichen Werke über die Aristokratie, haben - übrigens nicht zu Unrecht- da z u geführt, daß di e breite Öffentlichkeit in ihr die militärische Klass e sc hlechthin sieht, und dieses Bild s ch e int wenig z ur Aufgabe einer Gattin und Familienmutter z u passen.

Und dennoch birgt dieser Vergleich eine große Wei s heit in sich.

Will man den Krieg im recht e n Lichte betrachten , s o muß man be rück s ichtigen , daß es sich normalerweise um eine Tätigkeit handelt, di e gegen d e n äußeren F e ind gerichtet is t. Dem heiligen Thomas ge ht es hier jedoch um die Aufgabe der Aristokratie im gewö hnlichen Leben in Friedenszeiten innerhalb der Grenzen des Landes und nich t um ihre Aufgabe als Schwert zu r Verte idigung gegen einen Feind v on außen.

In jener Zeit gehörte es zum We se n der Aristokratie, daß di e Adelsfamilien e in e gew isse Anzahl weiterer Famili e n und Individuen aus geringeren Gesellschaftsschichten um s ic h versammelten, die durch all e rl e i Arbeitsbeziehungen, e infach e Nac hbarsc haft u sw mit ihnen verbunden waren.

In d e n mittelalterlichen Städten und z um Teil auch noch im Ancien Re g im e war es üblich , daß Paläste , Vill e n , oder auch e infache , komfortable Wohnhäu se r unmitt e lb a r ne b e n den Häusern der weniger bemitte lte n Schichten s tand e n. Di eses nac hbarsc haftlich e Nebeneinander von Großen und Kleinen gab in ge wi sse r Wei se die Atmosphäre e ines aristokratischen Haushalts wieder und bildete um j e d e aristokratische Familie he rum e in e n za rt stra hlenden Nimbu s von Zuneigung und Hingabe.

Auch di e Arbeitsbeziehungen tendi e rten unt e r d e m E influß d e r christlichen Näc hs t e n! iebe stets über d e n re in b e ruflichen Be reich hin a us in s Pe r sö nli c he. Das jahre la n ge Miteinander bei der Arbeit trug da z u be i, daß d e r Adelige se ine U nt e rg e be ne n in s piri e rt e und orientie1te , und auch diese ihre r se its wieder ihre n Herrn b ee influßte n , ind e m s ie ihm vo n ihre n Wün sc hen und Vergnügungen, von ihrem Alltagsleben in Kirch e , Zunft und Ha u s , aber auch von den konkre t e n Umständen de s ge mein e n Lebens und d e n B edürfni sse n d e r Hi Iflosen und Elenden berichte te n. So b esta nd eine Art Kre is lauf zw isc h e nm ensc hli c he r Beziehunge n , der den Höheren mit d e m N iedere n verband. Di ese n Kreislauf versuchte d er Staat nach 1789 so weit w ie möglich durc h sei ne Bürokrati e z u e r setze n. K o nkre t h e ißt d as , daß die Bureaux für Statistik und Information und di e s t ets aktiven Information sdi e n s te d e r Pol izei mit diese r Funktion betraut wurden.

Über diese Bürokratien in s piri e rt, treibt und befehli g t d e r anonyme Staat die Nation mi t Hilfe ebenso anonymer Staatsdiener ( und, nicht z u vergessen, mit Hilfe d e r g roßen - anonymen - Akti e ngese ll s chaften) .

Di e Nation wiederum antwort et dem Staat durch den a nonymen Mund d e r Wahlurn e n. So weit geht die se Anonymität, daß di e Wahl s timm e geheim zu se in hat, sodaß d e r Staat nicht einmal weiß, w er so ode r so gestimmt hat.

Mit di ese r Anhäufung von Anonymitäten wird im mod e rnen Staat mö g lich s t j e de Art von menschlicher Wänne in den Beziehungen verhindert.

Ganz anders geartet waren ihrem Wesen nach j e ne Länder, die eine korrekte Aristokratie besaßen. Wie wir gesehen haben , herrschten dort s o weit wie möglich pers önliche Bezi ehungen. Sowohl der Einfluß des Höheren auf den Niederen wi e d e r, wenn auch anders gea rtete , d es Niederen auf den Höheren wurde auf d e r Grundlage einer Beziehung au sge übt , in

252 ANHANG IV

d er von beide n Seiten die christliche Zuneigun g vorherrschte. Un d di ese Z un e igung führte w iederum zu gege ns e itiger Hingabe und Ve1irauen. Auf di eser Basi s konnte zwischen Bediensteten und Herren eine wahre Gemeinschaft en ts t e hen, wie da s Protoplas ma si ch e inen Zellkern bild et. Man braucht nur die Schrifte n der wa hren katholi s chen Moralisten über die herrsc haftlich e Gesellschaftsordnung zu lesen, um einen genauen B egriff vo n dieser Bez i ehun g zu erhalten.

Auch in der Z unft sp iege lte die B ez ie hung Meister-Geselle- L e hrlin g z u e inem gro ß e n Teil die geseg ne t e Atmosphäre der Familie wider. Und die s gilt auch fü r andere L e b e n s bere ic he.

Der leb e ndi ge menschliche Kontakt umfaßt e viel mehr als da s, w a s die m oderne A r beitsg e s etzgebun g ka lt und trocken „ Arb e itne hm er und Arbeitgeber" nennt. Über ihre Knechte, Mägde und s onstige Bediente lernte n die höh e ren Krei s e de s Adels oder des Bürgertum s a uch di e Familien ihre r Unte rge b e ne n näher kennen, so w ie diese w iederum di e h errsc haftlichen Famili e n kennen l ernten . J e nach organischer Spontaneität der innergesellsc h aftlichen Dynamik bes chränkten sich die Beziehungen j a ni c ht auf den E in ze lne n, sondern erfaßten auf beiden Se iten auc h di e j ewe ili ge F amilie. So konnten s ich vo n oben na c h unten Gefühle d er Sympathie, des Wohlwollens und d er Hilfsbe re its chaft e ntw icke ln , währen d vo n un ten n ac h oben Dankbarke it, Anh ä n g lichkeit und Bewunderung z um A u sd ru ck gebrac ht wurde.

D as Gute w ill sic h mitte il e n. Durc h das e ng m asc hi ge Ne tz dieser System e le rnte der Große auch das a nonyme E lend k e nnen, d e nn da s El e nd i soliert den in der U nb ekann th e it, üb e r den es he re inb r icht. Und d em Großen w urd e so Ge legenhe it gegebe n , - mei s t e n s durch di e Hand der Gattin o de r seine r Töc hter- so viele Schmerz en zu heilen, die auf a nd e re We ise keine Heilung erfahren hätten.

Aber a uch der Groß e e rl e bt in di ese m Tränental se ine bitteren Stunden. Oft wurde er im konkret ph ys isc hen od er aber im politische n Sinn e vo n Feind e n uml age rt, be droht und a ngegriffe n. U nd dann erw ies s ic h a ls die s tärkste Mauer wankender Größe di e un s ch ä tz b a re Hingabe derer, die s ich un e igennütz ig und oft das e ige n e L e b e n in Gefahr brin ge nd z u se inem Schutze e rhob e n.

Wenn w ir auch hier un ser Augenmerk vo r zugswe i se a u f da s städti sc h e Le ben ge rich tet ha b e n , s o g ilt da s Gesagt e natürlich in besonderem Maße auc h fü r di e Z u st ä nd e a uf d e m Land , d essen Atmosphäre ge rade die b esc hri e b e n e n Bez ie hu ngsmuster begünstigte.

So war d as L e be n z ur Zeit der Feudalherrsc h aft. U nd so blieb es a u ch danach noch auf dem Lande , a ls die üb e rk o mme n e n B ezie hun ge n zw isc h e n Lehnsherr und L ehnsma nn zwar ihre politisch e Dimension ve rl oren, im B ere ich der Arbeit jedoch we iterh in ihre Gültigke it b e hi e lt en. Un d so ve rh ä lt es s ic h oft a uc h n oc h in di ese m ve rneb e lte n letzt e n Jah rze hnt de s J a hrhun derts und des Millenniums in der e ine n oder anderen R egion , in d e m e in e n ode r a nd e r e n L a nd.

Im Lichte e in es dem h e ili ge n Tho m as vors ch webe nd e n mona rc hi sc h en Sta ates, d e r s owohl e t was Ari s t okratisc h es a l s a u ch e tw as Demokratisches an s i ch hat , h a t di e A ri s t okra ti e Ante il an der königlichen Macht , so w i e di e Gattin im Sc ho ß d e r Fa mili e a n d e r Macht ih r es Mann es t e ilnimmt. Ihr z iemt es a l so, durch ih r mäß i gendes, d e m mütte rlich e n In st inkt entsprec h e nd es Wa lten dem Vate r- d as h e ißt hi e r dem K ön i g - d i e Bed ürfni sse d e r Kinder z ur Ke nntni s z u brin ge n. M it anderen Wo rt e n: d en Arme n , de n Kl e in e n , d e n Hilflo se n , di e s ic h im wo hltu e nd e n Schatten eines a deligen Hau ses wissen, ihre Stimme z u l e ih e n . Damit d e r wo hl wo ll e n d ges timmt e Va t e r ihnen d as n otwe ndi ge H e ilmitte l z u ko mm e n l asse n k an n

DIE ARISTOKRATIE IM DENKEN EI N ES UMSTRITTENEN KARDI NALS 253

So wie es in diesem Gleichnis auch Aufgabe der Mutter is t, da s Herz der Kinder für diesen oder j e nen Befehl des Vaters zu öffnen , hat der Adel die Aufgabe, das Gemüt der ihm unterstehenden Stände dahingehend zu beeinflussen , daß sie sich den Erlassen d es Königs mit kindlicher Ehrerbietung fügen.

6. Politische Aristokratie

Bisher war von der Aristokratie als sozialer Kla sse die R e d e . Nun gehen wir zum Thema Sendung der aristokratischen Klas se im politischen und gesellschaftlichen Leben de s Landes über.

Vielleicht werden die Worte , mit d e nen in der Predigtanleitung des Kardinals Herrera Oria an das Thema „politische Ari s tokratie" h e rangegangen wird, für jene eine angenehme Überraschung sein, denen diese Ausführungen eventuell z u konservativ oder gar reakti o när klingen:

„ Die soziale Aris tokratie hat direkt und unmittelbar dem Volk gegenüber eine Funktion a uszuüben.

Nach dem Naturgesetz wird sie aber s tets eine politische Funktion gegenüber der Macht ausüben . Sie hat Teil an der Macht zum Nutzen des Volkes. "

Nach einem kurzen Hinweis auf die „gemischt" genannte Regierung, an der „ die Monarchie, die Aristokratie und das Volk ihren Anteil haben " und die „ nach der katholischen Philosophi e als die beste Reg ierung" anzusehen ist, führt die Anleitung weiter aus:

,, Die zw isch en der höchsten Autorität, das heißt, d er Monarchie im philosophischen Sinne- Macht eines einzigen - und dem Volk angesiedelte Aristokratie ist ein Element der Mäßigung, Abwägung, Kontinuität un d Einh e it ". Unter di ese m Gesichtspunkt is t zu bede nken , daß

1. die Monarchie ohne Aristokratie leicht zum Absolutismus führt,

2. ei n Volk ohne Aristokratie nicht Volk, sondern Masse ist,

3. di e Aristokratie die Monarchi e verteidigt und mäßigt,

4 . die Aristokratie das Haupt des Volkes, seine Erzieherin und Orientiererin seiner Kräfie ist,

5. die Aristokratie ohne Volk e in e Oligarch ie, das heißt, verhaßtes Privileg einer Kaste innerhalb der Gesellschaft ist "

7. Moderne soziale Aufgabe der Aristokratie

Danach zählt die Predigtanleitung einige Merkmale auf, welche di e moderne Aristokratie auszeichnen müssen:

„ Moderatorin der Ma c ht, Beraterin, K enne rin der B edü,ji1isse des Volkes, Verteidigerin des Volkes gegenüber der höchsten Autorität, Erzieherin des Volkes, Leiterin und Orientiererin der Tätigkeiten des Volkes; sie hat alle Mittel der Technik und d es gesellschajilichen Fortschritts zugunsten vor allem der b edürftigsten Volksschichten einzusetzen."

Diese Aufzählung hat keineswegs umfass e nd e n C harakter. Anscheinend geht es hier darum, zu verhindern, daß die Aris tokratie - wie es oft geschieht - als eine Minderheit angesehen wird, der es allein um ihr Monopol an Vorteilen zum Schaden d es Volkes geht.

Gleich zu Beginn erwähnt die Anleitung die Tendenz d er Aristokratie zur Vollkommenheit in allem, di e in der Liebe zu r absoluten Vollkommenheit, das heißt z u Gott , ihren Ur-

254 ANHANGIV

sprung hat. Damit wirkt sie als mächtiger Antrieb für den Nächsten, alle Formen der Vollkommenheit anzustreben (vor allem die der Tugend, aber auch der Begabung, des guten Geschmacks, der Kultur, der Ausbildung ... und sogar der Technik). Diese Neigung drückt sich auch im Decorum des Lebens aus, das in der Kunst, im Mobiliar, in der Wohnkultur, im Schmuck usw. seinen Ausdruck findet. Dies alles hat den ganzen Gesellschaftskörper zu durchdringen und zu erheben in dem Maße, in dem die Aristokratie sich selbst als Aristokratie erhebt.

Damit sich diese Anhebung des Niveaus mit Hilfe der Aristokratie vollzieht, muß bedacht werden, daß ihre Mitglieder tatsächlich im Sinne ihres Titels die „ Besten" sind. Wenn sie dann als Leiter der Nation die Macht selbst innehaben, kommt es schließlich z ur Aristokratie als Regierungsform.

Diese Überlegungen zeigen, in welchem Ausmaß die Regierungsform von den Bedingungen des Gese llschaftskörpers abhängt, vor allem von den religiösen und moralischen , aber auch von anderen.

8. Die neue Aristokratie

Die Anleitung befaßt sich auch mit einem Thema , das sie mit dem Begriff „neue Aristokratie" umschreibt. Um eine genaue Vorstellung von der notwendigen - wenngleich mit der gebotenen Umsicht durch zuführenden - Erneuerung der Aristokratie z u gewinnen , kann man auf eine Metapher zurückgreifen, die diese Tatsache auf fast perfekte Weise d e ut l ich macht: der Austausch des Wassers in bestimmten Schwimmbädern.

In diesen Schwimmbädern findet nämlich eine ununterbrochene Erneuerung des Wassers statt, doch geschieht dies so allmählich, daß dies auch vo n einem aufmerksamen Beobachter kaum wahrzunehmen ist. Und doch handelt es sich um eine echte Erneuerung, bei der die Wassermenge allerdings nicht schnell oder gar wassersturzartig - man könnte sagen revolutionsmäßig - abfließt b zw einströmt.

Wir haben von einer „fast perfekten" Metapher gesprochen. Sie ist also nicht ganz ohne Einschränkung anzuwenden. Wenn der Wasseraustausch auch noch so langsam vo r sich gehen mag, ist das Ziel doch stets der Abfluß der gesa mten Wassermenge. Bei der Erneuerung des Adels ist es jedoch nicht wünschenswert, daß es zu e inem vollständigen Austausch kommt. Im Gegenteil,je langsamer die Erneuerung vor sich geht, um so besser. Seiner eigenen Naturnach ist der Adel so eng mit der Tradition verbunden, daß idealerweise eine größtmögliche Anzahl von Familien über die Jahrhunderte hinweg auf unbes t immte Zeit erhalten bleiben sollte, vorausgesetzt natürlich, daß dies nicht zum Vorteil sk lerotischer, abgestorbener, mumifizierter Zei tge nossen geschieht, die nicht mehr in der Lage si nd , aktiv ins geschichtliche Geschehen einzugreifen.

Die Metapher entspricht dem, was zu diesem Thema in dem vorliegenden Buch gesagt wurde 1 , und stimmt auch völlig mit dem überein, was im Predigtwerk des Hw. Kardinals Herrera Oria zu lesen ist.

,, Da die Aristokratie notwendigerweise zu einer wohlkonstituierten Gesellschaft gehört, scheint es als praktisches Prinzip angebracht, daß die historische Aristokratie, die normalerweise reich an Tugenden ist, erhalten bleibt; gleichzeitig sindjedoch weitere Formen der Aristokratie z u schaffen.

DIE ARISTOKRATIE IM DENKEN EINES UMSTRITTENEN KARDINALS 255
1
, 9.
Vgl. Kapit e l VII

Die Aristokratie datf nicht etwas Abgeschlossenes sein, sonst wird sie zur Kaste, also zum genauen Gegenteil der Aristokratie, denn die Kaste als solche kennt nicht das Prinzip der liebe, und gerade diese macht die Seele der Aristokratie aus.

Leider geschieht es nicht selten, daß sich das Virus der Weltlichkeit in die aristokratischen Kreise einschleicht und diese in geschlossene Gruppen verwandelt.

Das große Problem liegt heute auf diesem Gebiet gerade darin, die aristokrat isch en Klassen zu erneuern und neue Formen der Aristokratie zu schaffen"

Daher stellt sich auch die Frage, was zu tun sei, wenn e ine Aristokratie tief gesunken is t , und ihre Mitglieder aufgehört haben, die „Bes ten" z u se in, und nun als die „Schlechtesten" anzusehen sind.

Es müßten in diesem Fall neue aristokratische Klassen geschaffen werden, und gleichze itig wäre alles zu versuchen, um die herkömmliche Aristokratie wieder aufzurichten. Wenn le tztere allerdings nicht mehr zu retten se in so llte, ist es besser, s ie zu überge hen.

Wenn die Aristokratie verkommt, hat der Gesellschaftskörper die Pflicht, eine Lö s ung zu finden; dies geschieht meistens auf instinktive und gewohnheitsmäßige Art und Wei se, indem der Gesellschafts körper auf die Unterstützung der noch gesunden GI iede r z urückgre ift.

Wir haben „instinktiv" gesagt, weil in Notsituationen wie dieser der gesunde Menschenverstand und die Qualität de s Volkes sich be sse r z urec htfinden als die oft brillanten und verführerischen Pläne der Träumer oder Bürokraten, die „Paradiese" oder „U topi e n" aufba ue n möchten. Da es diesen Plänen oft an Wirklichkeitssinn fehlt , s ind s ie meistens z um Scheitern verurteilt und führen z u Enttäuschungen.

Wenn es nun in den R e ihen der Aristokratie keine „Beste n" m e hr gibt und wen n im gemeinen Volk niemand in Stellvertretung diese Aufgabe übern e hm e n mö c hte, Antriebskraft z u Höherem zu sein, und wenn se lb st im Kl e ru s e in vergleichbarer Mangel festzustellen i st, taucht da s Problem auf, welche R eg ierungsform in der Lage se in könnte, die Gesellschaft und die Nation vor dem Untergang z u bewahren.

Um das Probl e m z u lösen , werden eventuell politische R ezepte ausgedacht, di e e in e von vermeintlich guten Männern gebildete R eg ieru ng vo r se hen , der es gelingen so ll , die große Frage fast automatisch von außen nach inn e n zu lö sen, obwohl s ich der Gesellschaftskörper se lbst doch keineswegs in einem gesunden Zustand befindet.

Wenn s ich aber die Gesellschaft als so lch e in e in e m sc hl ec hten Z usta nd befindet, erweist sich das Problem sc hlicht und einfach als unlösbar. Die Lage e rwei st s ich in diesem Fall als hoffnungslos. Je mehr man nach H e ilung s ucht, um so m e hr Komplikation en tauchen auf und b esc hleunigen schließlich nur no c h das End e.

In einer derart hoffnungslosen Lage kann es nur eine Lösung gebe n , wenn e ine Handvo ll gläubiger Menschen, die gegen alle Hoffnung zu hoffen wagen - contra spem in spem credidit (Röm 4, 18), mit diesen Worten lobt der heilige Paulus den Glauben Abrahams, weiterhin hoffen und nicht aufhören zu hoffen. Das h e ißt , wenn vom Glauben e rfüllte Seelen sich demütig und inbrünstig an die Vorsehung wenden, um von dieser e inen rett enden Eingriffzu erflehen.,, Emitte Spiritum tuum et creabuntw: et renovabisfaciem terrae " - Sende deinen Geist aus und alles w ird neu geschaffen und du wirst das Angesicht der Erde erneuern (Pfingst-Antiphon).

Umsonst würden wir auf Rettung durch irgend e ine Regierungs-, Gesellschafts- oder Wirtschaftsform warten. ,, Nisi Dominus custodierit civitatem, ji·ustra vigilat qui custodit

256 ANHANGIV
* *

eam" [Wenn der Herr nicht üb e r die Stadt wacht, dann wacht der Wächter umsons t] (P s 126, 1).

Di e r e ichhaltige Ausführung über die Aristokratie , die w ir dem bedeutenden , un ter der Leitung von Kardinal Angel Herrera Oria erstellten Werk entnommen und komm e nti ert haben, schließt mit folgenden Erwägungen:

,, Die Behauptung, in unseren Tagen mangle es an aris t okra tischen Seelen, bedeutet also, daß es an einer Kla sse fehlt, die sich durch Geburt, Kultu r, R eichtum, vor allem aber durch die Ausübung der christlichen Tugenden und einer Barmherzigkeit ohne Grenzen auszeichnet.

Aristokra tie ohne e inen reichlichen R ückhalt an pe1fekten christlichen Tugende n ist nichts als ein leeres Etikett, eine Geschichte ohne Leben, eine verfallene g esellschaftliche Ins titution

Ihre Liebe, ihr Geist und ihr Leben haben der G e ist, die L iebe und das L eben Christi zu sein.

Ohne Vollkommenheit wird es faktische und angebliche Aristokratien geben, aber nie echte Aristola·atien i n Werk und von Rechts wegen."

Wenn der Leser die abschließenden Worte der Anleitung in ihrem eigentlichen, n atürlichen Sinn versteht , wird er feststellen , daß sie e in Urteil üb er den Adel jener Zeit enthalten, in der K a rdinal Angel Herrera Oria s ie veröffentlicht hat: ,, es fehlt an einer Klasse, die durch Geburt herausgehoben ist ... " . Konkret gesagt b e deutet das , d a ß di e Aristokratie jene r Zeit diese Aufg ab e, d.h. ihre Aufgabe, ni c ht erfüllt hat.

Wenn die im Pre digtw e rk e nthaltene Anleitung der Aristokratie ihrer Zeit un e in geschränktes Lob gezollt hätte, würd e man s ie ohne Zwe ifel d e r Einseitigkeit zei h e n. D en n ihre Kritiker würden darauf hinweisen , d a ß die Aristokratie zwar bedeu tende Qualitäten vo r z uw e is en hat, aber a uch schwere Fehler eingestehen muß.

Man kann da s vorliegende Urteil tatsächlich als einseitig bezeichnen, allerdings im entgege ngesetzte n Sinn. Um der geschichtlichen Wahrheit ge r ec ht zu we rd e n , müßte es heißen , d a ß die Ari s tokrati e d e r fün fziger Jahre zwar z ahlreiche Mängel aufwies, d a ß es abe r nicht z u le ugn e n ist, daß s ie auch re leva nte Qualitäten aufzuweis e n hatte.

NEN KARDI NALS 257
DIE ARISTOKRATIE IM DENKEN EINES UMSTRITTE

Ansprachen von Papst Pius XII. an das Patriziat und an den römischen Adel

Ansprache v om 8. Januar 1940

Ein zweifaches Geschenk haben Patriziat und Adel von Rom Uns a n d er Schwelle des neuen Jahres an läßlich de s heut igen E mpfanges machen wo llen: das sehr w illkomme ne Geschenk Eurer Gegenwart und damit z ugleich das Geschenk d er ergebene n Glückwünsche, geschmückt - ei ner B lüte vergleichbar - mit dem Zeugnis der ererb ten Treue zu m H e ilige n Stuh l, wofür die ehrfurchtsvollen u nd beredten Worte e in neuer B ewe is sind, ge li eb te Söhne und T öchter, die Euer hoher Sprecher Uns so eben e ntbote n hat, ind em er Uns so die sc hon lang erwünschte Ge legen hei t gab, Eurem e rl auchten Kreis die große Wertschätzung zu bestätigen u nd Unsererse its noch zu steigern, deren di eser Apostolis c h e Stuhl Euch s tets fü r wü rdi g erachtet und es auch nie unterlassen hat, dies vor aller Welt auszusprechen.

In so lcher Wertschätzung ist d ie Gesch icht e der vergangene n Jahrhun derte le b e ndig. N icht wenige unter denen , die in diese m Augenb lick Uns umg eben, tragen Name n , die seit Jahrhunderten inn igst verfloch ten s ind m it der Gesch ichte Rom s und de s Paps ttum s in h e ite re n und dunkl en Tagen, in Freude und in Schmerz , im R uhm und in der Verdemütigung, getrage n vo n j e ne r ti efen Ges innung, die hervorbr icht aus der Tiefe eines Glaubens, der mi t dem Blut von de n Vorfahren geerbt w urde, der a lle Prüfungen u nd Stüm1e überdauert und selbst nac h vorübergehende n Verirrunge n bereit ist, w ieder in den We g z um Vaterh aus e inzubiegen. Der Glan z und di e Größe die se r Ewige n Stadt spiegelt s ich und strahlt w ide r in den Familien des Patriziats und des röm isc he n Adel s Die Namen Eurer Ahnen stehen unaus lösc hbar eingezeic hne t in den Anna len einer Gesch ich te, deren Geschehen in vie le r Hins ic ht großen Ante il am Werden und Wachsen so v ieler Vö lke r de r heuti gen Ku ltu rwelt ge habt hat. Obsch on man ohne den Namen Roms und seiner Adelsgeschl e ch t e r selbst die Profa ngesc hi chte v iele r Nationen , Köni gre iche und k a iserlicher Kronen nic ht sc h re iben könnte, so k ehren die Namen des

Patri z iats und des röm ischen Ade ls noc h häufi ge r in der Geschich te d e r Kirche Christi wiede r , die übe r allen irdischen und politisc hen R uhm h i nweg zur höc hsten Größe aufste igt in ihrem s ichtba re n Haupt, das nach der g üti ge n F ügung de r Vorse hung se ine n Sitz an den Ufern des Tibers h at.

Von Eurer Treue zum römisch e n Pontifikat und de r Stetigke it, d ie als ruhmvolles Erbe Eurer Famil ie n Euch a uszeichne t, sehen Wir hi e r vor Uns m it U n seren Augen in dieser e rl auchte n Versamm lu ng in de r g leichzeitigen Gegenwart vo n drei Generationen geradez u ein lebendiges Abbi ld. In jenen unter Eu ch, di e vom Weiß de s Schnees oder des Si lbers die Stirne umrahmt trage n , ehre n Wir die v iele n Verdienste , d ie Ih r durch lange Pflichterfüll ung Euch erworbe n habt und d ie Ihr als S i egestrophäen niederzu legen ge kommen seid, um so dem alle in wahren He rrn und Meister, dem Uns ic htbaren und Ewigen zu huld igen Doch di e meisten von Euc h stehen vo r U ns unt ernehmungsfreudig in d er Blüte der Jugend o der im Glanz des Man nesalters , mit jen em Vo rra t an physisc hen u nd sittlichen En ergie n , d ie Euch fähig un d bereit mac h e n , Euer Können dem Fortschritt u nd d e r Verte idigung jeder g ut e n Sache z u widme n. U nsere Vorliebe g ilt jedoch und wendet sich zu de r hei t eren und läc helnd en Unsch uld der K leinen, a ls L etz te in dies e We lt gekommen, in denen Uns der Ge ist des Evange liums d ie g lüc kli chen Ers te n im Gottes reich e rkennen lä ßt; in ihne n schätze n Wir die arglose Un sc hu ld, den lebhafte n und rei n en G lanz ihrer Blicke, en ge lg leic her Abg la nz der R e in heit ih rer Seelen . S ie sind ohn e Arg, dem Ansche in nach wehrlos; a be r unter dem Za uber ihrer Treuherz igkeit, die Gott n ic ht weniger gefä llt a ls den Mensc he n , verberge n sie e ine Waffe , die s ie w ie der junge Da vid seine Schl e ud e r schon gut zu hand haben w isse n: die schm iegsame Waffe des Gebetes; auch bewa h re n s ie im Köcher ihres noch schw ac he n , a ber sc h on freien Willens e inen wunderbare n Pfeil, das z ukün ft i ge un d s ic here

DOKUMENTE!

Werkzeug für den Sieg: d as Opfer. B ei diesem Reichtum von verschiede nen Alte rsstufen, den Wir in Euch, den treuen H ütern ritterlicher Überl ieferu ng en, mit Freuden festste llen , zwe i feln Wir nicht,ja Wir sind dessen im voraus s ic he r, daß das treue Jahr ein gutes und christl ich g lückli c hes werden w ird. Steht es a uch unter d e m und u rchsic hti gen Schleier, in d en die Zukunft es einhüllt, so werd et Ihr es doch bereitwillig aus den Hän den der Vorsehung en tgege n nehmen w ie e inen jener vers iegelten Briefe, die e ine n B efe h l zu tapferen und heiligen Lebe nskämpfen üb e rmitteln , den der B eam te, mit einem Auftrag besonderen Vertrauen s be d ach t , von seinen Vorgeset zte n empfäng t u nd erst unterwegs öffnen darf. Tag fü r T ag w ird E uch Go tt , d er Euch di eses n eue Jahr in se ine m Diens t beginnen lä ß t, das Verbo rgene e nthüllen; und Ihr w i ß t wohl , daß all d as, was Euch d iese noch geheimnisvo ll e Aufei nand erfo lge vo n Stunden, Tagen und Monaten bringen w ird , nur mit Willen ode r Zulassung j enes himmlisch e n Vaters eintreten wird, dessen Vorsehun g und Regierung der Welt sich in ih ren A nordn u nge n nicht täuscht und fehlgeht. Dürfen Wir es Euch a ber vorent h alten, daß das ne ue J ahr und d ie kommenden Zeitläufe, di e es eröffnet, auch Ge legenheiten z u Kämpfen u nd Mühen und, Wir wo ll en hoffen, auch zu Verdiens ten und Siegen bringen wird? Seht Ih r ni ch t , w ie he u te, we il das Liebesgebot des Evangeliums verka nnt, ge le ugn et u nd ge lästert w ird , in e inigen Teilen der Welt Kriege wüten - wovo r di e gött li che Barmh erz igke it bisher Italien b ewah rt hat, in deren Ver lauf man ganze S tädte in Berge von rauc h e nd e n Trümmern verwa ndelt sie ht und Ebene n mit d e m Reichtum reifender Ernten in eine Gräberstätte von zerfetzten L e ich n amen? Allein auf verlassenen Wege n , im Dunke l nebelhafter Ho ffn u ng irrt furchtsam der Friede; und in seinen Spuren und a uf seinen Schritten machen s ic h in der a lte n und neuen Welt Menschen, die ihm Fre und sind, auf die Suche nach ihm, darum besorgt und darauf bedacht, ihn mitten unter die Mensc hen zurückzuführen auf gerec hte n , zuve rlä ssigen und daue rhafte n Wegen und so in brüde rli che m B emühen um Verständigung di e kühne Aufgabe d es notwendigen Wiederaufbaus vorzubereiten.

An di ese m Werk des W iederaufba u s werdet Ihr, geliebte Söhne und Töc hter, bedeutsamen An te il haben können. Wenn es nämlich sc hon wa hr ist, daß die mo derne Gesellsc h a ft geg e n den Gedanken und selbst gegen den Na m en e ines privi legierte n Standes angeht, so ist es nicht we ni ge r wa hr, daß a uch

DOKUMENTE I

s ie, ähn l ich w ie die a ntik e Gesellschaft, nicht von einem a rb eitsamen und gerade dadurch an den le itenden Kreisen tei lhaben d en Stand wird absehen können. E s steh t daher bei Euc h, in aller Öffentlichke it zu ze igen, daß Ih r se id und se in wo ll t eine e insatzwillige und wirkmächtige Gemeinsc haft. Ih r habt es im übrigen gut verstanden u nd Eure Söhn e werden es noch klarer sehe n und begreifen: niemand kan n s ic h meh r dem ursprüng l ichen und allgeme inen G esetz der Arbeit e n tziehen, so verschieden und v ielfach sie auch sei n mag und unter we lchen Fo rm e n d es Geistes und der Hand s ie a uch erscheinen mag. Daher sind Wir sic he r, da ß Euer hochherziger Edelmut diese hei lige P flicht nicht weniger en t schlossen, nicht we ni ger vornehm sich z u eigen mach en wi rd als Eure großen Verpfl ic htungen als Christen u nd Ed e ll eu te, Nac h fahren von Geschlec h te rn, d e re n Wirksa mk ei t so v ie le marmo rn e Wappen a n Palästen de r Ewige n Stadt und der Provinze n Ita liens verhe r rlichen und an un sere Zeit weitergeben.

Hier handelt es s ic h indesse n um e in Vorrecht, das weder di e Z eit noc h die Mensc he n Euch entre ißen können , wen n Ih r se lbst-dessen w ürdi g - nicht damit einverstanden se id, es zu verl ie ren: das Priv ileg, die Besten z u se in , di e „ Opt imates", n icht so sehr durch die Fülle an Re ic h tümern , die Pracht d er Gewänder, den Prunk d e r Paläste, a ls vie lmehr d u rch die Re in hei t d e r S itten, durch d ie Rech tschaffenhe it d es religiöse n und bürgerliche n L ebens; das Pri vi leg, Patriz ier, ,, patric ii ", zu se in durc h die hohen Ei gensc h aften des Ge istes und des He rze n s; das Priv il eg sc hli e ßlich, ,, nob il es" zu sein, d h. Menschen, deren Na m e wert ist, gew u ßt zu we rd e n , u nd deren Leben als Beisp ie l und z ur Aneife ru ng vo r Augen gestellt w ird

Wenn Ihr so ha nd e lt und darin fo rt fah rt , d a nn w ird durch Euch der ererbte Ade l an G lan z gew inn e n u nd fortlebe n ; und aus den m üden Händ en d er Gre ise w ird in jene kraftvollen Händ e d e r Jugend ü bergehen di e Flamme der Tuge nd u nd der Wirksamkeit, das st ill e und ruh ige Li cht vergoldete r Sonnenuntergänge, das in neuen Morgenröten fü r jede neue Generation wiedererstrah lt, so bald g roßmütige und fruchtbare Best rebu ngen anhebe n.

Das sind, gel ie bte Söhne und Töc h ter, d ie Wünsche, die Wir vo ll zuversichtlicher Hofföun g für Euc h zu Gott erheben, während Wir a ls Unterpfand der erlesensten himmli sc hen Gnaden Euch a llen und e inem jeden von Euch , all Eure n Lieben und allen Persone n, die Ihr im Geiste und im Herzen tragt, Unse ren väterlichen Aposto lischen Segen erteilen 1

I) A 1ifba11 und Entfa ltung des gesellschaftlichen Lebens-Soziale S11111111e Papst Pius XII Herausgegeben von Arthur-Fri do li n Utz OP, Professor der Eth ik und Sozia lphilosophie an der Univers ität Freibu rg (Schweiz) und Joseph-Fulk o GronerO P, Professor der Moraltheologie an d er Univ ersität Freib urg (Schwe iz) - Nihil obstat: Friburgi He lv. , die 5. Maii 1954, G. Meersseman OP, Wyser OP. I mprimatur: Friburgi He lv., die 5. Mai i 1954, N. Lu yten O.P., Friburgi He lv , di e 29. Junii 1954 , R. Pi ttet, v g. Paulusverlag, Freiburg in der Schwe iz , 1954, S. 1609 - 1613. Ansprache an das Patriziat u nd an den Adel Roms , 8. Januar 1940 Original: italienisch.

262

Ansprache vom 5. Januar 1941

Eine Quelle inniger und väterlicher Freude für Unser Herz , geliebte Söhne und Töchter, Eure willkommen e Schar zu sehen, die Uns am Beginn des Jahres umgibt. Eines Jahres, mit nicht weniger furchterregenden Aussichten, als es da s eben vergangene war. Ihr habt Euch versammelt, um Uns über Euren hervorragenden Wortführer kindlichherzliche Glückwünsche zu übermitteln. Di ese Glückwünsche, in ergebener und doch so hochherz iger Form vorgetragen , verleihen Eure r einmütigen und übereinstimmenden Anwesenheit vor Uns hohen We11 und den Ausdruck einer Zuneigung, die Uns besonders willkommen ist.

Im Patriziat und dem römischen Adel erken nen und lieben Wir e ine Schar von Söhnen und Töchtern , die auflhr Treueverhältnis zur Kirche und zum Heiligen Vater stolz sind Ein Verhältnis, ve rerbt durch die Vorfahren, dere n Li ebe zum Stellvertreter Christi aus d e n tiefsten Wurzeln des Glaubens erwachsen ist und weder durch den Ablauf der Zeit , no ch auf Grund der, von Menschen und Zeitumständen abhängigen Zufälligke iten de s Lebens nachgelassen hat. In Eurer Mitte fühlen Wir uns noch m e hr als Römer, auf Grund gemeinsamer Lebensgewohnheiten und der Luft, die wir geatmet haben und noch immer atmen. Unter dem gleichen Himmel und dem gleichen Sonnenschein lebend, an den g leichen Ufern des Tiber, wo auch Unsere Wiege stand, auf der gleichen Erde, die bis in den le tzten Winkel h ei lig ist und aus der Rom für seine Kinder den Schutz ei ner Ewigkeit, die bis an den Himmel reicht, immer auf's neue sc höpft.

Es ist wohl wahr, daß Christus , un se r Herr, es vorgezogen hat , zum Troste der Armen, auch als Armer a uf di e Welt zu kommen und in der Familie eines e infachen Arbeiters a ufzuwach se n. Es ist aber ebenso wa r, daß Er durc h die Umstände seiner Geburt das vornehms te und edels te Geschlecht Israels, das Haus Dav id , au sgezeichnet hat.

Aus di ese n Grunde und getreu de m Geiste Desse n, dessen Stellvertreter s ie s ind, hab en die Päpste das Patriziat und den Adel von Rom imme r hochgeschätzt, deren Gefühl unwandelbarer Sympathie für den He iligen Stuhl den we rtvollsten Teil des Erbes darstellt, welches s ie von den Vorfahren übernomm e n und an ihre Kinder weitergegeben haben.

Das Erbe ist eine großa rtig e und geheimnisvolle Sache. Es bedeute t , daß in einem Geschlecht und über Generationen hinweg, ei n reicher Schatz mate ri e ller und gei stiger Güter weitergegeben wird. Daß das g leiche äußere Ersc he inungsb ild und di e gleiche moralische Haltung vom Vater auf den Sohn übergeht. Jedoch ist es möglich, daß die Tradition, die - über Jahrhunderte hinweg - die M itglieder e ines Gesch lechtes verbunden hat, eben dieses Erbe, wie Wir gesag t haben, durch den Einfluß mate ri e lle r Theorien entstellt werden kann. Man kann, man muß es sogar, di ese sosehr bedeutsame

Tatsache in ihrem ganzen Umfang menschlicher und übernatürlicher Wahrheiten bedenken.

Sicher kann man es nicht leugnen , daß bei der Weitergabe vererbba re r Eigenschaften materielle Vorgänge mitspielen. Diese Tatsache erstaun! ich zu find e n , hieß e die intime Verbindung zwischen u nserer See le u nd dem Körper zu vergessen. Ebenso, daß sogar hochgeistige Tätigkeiten weitgehend von unserem körperlich en Tem p era m ent beeinflußt werden. Deswegen weist die christlic h e Morallehre die Eltern a uf die große Verantwortung hin , die s ie in di ese r Beziehung haben.

Da s wertvollste aber ist das geistige Erbe. Dieses wird nicht sose hr über die geheimnisvollen Verbindungswege materieller Schöpfung weitergegeben, als vi e lmehr durch den dau ernden Einfluß einer ausgezeichneten, fa mili ä re n Umgeb ung. Entscheidend für das Ergebnis ist e ine langsame und g ründliche seelische Entw ic klung in der Umgebung eines Vaterhauses , das reich an geis t igen , moralischen und vor allem, christlicher Tradition ist. Wic h tig ist a uc h der gegenseitige Ei nflu ß derer, d ie unter dem gleichen Dache wohnen, e in Einfluß , de ssen wohltätige Wirkung weit über die Kinderjahre und Jugendzeit h inausge ht und bis an da s Ende ei nes langen Lebens reicht. Auf diesem Wege e ntwick eln s ich auserwählte Geister, die in sich selbst die Schätze eines we11vo ll en Erbes mit ihre n e ige n e n Vorz ügen und Lebenserfahrungen zu verbinden wissen.

Das ist das, üb er alle Maßen, wertvolle Erbe, welches, e rl e uchtet durch e inen festen Glauben, b elebt und erfrischt durch dauerndes und t reues Leben im Geiste Christi und durch die E rfüllung se in er Forderungen, die Seelen Eurer Kinder erheben, vervo ll komm nen und bereiche rn w ird

Wie jedes wertvolle Erbe, erfo rdert auch diese s die Erfüllu ng s tre nger Pflichten Sie s ind umso strenger, je reicher das Erbe ist. In erster L inie sind es zwe i Verpflic ht un ge n:

1) die Pflicht, die se Schätze n icht zu ve rschwe nd en, s ie unbeschädigt we iterzu geben an di e, die nach un s kommen und sie, wenn möglich , n och zu verm ehren. Das he ißt im besonderen , de r Ve rführun g zu wi de rstehen, in diesen Gaben nichts we ite r zu sehen a l s e in Mittel dazu, um ein leichteres , angenehmeres, vornehmeres und e rfolgre ic here s Leben zu führen ;

2) di e Verp flichtun g, diese Schätze nicht nur fü r sich se lb st z u behalten, sondern auch den von der Vorsehung wen iger re ich bedac ht en M e nschen a bz u ge ben und so durch sie umfangre iche Vorteile zu gewähre n.

Geliebte Söhne und Töchter, di e edle n C harakterzüge der Wohltätigkeit und edler Tugenden habt Ihr von E uren Vorfahre n geerbt. Von ihrem Ede lm ut legen die Denkmäler und Paläste, die Hospi ze und Asyle und di e Spitäler Roms Zeugnis ab. Ihre Na -

DOKUMENTE I 263

men und das An d enke n a n s ie sprec h en zu uns über ihre b eglückende und fürsorgliche Güte, den Unglüc klic hen und Hilfsbedürftigen gegenüber.

Wir w isse n sehr wohl, daß das Patr iz iat und der römi sc he Adel es ni emals - solange e s die M öglichkeiten j edes Einze ln e n erlaubten - am rühmenswerten Eifer, Gutes zu t un, h abe n fe hl en lassen. I n dieser so sch merzlichen Stunde aber, da d e r Himme l von Unruhe und Sorgen verdunkelt i st , werden diese Ed len mehr als je zuvor in s ich den Antrieb zu tätig e r Nächst e nl iebe vers pü ren , der da z u anspo rn t, die schon bisher erworbenen Verdienste bei der Bekämpfung des menschliche n Elendes z u vermehre n. Di es, so lange Ihr e in ernstes u nd genügsames Leben führt, da s j e de Leichtfertigkeit oder frivole Vergnügungen ausschließt, die für e in nobles H e rz, für Anbetracht von soviel me n sc hli c he m Le ide n , undenkba r s ind. Unzä hl ige Möglic hkeite n, e del zu handeln w ird E uc h das neue Jahr bieten, nicht nur im Kreise Eure r Famil ie n , so n de rn auch außerh a lb! Wie viel neue E insa tzmögl ichkeite n für Eure Hilfsbereitschaft und den Willen, Gutes zu tun! Wie v iele im Verborgenen vergossene Trä nen g ilt es zu troc kn e n ! Wi e v ie le Leidenden zu trösten! Wie v iel körp e rli c he un d seelische No t zu lindern!

Was U ns das eben begonnene Jahr bringen w ird , ist Gottes Geheimnis. Geheimnis Gottes, der weise und fürso rg lich die Wege de r Kirc he u nd des Menschengeschlechtes zu j e nem End e führt, an d em Seine Gerechtigkeit un d Barmherzigke it s iegen werden. Es ist aber Unsere Sehnsuch t, Unser Wunsch für die Z ukunft und darum beten Wir, daß d er Welt ein dau e rnd e r, ge rec ht e r Friede in Ruh e und Ordnung geschenkt werde. Ein Fri eden, d er a lle Völker und Nationen b eglü c ken möge und lachende Gesichter überall wieder zurüc kbringt. E in Frieden, der die dankbaren Herzen d en hö chs ten Lob gesang für unseren Gott des Frie dens a ns timmen läßt, den Wir in de r Krippe zu Bethlehem a nbeten.

DOKUMENTE!

In diesen Unseren Wun sc h, gelieb te Söhne und Töchter, schließe n W ir d ie Hoffnung ein , daß die ses Jahr n ich t ung lücklich, sondern fü r Euch alle, glüc kbringend sein möge: Für Euch, über deren Anwesenheit hie r Wir un s freuen, und die Ihr Un s e in Bild aller A ltersst ufen geb t , und die Ihr, unt e r Gottes Schutz st eh end, durch Euren Einsa tz im privaten und öffe ntl ichen Leben für E uer Handeln höc h stes Lob ve rdient. Für die e hrwü rdigen Alten, Bewahrer nob ler fam il iäre r Traditione n , kluge und e rfahre ne Wegweiser für die Jü ngere n , für Väter un d Mütter, die für ihr e Söhne und Töchte r Be isp iel und Meister der T ugenden s ind. Fü r die Ju gend, die saube r, ges un d und fl eißig, in Gottesfurch t heranwachsend , die Hoffnung ihrer Fam ili e n un d des ge li ebten Va te rl andes sein möge. Für die Kleinen , die von Plänen für die Zukunft trä um en, be i den Spie len ihre r Kindheit. Für Euch alle, di e Ihr de r Eintracht und des G lüc kes im Schoße Eurer Familie teilhaftig seid, bieten Wir u nsere väte rl ichen und he rz lic hen Glüc k wünsche dar. Für e in Glück, das den Wünschen vo n jed e m und jeder vo n Euch entspricht, wobei Ih r desse n eingedenk sein s ollt, daß jeder Un serer Wünsc he von Gott beurte ilt und danach gewer tet w ird, w ie s ie a m besten unserem H e ile diene n. Dabei wiegt im a ll gemeinen schwerer, was Gott Uns zugeste he n w ill , a ls da s, was Wir un s selbe r wünschen. Das ist der Inhalt Un se res Gebetes , das W ir, a m B egi nn dieses Jahres zu Gott, un se re n H e rrn , erheben. Zum Beg inn e ines Jahres , hinte r desse n undurchsichtigen Schle iern Gottes Vorsehung das Un iversum ebe n so liebevoll reg iert, lenkt und führt, wie di e kl e ine Welt de r Me nsche n. W ir e rbitten fü r Euch den Re ichtum der Gnaden Gottes, für alle und für jeden e in zel nen von Euch, di e Ihr Uns alle li eb und we rt se id und fü r die , die Ihr in Eu re n Gedanken und Herze n bewahrt. E uch alle n gewähren Wir Unse r en vä t erl ichen, Apostolisc hen S(}ge n.1

Ansprache vom 5. Januar 1942

Die Glückwünsche, die Euer erlauchter Sprecher, geliebte Söhne und Tö chter, mit e r habe nen Worten Uns vorgetragen hat, wollen in Eurem Geist vor a lle n Dingen di e kindliche Anhänglichke it an d e n Apostolischen Stuhl zum Ausdruck bri nge n , di e Euren Glaub e n beseelt und der schönste Ruhm des römischen P a triziats und Adels ist. Wir danken Euc h hochherzig und leb ha ft d afür. Un d Unsere Gegenliebe üb erschüttet Euch verdienterm aßen mit Unseren Glückwünschen für Euch und Eure Familien und bezeugt Euch dadurch no c hm als Unsere da nkbare und außerordentliche Gewogenhe it ange-

sich ts der so lebend ige n Be kundun g Eurer althergebrac hten Treue zum Ste ll vertreter Christ i

Wenn diese s kindlich e und väte rli che Zusammentreffen im H a us de s geme insamen Vate rs auch n ic ht e rstmalig ist, so ka n n die Macht der G ewo hnheit ihm do ch nicht seine Köstl ichke it und Anmu t nehmen, w ie ja a uch die Wiederkehr der Weihn achtsta ge de ren religiöse F re ud e nicht sc hwächt, n oc h das Heraufste igen des Neuen Jahres den Horizon t d er Hoffnungen ve rd un ke lt.Gl eich t da s immer w iede r ne ue A ufleb e n der Fre ud e etwa ni c ht dem immer wied erke hre nd en Neubeg in n de s Tages, des

264
1) (Discors i e Radiom ess aggi di Sua Santita Pio X!/, T ipografi a Poliglotta Vat ica na, 5.1.1941, S. 363-366.)

DOKUMENTE!

Jahres und des Wachstums in der Natur? Auch der Geist hat se in Neuwerden und seine Wiedergeburt. Wir werden wiedergeboren, wir leben von neuem auf, wenn wir die Geheimnisse unseres Glaubens fe iern Und in der Grotte von Bethlehem beten wir von neuem das Jesuskind an, unseren Erlöser, das Licht und die Sonne der Welt, wie aufunseren Altären das immerwährende Golgotha des aus Liebe zu uns gekreuzigten und ste rbenden Gottme nschen erneuert wird.

Ihr laßt Eure Vorfahren neu aufleben , inde m Ihr sie ins Gedächtnis zurückruft. Und Eure Ahnen leben wieder auf in Euren Namen und in den Euch hinterlassenen Titeln, den Zeugen ihrer Verdienste und Großtaten. ,,Patriziat" und „Ade l", sind dies etwa nicht zwei Worte, ruhmbeladen und bedeutungsvoll: ,,Patriziat" und „Ade l" dieses Roms, dessen Name die Jahrhunderte überdauert und in der Welt strahlt als das Siegel des Glaubens und der Wahrhei t , die vom Himmel herabgestiegen ist, um den Menschen zum Himmel zu erheben?

Menschlich betrachtet, weckt der Name „Römisches Patriziat" in Uns die Erinnerung an d ie gentes des Altertums, deren erste Anfänge sich im Nebel der Sage verlieren, die jedoch im hellen Licht der Geschichte als Erkenntnis- und Willenskräfte zutage treten, denen die Macht und Größe Roms in den glorre ichen Zeiten der Republik und des Kaiserreichs wesentlich zu ve rdanken ist, als die Cäsa ren in ihr en Befehlen noch nicht Willkür an Stelle der Vernunft setzte n. Die ältesten Römer wa re n gewiß unge bildete Menschen, aber durchdrungen vom Verantwortungsbewußtsein für das Los der Urbs, ihre eigenen Interessen mit denen der res publica in eins setzend, ihre weitgesteckten und kühnen Ziele verfolgend mit einer Beständigkeit und Ausdauer, Weisheit und Tatkraft, die sich unentwegt treu blieben. Sie erwecken auch heute noch die Bewunderung eines jeden, der sich die Geschichte jene r fernen Zeiten wieder vor Augen führt. Es waren die patres und ihre Nachkommen - ,,Patres certe ab honore, patriciique progenies eorum app ellati" [Livius I, 8, n. 7: ,,Patres werden s ie ge wiß de r Ehre wegen genannt, patricii ihre Nachkommenschaft"] die mit dem Patriziat des Blutes den Ad el der Weisheit, der Tapferke it und der bürgerlichen Tugend so zu verb inden wußten, daß s ie de n Plan faßten u nd auch verwirk li chten, e ine Welt z u erobern, di e Gott gegen ihren Wille n e in es Tages nach seinem ewigen Ratschluß in e in vo rb ereitet es und a u sgedehntes F eld heilige r Kämpfe und Siege für die Helden seiner Frohbotschaft verwandelte, während e r a us der Urbs das Rom der christusgläubigen H ei denvölker machte und auf den stummen D enkm älern der heidnisch e n pontifices maximi den Pontifikat, da s ewige Hohe priestertum und Le hram t Petri , e rri c hte te. Daher kommt es, daß die Bezeichnung „ Römisches Patriziat" , christlich, übernatürlic h betrachtet, in Unserem Ge is t noch e rh abenere gesch ic h tli-

ehe Erinnerungen und Bilder weckt. Wenn der Name patricius im heid ni schen Rom erken nen ließ, d aß jemand Ahnen besaß und nicht einer S ippe gewöhnlicher Art, sondern einer bevorrechtigten und herrschenden Gesellschaftsschicht angehö rte, so nimmt er i m christlichen Licht einen noch helleren Glanz und e inen noch volleren Klang an, indem zu r berühmten Abstammung die gesellschaftl iche Machtstellu ng hin zutritt. Der Name patric ius bezeichnet ein Patriziat des christlichen Roms, dessen höchster und ältester Glanz nicht etwa im Blut begründet wa r, sondern in der W ü rde, Beschützer Roms und der Kirche zu sein. Patriciu s Romanorum ist ein Titel , der se it de r Zeit der Exarchen von Ravenna bis zu Karl dem Großen und Heinrich III. getragen wurde. Jahrhund e rte hindurch hatten di e Päpste bewaffnete Beschützer der K irche, die aus den Fami lien d e s Römischen P atriziats stammten. Und Lepanto bezeichnete und verew igte eine n ihrer großen Namen in den Annalen der Geschichte. Heute, ge lie bte Söhne und Töc h ter, sind das Röm ische Patriziat und der Röm ische Adel berufen, die Ehre der Kirche zu sc h ützen und zu verte idigen mit der Waffe einer strahlenden s ittlichen, sozialen und rel ig iösen Tugendhaft igkeit, die mitten unter dem römischen Volk und vo r der Welt ihr Licht leuchten läßt.

Die sozia len Ungleichheiten, a uch die mit der Geburt ve rbu ndenen, s ind nicht zu vermeiden. Die Güte der Na tur und Gottes Segen für die Menschheit leuchten über den Wiegen, beschützen un d liebkosen sie, machen sie aber ni cht gle ich. Betrach te t die Gesellschaft in den Ländern, wo sie a m un erbittli chsten e in geebnet worden ist! Kein Mittel konnte erreichen, daß der Sohn eines großen Herrsc hers, e ines großen Volksführers durchweg auf derselben Ebene wie ein unbekannter, im Volk verlorener Bürger geblieben is t. Diese un verme idbaren Ungleichheiten können - vom heidnischen Standpunkt aus gesehen - a ls e ine unerbittliche Fo lge des Klassenkampfes ersche ine n, als eine Folge der von den e ine n über die ande ren e1rn ngenen Macht, als eine Folge der blinden Gesetze , die angeb lich das me n sc hl ic he Tre iben bestimmen und den Triumph der e inen w ie auch die Not der anderen herbeiführen. Ein christlich unterric hteter und erzogener Geist dagegen kann sie nur a ls gottgewollte Anordnung betrac hten, di e a uf dense lben Ratschluß zurückgeht , der den Ungleichheiten im Rahmen der Familie zugrunde li eg t, die de s halb daz u bes timmt sind, die Mensche n auf d e m Weg des gegenwärtigen Lebens zum himml isc he n Vaterland stä rker miteinander z u ve re inen, indem einer d em andern hilft, wie d er Vater der Mutter und den Ki ndern hilft.

D aß diese, wenn auch väterlich a u fgefaßte gesellschaftliche Überlegenheit infol ge der aufei n anderprallenden menschlichen Leidenschaften di e Geister biswe ile n auf Irrwege in den Bez iehungen

265

zwischen Hoch und Nieder gedrängt hat, ist in der Geschichte der gefallenen Menschheit nicht erstaunlich. Solche Entgleisungen können die grundlegende Wahrheit nicht abschwächen oder verdunkeln, daß für den Christen die sozialen Ungleichheiten in der großen menschlichen Familie begriind et s ind, daß also die Beziehungen zwischen den Klassen und Ständen von e iner ehrlichen und gleichen Gerechtigkeit bestimmt und z u gleicher Zeit von gegenseitiger Achtung und Liebe beseelt bleiben müssen, die - ohne die Unglei chhei te n gewaltsam aus der Welt zu schaffen - ihren Abstand verringern und ihre Gegensätze mildem so ll e n. Sehen Wir etwa in den wahrhaft christlichen Familien die größten unter den Patrizie rn und Patri zierinne n nicht wachsam und eifrig daraufbedacht, ihrer Dienerschaft und ihrer ganzen Umgebung gegenüber eine Haltung zu bewahren, die zweifellos ihrem Stande entspricht, aber von jeder Überheblichkeit frei ist und j enes Wohlwollen und jene Höflichkeit in Wort und Benehmen anstrebt, die den H erze n sadel unter Bewe is s tell en? Erblicke n sie in den anderen nicht Menschen, Brüder Christi und Christen wie sie selbst, die mit ihnen in Christus durch die Bande der Li ebe vereinigt sind, jener Liebe, die auch in den ererbten Palästen bei Hoch und Nieder, am meisten in den hieni ede n nie fehlenden Stunden der Trübsal und des Schmerzes, da s Leben tröstet, erleichtert, erfreut und versüßt?

Ihr, geliebte Söhne und Töchter, da s Römi sc he Patriziat und der Römische Adel , Ihr in diesem Rom, dem Mittelpunkt der Christenheit, in der Mutter- und Hauptkirche aller Kirchen der katholischen Welt, versammelt um jenen, den Christus zu se ine m Stellvertreter und zum gemeinsamen Vater a ll er Gläubigen gese tzt hat - Ihr seid von Gottes Vorsehung auf eine hohe Wai1e gestellt, damit Eure Würde vor der Welt erstrahle in der Ergebenheit zum Stuhl Petri als Vorbild bü rgerlich er Tugend und christlicher Vollkommenheit.

Wenn j e der gesellschaftliche Vorrang Aufgaben und Pflic hten mit sich bringt, so verlangt die

DOKUMENTEI

durch Gottes Hand Euch zute i l gewordene Sonderstellung gerade in der a ugenblicklic hen schweren und stunnerfüllten Stunde - einer Stunde, die von den Entzwe iungen und schreck lichen Kämpfen der Menschheit verdüstert wird, einer Stunde, die zum Gebet und zur Buße ruft , die in allen die Lebensweise umgestalten und verbe ssern, dem Gesetz Gottes gleichförmiger machen mö ge, wie es ohne jeden Zweifel die gegenwärt ige Not und die Ungewißheit, welche Gefahren bevo rste hen, un s dringend nahelegen - (Eure Sonderstellung) verla ngtmöchten Wir sagen - von E uch: ein vollendetes christliches Leben, ein tadelloses und strenges B enehmen, höch ste Treue gegenüber all Eure n Familienpflichten und all Euren privaten und öffentlic hen Obliegenheiten - Tugenden, die nie verb lassen, sondern klar und lebe ndig vor den Augen jener le uc hte n , die E uch se hen und beobachten , denen Ihr durch Euer Hande ln und Euren Wandel nicht nur den Weg zum Voranschreiten im Guten weisen, sondern auch zeigen müßt , daß die schönste Zier des Römischen P atr iziats und Adels die überragende Tugend ist.

Während Wir nun das demütige w1d aime J esuskind, den Sproß aus königlichem Stamm, den menschgewordenen König de r Engel und der Menschen, bitten, daß er Euch bei der Erfü llun g der Euch übertragenen Sendung lenke und leite, Euc h mit seiner Gnade e rl euchte und stärke, erteilen Wir Euch aus inners tem Herzen, geliebte Söhne und Töchter, Unseren väterlichen Apostolischen Sege n, den Wir mit der Abs icht geben, daß er sich auch auf alle Eure Lieben ausbreite und dauernd niederlasse, besonders aufjene, die nicht unter Euch weilen, die zur Erfüllung ihrer Pflic hten in Gefahren sc hweben, denen sie mit einem dem Adel ihres Blutes gleichkommenden Mut e ntgegengehen, die v ie lle icht ve1wundet, ve1mißt oder gefangen sind. Dieser Segen steige herab und sei für Euc h Balsam, Trost, Schutz und Unterpfand der erle sensten und reichsten Gnaden und himmlischer Hilfe, für die gequälte und ersc hütte11e Welt aber Hoffnung auf Ruh e und Frieden. 1

Ansprache vom 11. Januar 1943

Wie könnten Wir, geliebte Söhne und Töchter, auf die heißen Glückw ün sche, die das erhabe ne Wort Eures erlauchten Sprechers in e urem Namen Uns dargebracht hat, nicht antworten mit den Wünschen, die Wir für Euch z u Gott empor senden? In die se m Augenblick empfinden Wir einen süßen Tros t, eine tiefe Freude, die nicht von der Traurigkeit der gegenwärtigen Stunde erstickt wird. D enn in Euch sehen Wir in gewissem Sinn Unser ganzes geliebtes Rom vor Uns vertreten. Zu einer so über-

ragenden Stellung hat Euch die H and der göttl iche n Vorsehung im Laufe der Geschichte e rhob en Ihr seid Euch dessen bewußt und e mpfind et zug leich e inen berechtigen Stolz und ein Gefühl schwerer Verantwo1tung.

Durch das Vorrecht de r Geburt ha t Euch Gottes Ratschluß hin ges t e llt wie e ine Stadt auf e inem Berg. Ihr könnt a lso nicht verborgen bleiben [vgl. Matth. 5, 14]. Sodann hat er euc h bestimmt, mitten im zwanz igs t e n Jahrhundert zu leben, gegenwärt ig

266
1) Utz-Groner, S. 1614- 1619.

DOKUMENTE!

in T agen de r En tbehrung und der Not. Wenn Ihr noch immer auf hoher Warte s te ht und von hoher Watte aus ge b iet e t , so gesc hi e ht es nicht mehr n ach der Art Eurer Vo rfa h ren. E ure Ahnen saßen auf ihren Fe lsen und in ih ren einsame n , schwer zugänglichen, gewaltig befestigten Burgen, in Türmen u nd Sc hlössern, die ü be r ganz Ita lien, auch über die Umgebung Roms zerst reut s ind . Dort h atte n sie eine Z uflucht gegen die Angriffe der Neben buhler und Missetäter. Dort planten und sc hu fen sie die bewaffnete Abwehr. Von dort stiegen sie hi n ab, um in de r Ebene zu kämp fen Betrachtet in der Geschichte die großen Namen: die Namen, d ie Ihr tragt, die berüh m t geworden sind dank kriegerischer Tapferkeit, dank soz ialer Verdiens te, die jedes Lobes we rt und von große m N utze n waren, dank religiö se n E ifers und anerkannte r Heiligkeit! W e lche und w ie viele E hrenkränze umw inden d iese Namen! Das Volk hat s ie besu ngen und verherr licht durch die Stimme se iner Chro ni sten und Dic hter, durch die Hand seiner Künstler. E s hat aber auch verurtei lt u nd verurteilt alleze it m it einer unerbittlichen Strenge, die m itunte r bis zu r Ungerechtigkeit geht, ihre Irrtümer und Freveltaten. Wen n Ihr den Grund dafür sucht, so findet Ihr ihn in dem hohen Amt, in der veran twortlichen Stellung, di e sich ni c h t verträgt mit Sünden und Fehlern, ja noch nicht e inma l mit e ine r allgemein üblichen Ehrbarkei t oder einer bloßen , gewöhn li chen Mittelmäßigke it.

Die Verantwortung , die Ihr , ge li ebte Sö hne und Töchter, und der Ade l üb e rhaupt, dem Vo lk e gegenüber tragt, ist heute ni c ht we ni ge r sc hwe r a ls jene, die - w ie di e Geschichte le hrt - sc hon a u f Euren Vorfahren in vergangenen Jahrhunderten gelastet hat.

Wenn Wir üb e r die Völker, d ie e ine zeitla ng e inig und e inträc htig den ch ris tli c he n G la uben und die christliche Kultur pflegten, e ine n Blick we rfen, so sehen W ir heute we ithi n religiöse und sit tliche Trümme rfe lder, so daß es im alten christ l iche n Abend land nur sehr we ni ge Gegenden g ibt, in den e n d ie Law ine de r ge istige n Umwälzung ke ine Spuren d er Verwüstu ng hint erlassen hat.

Nicht a ls ob nu n alles und alle d ad urch schon zermalmt oder erdrüc kt wo rde n wären! Viehme hr zögern wir nicht zu behaupten, daß sel ten im Laufe der Gesch ichte die Lebendigkeit und Entschlossenh e it des Glaubens, d ie Hingabe an Christus und die Bere itschaft, die Sache Christi zu ve rteidi gen, in de r k a tholi sch e n Welt so deutlich s ichtbar und so mächtig waren w ie h eutzutage, und zwa r in e inem so h ohe n Maße, da ß man in mehr a ls eine r Hinsicht einen Vergleich mit den ersten Jahrhund erten d er Kirche wagen da rf. A llerdings zeigt s ich bei di esem Vergle ich auch die Kehr se ite der Sache. Die chris tliche Front st ößt auch heute gege n eine n ichtch ri stliche Ku ltur, j a soga r in unserem Fall gegen eine Ku ltur, die s ich vo n Christus entfernt hat. Dadurch ist die Lage gegenü ber den ersten J ahrhunderten des Ch ristentums e rh e bli c h sc hwi eriger. Die E nt-

chris t lichung ist heute so stark und kü hn, daß sie es de r geis ti ge n und religiösen Atmosphäre nur zu oft sc hwer macht, s ich auszu breiten und s ich - völlig gefe it - vo n ihrem gift igen Hauch fre i z u halten

Dennoch ist es a ngebrac ht, daran zu erin ne rn, daß d ieses Abg le iten in de n Unglau ben und in d ie Gottlosigke it n ic ht von unte n , sondern von oben ausgegangen ist, d as heißt vo n den führenden Kla sse n, von den höheren Schichten, vom Ade l , von den Denk e rn und Ph ilosophen. Woh lgeme rkt, Wir sprec he n hi er ni cht vom gesamten Adel und noc h weniger vom römischen Adel, d er sich weithin durch seine Tre ue zu r Kirche und zum Aposto li schen Stuhl ausgezeich net hat. Dafür legen ja die beredten und kindlich e rgebenen Worte, die Wir soeben vernahmen, von ne uem strah len d Zeugn is ab . W ir sprec hen vom europäischen Adel im allgemeinen. Zeigt s ich wäh rend der letzte n Jahrhunderte in Europa etwa nicht e ine innere Entw ic klu ng, d ie sozusagen horizontal und vertikal , in waagrechterund in senkrechter Richtun g, den Glauben immer we iter niederr iß und untergrub ; e ine Entw icklung, die zu jener Zerstörung führte , die Uns heute e ntg egentri tt in ungeheu ren Massen von Menschen , d ie entweder di e Reli g ion abweisen oder bekämpfen, zum indest aber gegen übe r dem Übernatürlichen u nd dem C hr istentum von ei ner tiefsi tzenden und abso n derli c h begründete n Zweifelssuch t besee lt un d irregele ite t sind?

Vorhut d ieser E ntw icklu ng war di e sogenannte protestantische Reformation, in deren Unternehm ungen un d Kr iegen ein großer Te il des e uropäisc hen Ade ls s ich von der Ki rche tren n te und deren Bes itztüme r a n sich r iß . Doch der Ung la ub e im eige ntli chen Sinn verbrei t e te s ic h im Ze ita lter der Fra nzösische n Revolution. Die Gesc h ichtsschreiber bemerke n , daß d e r Athe ismus - a uc h i n der Verkleidung des De is mu s - damals rasch b e i de r hohen Gese llschaft in Frankreich und anderswo um sich griff. An Gott und an de n Erlöser gla ub en, war in jen er allen Sinnes freud en hing egebe nen Welt geradezu lächerlic h und für die gebildeten, neuigkeitsund for t schrittshungrigen Ge ister unpassend geworden.

In de n meisten „Salons" der größten und feinsten Damen, wo die kühns t en Prob leme der Religion, Phi losophie und Politik e rö rtert wurden , betrachtete man jene Schrifts te lle r u nd P hi losop h en, die um stü rzlerisch e Le hren b eg ünsti g ten, a ls den schö n ste n un d begelutesten Schmuck jener we ltmännisch e n Zirke l. Die Gottlos ig keit war beim hohen Adel Mode. U nd die be liebteste n Schrifts te ller wären bei ihren Angr iffen gegen di e R eligion ni cht so keck gewesen , wenn s ie nicht de n B e ifa ll und die Ermunterung der vornehmst en Gese ll schaft erfahren h ätte n. Nicht a ls ob der Adel und di e Ph i losophen s ich allesamt und geradewegs d ie Entchristl ich un g der Masse n zum Z iel gesetzt hä tten! Im Geg entei l, als B eherrschungsm itte l in de r Ha nd des

26 7

Staates sollte die Religion im einfachen Volk erhalten bleiben. Sie selbst aber erachteten und fühlten sic h über de n Glauben und sein e sittlichen Gebote erhaben. Dies war natürlich eine Politik, die - schon vom psychologischen Standpunkt aus betrachtets ich sehr schnell als kurzsichtig und verhängn isvoll erwies. Mit unerbittlicher Logik versteht das Volkstark im Guten, schrecklich im Bösen - die praktischen Schlüsse aus seinen Beobachtungen und Urteilen zu ziehen, mögen diese nun richtig oder falsch sein. Nehmt die Kulturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte zur Hand! Sie zeigt und beweist Euch, welche Schäden für den Glauben und die guten Sitten das von oben gegebene schlechte Beispiel, die religiöse Frivolität der oberen Schichten, der offene Kampf gegen die geoffenbarte Wahrheit a ng eric hte t haben.

Welchen Schluß sollen Wir nun aus diesen Lehren der Geschichte ziehen? Daß die Rettung von dort ausgehen muß, wo die Zerrü ttu ng ihren Anfang nahm. Im Volk die Religion und die guten Sitten zu erhalten , ist an und für sich nicht schwer, wenn die oberen Klassen mit ihrem guten Beispie l vorangehen und öffentliche Verhältnisse schaffen, die das christliche Leben nicht übennäßi g schwer, sonde rn nachahmbar und beglückend machen. Ist das e twa nicht Eure Pflicht, geliebte Söhne und Töchte r, die Ihr kraft des Adels eurer Familie und der Ämter, die Ihr nicht selten bekleidet, zu den führenden Klassen gehört? Die große Sendung, die Euch und mit Euch nicht wenigen andere n bestimmt ist, mit der Erneuerung oder Vervollkommnung des Privatlebens bei Euch selbst und in Eurem Haus anzufangen und dann jeder an sei nem Platz und zu seinem Teil Euer Möglichstes zu tun, eine christliche Ordnung im öffentlichen Leben aufzubauen, - diese große Sendung gestattet weder Aufschub noch Verzögerung. Es ist fürwahr eine höchst edle und verheißungsreiche Sendung in e inem Augenblick, in dem als Gegenwirkung wider den verheerenden un d ern iedrigenden Materialismus ein ne ue r Du rs t nach den geistigen Werten unter den Massen, wider den Unglauben aber eine neue Aufgeschlossenheit der Geister für religiöse Dinge sichtbar wird. Dies sind gewiß Zei tersche inunge n , die hoffen lassen, daß der T iefpunkt des inneren Zerfalls nunmehr überwunden und übe rschritten ist. Euch also gebührt die Ehre, durch das Licht und den Anreiz des über jede Mittelmäßigkeit sich erhebenden guten Beispiels sowie durch gute Taten dazu beizutragen, daß diese mutigen Unternehmungen und diese Bestrebungen zum Besten der Religion und der menschlichen Gesellschaft glücklich zum Ziel gelangen.

Was sollen Wir sagen von der Wirkkraft und Macht der großmütigen Seelen aus Eurem Kreis, diedw-chdrun gen von der erhabenen Größe ihrer B erufung - ihr Leben ganz und gar der Aufgabe geweiht hab en,

DOKUMENTE!

das Licht der Wahrheit und des Guten zu ve rbreiten, von den grands seigneurs de la plume - ,,großen Herren der Feder", w ie man sie nennt, von den großen Herren der ge istigen, sittlichen und religiösen Aktion? Unsere Stirnme vermag sie nicht gebührend genug zu preisen. Ihrer ist das hohe Lob guter und getreuer Knechte, die mit den ihnen anvertrauten Talenten außergewöhnlich reiche Frucht bringen.

Wir möchten gerne hinzufügen, daß der Ade l sich nicht damit zufrieden geben darf, wie ein Leuchtturm zu strahlen, der zwar den Seefahrern Licht gibt, s ic h selbst aber nicht von der Stelle rührt. Eure Würde besteht darin, von der Höhe des Berges, auf die Ihr gestellt seid, Ausschau zu halten, stets bereit, in der tiefen Ebene alle Qualen, Leiden und Nöte zu erspähe n, um alsbald hinabzusteigen, eifrig darauf bedacht, als mitleidige Tröster und bereite Helfer sie zu lindem. Welch ein weites Feld öffnet sich in diesen unheilvollen Zeiten für die Hingabe, den Eifer und die Nächstenliebe des Patriziats und des Adels! Welche und wie viele Tugendbeispiele erlauchter Namen werden Eurem Herzen dabei Mut einflößen! Gewiß, wenn die Verantwortung angesichts der Not groß ist, dann ist die Tat des hochherzigen Helfers umso glorreicher. Auch werdet Ihr dadurch der Erhabenheit Eures Standes immer mehr g leichkommen. Denn der hinunlische Vater, der Euch auf auße rordentlich e Weise zur Zuflucht, zum Licht und zur Hilfe der ktunmervollen Welt bestimmt hat, wird nicht verfehlen, Euch in Fülle und Überfülle Gnade zu schenken, damit Ihr Eurer erhabenen Berufung würdig e ntsprec hen könnt.

Fürwahr, Ihr habt wirklich eine erhabene Berufung, in der sich der christliche Geist und das Standesbewußtsein vereinen und Euch dazu drängen , jene sich selbst verströmende Liebe ausstrahlen zu lassen, die Euch Verdienste und Dankbarkeit erwirbt w1d anhäuft bei den Menschen, größere und edlere Verdienste aber bei Gott, dem gerechten Verge lter des Guten, das er a ls ihm selbst getan betrachtet, obschon es dem Nächsten getan worden ist. Hört inzwischen nicht auf, Euer Möglichstes zu tun , damit dw-ch Euer großmütiges Wirken nicht mu- Euer gesegneter Name Ehre ernte, sondern das Volk den christlichen Geist 1ühme, der Euer Leben und Euer Tun beseelt und Euch zu Gott erhebt. Während Wir nun von Gott, ge liebte Söhne und Töchter, jede hin1mlische Gunst herabrufen au f Eure Familien, auf Eure Kinde r mit dem unsagbar süßen Lächeln, auf Eure Knaben im frohen Jugenda lter, auf die kühnen Jugendlichen mit der mutigen Wagelust, auf die reifen Männer mit der männlichen Entschlossenheit, auf die Greise mit de n weisen Ratschlägen, die Ew-e erlauchten Familien erfreuen und erhalten, und auf die lieben und tapferen Abwesenden, den Gegenstand Emer sorgenvollen Gedanken und Eurer besonderen Zuneigung-, erteilen Wir Euch aus innerster Seele Unseren väterlichen Apostolischen Segen. 1

268
1) Utz-Groner, S. 1602-1608.

Ansprache vom 19. Januar 1944

Ihr habt, gel i ebte Söhne und Töc hte r, sicher nicht gewo llt, daß Euch die derzeitigen H eims uchungen, di e in de n ruhi ge n Ab la uf des fa mi liäre n un d gese ll schaftlic hen L ebe n s ei n ge broc hen sind und ih n stören, davo n abhalten kö nn ten, wie in anderen Jahren, zu U n s zu komme n , um U n s, in kin dlic her Verehrung di e E hre Eurer Glückwün sc he z u erweisen. Unsere trag isc he und sch me rzli che Periode, voller Angst u n d Sorgen, legt uns alle n sc hwere Pflichten auf, zwi ng t Uns zu Vorkehrungen und Vo rsät zen in Anbetrac h t der notwendi gen Wiederh erstell ung d e r menschlichen Gemeinschaft in ein er ruhi ge n un d fri edl ic h en neue n Ze it, nach d e m Ende der ungeheure n Umwälzungen auf die ser Erde. Niemals noch war es nöti ger zu beten! Noch nie kamen Ge l übd e so g e legen! Mit der ganzen Lieb e Unseres Herzens danken Wir E u c h , die Ihr Uns mit den Worten E ure s hervon-agenden Wo rt fü hrer s, m ehr noch, mit de r Hilfe, die in Eu re n Absichten und Handlungen liegt, besc henkt habt. Wir w issen, daß Wir di ese Hi lfe imme r bei Euc h finden w e rden. Wenn das H a us b ren nt, is t es das e rste, um Hil fe z u ru fen, um das F e uer zu löschen. Nac h d er K atastrophe abe r is t es gebo ten, di e Schäden zu b e hebe n und da s Haus w ied er a ufz uba uen.

Wir s ind h e ut e Ze ugen ei n es de r größten Brände der We ltgesch ich te, einer der ti efgreifend sten polit isc h en un d gese ll sc haftlichen Umwä lzu ngen, die in de r Gesc h ichte vennerk t s ind. Diesen E rsc hütterungen folgt jedoch e ine neue Ordnu ng, deren Gehe im nisse noch im Herzen und den Plänen Gottes verborgen sind. E ines Gottes, der vorsorg lich den Ablauf de r Geschehnisse und die Ziele der G eschichte der Menschheit lenkt.

Die Ere ig n isse a uf dieser Welt fließen dahin , wie ein Strom an den Ufern der Zeit. Di e Vergangenh e it räumt no tged run ge n den Pla tz, un d de r Weg für di e Z ukun ft und für die Gegenwart is t ni c hts weiter a ls e in flüc h tige r A ugenb li c k , der die b eide n verbindet. Das ist e infach so, e in gese tzmäß iger Ablauf, a n s ich nichts Böses. Böse wä re es, wen n diese Gegenwart, die nur e ine ruhig e We ll e im Dahinfließen d es St romes der Zeit is t, sic h in einen Brech er verwandelte, d e r alles, wie e in Taifun oder Zyklon, was a u f seinem Wege liegt, ze rstö rt und mit Urgewa lt vernichtend, e in e n Graben aufw irft, zw isc he n dem , was war, und dem , was kommen so ll. Solche wi lde Sprünge, d ie die Geschichte in ihre m Ablau f m ac ht, b i lden das , was man e ine Kri se nen nt, da s h e ißt, e in e gefä h r liche P e ri ode, die zu r E rl ösung od er z um end gü ltigen Untergang führen kan n. Kri sen , deren Lös un g noch gehe imn i svo ll verhü llt, sic h hin ter den schwarzen Wolken de r Kräfte in Aufruhr verbi rgt.

Wer umsichtig und e rn st di e E reignisse de r jüngsten Vergangenhe it studiert, kan n nicht bes t re iten, daß es möglich gewese n wä re, was a n Bösem gesche hen is t , z u verhindern und der Wel t krise

durch normales Vorgehen vorzu be ug en . D as wäre geschehen, wen n jeder mutig un d anständig das geta n hätte, wozu die Göttliche Vo rse hu ng ih n bes timm t hat.

Ist denn etwa die menschliche Gemei n schaft oder so llte s ie es n ich t so sein - zu verg le ic hen m it e ine r gut fu nk tio ni e rend en Masch ine, bei de r j eder B es t a ndtei l zum ha r mo ni schen funkti o ni eren b e iträgt? Jeder Mensc h hat se ine B estimmung, j eder muß d em Fortschritt der Geme inschaft dienen, deren Verbesse ru ng e r mit se ine n ganzen Kr äften un d eigenen Talenten zu di enen ha t. So m u ß es sein, wenn jeder w irklic h seinen Näc h ste n l iebt und ve rnünft igerwe ise das allgemeine Wohl anstrebt.

N un g ut , we lc he Aufgabe w u rde Euc h , ge liebte Söhne und Töchter, in besonderer Weise zuget e i lt? Welche Mi ssio n sollt Ih r erfü ll en? Sicherli ch jene, die no rm a le Entwicklung z u fördern. D iese A u fgabe fä llt be i e ine r Ma schi ne dem Regle r zu , dem Schwungrad o de r de m Reo st a t , die Tei le de s Ganzen s ind, von ihm ei ne n Te il d e r Energi e bez ie hen un d dafür zu so rgen haben , daß d e r ga nze Apparat zweckentsprechend funk ti on iert. Mit anderen Worte n , Pa tr izier und Ade li ge, Ihr seid d ie Trad itio n u nd setzt sie fort.

Dieses Wort k li ngt b e kanntlich una nge nehm fü r v ie le Ohren. Es mißfällt u nd das mit Grund, w e nn es von gew issen Lippen herkommt. Ma nche Leu te ve rs te hen es fa lsch, andere gebra u c he n es a ls falsc hen Vorw an d für ihren untätigen Ego i smus Angesich t s solche r Mißverständni sse und dramatische n Uneinigkeit, g ibt es nicht wenige ne iderfü llte und za h lre ic he fe indse lige, bösw illi ge Stimmen, oft auch schli c ht dumme ode r irrgele ite te , die Euc h die Frage stellen und un ve r h ül lt um Antwort bitte n : woz u di en t Ihr e ige ntli ch? Um ihn en z u antworten, is t es vo r a ll em nö tig , den w irklic hen Sinn und Wert de r Tradit ion zu vers tehen, dere n R epräse n tan te n Ih r, m e hr als a ll es andere, zu se in wü n scht.

Vie le meinen, auch aufr ich t igerwe i se, daß Trad ition ni c hts we iter a ls die Er in neru ng is t , die verblaßte Sp ur ei n er Zeit, die verga nge n is t und nich t mehr existiert, nich t w iede r keh ren ka nn und , bes tenfall s, mit Verehrung und v ie lleich t mit Anerk ennu ng zu r Aufbewah ru ng in eine m von we ni gen Freunde n und B ew u nderern besuc hten Mus eu m zu rü c kverd rä ng t wird . Wenn das aber die Trad iti on wäre und es sich darau f besc hränke n und z u g leich bed e u te n w ürd e, den Weg in d ie Z ukunft ablehnen oder verachten zu wo ll en, wäre es siche r vernünft ig, der Trad itio n Respek t un d Ve reh rung z u versagen. D ie wehmüt igen Träume r de r Vergangenheit müßten dan n m it Mitl e id gesehen we rde n , a ls di e ewig Gestrigen , vor der Vergangenheit und - meh r noc h - d e r Zuku n ft. Ab e r s trenger noch, m ü ßten di ej enigen be urte i lt werden , die auf Grund ihrer wenig anstän di gen und sa uberen Mot ive nich ts we ite r s ind , a ls D ese r te ure d e r Pflichten, we lc he d ie

DOKUME N TE! 269

so schmerzliche Gegenwart auferlegt.

Tradition ist aber viel mehr als nur einfache Anhänglichkeit an eine Zeit, die vergangen ist und genau das Gegenteil einer Haltung, die jedem gesunden Fortsc hritt mißtraut. Etymologisch b e urte ilt, ist das Wort „Tradition" ei n Synonym für den Weg und den M e nschen in die Zukunft, Synonym, aber nicht gleichbedeutend. Tatsächlich bedeu tet „Fortschritt" doch nichts anderes als die Tatsache des Fortschreitens, Schritt vor Schritt, mit Blickrichtung auf ein ungewisses Ziel. ,,Tradition" hingegen, bezeichnet zwa r auch einen Weg in die Zukunft, aber einen Weg, der fortset z t , was schon zurückgelegt wurde, einen Weg, de r gleichzeitig ruhig aber lebha ft, den Lebe nsgese tzen folgend, di e ängstlichen Alternativen: si jeunesse savait, si viei!/esse pauvait! [wenn die Jug e nd wüßte, wenn das Alter könnt e], umgeht. Wie j ener Herr d e Turenne, von dem erzählt wird: ,,LI a eu dans sa jeunesse ta ut e la prudence d 'un age avance, e t dans sa vieillesse, taute la vigueur de !a jeunesse" [in seiner Jugend besaß er die Klugheit der Älteren und im vorgeschrittenen Alter, die ga nze Kraft der Juge nd ] (Flechier, Grabrede, 1676).

Gestützt auf die Tradition , erleuchtet und geführt durch die L e bense rfahrung der Alten, sc hreitet di e Jugend mit fe stem Schritt vorwärts. Die Alten überg eben vertrauensvoll den Pflug in s tärkere Hände, welche die begonnenen Furchen weiterziehen. Wie das Wort schon sagt, ist die Tradition eine G a be, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, eine Fackel, die e in Läufer dem anderen übergibt, im Vertrauen darauf, daß der L a uf nicht stocken oder langsamer werden wird. Tradi t ion und Fortschritt ergänzen sich gegense itig harmonisch. Tradition ohne Fortschritt ist ebe nso e in Widerspruch in sich selbst, wie Fortschritt ohne Tradition nichts weiter wäre, wie ein wagemutiges Unternehmen, ein Sprung ins Dunkel.

E s dreht sich wahrlich nicht dartun , gegen den Strom zu rudern , zurückgehen zu wollen zu Lebensformen und Handlungsweisen vergangener Z eiten. Es gilt fortzusetzen , was in der Vergangenheit sich als das Beste erwiesen hat, der Zukunft entgegenzuschreiten mit der unüb e rwindlich e n Kraft der Jugend.

Wenn Ihr so handelt, ist Eure glänzende Berufung bereits vorgezeichnet, groß und reich an Arbeit , für deren Erfüllung Euch der Dank a ller s icher sein müßte und Euch über die Angriffe, von e iner oder der anderen Seite, erhaben erweisen wird.

Solange Ihr, in Vorsorge für die Zukunft beabsichtigt, zum wirklichen Fortschritt beizutragen, der eine gesündere und glücklichere Zukunft zum Ziele hat, wäre es ungerecht und undankbar, E uch Eure Verehrung der Vergangenheit als ehrenrührig vorwerfen zu wollen. Das selbe gilt auch für das genaue Studium der Geschichte, di e Liebe zu den frommen Gebräuchen und di e unwandelbare Treue

DOKUMENTE!

den ewigen Gesetzen gegenüber. Die ruhmreichen oder unglücklichen Beispiele derer, di e vor u ns eren Zeiten le bten, sind Lehre und Licht auf Euren Wegen. Mit Rech t wurde gesagt, daß di e Lehren der Vergangenheit die Menschheit formen , wie eine n Mann , der immer vorwärts schreitet und nicht altert. Ihr lebt in der modernen Gesellschaft nicht wie Immigranten in einem ferne n Land , so ndern als verdiente und geachtete Bürger, die mit ihre n Mitbürgern z usammen arbeiten und die Gesundung, den Wiederaufbau und den Fortschritt in der Welt vorbereiten wo llen.

Es gibt Schlechtes in der Gesellschaft, so wie es Schlechtes bei einzelnen M e n sc he n g ibt. Es war e in großer Tag in der Geschichte der Medizin , als de r berühmte Laen nec, e in genialer und g lä ubi ger M ensc h , hilfsbere it über die Krank en gebeugt, mit dem von ihm e rfund ene m Stethos kop abhörend , den leisesten Hauch vernehmend , die fast unhörbaren Geräusche der Lungen und de s Herzens erklären konnte. Ist es aber nicht ebenso e ine soziale Funktion erster Ordnung und von höchstem Inte resse, unter das Volk z u gehen , um se in e Er wa rtungen und die unklaren Verhältnisse d er Zeitgenos sen zu e rkenn en? Ihre Herzen sch lage n zu hören, He ilmitte l für das allgemeine Elend zu suche n , vorsichtig die Wunden z u behandeln , um s ie zu retten und ei ne Infekt ion zu verhindern , die durch fehlende Fürsorge entstehen könnte und s ie vo r Berührung z u sc hüt zen, die die Wunden verschlimmern könnte?

Verstehen , um Christi Willen das Volk un se rer Zeit zu lieben , dieses Verständnis und die Li ebe durch Taten zu beweisen, da s ist di e Kunst , in hohem Maße Gutes zu tun, wozu Ihr berufen seid 1 Ni c ht nur in Eurem e nge re n Kreise , so nd ern fast ohne Grenzen, in dem gena uen Augenblick , da Eure Erfahrungen zum Vorteil aller ge re ic hen. Es is t auf diesem Gebiet, wo so viele noble Seelen, begeistert und enthusiastisch , bereit s ind , eine soz iale christliche Ordnung z u e rw ecke n und auszubreite n!

Nicht wenig beleidigend für E uch und schädlic her für die Gesellschaft wäre das ungerechte und unbegründete Voru11eil, welches dem Patri ziat und dem Adel unterstellte, daß sie ihre Ehre und di e ihres Standes beschmutzen würden , wenn s ie Funktion e n und Ämter übernehmen , di e zu a l ltäglichen Tätigkeiten führen. Sicherlich war z u andere n Ze iten die Ausübung von einfachen Berufen durch Adelige nicht als e hrenvo ll angesehen, mit Ausnahm e des Waffendienstes. Abe r se lbst damals zögerten nicht wenige Edell e ute , sobald die Verteidigung des Gemeinwesens ihnen Zeit dazu li e ß , nicht davor, sich intellektue llen Tä tig ke ite n oder dem Hand werk zu widmen. So ist es a uc h j etzt, unter geänderten politischen und gesellschaftlic hen Bedingungen nicht selten, di e Namen großer Familien in Verbindung mit Fortschritten in den Wissenschaften, der Indus trie und Landwirtsc haft, in der öffent-

270

DOKUMENTE!

liehen Verwaltung oder der R egie ru ng z u hö ren. Diese Männer sind umso aufmerksamere Beobacht e r der Gegenwart, sichere und mutige Pioniere des Fortsch ritt es, als s ie mit fester Hand sich an die Lehren der Vergangenheit halten, die Erfah run gen ihrer Vorfahren nützen und s ich vor Illusione n und Irrtüm e rn hü te n , we lc he die Ursache von v iele n falschen und sc hädlich en Unt erneh mungen vergangene r Zeiten waren.

Behüter - die Ihr sein wollt - echter Traditionen, die Eure Familien auszeichnen - [hr habt die Mission un d den Ruhm , zur Rettung des menschlichen Z usammenl ebens beizutragen. lhr sollt es bewahren vor der Un:fiuchtbarkeit, zu welcher es die mel ancholischen B ewundere r verdammen würden, die allz u sehr am Vergangenen hänge n. Aber ebenso auch vor der Katastrophe, in die es gefähr liche Abenteurer und ve rblendete Propheten ei nes fragwürdige n und trügerisch en Fortschrittes führen würden. In Euren Werken wird, überund in Euch , das Bild de r Göttlichen Vorsehung erscheine n, di e kraftvoll und doch mit

Sanftmut alle Dinge en tscheidet und zur Vollendung bringt (Weish. 8, 1). Dies gesc hie ht, wenn s ich ni cht die Verrücktheit menschliche n Stolzes ihren Absichten entgegenstemm t, di e aber trotzdem immer s tärk er a ls das Böse, das U nvorhersehbare und di e Zufä lligke iten sind. So werde t Ihr auch we1tvolle Mitarbeiter der Kirche sein, die - auch inmitte n von U nruhe und Konflikten - für de n ge istigen Fortsch ritt der Völker w irkt, die Stadt Gottes auf Erden, di e Vorbere itung der Ewige n Stadt.

Fü r die se fruc htb ringend e und fromme Aufgabe - Wir sind Uns des sen s ic h er, daß Ihr für s ie mit festem Vo rsatz , Eifer und Hin gabe a rb ei te n werd e t , die mehr denn je in diese n ernsten Ze ite n nö t ig s inderbitten Wir di e re ichste n h i mmli sche n Gnade n. Und Wir erteilen Euc h, von ga nze m Herze n , Euch und E uren ge lie b ten Familien, nah u nd fern , d en Ges u nd e n und de n Krank e n , d en Gefa nge nen und Verstreuten , j e nen, di e großen Schm e r ze n und Gefahren ausgesetzt s ind , Unseren vä te rli chen, Apos toli s chen Segen. 1

Ansprache vom 14 . Januar 1945

Noch einmal inmi tten der Ersc hütteru ngen, Verlu s t e und Sorgen aller Art, di e heute die Mensc hh e itsfam ili e peinigen, seid Ihr, ge li e bte Söhne und Töc hte r, geko mm e n , um Uns die ergebene n Glückwünsche darzubringen, di e Eue r erlauchte r Sprec her mit ed le n Gefühlen und gewählten Worte n vorgetragen hat. Dafür danken Wir Euch von H erzen wie auch für die Gebete, durch die I hr in einer so beweg te n Zeit Uns helft, die un ge heue r sc hweren Pflichten z u erfüll e n, die a uf Uns ere sc hwac hen Schultern drücken.

Wie es nach a lle n Kri ege n und gewalt ige n Heimsuchungen imme r Wunden zu heilen und Ruinen wiederaufzubauen gib t , so bed arf es nach den großen na tional e n Krisen ei n es völligen Neubeg inns, um ei n ni ede rgesc hmettertes und schwer mitgen omme nes Land in die a ll ge m e ine Ordnung zurückzuführen, um ihm zu h elfe n , daß es de n ihm ge bühre nd e n Platz wi e d ergew in ne, d en Weg zu j enem Fortschritt u nd Wohlstand wiederaufnehme, den se in R a ng und se ine Geschichte, se in e materielle n R eic htü me r und se ine geist ig -rel ig iösen Kräfte ihm z uwe isen.

Dieses M a l is t d as Wiederaufbauwerk un ve rgleic hlich um fasse nd e r, schw ie rige r und v erw ickelter. Es hande lt s ic h nich t d annn, nur e ine e inzelne Nation z um norma len L e be n z urückzufü h ren. Die ga nze We lt -so ka1m m a n wirklich sagen - mu ß wiederhergestellt we rd en. Die materielle Ordnung , di e s ittlic he Ordnung , die sozia le O rdnun g, die inte rn a t ionale Ord nun g - a lles i st vo n neuem z u

sc ha ffen und in ge rege lten und anhaltenden Ga ng zu bringen. Di ese Ruh e der Ordnung, nämlich der Friede, und zwa r der e in zige wahre Fri ede kann nur da nn w ie der in s Leben tre ten und an d auern, we n n dafür gesorg t w ird , daß di e mensc h lic he Gese llschaft a uf Christus ru ht, we nn a ll es wieder in Ihm zusa mm engefaßt, unter I hm al s d em H aup t e ve rein ig t und lebend ig mit Ihm verb un den wi rd : ,,lnstaurare omnia in Ch rist o" - ,,A ll es in Chris tu s e rneuern" [E ph. 1, 1O] , und zwa r durc h di e harmonische Vereinigung der Glieder untereinander und durch ihre organisc he Einve rl e ibu ng [in Ch ri stus a ls ] de m Haupte [E ph. 4, 15].

Nun aber s ind s ic h all e im großen und ganze n darü b e r e ini g , daß di ese Neuordnung ni c ht als e ine reine und einfac he Rückkehr z u r Vergangenhe it a u fgefaß t we rden darf. Ei n solches Rückwärtsgehen ist nic ht mögl ic h. De nn die Welt ist - selbst in ihre r oft ung eord neten, spru ng haften Bewegung ohne E in he it und Fo lger ic ht igkeit - weitergesc hritt e n. D ie Gesch ichte s teh t n ich t st ill. S ie kan n n icht s till s tehe n. Unau fü örl ic h ge ht s ie we ite r S ie ve rfo lg t ihren geo rd ne t e n und gradlin ig e n ode r ih ren wirren und k rumm e n Lauf dem Fo rt schrit t ode r e inem Trugbild von Fortschritt e ntgege n N ic hts de stoweniger ge h t, j a e ilt s ie we iter. Es wäre e in e itl es und u1mü tzes Un t ernehm en, e in fach rüc k wärts marschieren z u wolle n , um die Welt - W ir woll e n n icht gerade sage n - zu r Unbewegl ic h ke it auf a lten Positionen z urückführen, so nd e rn um sie w i e der an e ine n Au sga ngspu nkt z urüc kz ubrin ge n, de r auf

271
1) Discorsi e Radiom essaggi di Sua Santitir Pio XII, T ip ografi a P o l ig lo tt a Va t icana, 19 .1.1 944, S . 177-1 82

DOKUMENTEI

Grund von Entgl eis ungen oder falschen Weichenstellunge n ung lücklic herwei se verlassen worden is t. Nicht darin besteht, w ie Wir letztes Jahr bei derselben Gelegenhei t b e m e rkt haben, die wahre Tradition. Wie man ein Haus, das dem heutigen Gebrauch dienen soll, nicht haargenau nach uraltem Vorbild wiederaufbauen kann , so darf man es auch nicht nach w illkür lichen Plänen etTichten, selbst wenn sie theoretisch die bes ten und wünschenswertesten wären. Man muß die unau swe ic hli che Wirklichkeit in ihrem ganze n Ausmaß in Rechnung s tellen.

Damit wollen Wir nicht be ha u pten, man müsse s ic h d a mit zufrieden geben, dem vorbe i flutenden Strom einfach zuzusehen, noch we nige r mit dem Strom zu sc hwimmen, nach seinen wechselnden Laune n den Kur s zu wählen , selbs t auf die Gefahr hin, das Boot an eine Klippe stoßen oder in einen Abgrund stürzen zu lasse n. Di e En e rgi e der Wi ldbäche und Wasserfälle wurde ni c h t nur ungefährlich, sondern nützlich , frucht b ar und segenbringend gemacht v on jenen , die- statt gegen sie z u kämpfen oder ihr z u weichen - sie durch Schleuse n und Staumauern , durch Kanäle und Umleitungen zu bändigen ve rstanden. Dies ist die Aufgabe der führend en Männer. Unv e1wandt die unverän derlichen Grunds ätz e des menschlichen Handelns im A uge be haltend sollen sie di e Fähigkeit und de n Will e n besitze n, diese un ze rstörbaren G ese tz e auf die wechse lnden Verhältniss e der Stun de anzuwe nd en [n einer hochentwicke lten Gese ll sc haft wie de r Unsrigen, die nach dem gewa ltigen Zusamme nbruch wieder in Ordnung gebracht we rd e n muß, is t di e Aufg a b e eines führenden Mannes sehr versc hi eden: führend is t der Staa t s man n, der Politiker; führe nd i s t der Arbeiter, der, ohne zur Gew alt, zu r Drohung oder zur hin te rl istigen Propaganda z u greifen, durch sein eigenes Verdienst imstande war, sich in se in em Kreis Ans e he n und Vertraue n zu erwerben; führend sind - jeder auf seinem Gebietder Ingenieur und der Rech tsan walt, de r Diplo m a t und der Volkswirtschaftler, ohne deren Hil fe di e mat e ri e lle, soz ia le un d interna ti on a le Welt in die Brüche g inge; führe nd s ind der Un ivers itätsprofesso r, de r Re dn e r und der Schriftsteller, d ie danach tracht e n, die Gei s ter zu bilden un d z u le iten; führend ist d er Offizier, der se inen Soldaten Sinn für Pflic ht , D iens t und Opferbe reitschaft e inflößt; führend is t der Arzt in der Ausübung se iner He ilkun st; führend ist der Pries ter, der d en See le n den Weg d es Lichts und des Heils ze igt und ihnen di e Gn ade n vermittelt, damit si e sicher auf ihm wandeln und voransch re ite n könn en . We lche s ist in d ieser Vi elfa lt führender Tätigkeiten Euer Platz, Eure Aufgab e, Eure Pflicht? - S ie tritt Euch in zweifacher Gesta lt en tgege n: a ls persö nliche Aufgabe und Pflicht jedes e inzelnen von Euch und als Aufgabe und Pflicht der Klasse , der Ihr a ngehört.

Die persönliche Pflicht v e rlangt , daß Ihr Euch durch Eure Tugend , durch Eure n Fle iß bemüht, in Eurem Beruf führe nd z u werden. Tatsä chlich wissen w ir wo hl , da ß di e heu tige J ugend Eures edlen Krei ses im Bewußtsein der dunklen Gegenwart und de r noc h ungew isse ren Zukunft völl ig davon überzeugt ist, daß die Arbeit nich t nur eine so zi ale Pflicht, so nd ern a uch e ine Lebe nssicherung für j eden ei n ze lnen bedeutet. Und Wir vers tehen da s Wort Be ruf im we itesten und u mfass e ndsten Sinn , wie Wir es schon letztes Jah r hera usz u s te lle n ha tten: technische oder freie Berufe, aber a u c h politisc he und s o z iale Tä t igkeit, geistige Arbeit, Unterne hmu ngen aller Art, um s ichtige , sorgfältige und e m s ige Verwa ltun g Eure r Vermögen, Eurer Landgüter nach den mod e rn s te n und erprobtesten Anbauwe ise n zum materielle n , s ittli chen, sozialen und geistig-re li giösen Wo hl der a uf ih nen lebenden Landarbeiter bzw Landbe vö lke rung In jeder di ese r Berufss parten mü ßt Ihr a ll e Müh e aufwe nd en, um E uch a ls Führende z u bewäh re n , se i es um des Vertrauen s willen , da s jene auf E uch setzen, di e d e n gesu nd en und lebe ndi ge n Tradition en treu geb li eben sind, se i es wegen des Mi ßtrau ens v ieler andere r, eines Mißtrauen s, d as Ih r überwind e n müßt, inde m Ihr Euc h ihre Hochschätzung und Achtung dadurch erwe rbt , daß I hr in a ll e m h e r vo rragt a n d e m Poste n , au f dem Ihr ste ht, in de r Tä t igkei t , di e Ih r ausübt, welcher Art auch immer d iese r Po s t e n oder diese Tä ti gke it se in mag.

Wor in s oll sic h nun abe r ze igen , d aß Ihr in Tat un d Leben hervorrag t? Und we lches s ind hierbei die wichtigsten E igenschaften?

Vor a lle m offenbart es s ich in de r Vo llk ommenh ei t Eurer Arbe it, ob s ie n un techn isc h oder wissensc ha ftl ich, künst le ri sc h oder w e lc her Art auch se i. Die Arbeit Eu rer H ä nd e und Eures Gei s te s muß jenen Stempe l der Vortre ffl ichkeit und Vollkommenhei t an sich tragen , der s ich nicht von he ute a u f morgen aneignen läßt, sondern d ie Feinhe it d e r Seele und d es Gew issens, des von Eu ren A h nen ererbte n und vom c hri s tlichen Ideal un a ufllörli c h ge nährte n De nk e n s und Füh le ns wide rsp iegelt.

Ebenso tritt es zutag e in d e m , was man die Hum a ni tä t nen ne n kann, da s he i ßt die Gegenw art, das He rv ortreten des vo ll gül t igen Menschen in a ll en Ausdrucksformen sein e r Tätigke it - auch der s pezia li s ie rte n - in e iner We ise, daß die Spezia li s ierung in seinem Fac h nie z u eine r Übertr iebenheit w ird , daß s ie die Allgeme inbildu ng weder verkümmern lasse noch zu rückdrä ng e, s o eben, d aß - mus ikali sc h ausgedrück t - die Dominante weder di e Harmonie zerstören noch di e Melod ie erdrü cke n d a rf.

E s zeig t sich außerd e m in der Würde des ga nzen Verhaltens und Benehmens, in einer Würde, di e jedoch nicht herrisch auft ritt , in eine r Würde, di e, we it entfernt, di e Abs tände zu betonen, sie nur im No tfa ll durch sc he ine n läßt, um den anderen einen

272

DOKUMENTE!

höhe re n Adel der Seele, des Geistes und des Herzens einzuflößen.

Schließlich k ommt es hauptsächlich zum Vorschein im Sinn für höhere Sittlichkeit, Geradheit, Ehrlichkeit und Redl ichkeit, in jenem Sinn, d e r j edes Wort und jede Tat prägen muß. Eine sittenwidrige oder sittenlose Gesellschaft, die den Unterschied zwischen Gut und Böse in ihrem Gewissen nicht mehr empfindet und in ihren Handlunge n nicht mehr hervortreten läßt, die vor der Schaustellu ng der Verderbtheit nicht mehr erschaudert, j a, die sie entschuldigt, sich ihr neutral anpaßt, sie womöglich gar wohlgefällig aufnimmt, sie ohne Unruhe oder Gewisse nsb isse praktizie rt , sie ohne Erröten offen zeigt, sich zu ihr herabwürdigt, die Tugend verlacht, eine solche Gesellschaft ist auf d em Weg z um eigenen Untergang.

Die hohe G ese llschaft Frankreichs im achtzehnten Jahrhundert is t dafür unter vielen anderen ein tragisches Bei sp ie l. Nie war eine Gesellschaft feiner, eleganter, glänzender und bezaubernder. Di e verschiedensten Ergötzungen des Geistes, eine intensive Verstandeskultur, ei n e äußerst verfeinerte Kunst zu genießen, eine ausgesuchte Gepflegtheit der Umgangsfonnen und der Sprache herrschten in jener nach außen so höflichen und liebenswürdi gen Gesellschaft, in der j edoch alles - die Bücher u nd Schriften, die Figuren und Geräte, die Kleider u nd Kopfbedeckungen - z u einer Sinnlichkeit re izte, die in die Adern und in die H e rzen eindrang, so daß selbst die eheliche Untreue nic h t mehr Überraschung oder Empörung hervorrief. So arbeitete diese Gesellschaft selbst an ihre m eigenen Zerfall und rannte dem mit eigenen Händen gegrabenen Abgrund des Verderbens entgegen.

Ganz anders ist die wahre Vornehmheit: sie bringt in den gese llsc haftlichen Beziehungen eine Demut voll Größe, eine Nächstenliebe ohne a lle

Selbstsucht, ohne alles Suchen des eigenen Vorteils zum Aufleuchten. Wir w issen wo hl , mit welcher Güte un d Lieb enswürdigke it, m it welc her Hin gabe und Selbstverleugnung viele und besonders viele von Euch in diesen Zeiten unendlicher Nöte und Sorgen sich zu den Unglückl ichen hera bgebeugt, das Lic ht ihrer woh ltä tige n Li ebe in alle n fortschrittlichsten und w irk samste n Formen auszustrahlen verstanden haben. Dies is t ge rade d ie a nd ere S eite Eu rer Sendung.

Denn nichts steht trotz b linder und ve rl e umder ischer Vorurteile so sc h roff im Widerspruch zum christlichen Empfinden und zum wah ren Sinn und D ase in szweck E ure s Standes in allen Ländern, besonders aber hi er in Rom, der Mu t ter des Glaubens und des ges itte te n Lebens, w ie der enge Kastengeist. Die Kaste spaltet die menschliche Gesellschaft in Gruppen und Abtei lun gen, di e du rc h undurchdringliche Mauern vo neinand e r getrenn t sind. Die Ritterlichkeit , die Höflichkeit sta mmen überwiegen d aus christlichem Ge is t. Di ese r ist das Band, das ohne Wirrwarr u nd Unordnung a lle K lassen miteinander verei nt. Weit en tfernt, Euch z u einer anmaßenden Absonderung zu ve rpflicht e n , drängt Euch Eure H erkunft vie lmeh r d a zu, in alle sozia len Kreise einzudringen , um ih nen jene Liebe zur Vollkomme nheit, zu r in n ere n Ku ltur, z u r Würde,jenes Gefühl mitleidender Solidarität zu v ermi tteln , das di e Blüte de r c hr istlichen Bildung darstellt.

Welch eine edle Aufgabe hat di e göttliche Vorsehung Euch in de r gegenwärt igen Stunde der Z errissenheit und des H asses zuge da cht ! Erfüll t s ie mit Eure m ga nze n Glauben und mit Eure r ga nze n Lieb e!

Mit diesem An l iegen und zum B eweis Unserer väterlichen Glückwünsche für da s bereits begonnene Ja hr erteile n Wir von Herzen Euch und a llen Euren Fa mili en Un se ren Apostolis che n Sege n. 1

Ansprache vom 16. Januar 1946

In den verflossenen Jahren, geliebte Söhne und Töchter, waren Wir gewohnt, nach der väterlichen Entgegennahme der Wünsche , die Euer erlauc hter Sprecher bei dem gege nwärtig wiederkehrenden Anlaß in Eurem Namen mit so tiefem Gefühl und so edlen Bekundungen des Glaubens und der kindlichen Ergebe nhe it Uns darzubringen pflegt, Unserem Dank einige Empfehlungen hinzu zufügen, die j ewei ls durc h die Umstände des Augenblicks nahegelegt wurden. So s prachen Wir denn von Euren Pflichten und von Eurer Aufgabe in der modernen , furchtbar gequä lten und gefährdete n , wankenden Gesellschaft; doch notwendi gerweise in eine r etwas allgeme inen Art a n ges ic hts einer Zukunft, de -

r en Gang und Gesicht noch äußerst schwer m it Genaui gke it vorauszuse hen war.

Ohne Zweifel ist sie a uch he ut e noch d u nkel. Die Unge w ißhe it hält an und der Horizon t bleibt mit Sturmw ol ke n ve rh ängt. Nac hd em de r K ampf der Waffen kaum aufgehört ha t , befind en sich die Völker vor einem Unte rne hm en, d as höchs t veran twortungsvoll ist wegen de r Folgen , die auf de m Laufder Ze iten last en und seine Kur ve n bestimmen werden. Es ha ndelt sic h nicht nur für Ita lien , so ndern auch für vie le andere Na t io nen darum , ihre politi sc he n und sozia le n Grundges e tze auszuarbeite n - sei es, ei n gan z neu es zu sc haffen, sei es, die ge ltenden z u überholen, z u ändern, m e hr oder we niger

273
1) Utz- Groner, S 1620-1626.

tiefgreifend um zuges talten. Was das P roble m noch e rschwert, ist der Umstan d , daß alle d iese Gru nd gesetze ein genauso versch ie denes und se lbs t ä ndi ges Dasein fr isten we rden, wie die Nationen , die sie sich se lbst frei geben wollen, selbständi g un d fre i sind. Dadurch werde n sie - de facto, wenn nicht de iure - nicht weniger gegenseitig v oneinande r abhängig se in. Es ha nde lt s ich a lso um ein Ere ignis von höchste r Be deutung, wie es sich selten in de r We ltgeschic hte g leich sc hw e rwiegen d e ingeste ll t hat.

Darin liegt etwas beschlossen, da s selbst die Kühnsten in Furch t u nd Zittern versetzen kan n , we n n s ie sich auch nur im geri n gsten ihrer Verantwo11ung bewuß t sin d ; etwas, das die H ellsic ht igste n ve r wirre n kann, und zwa r gerade d eshalb, we il sie b esse r und wei ter sehe n als di e anderen u nd , von der Schwere der übernomme n e n Aufgabe ü berzeugt, klarer erkennen, w ie notwend ig es ist, s ich in der Stille und in der Sammlung de r re ifliche n Erwägungen h in zugeben, die Arbeite n von solcher Tragwe ite fordern. Und sie he da! Im Gegenteil scheint das g ro ße Erei gn is unter dem kolle kti ven und gegense itigen Druck schon bevorzustehen Binnen kurz em wird man s ich ihm stelle n müssen. Es we rden vie lleicht in wen igen Monaten die Lösungen gefunden und die e ndgültigen Entscheidungen fes tge legt werden müs se n , di e sich nicht nur auf das Schicksal e ines einzigen Volkes, so n de rn der ganzen Welt auswi r ken und die, ein m a l gefaßt, v ielleicht für lange Zeit den Allgeme in zus tand der Völke r bes tim men werden .

Zum Gelingen dieses Unternehmens müssen in unserem Ze italter der Demokratie a lle Gliede r der menschl ichen Gesellsc haft mitwirken: ei ne rseits die Gesetzgeber, mit welchem N a me n s ie auch beze ichnet werden möge n , denen es ob l iegt, nachzusinnen un d die Sch lü sse zu ziehen; andererseits das Vo lk, dem es zusteh t , seine n Wi llen durch se ine Meinungsäußerung und d urch sein Wa hlrech t zur Geltun g zu b rin gen. Auc h Ih r, ob Ihr zur kommende n verfass unggebenden Versamm lun g gehö re n könnt oder n ic ht , habt a lso Eu re Aufgabe zu erfüllen , die s ich zu gle ic her Z e it auf die Gesetzge ber und auf das Volk e rs treckt. Welches ist Eure Aufgabe?

Ihr hab t es vie ll eic ht schon oft erlebt, daß Ihr in der Kirche Sa n Igna z io Pi lger-und „ Touristen"-Gruppen begegnet seid . Ihr sa ht, w ie s ie im we iten Hauptschiff erstaunt Halt mac h t e n , den Blick zur Decke ge r ich t et, a uf die A ndre a Pozzo seinen verbl ü ffende n Triumph des Heiligen malte, den Triumph in der von Christus ih m anvertrauten Send u ng, das gött liche Licht bis in die entlegensten Winkel de r Erde zu brin gen Sobald sie d en apokalyptische n Sturz von Personen und Arch itekture n erb lic kt e n , die ü ber ihren Köpfen a ufein a nde rpra llen, glaubten sie zuers t , sie s t ünd en vo r de m H irngesp in st eines Wahnsinnige n. Ihr führtet s ie h öflich

DOKUMENTE!

gegen die Mitte. Allmählich, wä hrend s ie sich ihr näh erte n , richteten sich die Säulen senkrec ht auf und begannen, die Böge n z u tragen, die in de n Raum empo rstei gen, und j eder der Besuche r , der sich auf d e n kl e inen Kreis stell te, de r d en für das Auge gee igne t s t e n P latz an zei gt, sa h da s materielle Gewölbe seinem B l ic k en t sc hw inde n. M it Bestürzung gewa h r te er in der wu nderbaren Pe rspektive e ine ganze Welt von En geln und Heiligen, vo n Menschen und T e ufeln, die ring s um Christus und Ig na tius, de n Mittelpunkt des grandiosen Bildes, leben und s ic h bew egen.

So bie tet auch die Welt dem , der s ie nur in ih rer ve r wickelten und verwirrten Mate ri a lität und in ihre m ungeordne ten Getriebe s ieht, o ft d en A nblick eines C h aos . I mme r w ieder s türz e n die sc hön ste n Pl äne de r fä hi gsten Baumeister zusa mm en und erwecken den Eindruck, a ls ob die Ruinen üb erha upt nicht mehr a ufgeba ut w e rden könnten, als ob es unmöglich wäre, eine neue Welt zu schaffen, die auf festen und dauerhaften G rundl age n ruh t. Warum?

Es g ibt in dieser Welt e inen Stein aus Granit, de r von Ch ri s tu s geleg t worden is t. Auf diesen Stein muß man s ich stelle n und d en Blick nach oben richt en. Von dort n immt die Erneuerung al le r Dinge in Christus ihren A usga ng. Nun aber hat Ch ri stus ihr Gehe imni s geoffe nb art: ,,Quaerite primum regnum Dei et iustitiam eius, et haec omnia adicien l ur vobis" - ,,Suchet zuers t das Reich Gottes und se ine Gerechtigkeit! Und alles übrige w ird e uch hi nzu gegeben werd en" [ Matt h 6 , 33].

Man kann also ke in e gesu nd e und lebenskräftige Verfass un g e in er Gesell sc ha ft ode r Na t ion ausarbeiten, we nn di e zwei großen Mächte, der Gesetzgeber in seinen Überlegu nge n und Entsc h lüsse n und das Volk in der Äußerung se iner fre ien Me inun g u nd in der A usübu ng se ines Wa hlrechtes, s ich nicht beide entsc hl ossen aufj ene Grund la ge ste ll en, um nac h obe n zu sc hauen und au f ih r Land, a u f di e Welt da s Reich Gottes herabzuziehe n. Stehe n di e Dinge etwa so? Le id er s ind s ie noch we it davon e ntfernt.

Wie viele in den beratende n Versammlungen w ie in der gro ße n Menge , di e kein beständiges moralisches Gleichgewicht besitze n , rennen in s Ungewisse und lenke n die an deren ins Ungewisse, ins D unke l, auf de n Wegen , die z um Ruin fü hre n! Andere, die s ich aus de m Kurs gewo rfen oder gesc he itert fühl en, s uch en so rge n vo ll ode r se hn en sich wenigstens irgendw ie verschwommen nac h dem Li ch t , nach einem Lichtschimme r, oh ne zu wiss e n , wo „das wahre Licht" ist, ,,das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt" [J o h 1, 9], o hn e ihm anzuhängen. Sie s treifen es bei jedem Schritt, ohne es j emal s z u erken nen

Selbst wenn w ir a nne h me n, daß die M itg lied e r j ener Versammlungen in den Fragen zeitlicher, politischer, wirtsc haftl ic her, verwa ltun gsmäßiger Art fachmännisch Bescheid w issen, so sind viele vo n

274

DOKUMENTE!

ihnen unvergleichlich weniger bewandert in den Dingen, die da s religiöse Gebiet, die christliche Glaubens- und Sittenlehre, das Wesen, die Rechte und die Sendung der Kirche betreffen. In dem Augenblick, in dem das Gebäude fertig ist, merken sie, daß nichts im Lot steht, weil der Schlußstein des Gewölbes fehlt oder nicht an se inem Platz ist.

Die unzählige, namenlose Menge ihre rseits läßt sich leicht wild in Bewegung setzen. Sie überläßt sich passiv dem blinden Zufall, dem Fluß, der s ie mitreißt, oder der Laune der Strömungen, die sie teilen und in di e lrre führen. Nachdem die Menge einmal zum Spielzeug der Leidenschaften oder der Interesse n ihrer Aufwiegler sowie ihrer eigenen Ill us ionen geworden ist, weiß sie nicht mehr auf jenem Felsen Fuß zu fassen und sich dort niederzulassen, um ein wahres Volk zu bilden, das he ißt einen lebendigen Leib mit den Gliedern und den Organen, die zwar nach Form und Funktion verschieden gestaltet, aber alle miteinander zu seiner selbständigen Tätigkeit geordnet sind und einheitlich zusammenwirken.

Schon bei anderer Gelegenheit haben Wir von den Voraussetzungen gesprochen, die notwendig sind, damit e in Volk für eine gesunde Demokratie reif werde. Doch wer vennag es zu dieser Reife zu führen und e mporzuheben? Ohne Zweifel könnte die Kirche zu dies em Zweck v iel e Lehren aus dem Schatz ihrer Erfahrungen und ihrer eige nen z ivilisierenden Tätigkeit hervorhol e n. Doch Eure Gegenwart bei Uns veranlaßt Uns zu einer besonderen Bemerkung. Nach dem Zeugnis der Geschichte ist das Leben des Volkes dort, wo eine wahre Demokrati e h errscht, von gesunden Traditionen getragen, die man nicht nied erreißen darf. Vertreter dieser Traditionen sind vor allem die führenden Klassen oder die Gruppen von Männern und Frauen oder Vereinigungen, die - wie man zu sagen pflegt - den Ton a ngeben im Dorf und in der Stadt, in der Provin z und im ganzen Land.

Dies ist der Grund , warum in allen Kulturvölkern im erhabensten Sinn des Wortes hervorragend aristokratische Einrichtungen - wie es manche Akademien von weitreichender Berühmtheit sindbestehen und Einfluß aus üb e n Hierher ge hö rt auch der Adel. Ohne irgend ein Vorrecht oder Monopol z u beanspruchen, ist er e in e dies e r Einrichtungen oder sollte es sein: e ine traditione lle Einrichtung, die begründ et ist auf der Beständigkeit einer a lthe rgebrac hten Erziehung. Gewiß, in einer demokratischen Gesell sc haft, wie die moderne es sei n will, kann der bloße Titel der Abstammung n icht ausre ic he n, um Ansehen und Vertrauen z u erwerben. Um a lso Euren hohen Stand und Eure sozia l e Stellung zu bewahren , ja sogar zu stärk e n und zu e rhöh e n , müßt Ih r wahrhaft e ine El ite sein, müßt Ihr den Bedingungen und Forderungen entsprechen, die in der Zeit, in der wir nun lebe n , un erläßlic h s ind Eine Elite? Das könnt Ihr lei c ht sein . Ih r habt hint er Euch eine Vergangenheit von jah rhund erte-

a lten Traditionen, die grundlegende Werte für das ges unde Leben e ines Volkes darstell e n. Zu die sen Traditionen, auf die Ihr mit Recht stolz seid, zählt Ihr in erster Linie die Religiosität, de n l ebendi gen und werktätigen katholischen Glauben. Hat di e Geschichte vielleicht nicht schon grausam bewiesen, daß jede menschliche Gesellschaft ohne re lig iöse Grundlage unweigerlich ihrer Auflösung entgegengeht oder im Terror endet? Euren Ahnen nacheifernd , müßt Ihr a lso vor dem Volk leuch ten durch das Licht Eures Frömmigkeitslebens, durc h den Glanz Eu rer unerschütterlichen Treue zu Christus und der Kirche.

Zu diesen Traditionen zählt gleichfalls die tadellose Würde eines ti ef christlichen Ehe- und Familienlebens! Aus allen Lände rn - wenigstens aus denen der abendländischen Kultur - ertönt der Angstschrei der Ehe und der Familie, und zwar so herzzerreißend , daß es unmöglich ist, ihn nicht zu hören. Stellt Euch auch hier durch Euer ganzes Verhalten an die Spitze der Erneuerung und Wiederherste llung des häuslichen Herdes!

Zu eben diesen Traditionen re ch net fe rner jene, daß Ihr in a lle n Ämtern des öffentlichen Le bens, zu denen Ihr berufen werdet, d e m Volk lebendige Vorbilder unbeugsa me r Pflichterfüllung seid; u npartei ische und une ige nnü tz ige Menschen, die - frei von j ede r ungeordneten Ehr- oder Gewinnsuchteinen Posten nur zu dem Zweck annehmen, der g uten Sache zu di e nen ; mutige M e nsc h en, d ie sich weder durch den Verlust der Gunst von oben noch durch die Drohungen von unten e insch üchtern lassen.

Unter dieselben Traditionen ste ll t endlich jene e ines ru hig e n und beständigen Festhaltens an a ll dem , was die Erfahrung und die Geschichte bewährt und geheiligt haben; jene e ines Geistes, der unzugänglich ist für die unruhige Aufwiegelung und di e blinde Sucht n ach etwas Ne uem, d ie unsere Zeit kennzeichnen, gleichzeitig aber weit geöffnet a ll e n sozialen Nöten. Laßt Euch in der festen Überzeugung, daß nur die Lehre d er Kirche den gegenwärti ge n Übeln w irksam a bhe lfen kann, angelegen sei n , ih r den Weg freizumachen , und zwar o hne Vorbehalt oder selbstsüchtige Bede nk e n , durch Wort und Ta t, insbesondere dadurch , daß Ih r in der Verwaltung Eurer Güter sowoh l in w irtschaftlich e r als auch in soz ia ler Hinsicht wahrhaft mus tergülti g se id. Ein echter Edelmann le iht seine Hilfe niemals Unternehmungen , die nu r zum Schaden des Gemeinwohl s, zum Nachteil oder Ruin armer Leute bes te hen bleiben und ge de ihe n könne n. Im Gegenteil wird er se ine Ehre darein set ze n, auf der Se ite der Kleinen zu stehen , der Schwachen, des Vo lkes, au f der Seite jener, die durch ein ehrbares Handwerk ihr Brot im Schwe iße ih res Angesic ht es verdienen. So werdet Ih r wa hrh aft eine Elite se in. So werd e t Ihr Eure re lig iöse und christliche Pflicht als g lä ub ige Menschen und als Christen erfüllen. So

275

werdet Ihr Gott und Eurem Land edel dienen. Möget Ihr, geliebte Söhne und Töchter, durch Eure herrlichen Traditio nen, durch die Pflege Eures Fortschritt s und Eurer persön lichen , menschlichen und christlichen Vollkommenheit, durch Eure hi lfsbereiten Dienste, durch die Liebe und Herzlichkeit Eurer Beziehungen zu allen sozialen Schichten imstande sein, dem Volk dazu zu verhelfen, daß es wieder auf dem wahren Eckstein Fuß fasse, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suche. Dies

DOKUMENTE!

ist der Wunsch, den Wir für E uch in Worte fassen. Dies ist das Gebet, das Wir unter der Fürbitte des Unbefleckten Herzens Mariä zum göttlichen Herzen des Christkönigs, ja schließlich zum Thron des souveränen He rrn der Völker und Nationen aufsteigen lassen. Überreich komme auf Euch herab seine Gnade, a ls deren Unterpfand Wir von Herzen Euc h allen, Euren Familien, a llen Perso nen, die Euch lieb und teuer sind, Unseren väterlichen Apostolischen Segen erteilen. 1

Ansprache vom 8. Januar 1947

Die Huldigung Eurer Ergebenheit und Eurer Treue sowie die Glückwünsche, die Ihr, geliebte Söhne und Töchter, jedes Jahr nach alter Sitte Uns darzubringen kommt und die durch Euren hohen Sprecher so g lücklich zum A u sd ruck gebrach t wurden, s ind Unserem Herzen stets mit Fre ude willkommen. Sie pflegen naturgemäß die Gedanken und Besorgnisse widerzuspiegeln, die in versch iedenem Maße die Herzen erregen angesichts der veränderlichen Zeitverhältnisse. Nach den Schrecken des Krieges, nach dem unsäglichen Elend, das daraus folgte, und den Ängsten , die mit dem Aufhören der Feindseligkeiten verknüpft waren, das man nicht Frieden nennen kon nt e und auch ke in Friede war, haben Wir zu Euch mehr als einmal bei dieser Gelegenheit über die Aufgabe und die Pflichten des Adels gesprochen angesichts d er Vorbereitung eines ne ue n Stands der Dinge in der Welt und in besonderer Weise in Eurem so sehr geliebten Vaterland. Vollständige Unsicherheit war damals das kennzeichnend e Merkmal. Man ging ganz und gar im Dun ke ln: die Gedanken und die Kundgebungen des Volkswillens wechselten un a ufhörlich ihre Gestalt. Was wird wohl dabei herau skom men ? Niemand hätte das mit einiger Gewißheit voraussagen können.

Inzwischen hat die Weltbühne im eben verflossenen Jahre un se rem Auge ein Schauspiel dargeboten, von dem man wahrlich nicht sagen könnte , es hätte bei ihm an Aktivität, Bewegung und Überrasc hunge n gefehlt. Was aber wirklich fehlte, warwie in den ve rgang enen Jahren - die Erreichung von Lösungen, welche die Gemüter ruhig aufatmen ließen, endgültig die Verhältnisse des öffentlichen Lebens klar stell e n , den Weg in die Zukunft weisen würden, wäre er a uch mühsam und beschwerlich. So dauert denn - abgesehen von einigen bemerkenswerten Fortschritten, die hoffentlich von Dauer sind - die Ungewißheit weiter als vorherrschendes Gepräge der Gegenwart nicht allein in den internationalen Beziehungen, wo man ung edu ldi g wenigstens erträgliche F r iede ns sc hlüsse erwarte t ,

sondern auch in der innern Ordnung der e in zelne n Staaten. Auch hier ve rmag man noch nicht mit ein iger Sicherheit vorauszusagen, was das endgültige Ergebnis de r Auseinandersetzung oder des Zusammenpralls der ve rschi ede ne n Bestrebu n gen und Kräfte und vo r allem der verschiedenen und gegensätzlichen Lehren im religiösen , gesellsc haftli c h en und politischen Bereich se in wird.

Weniger schwer ist es hingegen heu te, unt e r den verschiedenen Möglichkeiten , die s ic h Euch darbieten, Eure Haltung z u bestimmen, die Ihr e in z unehmen habt.

Die erste dieser Möglichkeiten ist unannehmbar: sie ist j ene des Deserteurs, desjenigen , der mit Recht d er „Emigre a l 'interieur" [Auswandere r ins Innere] genan nt wurde. Es ist die Ablehnung des Verbitterten oder Verärgerten , der a us Veracht1mg oder Entmutigung von se in en Fähigkeiten und Energien keinerlei Gebrauch macht, in keiner Weise am Leben seines Landes und se iner Ze it teilnimmt, sondern sic h z u rückz ieht - wie der Pelide Ac hilles in sein Ze lt, in die Nähe der schnellen Schiffe, fern vom Kampfgefilde, während di e Gesc hick e des Vaterlandes auf dem Spiele ste hen.

Noch unwürdiger ist die Ablehnung, wen n sie aus einer trägen und untä tigen Gl e ichgültigkeit hervorgeht. Sch limmer in der Tat als schlec hte Laune, als Verachtung und Entmutigung wäre die Gleichg ültigk eit angesichts des Zusammenbruc hs, dem die eigenen Brüder und das e igene Volk verfallen müßten. Vergeblich würde s ie versuchen, s ich unter der Maske der Neutralität zu verstecken: ist s ie doch keineswegs neutral , s ie ist ungewollt oder Komplize! Jed e der le ichte n Schneefloc ken, die so sanft an den Berghängen liegen und s ie mit ihrem Weiß schmücken, hilft mit, wenn sie sich passiv mitreißen läßt, aus d er k le ine n Masse Schnee, die sich vom Gipfel losgelöst hat, die Lawine zu bilden , die das Unglück in das Tal hinunterbringt und dort die friedlichen Heimstätten zerschlägt und begräbt. Nur der starke Block, der mit dem Grundgestein fest zusammenhängt, setzt der Lawine eine n sieg-

276
l) Utz-Groner, S. 1632-1639.

DOKUMENTE!

reichen Widerstand entgegen und vermag ihre n Zerstörungslauf aufzuhalten oder wenigstens zu zügeln.

Dergestalt bleibt nur der gerechte und in seinen Absichten wohlgesinnte Mensch , von dem Horaz in einer berühmten Ode spricht [Carm. lll,3 ] , nur der Mensch, der sich von seinem unvenückbaren Denken weder durch den Aufruhr der Bürger, die verbrecherische Befehle geben, noch durch das finstere Gesicht des drohenden Tyrannen abbringen läßt, [der unerschrocken bleibt, auch wenn das Weltall in Trümmern über ihn fallen sollte]: ,,s i fractus illabatur orbis, impavidumferiunt ruinae" Is t a b er dieser gerechte und s tarkmütige Mens ch ein Christ, dann wird er sich n icht b eg nügen, mitten in den Ruinen aufrecht und ohne Gefühl zu stehen. Er wird sich vielmehr verpflichtet fühlen, dem Zusammenbruch Widerstand zu leisten und ihn zu ve rhindern oder wenigstens seine Schäden zu begre nzen. Kann e r das Zerstörungswerk nicht e indämmen, so wird er immerhin noch da sein, um das ni edergerissene Gebäude wieder a ufzubau e n und da s ve1wüstete Fe ld wieder anzusäen. So muß Eure Haltung sein. Sie besteht darin - ohne daß Ihr deswegen auf die Freiheit Eurer Überzeugungen und Eue r U1teil über den Wandel d er menschlichen Dinge verzichten mü ß te t -, die gegebenen Verhältnisse so zu nehmen, wie sie sind, ihre Kräfte zum Guten zu lenken, nicht nur für eine Klasse, sondern für di e ganze Gemeinschaft.

Dieses Gemeinwohl , d.h. die Verwirklichung normaler und stabil e r staatlicher Verhältnisse, in denen sowoh l der e inzelne wie die Familien mit dem rec hte n Einsatz ihrer Kräfte ohne Schwie rigkeiten e in würdiges, ge regeltes und glückliches Leben nach dem Gesetze Gottes führen können, bildet d en Zweck und d as obe rs te Gesetz des Staates und seiner Organe.

Die Menschen, sowohl im e in ze lne n wie in der menschlichen Gemeinschaft, und ihr Gemeinwohl sind immer gebunden an die abso lute Ordnung der Werte, die Gott aufgeste llt hat. Gerade zum Zweck, diese Bindung in e iner der Menschennatur würdigen A1t u nd Wei se zu verwirklichen und w irksam z u mac hen , ist dem Menschen die persönliche Freiheit gesche nkt worden, und der Schutz dieser Freiheit ist der Zweck eine r jeden Rechtsordnung, die die se n Namen ve rdi e nt. Daraus folgt aber auch, daß es k eine Freiheit und kein Recht g eben kann , diese abso lute Ordnung der Werte zu verletze n. Man würde s ie deshalb verletze n und die Verteidigung der öffentlichen Sittlichkeit, di e zweifellos ei n hervorragendes Element fü r die Aufrechterhaltung des Gemeinwohls von seite n des Staates ist, aus den Angeln heben, we nn z .B. ohne Rücksicht a uf diese höchste Ordnung e ine bedingungslose Presse- und Filmfreiheit gewährt würde. In diesem Fall hätte man nicht d as Rec ht auf wahr e un d echte Freiheit a n erka nnt, sond ern nu r di e Zügellosigk e it lega lisiett, wenn man der Presse und dem Film e rlauben

wollte, die religiös-sittlichen Grundlagen des Volkslebens zu untergraben. Um einen solchen Grundsat z zu begreifen und zuzugeben, braucht man nicht einmal Christ zu sein. Es genügt hi e rfür der von de n Leidenschaften ungestörte G ebrauch der Vernunft und des gesunden s ittlichen und rechtlichen Empfindens.

Es ist wohl mögli ch, daß einige schwerwiegende Ereigni sse im Verlaufe des verflossenen Jahres ein schmerzl ic he s Echo im Herzen vo n nicht wenigen unter Euch hervorgerufen haben. Wer aber vom Reichtum des c hr istliche n Gedankens le bt, läßt sich von den m enschlic hen Ereignissen nicht niederdrücken und aus der Fassung bri nge n , mögen sie auch sein wie immer, sondern wen det den Blick mutig auf das, was ge b l ieben i st und was doch noch seh r viel ist und sehr würdig seiner Beachtung. Geblieben ist die Heimat und das Volk, ist der Staat, dessen höchstes Ziel das wahre Wohl aller is t und dessen Aufgabe d as Zusammenwirken aller erfo rdert , wobei jed e r Bürger seinen Arbeitsplatz e rhäl t. Es gib t Millionen aufrechter Seelen, welche dieses Gemeinwohl im Lichte Gottes sehen m öc hten und es zu fördern tra c hte n gemäß der unvergänglichen Weisung seines Gesetzes.

Italien s teht im Begriff, sich e ine neue Verfassung zu geben. Wer könnte die grundlegende Bedeutung e ines solchen Unt e rnehm e ns ve rk enne n? Was das Leben sprinzip im le be nden Körper ist , das bedeutet di e Verfa ssu ng im sozialen Organismus, dessen wirtschaftliche un d auch sittliche Entwicklung engstens durch s ie bedi ngt wird. Wenn daher irgen djemand se in A ug e un verwa ndt auf die von Gott gesetzten Ordnungen ric hten muß, wenn irgendj e mand die Pflicht ha t, beständig das wahre Wohl aller vor Augen z u halten, dann s ind es gewiß jene, d en en das große Werk anve rtraut ist, e ine Verfassung auszuarbeite n.

Was nüt ze n aber a nd ererse its die best en Gesetze, wenn s ie to ter Buchst ab e bl ei ben würden? Ihre Wirksamkei t hängt z um großen Teil von de nen ab, die sie anwend e n müssen. In d e n Hän de n von Menschen , die nicht von ihre m Geist b eseelt s ind , die innerlich v ielleicht ganz anders denken , als di e Ges etze verfügen , oder d ie ge istig und s ittlich n icht fähig sind, s ie in die Tat umzusetzen, verliert auc h die vollko mm e n ste gese t zgeber ische Arbe it v iel vo n ihrem Weit. Eine g ute Verfassu ng ist zweifellos von se hr hoher Bedeutung. Was aber ei n Staat unbedingt braucht, s ind zustä ndi ge und e rfahrene Männer in Politik und Verwaltung, die sich, geführt vo n k laren und gesunden Grundsätzen, mit allen Kräften für da s g rößere Wohl der Nation e insetzen

Darum ruft die Stimme Eurer He imat, erschü ttert v on d e n sc hwere n Umwälzunge n d e r letzten Jahre , alle a u fr ichtige n Männer und Fra uen , in deren Familien und Pe rsonen das Beste an Geis teskraft, sittlicher Energie, gelebter und stets leben diger Tradi t ion des Landes ruht, z ur Mitarbeit a uf.

277

Diese Stimme beschwört sie , sich zur Verfügung des Staates zu stellen, mit a ller Kraft ihre r innersten Überzeugungen, und für da s Wohl des Volkes zu arbeiten.

So öffnet sich auch für Euch der Weg in die Zukunft.

Wir haben verga ngen es Jahre bei dieser selben Gelegenheit gezeigt, wie auch in den Demokra t ien jüngste n Datums, die noch keine Spur einer feudalen Vergangenheit aufweisen können , sich kraft der Verhältnisse eine neue Art von Adel oder Aristokrati e herausgebildet hat. Sie besteht in der Gemeinschaftjener Familien , die überlieferungsgemäß alle ihre Energien in den Dienst des Staates, seiner Regierung und seiner Verwaltung stellen und mit deren Treue er in jedem Augenblicke rechnen kann.

Eure Aufgabe ist deshalb ni ch t im entferntesten negativ. Sie setzt bei Euch viel Studium, viel Arbeit, viel Selbstverleugnung und vor allem viel Liebe voraus. Sie hat trot z der raschen Entwicklung der Zeiten ihre n Wert nicht verloren, ist nicht abgeschlossen. Sie verlangt von Euch ebenfalls - und das muß das Besondere Eurer traditionellen Familienerziehung sein - das Feingefühl und den Willen

DOKUMENTE I

- ein heute sehr oft sc hwe res und hartes Vo rrecht-, Euren Stand nur dazu zu nützen, um zu dienen. Geht deshalb , geliebte Söhne und Töchter, mit Mut und demütigem Stolz der Zukunft entgegen. Eure soziale Aufgabe ist zwar neu in der Form, doch im wesentlichen di ese lbe wie in Euren vergangenen Zeiten größeren Glanzes. Sollte sie Euch einmal schwierig, mühsam und vielleicht sogar nicht frei von Enttäusc hun gen erscheinen, dann vergeßt nicht, daß die Vorsehung Gottes, die sie Euch anvertraut hat, Euc h gleichzeitig die nötige Kraft und Hilfe gewähren wird, um sie würdig zu erfüllen. Diese Hi lfe erbitten Wir Euch von Gott, der Mensch wurde, um die menschliche Gesellschaft aus ihrem Verfall wieder aufzurichten und die neue Gesellschaft auf ein Fundament z u stellen, d as nicht wankt, da Er selbst der Eckstein des Gebäudes ist und E r es von Geschlecht zu Geschlecht immer wieder erneuert. Indes erte il en Wir als Unterpfand der auserlesensten himmlischen Gnaden, mit väter licher Liebe Euch, Euren Familien, allen Personen, die E urem Herzen teuer sind, Nahen und F emen, und in besondere r Weise Eurer lieben Jugend, Unseren Apostolischen Segen. 1

Ansprache vom 14 . Januar 1948

Geliebte Söhne und Töchter!

Wenn auch die schwierigen Zeitumstände Uns da zu veranlaßt haben, der gewohnten und traditionellen Audienz für Euch einen anderen, äußeren Rahmen zu geben, verlieren weder die Annahm e Eurer ehrerb ie tigen Wünsche noch der Ausdruck Unserer Glückwünsche für Euch und Eure Familien etwas von ihrem wesentlichen Wert und ihrer tiefen Bedeutung.

So wie das Herz uns eres gemeinsamen Vaters nur wenige Worte braucht, um seinen Kindern zu Herzen z u sprechen, so ist Eure bloße Anwesenheit hier schon das deutliche Zeichen für E ure unwandelbaren Gefühle der Treue und Verehrung des Heiligen Stuhles und für den Stellvertreter Christi.

Der Ernst der Stunde kann aber nur die Lauen und Wankelmütigen verwirren und erschrecken. Für die begeisterungsfähigen und e d e lmütigen Seelen aber, die gewohnt sind, im Geiste Christi und mit Ihm zu leben, ist das, ganz im Gegenteil, ein heftiger Ansporn, die widrigen Umstände zu beherrschen und z u überwinden. Ihr seid zweifelsohne bei diesen letzteren.

Aus diesem Grunde erwarten Wir von Euch vor allem die seelische Stärke, die auch die härtesten Prüfungen nicht erschüttern können , eine Festigkeit der Seele, die Euch, nicht für Euch selbst zu tadellosen Soldaten Christi macht, sondern auch um es einmal so

zu nennen - zu Lehrmeiste rn und Helfern derer, die versucht sind, zu zweifeln und aufzugeben.

Was Wir von Euch, in zweiter Linie, erwarten, ist eine Einsatzbereitschaft, die sich weder e inschüchtern noch mutlo s machen läßt von der Erwartung irge ndwelch er Opfer, die das Gemeinwohl von Euch fordeti. Die fre ud ige Bereitschaft, die Euch den Mut zu r Erfü llung aller Pflichten als Katholiken und Staatsbürger ve rleih t. De n freudigen Mut, der es nich t zu läßt, in die stumpfe und teilnahmslose Haltung de s „O hne-mich" zu verfa llen , die e ine schwe re Verfehlung in e iner Ze it wäre, da die lebensw ichtige n Interessen der Religion und d es Vaterlands auf dem Spiele stehen.

Was Wir schließlich auch noch von Euch erwarten, is t de r großmü ti ge Einsatz für die grundlegenden Gesetze der Doktrin und des christlichen Lebens. Nicht nur als Lippenb eken ntnis und formal, sondern von ganzem Herzen und unter Beweis gestellt durch rückhaltlose Hingabe an diese Ideale, die Grundregeln der Brüderlichkeit und sozialer Gerechtigkeit sind. Die treue Erfüllung dieses Einsatzes wird Euch - es kann gar nicht anders sein -wahrhafti ges geistiges und zeitliches Glück verschaffen.

Mögen diese Festigkeit der Seele, dieser Eifer, diese brüderliche Gesinnung jeden Eurer Schritte lenken und E ure Wege im Neuen Jahr s icher ma-

278
I) Utz-Groner, S. 1640-1646.

chen! Eines Jahre s, das s ich als ein u n s ic he res ankündigt und Euch fast durc h einen dunklen Tu nnel zu führe n sche int.

Es wird also für Euch , ohne Zweifel , ni c ht nur ein Jahr schwerer Prüfungen, son dern auch innerer Erle uchtung, geist iger Fre ud e n und wohltuender

Siege se in.

In d ieser Erwaitung, m it unerschütterlichem Ver traue n in uns eren Herrn und die He ilige Jungfrau , die Besc h ützer in di eser Ewige n Stadt , er tei len W ir Euch von ganzem He rzen Un seren v äte rlichen Apostol ische n Segen 1

Ansprache vom 15. Januar 1949

Die Weihnachtsfe ie r tage und de r Jahreswechse l sind für die c hristlichen Fami lien e ine stets mit Fre ude benützte Ge legenheit, die Bande d er Li ebe enger zu k nüpfen und di e gege nseitige Zuneig u ng durch Glückwünsche und durch die wec h se lseitige Zusiche run g v on Gebete n z u bekunden. Diese Freude e rl eben w ir heu t e, da Ih r nach a ltem Brauch ge komm en se id, ge liebte Söhne und Töch ter, um Uns E ure e rgebene Huldigun g dar zu bri nge n , d ie Euer erlauchter un d junger Sprecher in glücklicher We ise vorge trag e n hat.

D och d ie Glieder einer Familie, di e di eses Namens würd ig i st, begnügen s ich ni c ht dam it, alte und abgebra uchte G lüc kwunschforme ln mite inander zu wec h seln. J e des Ja hr frisc ht der Vater seine gewohnten E mpfeh lungen auf, indem e r sie veranschaulicht und ve r vollständ igt durc h j e ne Warnungen, w elche die besonde re n F orde run ge n der Stunde e inge be n. Die Kinde r d agege n prü fe n ih r B e tragen , um ihr e Folgsamkeit gegen üb er den vä terlic hen Ratsc hlägen - wenn es der Fall ist - aufr ic htig beteuern zu könne n .

So machen es auc h Wir Je des Jahr e rinn e rn Wir Euch an die vie lfältigen , grundlegenden und unwande lb aren Pflic hte n , di e Euch E ure St e llu ng in der Ge se ll sc haft auferlegt. Im letzten Jahr ha b e n Wir sie mit der von de n Ums tä nd e n e r forderten Kürze umrissen. Wir zw eifeln nic ht d ara n , daß Ihr Euer Gewisse n e rfor scht und Euc h gefragt habt, mit welcher Treue und a uf welc h e praktisc he, k on krete und w irksa m e We ise Ihr im Lauf des verflos se nen Jahres Geistesstärk e, Tatb e re itsc haft und g roßm üt iges fest ha lten an den G run dsätzen d er c hri s tli c h e n L e hre un d des ch ri st lic h en Lebens ge mäß Eurem eigenen Stand unter B ewe is geste ll t habt.

Ohne Zwe ifel bindet die se dre ifac h e Pflic ht a ll e und a ll ezeit. N ic htsd es towen ige r s t uf t s ie sic h a b und nimmt verschi e dene G e stalt an j e nac h den stets wec h se lnde n Ere ig ni sse n u nd den besonderen Verhältnissen j e ne r, den e n sie ob li egt.

Die Vo r s ehung h at e inem jeden in d er mensc hlichen Ges e ll sc haft e in e b eso nd ere Aufga be zugewiesen . S ie hat de s h a lb auch ihre Gaben gete ilt und au sget e i lt. N un aber so ll e n dies e Gaben oder Tale nte ihre F ru c ht bringen. Und Ih r w ißt, daß d er H e rr R eche n s chaft fordern wird von j edem über d ie Art,

w i e sie ve r wa lte t worden sind, und daß er nach d em erreich te n Gewinn r ich te n un d die gu ten und di e sc hl ec hten Knec h te vone inander u ntersche ide n w ird [vg l. Matt h. 25, 14 ff. un d Lu k. 16,2]. D ie H ä rt e de r Zeit könnte auc h Euch in d ie Zwa ngslage ve rse tzen, w ie so v ie le and e re z u arbe iten, um de n Leb e n sun t erhalt z u e r wer be n. D oc h se lb s t dann hättet I hr i nfol ge Eurer Herk un ft besonde re Gaben und Pfl ic h ten inmitten Eurer Mit bü rger.

Es ist woh l wa hr, daß in de r n euen Ver fass u ng Italie n s „die Adelstitel nicht anerkannt werden" ( u nbe sc hade t na tü r lich gemäß Art. 42 des K o nk o rdats, sowei t es d e n H ei l ige n Stu hl bet rifft, j e ner, di e von d en P äpsten verliehen s ind oder in Z u kunft ve rli e hen werde n). Doc h die Verfass un g ha t die Vergange nh e it nicht an nu llie re n können, noch die G eschic hte E ur e r Fam il ie n. Des ha lb sc haut und beobac hte t auch heu te noc h d as Vol k - te ils wo hl wollend , t eils a b lehnend, te i ls mit ehrfü rchtige m Vertra ue n , tei ls mit fein dl ichen Gefü hlen, we lc hes Be isp iel Ihr in E ur em L e ben ge bt. A n Euc h lieg t es a lso, d iese r Erwartung zu e n tsp rechen und zu ze igen, in welche r We ise Eue r Verha lte n u nd Eure Tate n de r Wahrhe it und der T ugend gleichförmig sind , besonde rs in j e ne n Punk te n , d ie Wir soe ben aus Unse re n le tztjährigen Em pfeh lu nge n in s G edäc h tni s gerufen haben

Geistesstärke ha ben a lle nöti g, b eso nders in unsere n Tage n , um di e L e iden m ut ig zu ert ragen, um die Sch w ierig kei t e n im L eben s ieg reic h z u ü be rw inde n und um die e igene P flich t bestän di g z u erfüllen. Wer m u ß nicht le iden? We r muß n ic h t Kumm t: r tragt:n? Wt:r m uß nich t kämpfen ? Nur j e n er, de r s ic h se lbs t aufg ibt und fli e ht. Ih r aber habt we ni ger als so v iele a ndere da s R ec ht, Eu c h se lbs t aufzugeb e n un d zu flie hen Heute sind di e L e iden , die Schw ierig keiten und die Nöte fü r gew öh n li ch a ll en K la sse n , a llen Ständ e n, a ll en Fa m ilien und allen Pe rson e n geme insam Und wen n e ini ge davo n frei s ind, im Überfl uß und im Vergnügen sc hw im men , so mü ßte di es s ie d azu an t rei be n , d as Ele nd un d die Not d er and e re n mit a u f sich z u nehme n. Wer könnte Zu fri ede nh e it und Ruh e habe n , we r wü rd e n icht v ie lme hr sich unb ehagl ic h fü hlen und in Scham e rrö ten , wenn e r in de r Muße und in de r Ausge lassenheit, im Lu x u s u nd im Schwe lge n lebte, wä h ren d

DOKUMENTE!
27 9
1) Discorsi e Radiomessaggi di Sua Santitä Pio XII, Tipografia Po lig lotta Vat i ca na , 14 1 1948, S 423 -424

ringsum so gut wie überall Trü bsal herrscht? Tatbereitschaji. In der großen persönlichen und sozialen Solidarität muß jeder bereit sein, für das Wohl aller zu arbeiten, s ich zu opfern und sich hinzugeben. Der Un t e rsc h ied liegt nicht in der Tatsächlichkeit der Verpflic htung , sondern in der Art, ihr zu genügen U nd ist es etwa nicht wah r, daß jene, die über mehr Zei t und reichere Mittel verfügen, die Dienstbeflissensten und Diensteifrigsten se in sollt en? Wenn Wir von den Mitteln sprechen, so meinen Wir damit nicht lediglich und in erster Linie den Rei chtum, sondern alle Gaben des Verstandes , der Kultur, der Erziehung, des Wissens, des Einflusses , die vom Schicksal einzelnen Bevorzugten gegeben werd en , und zwar nicht ausschließl ich zu ihrem eigenen Vorteil oder zur Schaffung einer unheilbaren Ungleichheit unter Brüdern, sondern zum Wohl der ganzen sozialen Gemeinschaft. In all dem, was Dienst ist für den Nächsten , für die Gesellschaft, für die Kirche und für Gott, müßt Ihr immer die ersten sein. Hier ist Euer wahrer Ehrenrang. Hier ist Euer adeligstes Vorrecht.

Großmütiges Festhalten an den Grundsätzen der christlichen Lehre und des christlichen Lebens. Diese sind ein und d ie selben fü r a l le. Denn es g ib t weder zweierlei Wahrheit noch zweierlei Gesetz. Reich un d arm, groß un d klein, hoch und niedrig, sie alle sind in gleicher Weise verpflichtet, durch den Glauben ihren Verstand ein un d demselben Dogma, durch den Gehorsam ihren Willen e in und derselben Moral zu unterwerfen Das gerechte Urteil Gottes w ird jedoch jenen gegenübe r v iel strenger sein, die mehr empfangen haben , die besse r im-

DOKUMENTE!

stande sind , die einzige allein wahre Lehre kennenzulernen und im Alltag in die Tat umzusetzen, die durch ihr Beispiel und durch ihr Ansehen die anderen leichter auf den Weg der Gerechtigkeit führen oder sie auf den verhä ngnisvollen Pfaden des Unglaubens und der Sünde ins Verderben stürzen könne n.

Geliebte Söhne und Töchter! Das vergangene Ja hr hat geze igt, wie notwendig diese drei inneren Kräfte s ind. Es hat außerdem die bemerkenswerten Ergebnisse an den Tag gebracht, die durch ihre rechte Anwendung erzielt werden können. Nun komm t es vor allem darauf an, daß die A kti on keine Unterbrechung oder Verlangsamung erfä hrt, sondern sich mit Beständigkeit und Festigkeit entfa ltet und belebt. Deshalb haben Wir mit besonderer Fre ud e den Worten Eures Sprechers entnommen, w ie tief in Euch das Verständnis für die heutigen sozialen Übel und wie entsch ieden der Entschluß ist, dazu beizutragen, daß nach Gerechtigkeit und Liebe Abhilfe geschaffen wird.

Festigt also in Eurem Geist die Entschlossenheit, dem, was Christus , die K irc he, die Gesellschaft mit Vertrauen von Euch e1warten, voll zu entspreche n , damit Ihr am Tag der großen Vergeltung das beseligende Wort des höch sten Richters vernehme n dürft: ,,Guter und getreuer Kriecht geh ein in die Freude deines Herrn" [Math. 25,2 1].

Dies ist der Wunsch und die Bitte, die Wir für Euch dem Jesuskind vortragen, während Wir a us innerste m Herzen Euc h , Eure n F amilien und allen Personen, die Euch lieb und teuer sind , Unseren väterlichen Apostol ischen Segen erte i len 1

Ansprache vom 12. Januar 1950

Wenn Wir, gel iebte Söhne und T öchter, in Übereinstimmung mit dem Beispiel Unserer Vorgänger, Uns angewöhnt habe n, Euch z um Beginn des Neuen Jahres zu empfangen, um Eure Glückwünsche entgegenzunehmen und zu erwidern , werden Wir dazu - fern allen Überlegungen ode r menschlicher Vorliebe - durch Gründ e der Ehre und Treue bewogen Wir grüßen in Euch die Nachfahren und Vertreter der Familien, die sich ehemals durch ihre D ienste für den Heiligen Stuhl und den Stellvertreter Christi ausgezeichnet haben und dem Papst treu geblieben s ind auch dann , wenn sie sich dadu rch Beschimpfungen und Verfo lgungen ausgesetzt haben Ohne Zweifel kann s ich, im Laufe de r Zeit, die soziale Ordnung und ihr Mittelpunkt ve rschieben. Die öffentlichen Ämter, die einst Eurer Klasse vorbehalten waren, könnten jetzt nach dem Gleichheitsprinzip zugeteilt und versehen werden. Und doch kann selbst der moderne Mensch Euch, wenn

er ehrlich und gerecht sein wi ll , Verständnis und Anerkennung nicht ve r we igern Beweise des verdienten Gedenkens, die als Ansporn für die Zukunft dienen so ll en.

Ih r habt Euch heute um Uns versammelt, zu Beginn des Jahres, das die Mitte des 20. Jahrhunderts b i ldet, des Jubeljahres, das mit der Öffnung der He i ligen Pforte beginnt. Die re ligiö se Zeremonie der drei Hammerschläge auf die Mitte der Pforte, hat an sich schon symbol ische Bedeutung. Sie ist ein Symbol der allumfassenden Vergebung. Wie kann man also den lebendigen Eindruck erklären, den diese Zeremonie nicht nur unter de n Kindern der Kirche, die den tiefen Sinn versteh en können , e r weckt, sondern auch bei denen, die ferne stehen, und die sche in bar nur für das empfä ngl ich sind, was sie berühren können, oder sich messen und beziffern läßt?

Müssen Wir das vie lleicht als Vorahnung und

280
I) Utz -Groner, S. 1627-163 1.

Erwartu ng des neue n ha lben Jahrhunde rts ne hmen, weniger belaste t d urch Bitterkeit und E nt täusch ungen? Als Symptom eines a n steigenden Bedürfnisses der Re inigung und Wiede rg utmach un g? Der Sehnsucht nach Versöh nung und Fri e de n un t er den Menschen, die der Kr ieg und soz ia le K ämpfe sowe it e ntzweit haben? Wie könnten Wir dan n , in demütigem christlichen Vertrauen in diesem so g lück liche n Beginn de s Jubeljahres, den Finge rze ig Gottes üb e rs eh en?

Die besondere Kraft d es Segens, de n d as Heilige Jahr in di e g esamte Menschheit ausstra hl e n soll , w ird zum gro ßen Te il von d er Mitwirkung abhängen, welc h e die Katho like n vo r a llem durc h Gebet und Buße leis t en. Was das betrifft, haben d ie Gläub igen Roms dabei besondere Pflich te n und Vera ntwortu ng . Ih re Art sich zu verha lten und ihr Lebensstil werden in diesem Jahr ga nz besonders auch v on der weltwei t e n Kirche beobachtet werden, der Kirche, die d urc h di e Menge der Pilger vert re t e n ist, di e aus allen Tei le n der Welt in die He i li ge Stadt ziehe n werden. Euch selbst, ge li eb t e Söh ne und Tö c h ter,

werde n Ge legenheiten d azu nich t feh len, de n andere n voranzugehe n und sie durch Eure guten B eis pie le nachzuziehen: Beispiele d es inbrünstigen Gebetes, e infacher christlicher Lebensart, des Ve rzichtes au f B e quemlichkeit und Genuß. Be is p ie le , ec hte r Bußfertig k eit, herz li cher Gastfreu nd sc h aft und de r gewissenhaften Erfüllung der L iebesdienste zu Gunsten der Einfachen, Leidenden und A rmen. B e isp iele des un ersc h rockene n E insatzes fü r die Sache Gottes.

Die K lasse, der I hr ange hö 1t, bringt Euc h auße rdem auch le ic hter und häu fi ge r in Kontakt m it bedeu tenden Persönlichkeite n anderer Länder. Trachtet mit Fle iß da nach, bei solc hen Gelegenhe iten die An nähe nrn g zwisc hen d en Menschen u nd Völke rn zu förd ern Möge die We lt am Ende des He il ige n Jahres gelas se ner ersc heine n , in Ruhe und b r üder liche r Ei nigk e it!

Mit dies e n Wü nschen erte ile n Wir, von ganzem He rze n , Euch und Eu ren Fam ili en, beson ders denen in de r Feme und de n Kranken , Unseren vä terliche n Apostol ischen Segen. 1

Ansprache vom 11. Januar 1951

Mit ü bervoll em H erzen wenden Wir Uns mit väterlichen G rüß en an di e Mitgliede r des Ade ls un d d es Patrizia t es vo n R om , die getreu einer a lten Tradition sich um Uns versamme lt h aben, um U n s ihre Glückwünsche zum Jahresbeginn zu übe rbringen, Glückwünsche v oller kindl ic he r Ergebenheit, die Euer erlau c hte r und bered ter Wott fü hr er z um Ausdruck gebracht hat. J edes Jahr, eines nach dem a nderen, geh t in die Geschic hte e in und g ibt a n das nächs te s e in Erbe ab, für d as es verantwort lich i st. Jenes, das vor k urzem zu Ende gegangen is t , das H e ilige Jah r 1950, w ird a ls eines der bedeu tungsvo lls ten in mora li sche r und vor a lle m übernatürlic her Hinsicht, unvergeßlich se in. Über den Ablauf dieses J a hr es, werden d ie Ann alen E urer Fami lien d ie Wichtigs te n Ere ig ni sse vennerke n , stra hl e nd e Lichter a uf den Wegen Eure r Kinder un d Enkel , um ihne n d en Weg in die Z u kunft zu erleuchten.

Aber könnten diese Ann a le n etwa w ie ein vers iegeltes Buch sein? Oder könnten sie etwa nur Erinnerungen einer bedeutungs losen Vergangenheit enthalten? Nein! Sie müs sen v ielmehr Bo tsc haften der verflossene n an d ie z ukünftigen Generationen sein

Die Feierl ic hkeiten des H eilige n Ja hres g inge n in Rom nicht nur w ie e in Schauspie l zu Ende. S ie waren v ielmehr w ie e in Programm für e in wachsendes, ge re inig tes und gehe iligteres Leben , das durch Gö ttli c h e Gnad e fruc ht b a r w ird. Dieses muß we iterwirken und reic h werden durc h den unun te rbroc h enen Beitrag von Gedanke n un d Gefüh len, Problemlös ungen und Handlungen Eurer Vorfahre n ,

d ie s ie Euch übermittelt haben. So wie auc h Ihr d iese Beispiele an die we itergebe n werdet, die nach Euch kommen .

Der Stur m der ne ue n Ze ite n zieh t di e Traditionen d er Vergange nheit in se in en Strudel hinab. Dabei aber ze igt s ich , was dazu bestimmt is t , wie we lke Blätter abzufallen und was, im Gege nsat z dazu , auf Grund seiner in newohnende n Lebe ndigk eit b le ibt und im mer fes t er wird.

Adelige un d Patrizie r di e - um es ein mal so z u sagen - ge lä h mt s ind durch die Er innerung an vergangene Zeite n , gehe n ei nem un aufhaltsa m e n Verfa ll entgegen.

H e ute, mehr w ie j e zuvor, seid Ih r berufen, ei ne El it e z u sein, ni c h t n ur durch Blut und Abstamm un g, sondern mehr noch auf G run d Eurer We r ke un d Eures E insatzes, de r schöpferisc he n Hand lu ngen z um Wo hl e der ganzen mensc hlichen Geme inschaft. Dieser Verpflic htung kann sic h ni emand ungestraft en tz ie he n. S ie ist n ic ht nur e ine mensch liche und st aatsbü rgerlich e Pflicht, sondern e in h e iliges Glaubensgebot, e rerbt von Eure n Vätern, das I h r, wie s ie, vollständig u n d u ngeschmäl ert, an E ure Nachfahren we iterz ugebe n ha bt. Verbannt deshalb aus Eurer Mitte Niedergesc hl age nhe it und K leinmut, di e Mutlosigke it a nges ichts de r Neuerungen , d ie v i eles untergehen lassen, was frühe re Z e itengeschaffen haben. Verbannt d ie Kl e inm üt igke it schwerw iegen de n Ereignissen gege nü ber, welche die Neueru ngen unserer Tage beg le iten !

Röm e r sein, heißt stark se in , im Hande ln, aber

DOKUME N TE!
28 1
1) Discorsi e Radiom essaggi di Sua Santita Pio XII, T ipografi a Poliglotta Vaticana, 12. 1.195 0, S. 35 7-35 5.

auch im Dulden!

Christ zu sein, hei ßt Prüfungen und Leiden anzunehmen, Pflichten und Notwendigkeiten der Zeiten zu übernehmen mit Mut, Kraft und Gelassenheit des Geistes, die aus den Quellen der ewigen Hoffnungen das Gegengewicht gegen die menschlichen Nöte beziehen.

Menschlich großartig ist das stolze Wort des Horaz: ,,Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae" [Und wenn die ganze Welt in Trümmer fällt, treffen die Ruinen noch einen Helden] (Oden III, 3).

Viel schöner aber noch, vertrauensvo ll er und

DOKUMENTE!

hinreißender ist der Siegesruf auf christlichen Lippen, der aus einem glaubensvollem Herzen kommt: „Non confundar in aeternum" [In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden!] (Te Deum).

Wir bitten den Schöpfer alles Guten für Euch, daß Er Euch unerschrockenen Mut und die Gö t tliche Gabe der unerschütterlichen Zuversicht aus dem Glauben geben möge und ertei len Euch von ganzem Herzen, geliebte Söhne und Töchter, Euren Familien und allen, die Euch lieb und wert s ind , hi e r und in der Feme, Gesunden und Kra nk en und für Eure geheiligten Bestre bungen und Unternehmungen, Unseren Aposto li schen Segen. 1

Ansprache vom 14. Januar 1952

Treu Eurer althergebrachten Überlieferung seid Ihr, ge li ebte Söhne und Töchter, a uch dieses Jahr gekommen, um dem sichtba ren Haupt der Kirche Eure Verehrung zu bezeugen und Eure guten Wünsche zum neuen Jahre darzubringen. Wir nehmen sie mit lebhafter und tiefempfundener Dankbarkeit entgegen und entbieten Euch dafür die innigsten Wünsche Unsererseits. Wir schließen sie ein in Unsere Gebete, damit das soeben begonnene Jahr gezeichnet sei vom Siegel der göttl ichen Güte und bereichert werde von den kostbarsten Gunste1weise n der Vorsehung. Wie gewöhnlich, möchten Wir diesen Wünschen gern ei nig e praktische geistl iche Winke anfügen, die Wir kurz in einer dre ifachen Ermahnung zusammenfassen:

Richtet Euren Blick zunächst ohne Furcht und Zagen auf die Realität un serer Zeit. Es sche int Uns üb erflüssig, Euch nochmals ins Gedächtnis zu rufen, was bereits vor drei Jahren der Gegenstand U nserer Betrachtungen war. Es kommt Uns sinnlos vo r und Euer auch nicht würdig, es Euc h mit klugen Beschönigunge n zu verschleiern, zumal nachdem die Worte Eures beredten Sprechers ein so eindeutiges Bekenntnis Eurer Anhänglichke it an die Soz iall e hre der Kirche zum Ausdruck gebracht haben und die Pflichten, die sich darau s ergeben. Die neue ital ienische Verfassung erkennt Euch a ls sozialem Stand im Staate und im Volk keinerlei besondern Auftrag mehr zu, kein Attribut mehr und kein Privileg. Ein Blatt der Geschichte ist umgeschlagen, ein Kapitel ist abgeschlossen. Hinter eine soziale und wirtschaftliche Vergangenheit ist der Schlußpunkt gesetzt. Ein neues Kapitel mit ganz neuen Lebensformen hat begonnen. Man mag darüber denken, wie man will. Die Tatsache besteht. Es ist der „Sc hicksalsschritt" [fatale andare] der Geschichte. Mancher wird e ine so tiefe Umwälzung vie lleicht schmerzlich empfinden. Doch was hilft es, die Bitterkeit lange auf der Z unge zu behalten. Schließlich

müssen s ich alle der Wirklichkeit beugen. Der Unterschi ed liegt nur in der „A rt und Weise" . Die Mittelmäß igen mach en im Unglück nur e in schmol lendes Gesicht, di e überlegenen G e ister verste hen es, nach einem klassischen Wort, aber hier in einem etwas höheren Sinne, beauxjoueurs [gute Verlierer] zu sein und unerschüttert ihre vornehme , he itere H altung z u bewahren.

Erhebt und heftet d e n Blick au f da s chris tlich e Idea l. Alle Umwandlungen, Evolutione n oder Revolutionen, la ssen es unberührt. S ie vermögen nichts gegen das inn erste Wesen wah ren Ade ls, das Streben nach c h ristlicher Vollkommenh ei t, wie sie der Erlöser in der Bergpredigt zeigte. Unbedingte T reue zur katholischen Lehre, zu C hri s tu s und seiner Kirch e; Fähigke it und W illi gkeit, a uch d en anderen darin Beispiel und Führer z u se in. Ist es e twa nötig, E uch di e praktischen Anwendungen dafür aufzuzählen? Schenkt der Welt, auch der We lt d e r G lä u b igen und der praktizierenden Katholiken , da s Schauspiel eines untadeligen E heleb e ns, die Erbauung einer wirklich beispiel haften Familie. Errichtet um Euer H eim und E ure n Kre is e inen Damm gegen das Einsickern verhängn isvo ll er G rund sä t z e , verderblicher Schwächen und Weichlichkeiten, we lche di e Rein heit des Ehe- und Familien lebe ns beflecken oder tr üb en könnten. Das is t gew iß ein he rvorragendes und hei li ges Werk, sehr gee ignet, de n Eifer de s römi sc h en und christli chen Ade ls in un s erer Zeit zu e ntfa chen.

Während Wir Eurem Geist die se Erwägungen vo r legen , denken Wir besonders an jene Länder, in denen die Katastrophe der Zerstörung besonders die Fami li en Eures Standes getroffen und aus Macht und Reichtum in die Verlassen heit und bisweilen soga r in äußerstes Elend gestürzt hat. Doch zu gleicher Ze it hat sie den Ade l und die Großzügigkeit geoffenbart und ans Lichtgebracht, mit der viele von ihnen auch im Unglück Gott die Treue hielten, die stille

282
I ) (Discorsi e Radiomessaggi di Sua Santitd Pio XII, Tipografia Poliglotta Vaticana, 11.1.1951, S. 423-424.)

DOKUMENTE!

Seelengröße und Würde, mit der sie ihr Schicksal zu tragen wissen: Tugenden, die man nicht improvisieren kann, die v ielmehr in der Stunde der Bewährung zur Blüte und Reife ge langen.

Endlich, lei ht dem gemeinsamen Werk Eure hingebende und bereitwillige Mitarbeit. Groß genug ist noch das Feld, auf dem sich Eure Tätigkeit nutzbringend auswirken kann: in der K irche und im Staat, im Bereich des parlamentarischen Lebens und der Verwaltung, in Kultur, Wissenschaft und Kunst und in den verschiedenen Berufen. Nur eine Haltung ist Euch untersagt, sie würde dem ursprünglichen Gei st Eures Standes von Grund auf zuwider sein: Wir meinen den Ge ist des ,,Ohne-mich". Das wäre mehr a ls nur eine „Em igration", es wäre Desertion. Was darum auch immer kommen und wie teuer es zu stehen kommen mag, vor allen Dingen tut es not, die gesch lossene Einheit aller katholischen Kräfte gegen jede Gefahr selbst des kleinsten Sprungs zu bewahren. Es kann woh l sein, daß der eine oder andere Punkt bei der gegenwärtigen Lage der Dinge Euch mißfällt. Aber aus Interesse und aus Liebe für das Gemeinwohl, für die Rettung der christlichen Kultur in der Krise, die weit entfern t ist von einer Entspannung , die vie lme hr immer noch anzuwachsen sc heint, haltet stand in der Bresche, in der vorders -

ten Verteidigungslinie. Eure besonderen Vorzüge können dort auch heute die beste Verwendung finden. Eure Namen, die den große n Klang der Tradition fernster Vergangenheit in der Geschichte der Kirche und der menschlichen Gesellschaft trag en , rufen die Gesta lten großer Männer ins Ge dächtnis und wecken in Eurer Seele das Echo der Pflicht, ihrer würdig zu sein

Das angestammte Gefühl für B es tändigke it und Kontinuitä t und da s Festhalten an gesunder Tradition sind Kennzeich en wirk lichen Adels. Versteht Ih r es, mit ihnen e ine große Wei t e des Blickes für die Wirklichke it uns e rer Zeit zu verbinden, besonders für di e soziale Gerechtigkeit, für e ine lo yale und offene Zusammenarbeit, dann werdet Ihr einen Beitrag von höchstem Wert für das öffentliche Leben leisten.

Dies sind, geliebte Söhne und Töchter, die Gedanken , die Wir Euch zu Beginn dieses neuen Jahres nah e lege n wollten. Flöße Euch der Herr den Vorsatz ein, sie zu verwirklic hen, und w ürdi ge er s ich, Eure n guten Willen mi t der Übe rfü lle seiner Gnaden fruchtbar zu machen , a ls d ere n Unte rpfand Wir von ganzem He rze n Euch, Euren Familien, Euren Kinde rn, Euren Kranken und Schwachen und allen, die Euch teu er sind, Nahen und Femen, Uns ere n väterlichen Apostolischen Segen erte i len.'

Ansprache vom 9. Januar 1958

Mit lebhafter Freude empfangen Wir Euch, geliebte Söhne und Töchter, in Unse re m Hause, die Ihr - noch durchdrungen von den gehei lig te n Ausstrahlungen de s Weihn ac htsfestes - gekommen seid , um Eure Erg ebenheit die sem H e ilige n Stuhl g egenübe r zu be kräftig e n. Mit väterlichen Gefühlen und dem heißen Wunsch, sich von d e r Liebe de r Kinder umgeben zu lass en, sind Wir g erne b e reit , Eurem Wunsche z u e ntsprechen, wieder e inmal Worte der Ermuntemng zu hören. Dies, in Elwiderung d er Wünsche Eures e rl a u c hte n und beredten Sprech ers, die er Uns eben e ntboten h at.

Die heutige Audienz erinnert Un s an den erste n B esu c h, d e n Ih r Uns im schon weit zurüc kliege nden Jahre 1940 abgestattet habt. Wi e viele schmerzliche Ve rlu st e sind in z wischen in Euren auserwä hlten Re ih e n eingetreten, aber auc h wie vie le neue und schöne B lume n s ind inzwischen auf dem g leichen Fe lde erblüht! D as schme rzen de Gedenken an die Einen und die frohe Gegenwart der Anderen scheinen wie in e ine m gro ße n Bilde de s Lebens zusam m enzufallen, da s - wenn es auch Vergäng li ches e nthält - heilsame Lehren erteilt und sein Licht de r Hoffnung auf Geg enwart und Zu kunft ausstrah lt. Während di eje ni gen, die „ vom Weiß des Schnees

oder des Silbers die Stirne umra h mt trage n " in den Fri e den der Gerechten eingega ngen s ind, geschmückt mit de n „ vielen Verdiensten, die s ie durch lange Pflichterfüllung" erworbe n ha be n , nahmen und nehmen an dere ,,, unternehmungsfreudig in der Blüte der Jugend und im Glanz des Mannesalters", ihren Platz ein. Diese, ge leitet von der dränge nde n H a nd der Zeit, die ihre rseits der we isen Führung durch den Schöpfer folgt. Inzwischen si nd sie zum Kamp f für „Fortschritt und Verteidigung aller edlen Unternehmungen" angetre t e n , die damal s z u den K leinen ge hört habe n, de ren „ heiteren und lächelnden Unschuld" Unsere Vorliebe gehört. In ihne n liebten Wir di e„ kindlich- unbefangene Arglosigkeit, das lebhafte und klare Leuchten ihrer Blicke, engelsgleicher Abglanz der Reinheit ihrer Seelen" (vgl. ,,Discorsi e Radiomessagi", Bd. I , 1940, S . 472) . Nun, an j e n e Kleinen vo n dam a ls, di e jetz t le bhafte Jüngling e oder schon reife Männer geworden sind, wünschen Wir vor a llem Unse r Wort z u richten, so, als ob Wir ei n wenig d as Inne rs te Uns eres Herze ns eröffnen wollten.

Ihr, die ihr zu jedem Jahresbeg inn es nicht versä umt, Uns aufzusuchen, werdet Euch s ic h er an die Eindrin g lichkeit e ri nnern, mit d e r Wir bemüht wa -

l ) Utz- Groner, S. 1647-1650 .

283

ren, Euch den Weg in die Zukunft zu weisen. Einen Weg der sich damals schon als ein schwieriger Gang zeigte, in Anbetracht der folgenschweren Umwälzungen und großen Veränderungen, di e die Welt bedrohten. Trotzdem sind Wir sicher, daß Ihr - auch wenn Eure Stirnen vom silbernen Weiß umrahmt sein sollten - noch Zeugen sein werdet. Zeugen nicht nur Unserer Wertschätzung und herzlichen Zuneigung, sondern auch der Richtigkeit, Begründbarkeit und Zweckmäßigkeit Unserer Ratschläge und der Früchte, die, wie Wir hoffen wollen, sie für Euc h und das Gemeinwohl tragen werden.

Im Besonderen werdet Ihr Eure Kinder und Enkel daran erinnern, wie der Papst Eu rer Kindheit und Juge nd es nie unterlassen hat, Euch darauf hinzuweisen, welche neue Aufgaben die neuen Zeitumstände dem Adel auferlegen werden. Jener Papst, der Euch vielmehr oft erklärt hat, daß fruchtbare Arbeit der sicherste und würdigste Titel dafür ist, um Euch e ine n dauerhaften Platz unter den Führern der Gesellschaft zu sichern. Daß die gesellschaftlichen Unterschiede, die Euch nicht nur aus der Masse hervorhebe n , sondern Euc h auch besondere Pflichten z um Wohle der Allgemeinheit auferlegen. Daß die obersten Gesellschaftsklassen dem Volke große Vorteile aber auch schweren Schaden bringen können. Daß di e Veränderung der Lebensbedingungen sich, wo auch immer, doch den Tradition e n anpassen können, die die Patrizierfamilien bewahre n.

Oftmals, mit Bezug auf die Zeitumstände, haben Wir Euch dazu aufgefordert, an der H e ilung der Wunden, die der Krieg geschlagen hat , mitzuwirken. Mitzuwirken bei der Wiederherste llung des Friedens, bei der Neugeburt des nationalen Lebens , aber Euch fernzuhalten von der inneren „Auswanderung" oder Verweigerung. Das deshalb, weil auch in der neuen Gesellschaftsordnung weite Spielräume für Euc h reserviert sind, wenn Ihr Euch tatsächlich als Elite und als die Besten erweist. Das heißt, hervorragend durch seelische Ausgeglichenheit, schnelles Zupacken und großzügige Anteilnahme. Ihr werdet Euch auch an Unsere Aufforderung erinnern, Niedergeschlagenheit und Kl e inmut wegen der Veränderungen in den Zeitumständen zu verbannen und an Unsere Ermahnungen denk e n , Euch mutig den neuen Umständen anzupassen. Das alles, mit festem Blick auf das christliche Ideal , den wahren und unvergänglichen Nachweis echten Adels. Und wozu wohl, geliebte Söhne und Töchter, haben Wir Euch diese Ratsc hläge und Empfe hlungen gegeben, wenn nicht um Euch vor E nttäusc hungen und Bitterkeit zu bewahren und um der Gesellschaft, zu der Ihr gehört, den wertvollen Beitrag, den Ihr geben könnt , zu erhalten. Vielleicht aber fragt Ihr Uns, was Ihr Greifbares tun müßt, um dieses hohe Ziel zu erreichen?

Vor allem müßt Ihr auf einem untadeligen religiösen und moralischen Verbalten beharren,

besonders in Eurem Familienleben, und einer gesunden Strenge in der Lebensführung. Verhaltet E uch so, daß die anderen Klassen den Schatz an Tugenden und Gaben bemerken, die die Früchte der langen Tradition Eurer Familien sind. Zu diesen Früchten gehören die unerschütterliche Kraft Eures Geistes, die treue Hin gabe an die edelsten Dinge, zartfühlendes Mitleid und Hilfsbereitsc haft den Schwachen und Armen gegenüber. Kluges und feinsinniges Vorgehen in schwierigen und schwerwiegenden Angelegenheiten, jenes persönliche Ansehen, das in den vornehmen Familien ja fast e rblich ist, womit man vermag zu überzeugen ohne z u bedrängen, zu führen, ohne zu zwinge n, zu erobern, ohne die Gefühle des Anderen zu verletzten oder zu demütigen und das sogar bei Gegnern und Rivalen. Der Einsatz dieser edlen Gaben und die Ausübung religiöser und ziviler Tugenden sind die üb erzeugend e Antwort auf Vorurteile und Mißtrauen. Sie beweisen höchste geistige Lebenskraft, die die Ursache äußerer Stärke und fruchtbringender Arbeit ist.

Kra ft und Fruchtbarkeit d er Werke! Das sind zwei Eigenschaften de r ech ten Ar istokrati e, dessen hera ldische Symbole, in Bronze gegossen und in Marmor geha uen, unvergängliche Ze ugni sse s ind, weil s ie sichtbare Spuren der politischen und kulturellen Geschichte vieler ruhmre ich er, europä ischer Städte sind. Es ist wohl war, daß die moderne Gesellschaft nicht den Brauch hat, in erster Linie vo n Euch den richtigen Hinweis beim Beginn von Unternehmungen und zur Meisterung von Geschehnissen z u erwarten. Trotzdem weist auch s ie nicht die Mitwirkung E urer hoh e n Talente zurück. D as ist so, weil e ine urteilsfähige Gruppe dieser Gesellschaft gerechtfertigte Hochachtung vor den Tradit ion e n bewahrt hat und den Wert des hoh e n Ansehens schätzt, soweit dieses b egr ündet ist. Auch der andere Teil der Gesellschaft, der Gleichgültigkeit oder sogar Verachtung den uralten Lebensforme n gegen über zeigt, ist doch nicht ganz unempfindlich für den Reiz gesellschaftlichen Glanzes. Das geht j a soweit, daß man sich bemüht, eine Art neuer Aristokratie zu schaffen, einige Forme n d avo n beachtlich, andere jedoch nur auf Eitelkeit basierend. Auf E itelkeit und Nichtigkeiten, die sich ledi g lich dadurch auszeichnen, daß s ie einige dekadente E lemente der alten Ei nrich t ungen übernehmen.

Es ist klar, daß sich die Kraft und Fruchtbarkeit der Werke he ut e nicht immer in veralteten Formen ausdrücken kann. Das heißt aber nicht, daß Eure Einsatzmöglichkeiten eingeschränkt worden s ind. Im Gegenteil, diese Möglichkeiten beste hen h e ute bei der Gesamtheit aller Berufe und Ämter. Alle beruflichen Einsatzmöglichkeiten stehen Euch offen, auf allen Gebieten könnt Ihr Euch nützlich und bedeutend machen: in der öffentlichen Verwaltung, in der Regierung, auf wissenschaftlichem Gebiet, in der Kulturarbeit, der Industri e und dem Handel.

284
DOKUMENTE!

DOKUMENTE!

Schließlich wünschen Wir, daß Euer Einfluß in der Gesellschaft Euch vor einer Gefahr beschütz t , die kennzeichnend für die moderne Zeit ist. Es ist beka nnt, daß die Gesellschaft Fortschritte macht, wenn die Tugenden einer ihrer Klassen sich unter den anderen Klassen verbreitet. Ebenso ist es bekannt, daß das Niveau der Gesellschaft absinkt, wenn sich die Laster und Unsi tten eines Teiles der Gemeinschaft auf die anderen Teile ausdehnen Der Schwäche der menschlichen Natur wegen, kann man feststellen, daß sich besonders die Übe l heute von Volk zu Volk und über die Kontinente ausbreiten, umso einfacher Kommunikation, Informat ion und persön liche Kontakte geworden sind

Auf dem Gebiet der Moral kann das gleiche beobachtet werden w ie im Gesundheitswesen. Weder Distanzen noch Grenzen können jemals einen Epidemieerrege r davon abhalten, in kurzer Zeit selbst ferne Regionen zu befallen. Deshalb ist es möglich, daß die hochgestellten Klassen, darunter Eure, a uf Grund ihrer vielfältigen Beziehungen und häufigen Aufentha lte in L ändern verschiedener, möglicherweise schlechterer Moral, leicht zu Überträgern von Sittenverirrungen werden könnten. Dabei beziehen Wir Uns besonders auf Verirrungen, welche die Heiligkeit der Ehe in Frage stellen, de r re li giösen und moralischen Erziehung der Jugend, der christlichen Zurückhaltung bei Vergnügungen und auf di e Schamhaftigkeit. Die traditionelle Hochachtung dieser We1ie in Eurem Vaterland muß verteidigt und he ilig und unverlet zl ich gehalte n werden und vor d en Angriffen der zerstörenden E inflüss e geschützt werden, von wo auch immer sie herkommen mögen. Jeder Versuch, mit der Tradition zu brechen, der nie einen Fortsc hritt bede utet, es sei denn , in Richtung au f di e Ze rs törung , ist e in An-

schlag auf die Ehre und W ü rde der Nation.

Was Euch betrifft, s orgt dafür und seid wachsam, damit schädlic h e The orien und pe r verse Beispiele niemals mit Eurer Zustimmung oder Sympathie rechnen können und vor allem in Euch ke ine will igen Träger oder die Gelegen he it, Infektions h erde z u bilden , finden. Der große Respekt vor den Traditionen, d ie Ihr besitzt und durch den I hr Euch in der Gesellschaft ausze ic hnet, möge Euch den Halt geben, damit Ihr, m itten unter dem Volk, d iese n wertvo ll en Schatz bewahrt. Möglicherweise ist das heutigentags d ie wich t igste soziale Funktion de s Adels; s ic h er lich ist es der größte Dien st, den Ihr der Kirche und dem Vaterland erwe isen könnt.

Übt a lso die Tugenden und setzt, zu m Woh le der Allgemeinheit die Gaben Eures Standes ein, zeichne t Euch im Berufsleben und bei allem, was Ihr beginnt, aus un d sc h ützt di e Natio n vor schädlichen, auswärtigen E inflüssen - das sind die Em pfehlungen, die Wir glauben , Euch zum Jahresanfang geben zu müssen

Nehmt sie, ge liebte Söhne und Töchter, aus Unseren vä terlichen Händen, verwa ndelt d urch e ine n großmütigen Willensakt in e ine dreifache Verpflichtung; b ietet sie, von Euch aus a ls höchstpersönliche Gabe dem Gottessohn d ar, der sie, a ls Gold , Weih ra uch und Myrrhe annehmen wird, so w ie s ie Ihm , vo r la nger Zeit, di e Weisen aus dem Morgenland angeboten haben.

Damit der Allmächtige Eure Absichten bes t ärke un d Unsere Gebete erhöre, die Wir darum a n Ihn gerichtet haben, möge auf Euch a ll en, a u f Euren F amilien und beso nde rs auf Euren Kindern, die Eure beste Tradition in di e Zukunft tragen , Unse r Apostolischer Segen ruh en 1

285
1) (Dis corsi e Radiomessaggi di Sua Santita Pio XII, Tipografia Poliglotta Vaticana, 9 .1.1 958 , S. 7 0 7-7 11 )

DOKUMENTE II

Ansprache Benedikts XV. an das Patriziat und an den römischen

Adel vom 5. Januar 1920

Bei den j üngs ten Festlichke ite n zur Geburt J es u Christi erklang Unserem Glauben w ieder einmal der himmlische Gesang der Engel zu m Lobe Gottes und des Friedens. Seit diesem se ligen Tag werden gleich einem h armo nisch en Konzert in Unserer Nähe immer wieder die Stimmen des Glückwunsches und anhänglicher Liebe laut, mit denen sich Unsere geliebten Söhne in der Feme und mehr noch die nächsten an die demütige Pe rson dessen richten, in dem s ie - so w ie sie in ihm das Weiterleben der Sendung Christi anerk e nn e n - sich auch die Fortsetzung de r Verheißungen und Wohltate n Christi wünsc hen.

Wie man aber nach dem Vergnügen eines Konzertes mit bes onderem Genuß die Stimme dessen zu schätzen weiß, der nun a ll ein die Melodie des Chores wiederholt und weiterführt, so klingt auch nach den Glückwünschen, die Uns jetzt zur Weihnachtsze it erfreuten, die stets angenehme und wohlbekannte Stimme des römischen Patriziats und Ade ls w ie der an Unser Ohr, wie sie von Ihnen, H err Fürst, mit der in den nobl e n Häusern Roms üblic hen Wärme des Glaubens vorgetragen wird.

Sie haben di e nun zu Ende gehenden wie auch die kommenden Jahre als trauri g und schwe r bezeichnet; d a Sie aber angesichts solcher Trauer mit vo llem Recht den Trost und die Hilfe de s Himmels üb er d en kummervollen Lauf Unseres Pontifikats herabgefleht haben, danken Wir Ihne n , Herr Fürst. Ebe n so danken wir auc h a ll en Patriziern und Edlen Roms, die sich hier eingefu nden hab en, um s ich Ihren Glückwünschen anzuschließen, oder die di es aus der Feme tun , weil s ie verhindert sind , s ich persönlich a n diesem Throne e inzufinde n , dem ihre Vorfahren stets treu geb li eben sind, so wi e ihm auch die Mitglieder ihrer Geschlec hter noch heute di e Treue halten.

Eben s o b e d a nk e n Wir u ns für die Worte, mit de -

nen Sie sich a n Uns als Hohen Prieste r gewandt haben, als Sie einen Blick zu rück auf die h ar te , bekä mpfte und nicht anerkannte Arbeit d e r katholischen Kirche während der schrecklichs ten mensc hlichen Katastrophe warfen. Es ist Uns eine F reude, festzustellen , d aß Sie, während sich Ihr Akt der Ergebenheit dem Obe rhaupt der katholischen Priesterschaft zuwa ndte, gleichwohl Ihr Lob als Ausdruck kollektiven Denkens Ihrer nob len Klasse auf so herr liche und angebrachte Weise an die unmittelbarsten und treue n Sprachrohre uns eres Fühlens in der Menge gerichtet haben, näm li ch a n die Mitglieder d es Kleru s.

Der Klerus , geliebte Söhne, ist nicht eine Organisation des Krieges sondern des Friedens; e r kann sich nur friedlichen Unternehmungen w idme n , nicht aber den Werken d es Krieges. Dennoc h eröffn et ihm sein Apostolat auc h unter den schrecklichen Schlägen des Krieges v iele Möglichkeiten, Gutes zu tun und s ich Verdienste zu erwe rb en.

Deshalb konntet ihr ihn auf den Schlachtfeldern die Ängstlichen stärken, die Sterbenden trösten, di e Verwundeten begleiten se hen. Ihr konntet ihn sehen, wie er in den Spitälern noch d en letzt en S eu fzer aufnahm, di e Seelen von ihren Makeln reini gte, in der Bedrängnis des Schmerzes Mut zusprach, während der langen, gefährlich en Genes un g ermunterte, das Pflichtbewußtsein wied er aufric htete, vor törichten, de m Unglück z u zuschreibenden Fehlern bewahrte. Ihr konntet ihn in d en leeren Häusern der Armen sehen, in den verlassenen Dörfern, unter dem e ntmuti gte n Volk, inm itten flüchtender M ensch enmengen und dabei oft a lle in und ohne Aufhebens den Mut der Notleidendsten, d as Schicksal der Witwen, die Zukunft d er Kra nkenh äuser, den Widers tand der Massen stützend. Ihr habt auch gesehen, w ie er verfolgt, verleumdet , vertrieben, e in gekerkert wurde, wie er in Armut und

Tod als ein unbekannter Held in dem großen Drama dastand, ein geduldiger Herold der Pflicht auf beiden Seiten d er gegnerischen Parteien, ein Muster des Verzichts, Opfer des Hasses, Zielscheibe de s Neides, Bild des Guten Hirten.

So habt ihr ihn sehen können, geliebte Söhne!

Während ihr aber mi t dem würdigen Vertreter des römischen Patr iziats anerkannt habt, daß „der Priester sich, ohne Opfer zu scheuen, ganz dem Wohl des Nächsten hingab", e rkennen auch Wir das Vorhandensein eines weiteren Priestertums an, das dem Priestertum der Kirche ähnlich ist, nämlich das de s Adels. Neben dem „regale Sacerdotium" Christi habt a uch ihr, Adelige, euch als ,,genus electum" a us der Gesellschaft hervorgehob e n ; und euer Wirken war es, das mehr als jedes andere dem Wirken des Klerus ä hnlich war und mit ihm wetteiferte. Während der Priester mit seinem Wort, seinem Beis piel, seinem Mut und mit den Verheißungen Christi B eistand, Stütze und Trost spendete, erfüllte auch der Adel auf dem Kriegsschauplatz, im Sanitätsdienst, in den Städten, auf dem Land se ine Pflicht; und während sie kämpften , halfen, beitrugen und starben hi e lten Alte und Junge, Männer und Frauen den Glauben an die ruhmreichen Traditionen ihrer Vorfahren und an die Pflichten ihres Standes hoch.

Wenn w ir also Genugtuung über das Lob verspüren, das den Priestern der Kirche für ihr Wirken in dieser leidvollen Kriegszeit ausgesprochen wird, ist es nicht mehr als recht, daß auch Wir das Priestertum des Adels lobend hervorheben. Das eine wie da s andere Priestertum sind Vertreter des Papstes, weil sie beide in überaus trauriger Stunde Seinen Gefühlen treuen Ausdruck verliehen hab en . Während Wir uns also dem Lob anschließen, welches das römische Patriziat heute den Priestern der Kirche spendet, sprechen Wir auch dem Eifer und der Nächstenliebe uns er Lob aus, welche die vornehmsten Mitglieder des römi sc he n Pat riziats und Adels während derselben Kriegszeit an den Tag gelegt haben.

Wir wollen Unsere Wertschätzung noch vergrößern, gelicbtcste Söhne. Die weltweite Auseinandersetzung scheint endlich in den letzten Zuckungen zu liegen ; deshalb widmet sich der K lerus jetzt de n Friedenswerken, die ja seiner Sendung in dieser Welt v iel mehr entgegenkommen. Do c h das Werk erleuchteten Eifers u n d wirkungsvoller Nächstenliebe, das die Adeligen während der Kriegszeit weise ausgeführt ha ben , wird auch noch nach der Unterschrift eines Friedensprotokolls noch nicht zu Ende se in.

Und Wir müssen sagen, daß dieses auch in Friedenszeiten verdienstvoll fortgeführte Priestertum des Adels von Uns mit ganz besonderem Wohlwollen beobachtet wird! Ja, der in unheilvoller Zeit an den Tag gelegte Eifer g ibt Uns die Gewißheit, daß das Patrizia t und der Adel Roms auch in freudigeren Stunden ihren Vorsätzen die Treue halten und

DOKUMENTE II

die heiligen Unternehmungen weiterführen werden, aus denen s ic h das Priestertum des Adels ernährt!

Der heilige Apostel Paulus ermahnte die Adeligen se iner Zeit, so zu sein oder zu werden , wie es ihr Stand erheischt. Obwohl er ihnen auch empfohlen hatte, sich in Tun, Lehre, Sittenreinheit und Ums icht beispielhaft zu verhalten, ,,in omnibus te ipsum praebe exemplum bonorum operum in doctrina, in integritate, in gravitate" (T it. 2,7) - ging es dem Heiligen Paulus noch einma l ganz besonders um die Adeligen, als er seinem Schüler Timotheus schrieb, er solle die Reichen e rmahne n divitibus huius saeculi praecipe, das Gute zu tun und reic h an guten Werken zu werden bene agere, divites fleri in bonis operibus ( I Tim. 6, 17).

Zu Recht kann man hier wohl behaupten, daß sich die Ermah nungen des Apostels in bewu nderungswürdiger Weise den Adeligen un serer Tage z iemen. Auch ihr, geliebte Söhne, habt die Pflicht, den anderen mit dem Licht des guten Beispiels voranzugehen (,,in omnibus te ipsum praebe exemplum bonorum operum").

Zu allen Zeiten oblag den Adeligen die Pflicht, die Unterweisung in Wahrheit (,,in doctrina") z u fördern. Heute aber, wo die Verwirrung des Geistes , Gefährtin der Völkerrevolution, an so vielen Orten und in so vielen Menschen das wahre Verstä ndnis von Recht, Gerechtigkeit und Li ebe, von Religion und Vaterland in Vergessenheit geraten l ieß, ist die Pflicht der Adeligen, dafür zu sorgen, daß diese heilig e n Begriffe, die unser tägliches Handeln leiten so llen, wieder geistiges Gemeingut der Völker werden, noch g rö ße r geworden. Zu allen Ze iten war es die Pflicht des Adels, den Unschicklichkeiten in Wort und Tat zu wehren, damit die eigene Verwerflichkeit den Untergebenen n ich t zum Anreiz diente (,,in integritate, in gravitate"); doch selbst die se Pflicht ist infolge der schlechten Sitten unserer Zeit stärker und schwere r geworden! N icht nur die Kavaliere, auch die Damen s ind deshalb angehalten , s ich zum heiligen Bündnis gegen die Exzesse und den Mangel an Zurückhaltung der Mode zu vereinen und alles von s ich fernzuhalten, was de n Gesetzen christlicher B escheidenhe it widerstrebt, und es auch an anderen nicht zu toleri eren .

Und um schließlich das in die Tat umzu setze n, was der Heilige Paulus nach Unseren Worten vo r allem d en Adeligen seiner Zeit ans Herz gelegt hat,,Divitibus huius saeculi praecipe ... bene agere, divitesjieri in bonis operibus" - will es Uns genug erscheinen, wenn die Patrizier und Adeligen Roms in Friedenszeite n nur weiterhin jenen Geist d er Nächstenliebe an den Tag legen , den sie in Kriegszeiten so eindeutig unter Beweis ges tellt haben. Die Bedürfnisse der jeweiligen Stunde und die besonderen Umstände des jeweiligen Ortes, wo es zu handeln gilt, können die vielfältigen Formen der Nächstenliebe bestimmen; wenn ihr, geliebte Söh-

288

DOKUMENTE II

ne, j edoch nicht vergeßt, daß die Nächstenliebe auch dem Feinde von gestern geschuldet wird, wenn er heute im Elend liegt, dann ze igt ihr, daß ihr euch das „bene agere" des HI. Paulus zu eigen gemacht habt, und ihr werdet einen Anspruch aufjene von demselben Apostel gewünschten Reichtümer haben (,,divites fleri in bonis operibus") und ihr werdet weiterhin zur Anerkennung der Größe dessen beitragen, was Wir das „Priestertum des Adels" gena nnt haben.

Wie süß, wie lieblich ist es, die b e wundernswerten Ergebnisse dieser so ge rn vorhergesagten Fortführung zu betrachten! Dann aber wird euer Adel nicht mehr nur als ein nutzloses Überbleibsel vergangener Zeiten anzusehen sein, sondern als zur Wiedererstehung der verkommen en Gesellschaft aufbewahrter Sauerteig; er wird L e uc h tturm, schütze ndes Salz und Führer der Irrende n sein ; nicht nur hier auf der Erde, wo alles - selbst der Glanzruhmreicher Dynastien - welkt und untergeht, wird er

Unsterblichkeit erlangen, sondern auch im Himm e l , wo alles lebt und mit dem Urheber alles Edlen und Schönen vergöttlicht wird.

Der Apostel Paulus schließt seine Ermahnunge n an di e Adeligen seiner Zeit mit der Versicherung, daß ihnen wegen ihre r guten Werke die Tore des Himmelre iches geöffnet werden, wo sie dere ins t das wahre Leben geni eßen werden, ,,ut apprehendant veram vitam". Und Wir Unsererseits bitten zum Dank für die guten Wünsche, die u ns das Patriziat und der Adel Roms zu B eginn des neuen Jahres üb erm ittelt hab en, daß der Herr seinen Segen über die Mitglieder die se r erlauchten Klasse, die heute hier zugegen sind, aber a uch über die fernen Mitglieder und ihre Familien ausgieße, damit ein j eder mit dem seinem Stande eigenen Priestertum zur Erhebung, Reinigung und Befriedung der Welt beitragen und den anderen Gutes tun möge, um sic h auf diese Weise den Zugang z um Reiche des ewigen Lebe ns zu sichern: ,,ut apprehendant veram vitam! " 1

1) L 'Osservatore Romano , 5. -6. Januar 1920. 289

DOKUMENTE III

Spezielle Verpflichtungen der Gesellschaft dem verarmten Adel gegenüber

1. Das beste Almosen ist jenes, das man dem verarmten Adel gibt

Der heilige Kirchenlehrer Petrus Damiani (1006-1072) zeigt den b esonderen E ifer, den man zur Linderung der B edürfti gke it de s vera m1te n Ade l s e ntw icke ln mu ß:

„ Wenn auch das Almosengeben in der ganzen Bi bel hervo rgehoben wird und die Barmh erzigkeit über aller Tugend steht und den Preis un ter den Werken der Frömmigkeit erringt, ist doch die Art der Barmherzig k e it am verdienstvollsten, die je11en zugute kommt, die aus ihrem einstigen Reichtum in die Armut gefalle11 sind.

Viele Menschen g ibt es tatsäc hlic h, die ihre vornehme Abstammung berühmt gemacht hat un d die durch die Armseligkeit ihres Familienbesitzes bedrängt werden. Viele auch sind geschmückt durch althergekommene Adelstitel und fühlen sich trotz dem durch das Fehlen der unentbehrlichsten Güter gedemütigt, d ie das Familienleben e,fordert: mit Rücksicht aufdas Ansehen ihrer Klasse sind sie gezwungen, bei Empfängen zu erscheinen, bei denen sie - obwohl gleich im gesellschaft.lü:hen Niveaudoch so ve rschieden in den wirtschaftlichen Verhältn issen sind. Und obwohl die Sorgen, ihrer häuslichen Not wegen, sie quälen und sie, gezwungen durch ihre Bedii,ftigkeit, in äußerste Notlage geraten, s ind sie doch außersta nde, um

ihren Lebensunterhalt wie Bettler zu bitten. Sie z ieh en es vor, zu sterben als in aller Öffentlichkeit z u betteln, sie sind verwirrt, wenn ihre Notlage bekannt wird und vermögen nicht, ihre Not einzugestehe n. Es gibt wohl welche, die ihre Misere laut verkünden und ojimals sogar übertreiben, um von der öffentlichen Mildtätigkeit größere Almosen zu erhalten; sie aber verbergen, wo sie nur können, ihre Situation, damit kein Zeichen ihrer Armut in der Öffentlichkeit offen bar wird.

Deshalb ist es wi chtiger, die Notlage j ener zu begreifen, als sie z u e rkennen. Man kann sie auf Grund gewisser.flüchtiger An zeichen eher erraten, als sie von offensichtlichen Merkmalen abzuleiten.

Das ist der Grund, warum der Prophet darauf hinweist, daß au/jeden F all der Lohn .für Hilfe, die jenen verschämten Armen geleistet wird, überaus groß ist, wenn e r schreibt: 'G lücklich zu preisen, der s ich d es Armen annimmt!' (Ps. 4 0, 2). Tatsächlich bedaif es ja ke in er besonderen Aufmerksamkeit, um die zerlumpten und wundeniibersäten Armen z u erkennen, die in den Straßen herumirren, man sieh t sie aufden ersten Blick. Andere A rme jedoch, die in ihrem Inneren leiden, müssen wir z u erkennen suchen, da ihre Not am A'ußeren nicht sofort z u sehen ist". 1

2. Die Hilfsbereitschaft der heiligen Königin Isabella für den verarmten Adel

Im Leben der h e iligen Isab ella, Köni g in v o n Portugal (1274-1336) , find e n wir folgen de Begebenhe iten, welche die mildt äti gen Züge ihres C h arakters hervorheben :

„ Besondere Fürsorge widmete die Heilige den Personen, die, als Edelleute begütert gelebt haben und herunter gekommen waren, wobei di e Scheu z u betteln, ihre Not und ihr Elend noch vermehrt hat.

1) Mi g ne, P L., B. CX LV, eo!. 214- 2 15.

Diesen Armen halfsie mit großer Freigebigkeit und gleicher Verschwiegenheit und Zurückhaltung, damit die Armen Hilfe erhielten, ohne beschämt zu werden.

Für die Kinder der arm gewordenen Edelleute unterhielt sie in ihrer Residenz ein besonderes Heim, in dem diese, ihrem hohen Stande entsprechend, aufwuchsen. Armen Jungfrauen guten Rufes gab sie eine Mitgift, damit sie heiraten könnten und jt-eute sich dariibe1; mit ihren königlichen Händen, den Brautschmuck herzurichten. Viele Waisen,

DOKUMENTE III

Töchter ihrer eigenen Vasallen, nahm sie bei sich auf, erzog sie und, wenn sie heirateten, gab sie ihnen eine reiche Mitgift und schmückte sie mit ihrem eigenen Schmuck am Tage der Hochzeit. Und damit nicht, zugleich mit ihrem Leben, diese Wohltaten ihrer Güte zu Ende gingen, errichtete sie in ihrem Kloster der Heiligen Clara einen Fonds, durch den adelige Waisen versorgt wurden und hinterließ die Ve,jiigung, daß ein Teil ihres Schmuckes, den sie dem Fonds vermachte, den vorgenannten Jungfrauen als Brautschmuck auszuleihen wäre". 1

292
1) J. Le Bnm, Santa Jsabel, Rainha de Portugal, Livraria Apostolado da Imprensa, Porto, 1958, S. 127-128.

Adelige Herl,unft, eine wertvolle Gabe Gottes

1. Adel i s t eine Gabe Gottes

Aus d er A n sp rac h e Pa p st Pi us' IX an das Patriz iat u n d den röm isc h e n A d e l vom 17. Juni 187 1: „ Eines Tages stellte ein Kardinal, ein römischer Fürst, einen seiner Neffen , einem Unserer Vorgänger vor, der bei dieser Gelegenheit eine große Wahrheit verkündete: Die Throne erhalten sich vor allem auf Grund des E insatzes des Adels und des Priestertums. Der Adel ist, man kann es nic ht leugnen, auch eine Gabe Gottes und selbst wenn Unser Herr armselig in einem Stall geboren werden wollte, steh t trotzdem am Anfang z weier Evangelien seine lange Ahnenreihe, nach der er von Fürsten und Königen abstammt Ihr macht würdigen Gebrau ch

dieses Privilegs, wenn Ihr das Prinzip der Legitimität heilighaltet. [. .]

Fahrt also fort, dieses Vorrecht gut zu gebrauchen, äußerst vornehm möge der Gebrauch Eures Privilegs denen gegenüber sein, die - obwohl sie zu Eurer Klasse gehören - nicht nach Euren Prinzipien handeln. Einige herzliche Worte unter guten Freunden vermögen oft sehr viel in ihren Seelen zu bewegen, sicherlich mehr aber noch, Eure Gebete Duldet mit Großmut die Unannehmlichkeiten, die Euch dadurch entstehen könnten Gott segne Euch, wie Wir es fiir Euer ganzes leben von Herzen erbitten ". 1

2. Uns er Herr Jes u s Christus wollte al s Edler ge boren werden. Er selb s t liebte die Aris tokratie

Aus der Ansprac he Papst P ius' IX. an das Patrizia t und an den römischen Adel vom 29 12. 1872: ,, Jesus Christus selbst liebte die Aristokra tie. Und, wenn Wir uns nic ht irren, haben Wir Euch schon einmal den Gedanken erklärt, daß Er auch als Edler geboren werden wollte, aus dem Stamme Davids Sein Evangelium teilt uns Seinen Stammbaum mit, bis Josefund Maria, ' d e qua n atus

est J esus' [von welch er ist gebore n J e sus]. Also ist die Aristokratie, ist der Adel, eine Gabe Gott es Deshalb bewahrt diese Gabe mit Fleiß und macht w ürdigen Gebra uc h von ihr. Ih r tut das scho n durch die christlichen Werk e der Nächstenliebe,far die Ihr Euch dauernd, mit großer Hinga be an den Nächsten und mit großem Gewinnfiir Eure Seelen, einsetzt". 2

3. Der Adel auf Grund der Geburt sche int e in Zufall z u sein, er i

Aus de r Ansprache Papst L eo X III . an das Patriziat und a n den rö m ische n Ade l vom 2 1. Jan uar 1897:

,, Wir sind glücklich, Euch nach einem Jahr wieder zu sehen, an dieser g leichen Stelle, verbrüdert durch die Gleichheit Eurer Gedanken und der Zunei-

DOKU MENTE IV
s t jedoch das Ergebnis wohlwollender, himmli s che r Abs ich
t
l ) Discorsi de! Sommo Pontejice Pio IX, Tipogra fia d i G. Aureli , Roma , 1872, Band 1, S 127 2) Dis corsi de/ Sommo Pontefice P io IX. , Tipografia d i G. Aurelj , Roma, 1872, Band II , S 148

gung, die Euch ehrt. Unsere Liebe kann und da,fkein Ansehen der Person kennen, aber sie kann auch nicht deshalb kritisiert werden, wenn sie sich Euer besonders e,freut, gerade aufGrund des gesellschaftlichen Standes, der Euch zugewiesen wurde. Diese Stellung scheint zufälliger Art zu sein, in Wahrheit aber ist sie e ine wohltätige Entscheidung des Himmels. Wie könnte man der Auszeichnung durch edle Herkunft besondere Wertschätzung verweigern, wenn der Göttliche Erlöser selbst sie hochgehalten hat? Wohl ist es wahr, daß Er wäh rend seiner Pilgerschaft A rmut angenommen hat, und der Reichtum nicht sein Weggefährte war Aber Er hat dochfiir Seine Geburt ein königliches Geschlecht gewählt.

Wir erinnern Euch daran, geliebte Söhne, nicht um überheblichem Stolz zu schmeicheln, sondern um Euch zu Taten, die E urer Klasse würdig sind,

D OKUMENTE IV

anzuspornen. J eder Mensch und jede Klasse von E inzelmenschen haben eine Funktion und ihren besonderen Wert : aus dem ordentlichen Zusammenleben aller, entspringt die Harmonie der menschlichen Gemeinschaft. Trotzdem kann nicht bestritten werden, daß in dem öffentlichen und privaten Leben der Blutsadel eine besondere Kraft darstellt, ebenso wie Eigentum und Talent. D ieser Adel, widerspräche er den natürlichen Gesetzen, wäre sicher nicht, wie es seit jeher war, einer der mäßigenden Kräfte im menschlichen Zusammenleben gewesen. Deshalb ist es auch, zieht man die Vergangenheit in Betracht, sicherlich nicht unlogisch, abzuleiten, daß - wie auch die Zeiten sich ändern mögen - der Besitz eines adeligen Namens n ie seine Wirkung ve,jehlt, wenn sein Träger ims tande ist, ihn mit Würde zu tragen" 1

4. Jesus Christus wollte aus k ö niglichem Geschlecht geboren werden

A u s d er A n s prac h e Papst Leo X III. an das Patr iz ia t u nd a n de n röm isc he n A de l vom 24. Ja nu ar 19 03 :

„J esus Christus wollte Sein privates Leben in der Verborgenheit eines bescheidenen H eimes verbringen und als Sohn eines Handwerkers bekannt sein. In Seinem öffentlichen Lebenjedoch ge.fiel es Ihm , unter dem Volk zu leben und ihm in jeder Form Gutes

zu tun. Trotzdem wollte Er aus königlichem Geschlecht geboren werden, wählte als Mutter Maria undJost!fals seinen Pflegevater, beide e,wählte Kinder aus dem Stamme Davids. Gestern, am Feste ihrer Verlöbnis, konnten wir mit der Kirche die schönen Worte wiederholen: 'Regali ex progenie Maria exorta refiilget' [Mari a offenbait s ich uns s trah lend, geboren a us kö nigl ic hem Geschl echt] ". 2

5. Unser Herr Jesus Christus wollte

arm gebore n werden, Er wollte aber auch ein hervorragendes Verhältnis zur Aristokratie haben

Aus d e r Ans p rac h e Paps t B enedi kt s X V. a n d as Patriz iat un d a n de n römi sc hen A d e l vo m 5. J a n ua r 19 17 :

„ Vor Gott gibt es kein Ansehen der Person Es besteht aber kein Z weifel, schreibt der heilige Bernhard, daß die Tugend der Adeligen bekannter ist, weil sie bei ihnen mehr hervorsticht.

A uch Jesus Christus war adelig, und adelig waren Maria und Josef, aus königlichem Geschlecht, wenn auch ihre Tugend dies in den Schatten stellt in der bescheidenen Geburt, der die Kirche vor einigen Tagen gedacht hat Christus, der eine so hen,orragende

Bezie hung z ur ird ischen Aristokratie haben wollte, erhöre in de r un e nd lic he n Besc he idenhe it seiner Kripp e d ie herzlichen Wünsc he, die W ir Euc h darb iete n: so wie in der Klippe von Bethlehem s ic h höchster Ade l mit g lo tTeic her Tugend verband , so möge es m it U nsere n geliebten Söhn e n, de n Patriziern und Ade ligen von Rom gesc hehen Un d ihre Tugen den mögen die chri stli c he Wiede rgeb urt de r Gese llschaft und dadurch das Glück bewirke n, das unze rtrennl ich dam it verb unden ist: Woh lergehen in de n Fam ilien a ller Menschen und den ersehnte n Fri eden in der We lt". 3

6 . Maria, Josef und natürlich Jesus stammen aus königlichem Ges chlecht

A u s ein e r Pred ig t des he i ligen Bemhardin von S iena ( 1380- 144 4) ü ber de n heilige n Jo sef:

,,Erstens bedenken wir den Adel seiner Gattin, das heißt, der Allerheiligsten J ungfrau. Die Glückselige Jungfrau ist das alleredelste aller Geschöpfe, dieje in menschlicher Natur existiert haben

mögen, die tatsächlich oder möglicherweise erschaffen worden sein könnten. Nach dem hl. Matthäus (1. Kap.) stamm t sie von vierzehn Patriarchen, vierzehn Königen und vierzehn Fürsten ab, das sind dreimal vierzehn Generationen, von Abraham bis einschließlich Jesus Christus gerechnet.

1) Leonis XIII Pont ific is Max imii Acta, Ex Typograp hi a Vat ica na, R omae, 1898, Band XV II, S 357-358.

2) Leonis XIII Pontificis Maximii Acta, Ex Ty pographia Vat icana, R omae, 190 3, B a nd. XX II , S. 368

3) L 'Osservatore Romano, 6.1. 19 17.

294

DOKUMENTE IV

Der HI. Lukas beschreibt im 3 Kapitel seines Evangeliums ebenfalls ihren Adel, bei Adam und Eva beginnend und in ihrer Genealogieforifahrend bis zu Christus

Zweitens beachten wir den Adel ihres Gatten, das heißt, des heiligen Josef Er stammt aus urväterlichem, königlichem undfiirstlichem Geschlecht, indirekter Linie, wie schon gesagt wurde. Denn der HI. Matthäus veifolgt im ersten Kapitel diese Linie der Väter von Abraham an, bis zum Mann der Hl. Jungfi-ai, und legt dar, daß in ihr alle Würde der Väte,;

7.

Könige und F ürsten zusammenfä ll t. .. .

Drittens, untersuchen wir den Adel Christi. Er war folglich, wie sich aus dem vorhergehenden ergibt, Patriarch, König und Fürst, von seilen der Mutter und des Vaters

Die genannten Evangelisten beschreiben die adelige Abstammung der Jungf,-au und Josefs, um den Adel Christi zu bekunden Josef wa,; wenn es erlaubt ist, es so zu sagen, so sehr Adelige,; daß er den irdischen Adel, in gewisser Weise an Gott in Unserem Herrn Jesus Christus iibertrug" 1

Gottes Sohn wollte mit königlichem Adel geboren werden, um i n Seiner Person alle Formen der Größe zusammenzufassen

Aus den Schriften des heili gen Peter-Julien

Eymard (1811-1868) über de n hei li gen Josef:

„Als Gott der Vater sich en tschloß, der Welt Seinen Sohn zu geben, wollte Er es mit Ehren tun, denn Er ist aller Ehren und allen Lobes wert

Er ha t Ihm deshalb einen Hoß·taat und königliche Ehren, die Sein er würdig sind, vorbereitet: Gott wollte, daß Sein Sohn, auch auf Erden, wii1dig und glorreich empfangen weide, wenn schon nicht in den Augen der Welt, so doch in Seinen e igenen Augen.

Das Mysterium der Gnade der Fleischwerdung des Wortes hat Gott nicht unvorbereitet durchgeführt. Jene, die von Ihm dazu ausersehen waren, daran teilzunehmen, wwden von Ihm seit langem dafiir vorbereitet. Der Hofstaat des menschgewordenen Sohnes Gottes setzt sich aus Maria und Josef zusamm en. Gott selbst hättefar Seinen Sohn keine, fiir Seine Begleitung, würdigeren Diener finden können. Beachten wir nun besonders den heiligen Josef Beauftragt mit der Erziehung des königlichen Prinzen Himmels und der Erde, um Ihn anz uleiten und Ihm zu dienen, war es nötig, daß sein e Dienste seinem göttlichen Schüler zur Ehre gereichen würden: es wäre far einen Gott nicht z iemend gewesen, sich Seines Vaters schämen zu müssen. Da/ie,; da Er ein König (IUS Davids Geschlecht sein 11111.ßte, ließ Er den he iligen Josefm,s d em g leich en kö11iglic he11 Stamm geboren werde11, dmnit Er, da e r adelig seill mußte, mich sogar irdischen Adels sei.

In den Adern des heiligen Joseffließt also das Blut Davids, Salomons und aller edler Könige Judas und, wenn ihre Dynastie weiter regiert hätte, dann wäre er (der hl. Josef) Thronerbe gewesen und hätte sein Erbe antreten müssen.

Haltet Euch nicht damit auf,' seine tatsächliche Armut z u bedenken: seine Familie wurde zu Unrecht vom Thron vertrieben, aufden sie ein Recht hatte und deswegen hö11 d er hl Josef nicht auf, König, Sohn d er K önige von Juda zu sein , von Königen, welche die

größten, edelsten und reichsten der Welt sind. Auch bei der Einschreibung zur Volksz ählung in Bethlehem würde der hl. Josef vom römischen Gouverneur als Erb e und Nachkomme Davids erkannt werden: das ist sein e, leicht erkennbare, königliche Urkunde, die seine königliche Unt erschrift trägt

Aber; was bedeutet uns der Adel des HI. Josef?-so könntet Ihr vielleicht sagen. Jesus ist doch nur gekommen, um sich zu demütigen. Ich antworte, daß der Sohn Gottes, der sich zwar fiir eine gewisse Zeit demütigen wollte, dennoch in Seiner Person auch alle Formen der Größe vereinigen wollte: Er ist e b en (lllf Grund Seines E rbrechtes Kö nig, da er ja vmi könig licher Abstm111111mg ist. Jesus ist "delig, um/ wenn Er "uch Seine Apostel (III S dem gemein en Volk (ll/SWählt, fll(ICht Er sie doch dadurch mich zu Edelleu ten. Dieses Recht hat E 1; ,f(l Er ein Sohn

A bra/i(lms und der Erbe d es Thrones D"vüls ist. Er liebt diese besondere Ehre sein er Familie und die Kirche sieht ,len Adel nicht mit den Augen d er D em okr"tie an, ehren wir desh a lb alles, was Sie mich vere/111. Der Adel aber kommt von Gott.

Heißt d"s jetz t, d"ß 111(111 Adeliger sein 111 11.ß, um unserem H erm z u dienen? Wenn Ih r es seid, ist es ein e z usiitzlich e Ehre fiir /1111 , "ber es ist nic ht unbeding t 11ötig. Er gibt sich mit d em guten Willen und dem Adel des Herzen s zufrieden . Die Kirch engeschichte zeigt uns allerdings, daß eine große Anzahl der Heilige n , darunter die Hervorragends ten aus ihrer S c hm; ein Wappen gefiihrt haben, einen adeligen Namen besaßen und einer berühmten Familie entstammten, ja, einige von ihnen waren sogar königlich e n Geblüts.

Unserem H errn gefallt es, in "llem , W(IS e hre n voll ist, geeh rt z u werden. D er hl. Josef e rh ielt im Te mpel sein e ausgezeichnete Erziehung, und Gott hat Ihn so daraufvorbereitet, der e dle Diener Seines Sohnes, d er Ritter des edelsten Prinzen, der S chützer der Erhabensten Königin des Universums zu sein." 2

295
1) Sancti Bemardini Senensis Se rmo nes Eximi i, Band IV in Aedibus Andreae Polett i, Vene tiis, 174 5, S. 232 2) Mois de Saint Jos eph , le premier et le plus pa,fait des adorateurs - Ex tra it des ecrits du P E ymard, Desclee de Brouwer, P a ri s, 7 Ausgabe , S 59-62.

8. Der Adel des Blutes ist ein starker Ansporn, tugendhaft zu leben

Aus d em hervorragenden Text der Homilie des heiligen Karl Borromäus (1538-1584), Erzbischof von Mailand, zum Fest der Geburt Unserer Lieben Frau am 8. September 1584:

,,Der Anfang des Evangeliums des Matthäus, das Euch vor kurzem von hier aus durch die Heilige Mutter Kirche verkündet wurde, regt uns vor allem dazu an , aufmerksam den Adel, die hervorragende Abstammung und die Erhabenheit der Allerheiligsten Jungfrau zu untersuchen. Wenn man als Adeligen denjenigen anzusehen hat, der diese Ehre von verdienstvollen Ahnen übertragen erhalten hat, wie überragend ist dann erst der Adel Mariens, der sich von Königen, Patriarchen, Propheten und Priestern aus dem Stamme Juda, dem Geschlecht Abrahams und dem königlichen Geschlecht Davids ableitet?

Auch wenn wir es nicht übersehen, daß wir selbst vom wirklichen Adel - dem christlichensind, den uns allen der Erstgeborene des Vaters verliehen hat, als ,Er allen, die Ihn aufnahmen, die Macht gegeben hat, Kinder Gottes zu werden' (Joh. 1, 12) und daß allen gläubigen Christen diese Würde und dieser Adel zu eigen ist, glauben wir doch, daß der Blutsadel keineswegs zu verachten oder gar abzulehnen ist. Im Gegenteil, wer diesen Blutsadel nicht als Gabe und einmalige Gunstbezeugung Gottes anerkennen und Gott, dem Spender aller guten Gaben, ganz besonders dafiir danken würde, wäre absolut unwürdig, ein Adeliger genannt zu werden. Dies schon deshalb, weil die Verrohung eines undankbaren Charakters, wie s ie schändlicher nicht zu denken ist, den Ruhm der Vorfahren verdunkeln könnte. Denn der Blutsadel trägt auch viel zur wirklichen Schönheit der Seele bei und ist von nicht geringem Nutzenfiir s ie.

Vor allem bereiten der Ruhm seines edlen Blutes, die Tugenden der Vorfahren und deren berühmte Taten, den Edelmann in wunderbarer Weise darauf vor, in die Fußstapfen seiner Ahnen zu treten. Und es kann nicht bezweifelt werden, daß auch seine eigene Eigenart mehr der Tugend zugeneigt ist: entwede,; weil sein Stamm eben von diesen Ahnen herkommt und dadurch ihr Geist in ihm weiterwirkt, oder durch die dauernde Erinnerung an ihre Tugenden, die ihm besonders teuer sind- was er zu schätzen weiß - weil sie der Ruhm seiner Blutsverwandten gewesen sind. Oder schließlich aufGrund der guten Erziehung, die er durch hervorragende Männer erhalten hat. Allgemein ist die Wahrheit bekannt, daß Edelmut, Großzügigkeit, hervorragende Tugenden und die Autorität der Eltern die Kinder dazu anregen, dieselben Tugenden mit großem Eifer zu üben. Daraus ist abzuleiten, daß die Adeligen, quasi einem Naturinstinkt folgend, nach Ehre streben, den Großmut pflegen, billige Vorteile ablehnen und - mit einem Wort - all das zurückweisen, was sie als unvereinbar mit ihrer Vornehmheit ansehen.

Zweitens regt der Adel dazu an, an den Tugenden festzuhalten. Das ist verschieden von dem erstgenannten Vorzug, der darin besteht, daß der Adelige dazu angeregt wird, eher das Gute zu tun. Jetzt aber wird weiter darauf hingewiesen, daß das Bedü,fnis, an den Tugenden festzuhalten, leich t Erreichbarem und heftigen Reizen gegenüber wie eine Bremsefunktioniert und Lastern und allem, was des Adels unwürdig ist, entgegenwirkt. Und auch dazu fahrt, daß der Adelige, sollte er einmal etwas Falsches getan haben, sich sosehr dessen schämt, daß er mit allen seinen Kräften bemüht ist, sich von diesem Makel zu reinigen.

Schließlich ist auch das ein Vorteil des Adels, daß-ebenso, wie ein Edelstein mehr leuchtet, wenn er in Gold statt in Eisen gefaßt ist- die gleichen Tugenden bei ihm mehr hervortreten als bei e inem gewöhnlichen Mann und daß sich die Tugend mit dem Adel als schönster Schmuck desselben verbindet.

Nicht nur ist es wahr, daß man den Adel un d das Ansehen der Vorfahren als wertvoll anzusehen hat, wir betonen auch die absolute Richtigkeit der folgenden zwei Feststellungen : ers tens, daß - so wie die Tugenden des Adels besonders hervortreten, ebenso - seine Laster besonders schändlich sind. Das ist leicht z u verstehen, denn, so wie Schmutz leichter an einem hellen, sonnenbeschienenen Platz, als in einer dunklen Ecke zu sehen ist, oder Flecken auf einem goldbestickten Gewand eher als auf einem gewöhnlichen, schäbigem Kleid oder schließlich auch Wunden und Narben im Gesicht leichter bemerkt werden als an einer verdeckten Stelle des Körpers, so sind auch Laster auffallender und entstellen schändlicher den Geist des Schuldigen bei einem Adeligen als bei gewöhnlichen Menschen. Denn es gibt wirklich nichts unwürdigeres, als einen jungen Mann aus anges ehenem Elternhaus und gut erzogen, den man herabgekommen in Kneipen, beim Spiel und ausschweifenden Gelagen sehen muß.

Als zweites stellen wir fest, daß - selbst wenn jemand zum ältesten Adel gehört - dieser verblaßt, wenn den Verdiensten der Vorfahren nicht die eigenen Tugenden und Verdienste hinzugefiigt werden. Sollte die Reih e verdienstvollen Handelns unterbrochen werden, verliert der Betreffende seine Würde, selbst wenn ein Rest des Glanzes der Vorfahren noch erkennbar wäre, weil dieser sicherlich zwecklos sein wird. Zwecklos, weil sein Ziel nicht mehr erreichbar ist, das darin besteht, den Träger einstigen - durch unwürdiges Handeln verlorenen - A dels fiir edles Handeln geneigt zu machen, das tugendhaft ist und ihn von der Sünde abhalten könnte. Und der Adel verwandelt sichfiir ihn zur Schande und trägt nicht das Mindeste zu seiner Ehre bei. Das ist es auch, was Unser Herr Jesus Christus den Pharisäern vorgeworfen hat, die sich dessen rühmten, Kinder Abrahams zu sein, als

296 DOKUMENTE IV

DOKUMENTE IV

Er zu ihnen sagte: , Wenn ihr Abrahams Ki nd e r wäret, so täte t ihr Abrahams We rke' (Joh 8, 39). Denn nur der kann sich dessen rühmen, Sohn oder Enkel und dam i t Teilhaber des Adels derjenigen zu sein, deren Leben und Tugenden er selbst nachzuahmen sucht. Und deshalb auch sprach der Herr zu jenen: , Ih r habt den Teufel zum Vater' (Joh. 8, 44) und der allerhei li gste Vorläufer Ch ri sti n annte sie ,Otternge zücht' (Lk 3, 7).

Wer kann eigentlich noch so unwissend und achtlos sein, daß er noch Gründe findet, am höchsten Adel der Allerheilig sten Jungfi-au Maria zu zweifeln,? Wer weiß denn nicht, daß Sie nicht nur die gleichen Tugenden wie Ihre Vorfahren besaß, sondern Sie noch bei weitem übertraf, so daß man mit allem Recht Sie die Alleredelste nennen muß, denn in Ihr hat der Glanz so berühmter Patriarchen, Könige, Propheten und Priester, deren Reihe das heutige Evangelium beschreibt, die höchste Vollendung gefunden?

Sicherlich wird jemand J,-agen, wieso man aus alledem, was bisher dargelegt wurde, den Adel der Vorfahren Mariens ableiten kann, wenn doch die Abstammung Josefs, des Gatten Mariens beschrieben wird. Wer aber die H eiligen Schriften genau studiert hat, wird diesen Zweifel leicht beseitigen können. Denn in den Göttlichen Ges etzen ist festgelegt, daß die Jungfi·au keinen Mann, außer aus dem eigenen Stamme nehmen sollte, aus Rücksicht aufdie Reihe der Erbfolge (Num. 36, 6 ff) und deshalb ist es vollkommen

klar, dad Josefund Maria aus dem gleichen Stamm und der gleichen Familie stammen. Aus dieser Besch reibung der menschlichen Abstammung des Sohnes Gottes ist es offensichtlich, daß der Adel des einen und der anderen gleich ist"

Der H eil ige beginnt dann einen a nd eren Aspekt des gro ß e n Themas zu be handeln:

,,Schließ/ich zum dritten, geliebte Töchterdenn das geht Euch an - ist die Abstammung Josefs und nicht die Mariens beschrieben, damit Ihr lernt, Euch nicht zu überheben oder in beleidigender Form Euren Gatten zu sagen: ,Ich habe den Adel in dein Haus, den Glanz der Ehren zu dir geb ra cht; nun mußt du, mein Mann, mir zuschreiben, was du an Würde bekommen hast' Wisset, daß in Wahrheit - und das prägt euch fest ein - Würde und Adel der Familie der Gattin, keiner anderen Familie zu danken ist, außer der des Ehemannes und abs cheulich sindjene Gattinnen, die es wagen, sich in irgendeiner Weise über ihre Gatten e rheben zu wollen, oder - was das schlechteste ist - sich der Familie ihres Gatten schämen; sie verschweigen ihren bürgerlichen Namen und benützen nur den ihrer eigenen Sippe Das ist wirklich ein teuflischer Ausdruck der Überheblichkeit. Welche ist also die Familie Mariens? Josefs Familie ist es! Welcher ist der Stamm, die Sippe und der Adel Mariens? Jene, ihres angetrauten Mannes Josef! Das ist es, ihr christlichen Ehefrauen, die ihr wirklich edelmütig und gottesfiirchtig seid, was ihr am meisten beachten müßt. "

9. Groß ist der Einfluß unserer Abstammung auf unsere Handlungen

Aus den Totengebeten für Philippe-Emmanuel von Lothr ingen, Herzog von Mercoeur et Penthievre, gehalten vom h l. Franz von Sales (1567 -1 622), Fürst-Bischof von Genfund Kirchenleh rer, am 27. Apr il 1602 in der Kathedrale Notre-Dame zu Paris:

„Immer ist es Gott selbst, der in uns unsere vollständige Errettung bewirkt, deren großartiger Baumeister Er ist: Er erteilt seine Gnadengaben jedoch auf verschiedene Weise; gewisse Gnadengaben e ,weist Er uns ohne unser Zutun und andere, je nach unseren Bitten, Werken und heißem Begehren. Der Fürst Philippe-Emmanuel, Herzog von Mercoew; empfing die erstgenannten Gaben in überreichem Maße, aufderen Grundlage er einen wunderbaren und perfekten Bau mit Hilfe der Gnadengaben errichtete, die wir als zweite Gruppe genannt haben. Denn, in erster Linie ließ Er ihn das Licht der Welt im Schoße zweier - der hervorragendsten, ältesten - katholisch en Geschlechter erblicken, die es unter den Fürsten Europas gibt [das Haus von Lothringen und das Haus von Savoyen].

Es bedeutet, viel empfangen zu haben, Fru c h t eines edlen Baumes, Metall aus gutem Erz, ein Bach von guter Quelle her zu sein . ...

Wie ich schon sagte, ist der verstorbene Fürst far den Ruhm der Waffen und die Ehre der Kirche geboren worden, als würdiger Sproß zweier großer Geschlechte,; von denen er nicht nur das Blut, sondern auch die edlen Tugenden ererbte: so wie z wei Bäche, vereint, einen großen Fluß bilden , so hab e n die beiden, väterlichen und mütterliche n Häuser der Großeltern des Fürsten in seiner Seele die schönen Eigenschaften, die sie besaßen, vereint und haben ihn in jeder Bezi ehung vollkommen, mit den besten Gaben der Natur, ausgestattet. E r konnte wohl - mit den Wor ten der Göttlichen Weisheit - von sic h sagen: 'P ue r autem eram ingeniosus, et sortitus sum a nimam bonam' [Den n ic h war e in Kind guter Art und habe b ekomm en eine fe ine Seele] ( Weisheit 8, 19). Ein glücklicher Umstandfar seine Tuge nden war es, sich in einer so guten Umgebung z u befinden und ein großer Vorteilfar sein e Fähigkeit, sich umgeben von solchen Tugenden z u befinden

297
1
1) San c ti Caroli Borrom ei Homiliae CXXXII, Ignatii Adami et Francisc i A nton ii Veith Bibliopolarum, Augustae V indelicorum (Augsburg) , editio novissima, vers io latina, s.d., H om ilia CXXII , col. 121 1- 121 4 -

DOKUMENTE IV

Ich habe es als gut erachtet, von seinem Geschlecht zu sprechen, obwohl es vielen so scheint, als ob ausschließlich unsere eigenen Taten uns wirklich gehören, da der Adel für uns nur etwas „fußerliches zu sein scheint. Es ist jedoch in Wahrheit so, daß die Herkunft für uns sehr wichtig ist und großen Einfluß auf unser

Geschick hat Das gilt sogar jiir unsere eigenen Unternehmungen, sei es, weil unsere Leidenschaften, die wir von unseren Vorfuhren oftmals geerbt haben , den ihren ähnlich sind, oder weil ihre Taten für uns unvergeßlich sind, auf Grund der guten und beachtlichen Einflüsse, die w ir durch sie empfangen haben " 1

298
I) Oeuvres Completes de Saint Franr;ois de Safes, Bethune Editeur, Paris, 1836, Bd. II, S. 404-406

DOKUMENTE V

Die l{irchliche Lehre über die sozialen Unterschiede

Die vo rli egenden päp stlic h e n Schri fte n z e ige n , daß n ach der Lehre der K irc he d ie ch ri stliche Gesellsch aft a u s pro p ortional ung l eic hen Kl asse n zusam m engese tzt ist , di e ihr e igen es Gl ü ck und d as Wo hl e rgehe n d er Ge m e insc ha ft im gege nsei ti ge n un d ha rmo ni sche n Z usammenwirk en fi n den. In-

1.

d esse n d ü rfen di ese Unte rschi ede ke inesfalls di e R e c h te, di e d e m Me n sche n a l s solchem zuste he n , ver le t ze n. D en n, nac h de n Absich ten des All wissenden Schöpfers , mach t die m ensc hli che Natur, d ie in a lle n Ei nz e lme nsc hen d ie g leiche ist, di eseips o fac to - auc h gle ich in ihre n Rech t e n .

Die Rechtsverschiedenheit und Ungleichheit in den Befugnissen kommt vom Schöpfer der Natur selbs t

Pa p st Leo XII I. leh rt in de r En zy k lika Quod Apostolici Muneris v om 28. 12. 187 8 : ,, Wenngleich aber die Sozialisten das Evangelium mißbrauchen und es, um die Unbesonnenen leichter zu täuschen, in ihrem Sinne zu deuten pflegen, s o ist doch zwischen ihren schlechten Grundsätzen und der so reinen Lehre Christi ein Unterschied, wie es keinen größeren gibt. ' D e nn we lc h e Gem e inscha ft hat di e G er ech t igke it mi t de r Ungerecht igk e it? O de r w ie kann sich Li c h t z u F instern is gese ll e n ?' (2 Km: 6, 14) . Jene hören nicht auf - wie Wir bereits erwähnten - imme,fort zu erklären, alle Menschen seien von Natur aus untereinander gleich; un d sie behaupten , daß sie deshalb wed er

der Majestät H ochachtung und Ehrfurcht noch den Gesetzen, die nicht von ihnen selbst nach eigenem Gutdünken erlassen wurden, Gehorsam schulde n. Dagegen besteht nach der Lehre des Evangeliums die Gleichheit d er M e nschen darin, daß alle die gleiche Natur empfangen haben, daß alle zu derselben hocherhabenen Würde der Kinder Gottes berufen sind, daß allen ein und dasselbe Ziel b estimmt ist und daß alle nach demselben Gesetze gerichtet werden, um Strafe oder Lohn nach Verdienst zu empfangen . D och die Ungleichheit im Recht und in der Mach t stammt vom Urheber der Natur selbst her, von dem 'jed e Vatersch a f t im Hi mmel und auf Erden ih ren Na m en hat' (Fph .3, 15) " . 1

2. Das Universum, die Kirche und die bürgerliche Gesellschaft spiegeln die Liebe Gottes in organischer Ungleichheit wider

In der g le i chen Enzykli ka vers ic he rt d er Papst:

„ De,; der alles schiifund regiert, hat es in seiner weisen Vorsehung so geordnet, daß das Unterste durch das Mittlere, das Mittlere durch das Höchste zu seinem entsprechenden Ziel gelangt. Wie er darum selbst im himmlischen R eich unter den

Chören der E ngel e ine n Un terschied wo ll te und d ie eine n de n an de rn un tergeo rd n et hat, w ie er auc h in de r K irche m anni gfalt ige We ihestufen und unt ersc hi ed lic he Ä m te r ei ngesetzt hat, daß nic ht a ll e Aposte l seie n , ni c h t a lle Lehre r, ni cht alle Hirten ( 1 K o r. X II , 29), so h at er auc h in de r

1) Die Kath olische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfa ltung - Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Originaltexte mit Übersetzung) - herausgegeben von P rof. Dr. Arthur Utz und Dr. Brigi tt a Grä fin von Galen -Impri matur: Friburgi He lv., die 2 decemb ris 1975, T h. Perroud, V.G Sc ient ia Humana Institu t , Aac hen, 1976, 1, 124

bürgerlichen Gesellschaft mehrere an Würde, Rechten, Gewalt versc hiedene Stände ('ordines') begründet, damit der Staat wie die Kirche e in Leib

sei, der v iele Glieder besitzt, v on d enen ei nes edler ist als das andere, die aber alle einander notwendig sind und das gemeinsame Wohl erstreben". 1

3. Die Sozialisten behaupten, daß das Recht auf Eigentum eine menschliche Erfindung ist und der natürlichen Gleichheit der Menschen entgegensteht

In der Fortse tzung der Enzyklika erklärt Papst Leo XIII.:

„ Die katholische Weisheit hat, gestützt auf die Vorschriften des natürlichen und göttlichen Gesetzes, für den öffentlichen wie den häuslichen Frieden wohlbedacht Vorsorge getroffen auch durch das, was sie vertritt und lehrt im Hinblick auf das Eigentumsrecht und die Verteilung der Güter, welche zum Leben notwendig und nützlich sind. Denn während die Sozialisten das Eigentumsrecht als eine menschliche, der natürlichen Gleichheit der Menschen widersprechende Erfindung ausgeben und

in ihrem heftigen Streben nach Gütergemeinschaft der Ansicht sind, daß man keineswegs die Armut gleichmütig tragen müsse und daß man die Besitztümer und Rechte der Reichen ungestraft verletzen könne, hält die Kirche eine Ungleichheit unter den Menschen, die von Natur aus im Hinblick auf die Kräfte des Körpers und Geistes verschieden sind, auch in B ezug ai1fden Besitz von Gütern fiir weit ratsamer und nützlicher, und sie gebietet, daß das Recht des Eigentums und des B esitzes, das in der Natur selbst gründet, einem jeden gegenüber unantastbar und unverletzlich sei ".2

4. Nichts widerspricht so sehr der Vernunft, wie eine mathematische Gleichheit der Menschen

In der Enzyklika Humanum Genus vom 20.4.1884, sagt Papst Leo XIII. weiter:

„ Was die Behauptung einer allgemeinen Gleichheit unter den Menschen angeht, so ist sie zweifellos wah1; wenn wir das Menschengeschlecht und die gemeinsame Natur, das letzte Ziel, nach dem alle streben sollen, sowie die Rechte und Pflichten betrachten, die hieraus fließen. Da aber die

natürlichen Fähigkeiten aller nicht gleich sein können, einer sich je nach Geistes- oder Leibeskraft vom andern unterscheidet, und die Sitten, Bestrebungen und Naturelle sehr verschieden sind, so widerstreitet nichts so sehr der Vernunft, als alle oh ne Unterschied in einem abstrakten Begriff zusammenzufassen und nach dieser unbedingten Gleichheitstheorie ein Staatswesen begründen zu wollen". 3

5. Die Unterschiede liegen in der Natur der sozialen Ordnung

Papst Leo XIII. fährt fort:

„Wie der vollkommene Leib aus der organischen Verbindung der verschiedenen Glieder besteht, welche nach Gestalt und Funktion voneinander abweichen, vereint aber - jedes aber an seinem Platz - ein Ganzes bilden, das schon in seiner Erscheinung stark an Kraft, um seiner Leistungen willen notwendig ist, so besteht im menschlichen Gemeinwesen unter den einzelnen Teilen einefast unendliche Vielfalt. Wären die Glieder

alle einander gleich und würde jeder seiner Willkür folgen, dann würde ein Staat entstehen, wie er unförmiger nicht gedacht werden könnte; wenn sie jedoch trotz gradueller Verschiedenheit hinsichtlich der Verdienste, der Bestrebungen und der Fähigkeiten harmonisch zum allgemeinen Besten zusammenwirken, dann entsteht das Bild eines wohl geordneten und der Natur entsprechenden Staatswesens ". 4

1) Utz-von Ga/en, l, 125.

2) Utz - von Ga/en, 1, 128

3) Utz -von Galen, 1, 140

4) ib idem

300
DOKUMENTE V

6. Die sozialen Unterschiede dienen zum Vorteil aller Menschen

In der Enzyklika Rerum Novaru m vom 15.5.1 89 1, kommt Papst Leo XIII. auf das Thema der sozialen Unterschiede zurück:

,,Das erste Prinzip, das hervorgehoben werden muß: vor allem muß man den Menschen nehmen , wie er nun einmal ist Dah er kann es keine allgemeine Gleichmacherei in der staatlichen Gesellschaft geben. Dahin will zwar der Soz ialismus, aber er kämpft hier gegen die Natur selbst. Es sind nun einmal vo n Natur aus unter den Menschen sehr große und sehr viele Verschiedenheiten: hinsichtlich

d er B egabung, der Geschicklichkeit, der Gesundheit, der K räfte . Notwendigfolgt aus all dem von selbst e ine Verschied enheit in der Lebenslage Dieser Tatbestand gereicht soga r den Einzelnen wie der Gesellschaft zum Nutzen; denn das gesellschaftliche L eben braucht fiir seine Bedürfnisse die verschiedenartigsten Befähigungen und Fun ktionen Da ist es nun gerade bes onders der Unterschied d er Lebenslage, der für die Menschen beim Ergreifen d er einzelnen B erufe bestimmend ist"

7. So wie im menschlichen Körper sich die einzelnen Glieder gegenseitig anpassen, so müssen auch die sozialen Klassen sich in die Gesellschaft einfügen

E in wenig später erklärt d er Papst in seiner

Enzyklika:

„Ein weiterer Grundfehler bei der Behandlung unserer Frage ist die Vors tellung, daß die eine Schicht gleichsam von s elbs t in e inem Gegensatz zur anderen stehe, gerade so, als ob die Natu r die besitzende und die nichtbesitzende Klasse zu einem andauernden Zweikampf bestimmt habe. Dies widerspricht jeder Vernu nft und Wahrheit. Im Gegenteil: wie im Körper die versch iedenen Glieder in einem Zustand der Ordnung zusammenwirken,

weshalb man mit Recht von Symmetrie spricht, so hat die Natur auch d as Leben des Staates daraufhin ausgerichtet, daß jene zwei Klassen einträchtig z usammenwirken und in ihrem gegenseitigen Verhältnis eine Gleichgewichtslage der Gesellschaft herbeiführen. Die eine bedarfnotwendigerweise der anderen Das Kapital existiert nicht ohn e die A rbeit, n och die A rbeit ohne das Kapital. Ihre Harmonie erzeugt Schönheit und O rdnung; aus einem ewigem Konflikt jedoch können nur Durcheinander und wütende Schlachten hervorgehen". 2

8. Die Kirche liebt alle sozialen Klassen und den harmonischen Unterschied zwischen ihnen

In seiner Ans prache an das Patriz iat und den röm ische n Ade l (24.1.1903) lehrt Paps t Leo XIII:

„Die römischen Päpste bemühten sich stets in gleicher Weise di e A r m en zu schützen und ihr Los zu verbessern , aber ebenso die höheren Klassen in Schutz zu nehmen und ihre Lebensbedingungen besser zu gestalten. Sie haben damit wahrhaftig die Mission J esu Christi fortgesetzt, nicht nur auf religiösem Ge bie t, sondern auch auf sozialem Gebiet [. .}

Deshalb e rkennt die Kirch e, die zu allen Menschen, die doch alle Kinder des gleichen Himmlischen Vaters sind, spricht, die Klassenunterschiede als eine, von der Vorsehung gegebene Eigentümlichkeit der menschlichen Gesellschaft an. Aus diesem Grunde schärft sie auch den Me nschen ein, daß nur im gegenseitigen R espekt vor den Rechtenjedes Einzelnen und in der Nächstenliebe das Geheimnis eines

gerechten A usgleiches, e in es achtbaren Wohlstandes aller und des wahren F riedens und Gedeihens des Volkes liegt

Was Uns betrifft, bedauern Wir auch die heutige Agitation, welche das gesellschaftliche Zusamm e nleben stört. Mehr wie einmal haben Wir Unsere Blicke den ärmeren Schichten zugewandt, die am meisten den perfiden Angriffen perverser Sekten ausgesetzt sind und haben ihnen die mütterliche Fürsorge der K irche angeboten. Ebenso haben Wir schon oft erklärt, daß die Gleichstellung, welche die soz iale Ordnung untergräbt, niemals das Heilmittel fiir diese Übel sein wird, sondern vielmehr ein e Brüderlichkeit, die, ohne irgendwie die Achtung vor der gesellschaftlichen Position einzusch r änken, die Herzen aller mit dem gleichen B ande christlicher Liebe verbindet" 3

!)Acta SanctaeSedis, Ex Typograph inPo lyg lotta, Ro mae, 1890 -9 1, Bd XXIII, S 648; und Utz -von Galen, IV, 14.

DOKUMENTE V 301
1
2) Idem, S 64 8 - 649 und IV, 15. 3) L eonis XIII Pon tificis Max imii Acta, Ex Typografia Vaticana, Rom ae, 1903, Bd XXII, S. 368

9. In der Gesellschaft muß es Herrscher und Untertanen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Reiche und Arme, Gelehrte und Unwissende, Adelige und Nichtadelige geben

Im Erlaß Fin dalla Prima vom 18.12.1903, faßt der hl. Papst Pius X. in folgender Weise die L e hr e Papst Leos XIII. über die sozialen Unterschiede zusammen:

.,1. Die menschliche Gesellschaft - wie Gott sie eingerichtet hat - ist aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt, so wie der menschliche Körper aus verschiedenen Gliedern besteht; sie alle gleich z u machen, ist unmöglich und würde die Destruktion der Gesellscha.fi selbst bedeuten (Enzyklika Quod Apostolici muneris).

II. Die Gleichheit aller Gesellschaftsglieder besteht einzig darin, daß alle Menschen ihren Ursprung in Gott dem Schöpfer haben, daß sie

durch Jesus Christus erlöst sind und genau nach dem Maß ihrer Verdienste und Vergehen von Gott gerichtet und belohnt oder bestrafi werden (Enzyklika Quod Aposto lici muneris).

III. Daher kommt es, daß es den Anordnungen Gottes entspricht, wenn es in der menschlichen Gesellschaft Herrscher und Untertanen , Arbeitgeber und Arbeitnehme1; Reiche und Arme, Gelehrte und Unwissende, Adelige und Nichtadelige gibt, die alle, durch das Band der Liebe geeint, einander beistehen , ihr letztes Ziel im Himmel und ihr leibliches und s eelisches Wohlergehen hier auf Erden zu erlangen (Enzyk lika Quod Aposto lici muneris)". 1

10. Eine gewisse Art von Demokratie geht in ihrer Entartung so weit, daß sie die Souveränität in der Gesellschaft dem Volk zuspricht und die verschiedenen Klassen zu beseitigen beabsichtigt

Im Apostolischen Sendschreiben Notre Charge Apostolique des hl. Papst Pius X. vom 25.8.1910 steht:

,, die ,Sillon' -Bewegu n g ist, verleitet durch eine falsch verstandene Liebe zu den Schwachen, dem Irrtum verfallen.

In der Tat hat die ,Sillon'-Bewegung sich zum Ziel gesetzt, die Lage der Arbeiterklassen zu verbessern und umzugestalten. In dieser Materie aber sind die Prinzipie11 der katholischen Doktrin ein fiir allemal festgelegt, und die Geschichte der christlichen Kultur beweist ihren Nutzen und ihre Fruchtbarkeit. Unser Vorgänger seligen Angedenkens hat sie in seinen Lehrschreiben erwähnt, die alle Katholiken, die sich

11. Jesus

Der hl. Papst Pius X . fäh11 im g lei chen Schreiben fort:

„ Und wenn Jesus auch gut gewesen ist zu den Verirrten und Sündern, so hat er doch niemals ihre falschen Überzeugungen respektiert, so aufrichtig sie auch scheinen mochten; er hat sie alle geliebt, um sie zu belehren, zu bekehren und

1) Utz-von Galen, XXIII, 16- 18.

2) Utz-von Galen, XXIII, 236-237 .

3) Utz-von Galen, XXIII, 270.

mit sozialen Fragen befassen, studieren und stets vor Augen haben sollen. Er hat insbesondere gelehrt, die christliche Demokratie solle ,die Verschiedenheit der sozialen Schichten beibehalten, die sicherlich das Chamkteristikum eines wohlgeordnete11 Staates ist, 1111dfiirdie menschliche Gesellschaftjene Form 1111d je11e11 Charakter wü11schen, den Gott, ihr Schöpfer, ihr gegeben hat' [Enzyklika Graves de communi]. Er brandmarkte 'eine gewisse Demokratie, die in ihrer Entartung so weit ging, daß sie die Souverii11itiit in der Gesellschaft dem Volke zmpricht um/ ,lie Beseitigung 1111d Ei11eb111111g aller sozialen Unterschiede anstrebt "'. 2

zu retten Wenn er die Mühselig e n und Beladen e n zu sich gerufen hat , um sie zu erquicken, so nicht, um ihnen den Neid einer utopischen Gleichheit zu predigen. Wenn er die Niedrigen erhöht hat, so nicht, um ihnen das Gefühl einer unabhängigen und ungehorsamen Würde einzuflößen ". 3

302 DOKUMENTE V
Christus hat weder eine utopische Gleichheit aller, noch den Widerstand gegen die Obrigkeit gelehrt

12. Obwohl sie von Natur aus gleich sind, dürfen die Menschen nicht auch eine gleiche Stellung in der Gesellschaft beanspruchen

In der Enzykl ika Ad Beatissimi vom 1.1 1.1914, erklärt Papst Benedikt XV: „Auf der einen Seite stehen jene, den en ein glückliches Los irdische Güter in Fülle gespendet oder der eigene Fleiß zum Wohlstand verholfen hat, und ihnen gegenüber die unterste Klasse des Volkes und die Arbeiterwelt, voll Haß und Neid deswegen, weil sie, obschon gleicher Natur, nicht auch in denselben glücklichen Verhältnissen leben. Sie sind irregeji.ihrt durch falsche Vorspiegelungen der Volksaujwieg ler, deren Wink sie willenlos folgen. Wie wäre es da möglich , ihnen die Überzeugung beizubringen: daraus daß die Menschen alle die gleiche Natur haben, folge keineswegs, daß auch

alle in der Gesellschaft den gleichen Platz einnehmen müßten, sondern das sei die jedem zukommende Stellung, die er, wo nicht widrige Schicksale im Wege stehen, durch eigene sittliche Anstrengung erworben hat. Wenn daher die weniger Bemittelten die Wohlhabenden bekämpfen, als hätten sich diese in den BesitzJ,-emden Gutes gesetzt, so sündigen sie nicht nur gegen Gerechtigkeit und Liebe, sondern auch gegen die gesunde Vernunft; denn auch sie könnten, wenn sie nur wollten, durch ehrliche Arbeit ihr Los zu verbessern suchen. - Wir brauchen nicht auszufahren, welche Nachteile dieser Kampf des Neides den e inzeln en wie der Gesellschaft bringt". 1

13. Der brüderliche Umgang zwischen Höhergestellten und Geringeren darf die Unterschiede der Lebensstellungen und Stände nicht aufheben

Pap st B e ned ikt XV. fährt in der Enzyklika for t: „ G ewiß, diese Liebe vermag nicht, die Unterschiede der Lebensstellungen und Stände aufzuheben. Das ist ebenso unmöglich, wie allen Gliedern am lebenden Leibe dieselb e Aufgabe, dieselbe Würde zuz uweis en. Das aber w ird die Liebe bewirken , daß die höher Gestellten sich herablassen z u denen, die in bescheidenen Verhäl tnissen leben, und diesen gegenüber nicht

bloß, wie es sich geh ö rt, Gerechtigkeit üben, sondern ihnen entgegenkommen mit Wohlwollen , mit Freundlichkeit und Geduld Die vom Glück weniger Begünstigten ihre rseits sollen sich ji-euen über den Wohlstand der andern und der en Hilfe vertrauensvoll erwarten; geradeso wie unter den Kindern derselben Familie das jüngere sich auf den Schutz und die Hilfe des älteren ve rläßt". 2

14. Die Anerkennung der sozialen Hierarchie verbessert die Situation des Einzelnen und der ganzen Gesellschaft

Im Schreiben Soliti Nos vom 11.3.1920, a n Mons. Marelli, Bischof von Bergamo, e rklärt Papst Benedikt XV:

„ Dagegen sollen diejenigen, die eine geringere Stellung einnehmen und weniger besitzen, einsehen, daß die Verschiedenheit der Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft aus d er Natur stammt und daher aufden Willen Gottes zurückgeht:, denn er hat den Kleinen und den Großen gemacht' (Weish. 6, 7), und z war z um Wohle des Einzelnen wie der

Gesellschaft. Sie mögen auch daran denken, daß ihnen , wenn immer sie etwas durch eigene Anstrengung oder die Hilfe guter Men schen zur Verbesserung ihrer Lage erreichen, genauso wie allen M enschen ein nicht geringes Maß an Leiden übrig bleibt. Wenn s ie daher weise sind, werd en sie nicht nutzlos nach Höherem streben, als sie erre ichen können, und sie werden die Übel, denen sie nicht entfliehen können, geduldig ertragen in der Hoffnung auf d ie ewigen Güter " 3

DOKUMENTE V 303
1) Rundschre ibe n Ad beatissimi Apostolorum Principis vom 1. November 1914, Freiburg im Breisgau, Herder, 19 15, 2) !d e m, S . 19 3) Utz.-von Galen, XV, 13

15. Man darf die Abneigung gegen die Reichen nicht dadurch schüren, daß man die Masse dazu aufhetzt, die Ordnung in der Gesellschaft umzukehren

In dem Brief vom 5. Juli 1929 an den Bischof von Lille, Mons. A chille Lienart, erinnert die Heilige Kongregation des Konzils an die Prinzipien der katholischen Sozi aldokt r in und an die praktischen, mora li sche n Anweisungen, die vo n der höchsten kirchlichen Autorität erlassen wurden:

„Diejenigen, die sich des Titels als Christen rühmen, seien es Einzelpersonen, oder in Verbänden zusammengeschlossen, dürfen keinesfalls, wenn sie sich ihrer Pflichten bewußt sind, Feindschaften oder Eifersüchteleien zw ischen den sozialen Klassen entwickeln , sie müssen vielmehr den Frieden unterein an der und die gegenseitige Liebe pflegen (Papst Pius X. Singulari quadam, vom 24 .9.19 12).

,Die katholischen Sch riftsteller, wenn sie die Verteidigung der Pro letarier und der Armen übernehmen, mögen den Gebrauch vo11 Ausdrücken verm eiden, die das Volk dazu ermuntern kö11nten, Abneigung gegen die höhergestellten sozia len Klassen zu e11twickeln.

[ .. .]Sie mögen sich daran erinnern, daß Jesus Christus alle Menschen mit einem Band gegenseitiger Liebe verbinden wollte, das vollkommene Gerechtigkeit darstellt und die

Verpflichtung mit e inschließt, daß jeder zum Wohl aller zu arbeiten hat' (Anweisung der Heiligen Vatikankongregation fü r außerordentl iche, k irch lich e Angelegenheiten , vom 27. 1.1 902)

,Diejenigen, die dieser Art von In stitutionen vorstehen (dere n Zweck es ist, den Wohlstand der Arbeiter zu fordern) müssen sich daran erinnern [ .}, daß nichts sosehr dazu geeignet ist, die allgemeine Wohlfahrt sicherzustellen , wie die Harmonie unter allen Klassen, und daß die christliche Nächstenliebe das beste Anzeichen der Eintracht unter ihnen ist. Es würde also sehr zum Nachteil des Arbeiters gereichen, wenn jene, welche die Absicht haben, seine Lebensb edingungen zu verbessern, ihm nur dabei helfen würden, vergängliche und geringe Güter dieser Erde zu erringen und nicht seinen Geist zur Mäßigung, durch die Betonung der christlichen Pflichten, bewegen würden. Noch schlimmer wäre es allerdings, wenn sie soweit gehen würden, d en Haß auf die Reichen weiter a11zuheizen, indem sie bittere und gewalttätige Reden halte11, durch welche Mensch en, die unserem Glauben f ernstehe11, gewöhnlich die Massen zum Umsturz der Gesellschaftsordnung drängen' (Papst Benedikt XV. an den Bischofvon Bergamo, am 11 .3. 1920)" 1

16. Ungleiche Rechte sind legitim

Papst Pius XI. erklärt in d er Enzyklika D ivini Redemptoris vom 19.3. 1937 folgendes:

,,Irren schändlich jene, die leichtsinnig behaupten,

daß alle in der menschlichen Gesellschqft gleiche Rechte haben und daß es keine rechtmäßige Über- und Unterordnung gibt'. 2

17.

Ähnlichkeit und

Verschiedenheit unter den Menschen finden einen angemessenen Platz in der absoluten Ordnung des Seins

Aus der R ad ioan sprache Papst Pius' XII. zu Weihnac hten 1942:

„Menschliches Gemeinschaftswesen besagt innere Einheit, schließt jedoch Verschiedenheiten nicht aus, die von Natur und Wirklichkeit gefordert werd en. Wo man an Gott als der ob ersten N orm alles Menschlichen festhält, findet die Gleichheit wie die Verschiedenh eit der Menschen den

1) Acta Apostolicae Sedis, Ba nd XX I, N°lO, 3 8. 1929, S. 4 97-498.

gebührenden Platz in der unbedingt gültigen Ordnung des Seins und der Werte, und damit auch der Sittenordnung. Wo aber diese Grundfeste erschüttert wird, eröffnet sich zwischen den e inzelnen Kulturgebieten eine gefahr/iche Zusammenhan glosig- keit, zeigt sich ein unsicheres Schwanken der Grenzlinien und Wertmaßstäbe " 3

2) Acta Apostolicae Sedis, Bd. XXIX, N ° 4, 31.3.1937, S. 81 und Utz-von Ga len, II, 109.

3) Zur Neuordnung im Staats- und Völke r/eben - Ansprachen Papst P ius' XI I. , Ke mp er, Waibstadt bei H e idelberg, 1946, S.75-76.

304 DOKUMENTE V

18. Das Zusammenleben der Menschen bewirkt immer und notwendigerweise eine Stufenleiter von Rängen und Unterschieden

Aus d er A nsp rache Pa p st Piu s ' XII. an die Arbe iter d er FIAT-Werke vom 3 1.10.194 8 :

„ Die Kirche verspricht nicht jene absolute Gleichh eit, die andere proklamieren, weil sie weiß, daß das Zusammen /e ben der M enschen immer wieder und notwendigerweise eine ganze Stufenleiter von Unterschieden in den physischen

und den geistigen Eigenschafte n, den inneren Anlagen und Neigungen, den Tätigkeiten und den Verantwortlichkeiten hervorbringt Aber zu gleicher Zeit sichert sie d ie volle Gleichheit in der menschlich en Würde zu ebenso wie in dem Herzen D essen, der alle zu sich ruft, die mühselig und beladen sind ... "

19 . Die absolute Gleichheit herzustellen, wäre die Zerstörung des sozialen Organismus

Paps t Pius XII. le hrt in se ine r R e d e vo m

4.6.19 53 a n e ine Gruppe v on G lä u b ige n der Pfarre i von Marsciano , Pe rugia:

„ Es ist nötig, daß Ihr Euch wie wirkliche Brüder fühlt Es handelt sich dabei nicht um ein einfach es Sinnbild. Ihr seid ja wahrhafte Kinder Gottes und somit wirkliche Brüder:

Nun, Brüder werden nicht alle gleich geboren und ble ib en auch nicht alle gleich : die einen s ind stark, die anderen schwach, ei nige sind intelligent,

andere untüchtig, vielleicht ist einer sogar abnormal und es kann auch geschehen, daß einer unwürdig wird. Deshalb is t es unvermeidlich, daß in der gleichen Familie g ewisse Unterschiede, ma terieller oder geistiger Art und moralische Verschiedenheiten auftreten

Die absolute Gleichheit aller zu fordern, wäre das Gleiche, wie von den verschiedenen Gliedern ein u nd desselben Lebewesens identische Funktionen zu fordern". 2

20. Wer die Verschiedenheit der sozialen Schichten leugnet, widerspricht der Ordnung der Natur

P a pst Joh a nn es XXIII. lehr t in de r Enzyk li ka Ad Petri Cathedram vom 29.6 .1 959:

„ Die Eintracht, we lche man z wischen den Völkern herzustellen versucht, muß auch immer mehr zwischen den soz ialen Kla ssen gefördert werden Wenn das nicht geschieh t, können als Folge davon Haß und Auseinandersetzungen entstehen, die Wirja schon sehen; daraus en tstehen Unruh e, R evolutionen und manchmal sogar Blu tbäde1; ebenso wie der gleic hmiißige Rückgang des Wohlstandes und jene Krisen, welch e die öffentliche und private Ökonomie in Mitleidenschaji z iehen . ... Wer es also wagt, die Verschiedenheit der sozialen S ch ichten zu leugnen, widerspricht d er eigentüm lichen Ordnu ng der

Natur.

Und auch j ene, die sich gegen die.fi iedliche und notwendige Zusammenarbeit zw ischen den sozialen Schichten wehren , stören und entzweien ohne Zweifel die Gesellschafi, zum größten S chaden des öffentlichen und privaten Wohlstandes Sicher ist es wahr; daß alle Klassen und S chich ten der Bürger das Recht haben, ihre Interessen zu verte idigen, wenn das auf legale We ise und ohne Gewalttätigkeit g eschieht und unter Rücksichtnahme auf die R echte der anderen , die ebenso unverle tzlich sind, wie die ihren. Alle sind Briide,; d eswegen ist es nötig, daß alle Probleme at/( .fi-eundschafilich e We ise gelöst werden, in brüderlicher und g ege nseitiger Liebe". 3

21 . Eine klassenlo se Gesellschaft - eine gefährliche Utopie

Paps t Johannes P a u l II. e rkl ä rt in seiner Hom i lie in der M esse für Juge ndli che u nd Stud ente n in B e lo Ho r izo nte, Brasi lien, am 1. 7 .1 980:

,. Ich le r nte, daß ein junger Christ aufhört, jung z u s ein und schon seit langem nicht mehr Chris t ist, wenn er sich durch D oktrinen und

1) Pius XII. sagt - Nach de n vat ikanischen Archiven zusamme n ges te ll t vo n Mich ael Ch ini go, Fischer, Fran kfu r t am Ma in, 1958 , S 176- 177.

2) Discorsi e Radiomessaggi di Sua Sa11titä Pio XII, Tipografa Poliglotta Vat icana, Bd. XV, S. 195

3) Acta Apost olicae Sec/is, Bd LI , N ° 10, 22 7 .1 959, S 505-50 6

DOKUME NTE V 305
1

Ideologien verführen läßt, die Haß und Gewalt predigen

Ich lernte, daß ein junger Mensch gefahrlich alt zu werden beginnt, wenn er sich durch den so einfachen und bequemen Grundsatz, daß 'das Ziel die Mittel rechtfertigt', betrügen läßt und glaubt,

DOKUMENTE V

daß die einzige Hojfinmg aufeine Verbesserung der Umstände in der Gesellschaft darin besteht, den Haß und Kampfzwischen den sozialen Gruppen zu schüren, in der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, die sehr schnell wieder zur Herausbildung neuer Klassenfahrt " 1

22. Der Unterschied unter den Geschöpfen ist eine Bedingung, damit die Schöpfung der Ehre Gottes dient.

Außer den vorhe r wied ergegebe nen päpstlichen Schrifte n , sc heint es nütz lich zu sei n , e inige Argumente des „Doktor Angelicus" anzu füge n , um die Tatsache der Unterschiedlichkeit d e r Geschöpfe zu beg ründen. In sei nem Werk Summa Theologica e rklärt er:

„Darum sind ojfensichtlü:h im Bereich <.k r Naturdinge die Arten stufenweise geordnet. So ist das Gemischte vollkommener als der Grundstoff, die Pflanzen vollkommener als die Gesteine, die Sinnenwesen vollkommener als die Pflanzen, und die Menschen vollkommener als die anderen Sinnenwesen Und in den einzelnen Bereichen dieser Arten ist die eine Art wieder vollkommener als die andere. Wie also die göttliche Weisheit die Ursache der Unterscheidung der D inge ist, um der Vollkommenheit des Weltalls willen, so auch der Ungleichheit. Denn das Weltall wäre nicht vollkommen, wenn sich in den Dingen nur eine Stufe der Güte fande" 2

Tatsäc hli c h wäre es mi t der Vo ll kommen h ei t Gottes un vere in bar, ein einze lnes Wesen zu schaffen . D e nn ke in Geschöpf, w ie vollkommen es auch vorstellbar sein kö nn te, wü rde in de r Lage sein, alle in die unendliche Vollko m me nh eit Gottes a ngemessen widerspiegeln zu können.

D eshal b gibt es notwendigerweise z a hll ose Geschöpfe,jedoch nicht n ur zah ll ose, sondern auch versch iedener Art. Das ist die Doktrin des H e ili gen Lehrers:

„Mehrere Gute sind besser als ein einziges endliches Gutes; sie haben nämlich dies und dazu

noch mehr. Alle Güte des Geschöpfes aber ist endlich; ist sie doch abfallend gegenüber Gottes unendlicher Güte. Vollkommener ist mithin das All der Geschöpfe, wenn es mehrere Stufen der Dinge gibt, als wenn es nur eine gäbe. Dem Höchsten Guten aber steht zu, zu machen, was das B este ist. Also ist Ihm zukommend gewesen, daß Es mehrere Stufen der Geschöpfe machte.

Zudem. Die Güte der Art geht über die Güte d es unteilbar Geeinzelten hinaus, so wie das Formhafte über das, was stofflich ist. Mehr fiigt mithin der Güte des Alls die Vielheit der Arten hinzu, als die Vielheit der unteilbar Geeinzelten in einer einzigen Art. Zur Vollkommenheit des Alls gehörig ist mithin nicht allein, daß es viele unteilbar Geeinzelte g ibt, sondern daß es auch verschiedene Arten der Dinge gibt, und folglich auch verschiedene Stiifen in den Dingen ". 3

Di e U ntersc hi ede s ind d emnach ke in Fe hl e r der Schöpfung. Es s ind hervorragende Qua litäte n, in denen s ich d ie unendliche und bewundernswürdige Vollkommenh e it des Schöpfers s piege lt. Und Go t t gefällt es, sie z u betrachten:

„Die Verschiedenheit und Ungleichheit in den Dingen ist mithin nicht vom Ziifall he1; nicht aus der Verschiedenheit des Stoffes, nicht wegen des Dazwischentretens irgendwelcher Ursach e n oder Verdienste, sondern aus der eigentlichen Absicht Gottes, der dem Geschöpf solche Vollkommenheit geben wollte, wie es möglich ww; s ie zu haben

Dah e r wird am Erst en Tag der Schöpfung gesagt : 'Gott sah alles, was Er gemac ht hatte, und es war sehr gut. [Ge n. 1,3 1] '". 4

1) lnsegnamenti di Giovanni Paolo II., Bd III, 2, Libreria Editrice Vaticana, 1980,S, 8

2) Die Deutsche Thomas-Ausgabe - Val/ständige ungekürzte deutsch -lateinische Ausgabe der Summa Theologica. Imprimatur: P. Lect. fr. Laurentius M. Siemer, Provinzia l der deutschen Dominikanerprovin z, P. Bartholomäus Badalik , Provinzial de r Österreichisch-ungarischen Dominikanerprovinz für den Kommentar, und vom Fürsterzbischö fli che n Ordinariat zu Salzburg. Copyright 1936 by Verlag Anton Pustet, Salzburg. 4. Band , Schöpfung und Engelwelt, 1. q. 47, a 2, S.78 -79

3) Thomas vo n Aquin , Die Summe wider die Heiden in vier Büchern - Das zweite Buch, Ve rl ag Jakob Hegner, Leipz ig, 1935, XLV. Kapitel, S. 162 -163.

4) lbidem (S. 163- 164).

306

23.

Die Abschaffung der Unterschiede ist die notwendige Voraussetzung für die Beseitigung der Religion

Gott wollte diese Unterschiede nicht nur bei den Geschöpfen der niederen Naturreiche - Minerale, Pflanzen und Tiere - sondern a uch un t er den M e nsch e n und somit unter Völkern und Nationen. Mit dieser Verschiedenheit sch uf Gott nicht nur Harmonie unter den Geschöpfen und Vorteile für jede einzelne Gattung, sondern auch für j edes Einzelwesen. Gott wollte, da ß der Mensch vielfältigste Möglichkeiten erhalten sollte, um Seine unendliche Vollkommenheit immer vor Augen zu haben. Die Verschiedenheit der Geschöpfe ist daher - ipso facto - e ine hohe und umfassende Schule der Abwehr des Atheismus. Das scheint der französische, kommuni stis che Schriftsteller Roger Garaudy (der s ich später zum Islam „bekeh11e ") be griffen zu haben, als er di e Wichtigkeit der Aufhebung sozialer Unterschied e für den Sieg des Atheismus auf der Welt hervorhob: ,, Es ist für einen Marx isten unmöglich zu sag en,

daß die Vernichtung des r eligiösen Glaubens eine Bedingung -sine qua non - .fiir den Ai1fstieg des Kommunismus sei. Karl Mar ~r zeigt dagegen, daß der vollständige Sieg des Kommunismus das Verschwinden r eligiöser Ideen ermöglicht, d a durch , daß er d ie sozialen Zustände transparent macht Für ein en Marxisten ist daher die Errichtung des Kommunismu s die unumgängliche Voraussetzung zur Ausmerzung der sozialen Wurzeln der Religion und nicht das Verschwinden des religiösen Glaub ens die Bedingung fiir den Aufbau des Kommunismus" 1

D ie Ran go rdnu ng im Universum zerstö re n zu wollen, he ißt also, dem Menschen die Mittel zu r freien Ausübun g sei ne r gru ndl egendsten Rec hte zu rauben, die dari n bestehen, Gott zu e rk ennen, zu lieben und z u dien en M it andere n Wo rten he ißt das, die größte Ungerechtigke it und d ie graus amste Tyra nn ei z u wünsc hen.

24. Der Natur nach sind alle Menschen in gewissem Sinne gleich aber in einem anderen Sinne ungleich

Vier Persone n waren die Autoren des Buches Agrarreform - e ine G e wiss e n sfrage: Erz bischof G e raldo de Proen9a Sigaud, Bi sc ho f Antonio d e Cas tro Maye r, Prof. Plinio Correa de Oliveira und de r Wirtschaftswissenschaftler Luiz Mendon9a d e Fre itas. Aus di e sem We rk wurd e de r fo lgende Text von Plinio Correa de Oliv eira e ntnommen:

,,Gleich sind alle Menschen als Gottes Geschöpfe Sie sind mit Leib und Seele erschaffen und alle sind durch Jesus Ch1istus erlöst. Also auf Gnmd dieser Würde, die alle Menschen besitzen, hab en a lle das gleiche Recht auf Leben , Gestmdhe it, Arbeit, Religion, Fami lie, intellektuelle Ausbild U11g, usw , aufalles, was für das irdische Leben notwendig ist. Eine gerech te und christliche Wirtsch afts- und Sozialordnung beruht des halb auf Gnmd lagen emer wesentlic hen Gleichheit.

Ab e r üb e r die se wesentliche G leichheit hinaus g ibt es unter den Mensc he n se kundäre, von Gott e tabli e rte, Ungl e ichheiten. Die Mensc h e n sind von Geburt an n ich t g le ich bezüg lic h Tug end , Intelligenz, Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und a n derem. J e de w irk sam e und organi sche Soz ialund Wirtsc ha ftstru ktur muß im Eink lang mit de r Ordnung d e r Na tur stehen. D ie Gesellsc h aftsstruktur spiegelt dahe r die se aus de r Natur sta mmende persön liche Ung le ic hh e it w ider.

Dieses Widersp iege ln se tzt voraus , daß j eder bes itzt , was gerecht un d w ürdi g ist, a be r a uc h , d aß diejeni ge n , die vo n Na t ur a us begab ter sind - durch ihre anstä n d ige Arbeit und ihr spa rsa m es Le benmeh r erwe r be n.

Glei chheit u nd Ungleichheit g le ic he n si c h aus und e rgän ze n s ich. Sie spie le n ve rsch ie de ne R ollen und stimmen mi t der Ordnung ei n e r ge rech ten u nd ch ri st lichen Gesel lsc haft übe re in.

Diese R egel bildet e ine n der bew unde rn swe rtesten Züge der uni versa len Ordnung. A ll e Geschöpfe Gottes besitze n die aus ihrer j eweiligen Natu r no twendigen Beschaffe nh ei ten. Alle werden vo n Gott nach derselben Rege l behandelt. Aber der Schöpfer gi bt e inige n sehr viel, anderen vie l. und noc h anderen sc hli cht was a nge~ messe n ist. Diese Ung leichheit bilde t eine ri esige Hiera rc hie, deren Schönhe it verg leic hbar ist mit de r Schönheit vo n No ten e iner Gott lobenden Symphoni e Eine ganz egali täre Sozial- tm d Wirtschaftsgese llsc haft wä re a lso w idernatürlich.

Im di ese m L ich t e rscheinen d ie oben e r wä hnt en sozia le n Ungle ic hheiten als Bed ing ung für eine g ute Allgeme inordn ung und ha ben infolgedessen Vorteile für den ga nzen so z ia len O rganis mus - fü r di e Gro ße n und auch für d ie Klein e n Di ese gesellschaftl ic he Rangordnung ist Bestandte il des P lanes der Göttl iche n Vorsehung,

DOKUMENTE V 307
1) L 'homm e chre tien e t / 'homme marxiste, Semaines d e /a p e nsee ma niste - Co11fro11tatio 11s e t deba1s, La Pa la t in e, Pa ri s- Geneve, 1964, s 64.

308

um den geistigen und materiellen Fortschritt der Menschen durch den Antrieb der Besten und Fähigsten zu fördern. Gleichmacherei bringt Untätigkeit, Stag~nation bzw. Dekadenz mit sich. Alles, was lebendig ist, zerfällt und stirbt, wenn es

keine Fortschritte macht.

DOKUMENTE V

Das eben Gesagte erklärt das Gleichnis von den Talenten (Matt. 25, 14-30). Jedem gibt Gott in ungleichem Maße und jeder muß über das Empfangene vor Gott Rechenschaft ablegen." 1

1) Ref orma Agraria - Questiio de Consciencia, Editora Vera Cruz, Sao Paulo, 1960, S. 64-65

DOKUMENTE VI

Die unentbehrliche Harmonie zwischen wahrer Tradition und wahrem Fortschritt

1. Die wirldichen Freunde des Volkes sind Traditionalisten

Aus dem Brief des hl. Pa p stes Pius X. Notre Charge Apostolique vom 25.8.1910:

„Aujjeden Fall sollten s ich diese Priest er (die sich d en Werken der katholischen Aktion w idme n) im Ge wirr d er modern en Ideen nicht durch das Gaukelbild einer falschen D emokr atie ver leiten lassen; sie sollten nicht die Rh eto r ik d er schlimmsten Feinde d er Kirch e und des Volkes übernehmen und in emphatischen Worte n Ver:,prechungen ma ch en, die ebenso wohltön end wie un e1.fiillbar sind. Sie mögen überzeugt sein: daß di e soziale F rage und die Sozialwissenschaft nicht erst gestern entstan de n sind, daß zu allen Zeiten die Kirche und der Staat e,folgreich

z usammengearbeitet haben, um zu diesem Zweck wirksame Einrichtungen zu schaffen; daß die Kirche, die niemals das Glück des Volkes durch kompromittierende Allianzen verraten hat, sich nicht vo n ihrer Vergangenheit lossagen muß; daß e s genüg t, wenn sie mit H ilfe der echten Arbeiter die soziale Ern euerung der durch die R evolution vernichteten Organismen wiederaufnimmt, im glei chen ch ristlichen Geist, der sie hat entstehen l assen, sie anpaßt an das neue Milieu, da s durch die materielle Entw icklung der modernen Gesellschaji en tstanden is t; de1111 die wahre11 Fre unde des Volkes si11d weder die Revolutionäre no c h die Neuerer, sondern die Traditionalisten. " 1

2. Respekt vor der Tradition behindert keineswegs den wirldichen Fortschritt

Aus der A n s prac he Paps t Piu s' XII. an di e Professoren und Schüler d es Li zeums Ennio Quirino Visconti in Rom , am 28.2.1957:

„ Gerechterweise wurde festgestellt, daß eine der Charakteristika der Röm er der R esp ek t vor den Traditionen is t, gleichsam e in Geheimnis der dauernden Größe der Ewigen Stadt Dieser R e:,pekt bedeutet keine Festlegung ai1f von den Zeiten überholt e Formen; er erh ält vielmehr am Leben ,

was sich jahrh undertelang als gut und fr uchtbar erwiesen hat. So verhindert die Tradition absolut nicht den gerechtfertigten und gliicklic/ie11 Fortschritt, sondern ist z u gle ich e r Zeit ein kriiftige r Amporn, am rec hten Weg zu bleibe n; sie bremst die Abenteuerlust, die geneigt ist, unüberlegt j ede, wie immer gearte te Neuerung zu übernehmen Sie gibt auch, wie man zu sagen pflegt, das Alarmzeichen gegen den Niedergang".2

1) Utz- vo11 Gale n (s. Dok. V), XX III , 272 2) D isco rsi e Radiom essaggi d i Sua Santita Pio XII, Tipografi a Po l ig lotta Vat icana, Bd XV III, S. 803

3. Einer der häufigsten und schwers te n Fehler de r modernen Soziologie ist die Unterschät z ung der Tradition

Ansprache Papst Pauls VI. an Pi lger slowakischer Abstamm u ng aus versch iedenen Ländern, vor allem aberaus den Verein igten Staaten und Ka nada( ! 4.9 63), zum elfh undertjährigen Jahrestag der Ankunft der Heil igen Cyrill und Methodius in Mähren:

„ Es ist für die katholische Erziehung charakteristisch, aus dem Geschichtsstudium nicht nur Elemente der Kultur und Erinnerungen an vergangene Zei ten zu empfangen, sondern auch die Empfindung einer lebendigen Tradition, die den ge istigen Anteil an der moralischen Erziehung liefert Aber nicht nur das, die Tradition bietet auch eine dauernde Orientierung fiir einen, die Zeiten hindurch geradlinigen und sich selbst getreuen Fortschritt, eine Garamie der Beständigkeit und Widerstandsfähigkeit. Sie gibt dem Volk seine Würde und sein Lebensrecht und bringt ihm die Verpflichtung nahe, in Harmonie mit den anderen Völkern z u leben. Einer der ltiiuflg sten und s c hwe rs t en Fel,/er der m odern e n So ziolog i e is t di e

U11 terschiitz 1111g d er Tradition , das heißt, zu glauben, daß eine sichere und solide Gesellschaft ohne Rücksichtnahme auf geschichtlich gewachsene Fundamente errichtet werden könnte, auf denen sie naturgemäß gestützt ist. Dieser Ing!aube besagt auch, daß der Br uch mit der von d en vorangeg a ngen e n Gen eration e n ererb ten K ult ur förde rlic her fiir ein Volk sein könnte, wie ein e z üg ige Entw icklung, die klug erweise d e m S c hatz des D e nke ns und d er iib ernom mene 11 Bräu c he treu bleibt. Mehr noch, wenn dieser ererbte Schatz reich an jenen universellen und ewigen Werten ist, die der Katholische Glaube dem Gewissen eines Volkes einprägt, bedeutet das Festhalten an der Tradition eine Garantie fiir ein moralisches Leben dieses Volkes; es verm i ttelt ihm das Bewußtsein seiner Existenz und macht es wiirdigfiir den Empfang des göttlichen Beistandes, welcher der weltlichen Stadt etwas vom Glanz und der Ew igkeit der himmlischen Stadt verleiht" 1

4 . Si ch von der Vergange nheit abzusetzen, ist die U rsach e von Unruhe, Angst und Un s icherheit

Hom il ie des Papstes Paul VI. fü r die Messe in der Bas ilika des Hei ligen Lorenzal Vera no am 2.11 1963:

„ Wir haben die Gewohnh eit , immer nach vorne zu sehen und schätzen die Verdienste von gestern oftmals gering; wir sind wenig geneigt, dankbar zu sein dem Andenken u11d der Verbundenheit mit unserer Ve,gangenheit, ebenso der Tre ue, die wir der Vergangen heit sch ulden und den Taten, dievon einer Ge11eratio11 ausgehend - der nächsten folgen, Respekt zu erweise n. Man kann häufig

beobachten, daß die Menschen sich gewöhnlich von ihrer Vergangenheit abse tzen, was die Ursache von Unruhe, Angst und Unsicherheit ist.

Ein gesundes Volk, ein christliches Volk, steht viel mehr zu denen, die uns vorausgegangen sind. Es bedenkt d ie Logik der Ereignisse, von denen es seine eigenen E1:fahrungen ableiten muß und zu gleicher Zeit entzieht es sich nicht der schuldigen Pflicht, diese anzuerkennen und sie gerecht zu beurteilen". 2

5 . Tradition is t ein fruchtbringender Schatz und ein Erbe,

welches es zu bewahren gilt

Ansprache des Papstes Pau l VI. an seine La ndsleu te aus Brescia (26.9.1970) :

,, Erlaubt, daß einer Eurer Landsleute von gestern, einem der höchsten Werte des 111e11sch- liehen Lebens seine Ehrerbietung enveist, der zugleich einer der vernach/äßigsten ist: der Tradition. Sie ist ein fh1chtbringender Schatz und ein Erbe, welches bewahrt werden muß. Die neuen Generationen sind

alle der Gegenwart, oder sogar der Zukunft zugeneigt. Das ist g ut so, wenn diese Tendenz nicht den tatsächlichen und allgemeinen Überblick auf das Leben verdunkelt. Denn, die Gegenwart auszuschöpfen und die Zukunft vorzubereiten, kann die Vergangenheit uns nützlich und, in gewisser Hinsicht, unent - behrlich sein. Die revolutionäre Trennung von der Vergangenheit bedeutet nicht

1) l nseg11a111e11ti di Paolo VI, Tipografia Poliglotta Vat icana, 1963, Bd . ! , S. 131.

2) lde111, S. 276-277.

3 10 D OKUMENTE VI

DOKUMENT E VI

immer eine Bef,-eiung, zu oft nur ist sie die Trennung von den eigenen Wurzeln. Um wirkliche Fortschritte zu machen und nicht zurückzufallen, ist es nötig, den geschich- tlichen Sinn unserer E1fahrungen z u erken- nen. Das stimmt sogar auf dem Gebiet der äußerlichen Dinge, technisch-

wissenscha.ft- licher oder politischer Natur, wo die Veränderungen rascher e,folgen und mit mehr Ungestüm. Mehr noch gilt das jedoch auf allgemein menschlichem Gebiet und besonders fiir die Kultur. Und es giltfiir unsere Religion, die insgesamt als Tradition von Christus herkommt." 1

311
1) lns egnamen ti di Paolo VI, Tipogra fia Pol ig lotta Vaticana, 197 0, Bd. VIII, S. 943 -944

DOKUMENTE VII

Das alte Romein aus der patriarchalischen

Gesellschaft hervorgegangener

Das Buch von Fustel de Coulanges , 1 Der antike Staat, zuerst mit B egeiste run g aufg e nommen, war anschließend im Laufe de r Zeit Gege nstand der Kritik. Trotzde m, a u f Grund der diesem We rk z u -

Staat

grundeliegende n Gel e hrsamk e it, der K larheit der Gedanken und geradlinigen Ausführung, bewahrt D er antike S taat a uch he ute no c h di e E insc hätzung a ls Meiste1werk seine r Art.

1. Das Wortpater unterscheidet sich von genitor und erscheint als Synonym für rex

„ Dank d er häuslichen Religion war die Familie ein kleiner, organisierter Körper, eine kle in e Gesellschaji, die ihr Oberhaupt und ihre bestimmt e Führung hatte. Nichts in unserer modernen G es ellschaft kann uns von j ener väterlichen Macht einen B egriff geben. In dieser alten Zeit war der Vater nicht nur der Stark e, der besc h ütz t und sich zugleich Gehorsam zu verschaffen imstande ist, er ist auch der Pries te ,; der Erbe des H erdes, der Fortsetzer der A hn en, der Stam m der Nachkomme n, der Verwahrer der geheimnisvollen Gebräuche des Kultus und der geh eimen Formen des Gebets. Alle Religion ru ht auf ihm.

Der Name Pate,; mit dem man ihn nennt, gibt uns eine sonderbare Belehrung. Das Wort ist im Griechischen, L a teinischen, im Sanskrit dasselbe, woraus man scho n schließen kann, daß dieses Wort aus einer Zeit stammt, wo die Vo,fahren der H ellenen, der Itale r und der Hindu noch z usammen in Zentralasien lebten Was bede utete es da mals den Menschen? Dies läßt sich leicht entnehmen, denn es hat diesen seinen ersten Sinn in den Formen der religiösen und juris tische n Sprache bewahrt. In derjuristischen Sprache konnte der Titel eines Pater

oder pate,familias einem Mann e beigelegt werden , d er keine Kinder hatte, der nicht verheira tet und ga r nicht in d em Alter war, eine H eira t eingehen zu können. Der B egriff der Vaterschaft haftete also nicht an diesem Worte. Die alte Sprache besaß no ch ein anderes Wort, eine passende Bezeichnung jiir den Vater, das e benso alt is t wie Pater und sich in der Sprache der Griechen, der Röm er und der Hindu vo,finde t (gänita r, genneter, genitor). D as Wort pater hatte einen anderen Sinn In d er religiös en Sprache wandte man es auf alle Götter an; in der R echtssprache nannte man pate,familias jeden Mann, der unabhängig war und der eine Familie und ein Haus beherrschte Die Dichter zeigen uns, daß ma n es im Hinblick auf all jene anwandte, die man ehren wollte. Sklave und Klient nannten so ihren H errn . Rex, hänas, basileus waren ihm syno nyme Wörter. Es schloß nicht etwa die Idee der Vat erschaft, wohl aber d ie der Macht, der A utorität, der majestätischen Würde in sich.

Daß ein solches Wort auf den Familienvater angewandt wurde, mit der Zeit sogar sein gewöhnlichs ter Name werden konnte, ist sicherlich eine bezeichnende Tatsa che, die jedweden bedeutsam

1) Französischer Geschichtsschreiber ( 183 0 -1889), Professo r für d ie Geschichte des Mitte la lte r s an der Sorbo nn e und Direktor de r Ecole Nonn ale Su perie ure. Auße r Der antike Staat sc hri e b er noch and ere B üche r , von d e nen besonders das We rk Geschichte der Institutionen im antiken Frankreich h ervorzuheben ist. In d iesem Buch ana lysiert er d ie Entste hung des Fe uda lregimes in d iesem Land

erscheinen wird, der die antiken Institutionen kennen lernen will. Die Geschichte dieses Wortes genügt, um uns einen Begriff der Macht zu geben, die der Vater

lange Zeit in der Familie ausgeübt hat und des Gefühls der Verehrung, das man ihm zollte, wie einem Priester oder Herrscher". 1

2 . Die Beg riffe gens b e i de n Röm e rn und geno s b ei den Griec hen

„ In den schwierigen Problemen, die die Geschichte oftmals bietet, ist es ratsam, den Wortschatz der Sprache um alle Auskünfte, die er uns geben kann, zu beji-agen. Eine Institution ist manchmal durch das Wort erklärt, das sie bezeichnet. Das Wort gens ist genau dasselbe, wie das Wort genus, so zwa,; daß man eines fiir das andere nehmen und ohne Unterschied gens Fa b ia und genus Fabium sagen konnte Beide entsprechen dem Verbum g ignere und dem Substantiv gen itor, ebenso wie genos dem gen näs und dem goneus entspricht. All diese Worte tragen den Begriff der Abstammung in sich Man vergleiche all diese Worte mit denen, die wir die Gewohnheit haben, mit Familie zu übersetzen, das lateinische fa mi l ia, das griech ische oi k os. Weder das eine noch das andere enthält in sich den Sinn der Abstammung oder der Verwandtschaft. Die wahre Bedeutung von fam il ia ist Eigentum; es bezeichnet das Feld, das Haus, das Geld, die Sklaven und deshalb sagen die Zwölftafelgesetze, indem sie vom Erben sprechen, fam il iam ma n citor, er soll die Nachfolgerschaft antreten Was oikos betrifft, so ist es klm; daß dieses Wort nichts anderes bez eichnen will, als Eigentum oder Behausung. Und doch sind dies die Worte, die wir gewöhnlich mit Familie übersetzen. Kann man annehmen, daß Worte, deren wesentlicher Sinn der der Behausung oder des Eigentums ist, oftmals zur Bezeichnu ng einer Familie angewendet werden konnten, und daß andere Worte, deren innerer Sinn Abstammung Geburt, Vat erschaft bedeutet, niemals etwas anderes als eine künstliche Vereinigung bezeichneten? Sicherlich wäre das nicht übereinstimmend mit der Deutlichkeit und der Klarheit der alten Sprachen. Es ist unz weifelhaft, daß die Griechen und die Römer mit den Worten ge n s und genos die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Abstammung verbanden Die

gens wird uns allseitig als eine Vereinigung dargestellt, die durch die Bande der Geburt geschaffen ward

Aus alledem erhellt, daß die gens keine Vereinigung von Familien, sondern die Familie selber war. Ob sie nun nur aus einer einzigen Linie bestand, oder zahlreiche Zweige zählte, immer war es nur eine Familie

Es ist überdies leicht, sich von der Bildung der antiken gens und ihrer Natur ein Bild zu machen, wenn man sich die alten Glaubenslehren und die alten Einrichtungen vergegenwärt igt, die wir.früher erwähnt haben. Man wird sogar erkennen, daß die ge n s aufganz natürlichem Wege der häuslichen Religion und dem Privatrechte der alten Zeiten entspringt. Als wir die Autorität der alten F amilien behandelten, haben wir gesehen, daß die Söhne sich vom Vater nicht trennten; indem wir die Gebräuche, die in der Übertragung des väterlichen Erbteiles herrs chten , studierten, haben wir konstatiert, daß die jüngeren Brüder s ich dank dem Prinz ipe des gemeinschaftlichen Besitzes von dem älteren Bruder nicht trennten. Herd, Grab , väterliches Erbteil, all dies war zu Anfang unt eilbcu; und folglich auch die Famili e Die Zeit vermochte sie nicht zu zerteilen. Di ese unteilbare Familie, die sich durch alle Zeiten hindurch entwickelte, ihren Kultus und ihren Namen von Jahrhundert zu Jahrhundert erhaltend, das war in Wirklichkeit die antike gens Die gens wa r die Familie, aber die Familie, die sich die Einheit, die die Religion ihr befahl, erhalten und sich so weit entwickelt hat, als es das alte Privatrecht zuließ.

Nehmen wir das als wahr an, so wüd alles klar, was die alten Schriftsteller uns von der gens e17ählen. Die enge Verbindlichke it, die wir eben zwischen ihren Gliedern bemerkten, hat nichts Überraschendes mehr: Sie sind durch die Geburt ve,wandt". 2

3. Der Begriff Familie in de r antike n Welt

„Man kann also einen langen Zeitraum erblicken, während dessen die Menschen keine anders geartete Gesellschaft gekannt haben, als die Familie

Jede Familie hat ihre R eligion, ihre Götte1; ihr

Priestertum Jede Familie hat auch ihr Eigentum, ihr Stück Erde, das ihr durch die Religion unabänderlich gehört Endlich hat jede Familie ihr Oberhaupt, so wie jede Nation ihren König. Sie hat ihre Gesetze, die ohne Zweifel nicht geschrieben

I ) Der Antike Staat. Studie über Kultus. Recht und Einrichtungen Griechenlands und Roms Akadem ische D ruck- u. Verlagsanstalt, Graz, 1961, S, 97-98.

2) Eben da, S. 11 8, l 19, 12 1 und 122

3 14
VI I
DOKUMENTE

D OKUMENTE VI I

sind, die aber im Herzen eines jeden Menschen durch den strengen, religiösen Glauben eingeprägt waren. Sie hat ihre innere Justiz, über welche keine andere steht, die man anrefen könnte. Alles, was dem Menschen zu seinem materiellen oder moralischen Leben notwendig ist, besitzt die Familie in sich. Nichts von außen ist ihr nötig; sie ist ein organisierter Staat, eine Gesellschaft, die sich genügt.

Aber diese Familie der alten Zeiten ist weit verschieden von den Verhältnissen der modernen Familie In den großen Gesellschaftsgebilden teilt und verkleinert sich die Familie; besteht aber keine Gesellschaft, so entwickelt und verzweigt sie sich ohne Teilung. Die jüngeren Zweige vereinigen sich dann um den älteren und bleiben bei der einen Herde und dem gemein schaftlichen Grabe". 1

4. Familie , Kurie oder Brudersch aft und Stamm

,.Das Studium der alten Verordnungen des Privatrechtes ließ uns über die Zeiten hinweg. die man die historischen nennt, eine Reihe von Jahrhunderten dunkel erkennen, während denen die Familie die einzige Gesellschaftsform war. Diese Familie konnte durch Jahrhunderte hindurch dann in ihrem großen Rahmen Tausende von menschlichen Wesen in sich schließen. Aber in diesen Gren zen war die menschliche Gesellschaft noch zu eng beschränkt: zu engfiir die materiellen Bedü1fnisse, denn schwer konnte sich die Familie in allen Lebenslagen genügen : zu eng auch fiir die moralischen Bedü,fnisse unserer Natw'.

Die religiöse Idee und die menschliche Gesellschaft waren also zugleich im Wachsen begriffen. Die häusliche Religion untersagte die enge Verbindung zweier Familien Aber es war möglich, daß mehrere Familien, ohne irgend etwas von ihrer eigenen Religion preiszugeben, sich zumindest zur Feier eines anderen Kultus, der beiden gemeinsam wa,; einigten. Das geschalt auch . Eine gewisse Anzahl von Familien bildete eine Gruppe , die in der griechischen Sprache Phratrie, in der lateinisch en Kurie hieß. Waren es Bande der Geburt, die in den Familien derselben Gruppe bestanden? Es ist unmöglich, dies zu bestä tigen. Sicher aber ist, daß sich solch eine neue Vereinigung nicht ohne Erweiterung der religiösen Idee vollzog. In dem Augenblick, wo sich diese Familien vereinigten , anerkannten sie eine Gottheit, die über ihren häuslichen

Gottheite n stand, d ie a ll en gemeinsam war und die über d ie ganze Gruppe wachte S ie errichteten ihr e inen A ltar, zündeten ein heiliges Feue r an und setzten e inen Ku lt fest.

Es gab keine Kurie, keine Phratrie, die nicht e inen Altar und ihren schützenden Gott gehabt hätte. Der religiöse Akt vollzog sich da in derselben Art wie der in der Familie ...

Jede Phratr ie oder Kurie hatte ein Oberh aupt, Kurio oder Phratriarch, dessen hauptsächlichste Funktion im Vorsitz bei den Opfern bestand. Vielleicht sind seine Vorrechte z u Anfang ausgedehnter gewesen. Die P hratrie hatte ihre Versammlun gen , ihre Beratungen und konnte Beschlüssefassen. So wie in der Familie, gab es auch in der Phratrie einen Gott, einen Kult, ein Priestertum , eine Justiz, eine Verwaltung. Es war eine kleine Gesellschaft, die genau der Familie nachgebildet wa1'.

Auf natürlichem Wege und auf d ieselbe Weise wuchs diese Vereinigung. Mehrere Kurien oder Phratrien vereinigten sich und bildeten eine Tr ibus. Dieser nette Kreis hatte wieder seine Religion; in jeder Tribus war ein Altar und eine schütz ende Gottheit

Die Tribu s, sowie die P hratr ie, hatte Vers ammlungen und faßte Beschlüsse, denen alle Mitgliede r sich unterwerfen mußten. Sie hatte ein Tribun al und das Recht, ihre Mitglieder zu verurteilen. Sie hatte ein Oberhaupt, tribunus, phylohas ileus" 2

5. Di e Stadt bilde t s ich

„Die Tribus, die Familie, so wie die Phratrie waren zu einer unabhängigen Kö,perschaft geworden, weil sie einen besonderen Kult hatten, von dem der Fremde ausgeschlossen war. Einmal gebildet, ließ sie keine neue Familie mehr zu. Zwei Tribus konnten nicht mehr zu einer verschmelzen; ihre Religion widersetzte sich dagegen . Aber so wie sich einige P hratrie n zu einer Tribus vereinten, so konnten sich auch einige Tribus vere1111gen, vorausges etzt, daß sie ihre Kulte gegenseitig

I) Ebenda , S 126- 12 7

ehrten. Am Tage, wo diese Vereinigung stattfand, entstand der städtisch e Staat Es ist von geringer Bedeutung, die Ursache zu suchen, die mehrere nachbarliche Tribus bewog, s ich zu vereinigen. Bald geschah die Vereinigung freiwillig, bald wurde sie durch die höhere Kraft einer Tribus oder durch den mächtigen Willen eines M enschen herbeigefiihrt. Sicher ist aber, daß das Band dieser netten Ve rein igung wieder e in Kult war. Di e Trib u s, die sich zur Bildung e iner Stadt vereinigten,

315
2) Op cit., Buch III, S 132, 133, 134, 136, 137.

unterließen es nie, ein heiliges Feuer anzuzünden und sich eine gemeinsame Religion zu geben. So hat sich die menschliche Gesellschaft in dieser R asse nicht nach Art eines Kreises vergrößert, der sich nach und na cht erweitert und immer weitere Verbreitungfindet Ganz im Gegenteile h a ben sich kleine Gruppen, die schon lange vorher bestanden, zusammen getan Mehrere Familien haben die Phra tri e gebildet, mehrere P hratrien die Tr ibu s, mehrere T ribu s die Stadt. Familie, Ph ra tr ie, T ri b us, Stadt sind Gesel/schajisgebilde, die einander genau gleichen und die durch eine Reihe von Verbindungen, eines aus dem anderen , entstanden. Es muß sogar bemerkt werden, daß je nachdem sich diese verschiedenen Gruppen untere in ander vereinigten, keine von ihnen trotzdem ihre Individua lität, ihre Unabhängigkeit einbüßte

We nn sich auch mehrere Familien in einer

D O KUMENT E VII

P h ratr ie vereinigt hatten, blieb dochjede so, wie sie zur Zeit ihres Alleinseins gewesen war, nichts wurde in ihr geändert, weder ihr Kult, noch ihr Priestertum, noch ihr Eigentumsrecht, noch ihre Justiz im Innern. Hernach bildeten sich kleine Kurien, aberjede behielt ihren Kult, ihre Versammlungen, ihre Feste, ihr Oberhaupt Von den T ribus ging man zur Stadt über, aber die Tribus waren deshalb nicht aufgelöst, undjede von ihnen bildete weiter eine Kö,perschaji, als ob die S tadt nicht existierte

So ist die Stadt nicht eine Vereinigung von Individuen: sie ist e ine Vereinigung von mehreren Gruppen, die vor ihr gebildet waren, und die sie fortbestehen liißt Man sieht bei den attischen R ednern, daß.Jeder Athene,· zu gleicher Zeit an vier verschiedenen Gesellschaften teilnimmt; er ist Mitglied einer Familie, einer P hratrie, einer Tr ibus und der Stadt" . 1

6. Staat und Stadt

„ Staat und Stadt waren keine synonymen Worte bei den Alten. Der Staat war die religiöse und politische Vereinigung der Fam ilien und Tribus; die Stadt war der Vereinigungsort, die Wohnstätte und ganz besonders das Heiligtum dieser Verbindung. ...

Sobald einmal die Familien, die Ph ratr ie n und die T ribus sich zu einigen und denselben Kult auszuüben beschlossen hatten, gründete man die Stadt, damit sie das H eiligtum dieses gemeinschafilichen Kults sei. So war die Gründung einer Stadt immer ein religiöser Akt.

Wir werden als erstes Beispiel d ie Stadt Rom selbst anführen

Ist der Tag der Gründung angebrochen , so bringt er [Rom ulu s] zuerst ein Opfe1: Seine Gejahrten sind rings um ihn versammelt; sie zünden aus Gestrüpp ein Feuer an, undjeder springt durch die leichte Flamme Die Erklärung dieses Brauches liegt darin, daß das Volk zu dem Akte, der sich vollziehen wird, rein zu sein hat: Die Alten glaubten nämlich, sich von jedem physischen oder moralischen Makel rein waschen zu können, indem sie durch die heilige Flamme sprangen

Sobald diese einleitende Zeremonie das Volk z um großen Gründungsakte vorbereitet hat, gräbt Romulus eine kleine Grube von kreisartiger Form.

Er wirft eine Sch o lle Erde hin e in, die e r vo n de r Stad t Alba ge b rac h t hat. Darauf w irft j ede r seine r Gefä h rten, sich nä he rn d, g le ic h ih m etwas Erde h in, d ie er vo n d em L an d e, au s dem er komm t, geb rach t hat. Diese r Brauch ist beme rk e n swe r t, un d er e n t h üll t u ns be i diesen Me nschen e in en Geda n ken , d er Erwä hn ung ve rdi e n t. Bevor s ie a uf de n Pa lat in kamen, bewohnten sie Alba, oder irgen d eine andere der nachbarlichen Städte Hier war ihr Herd; hier hatten ihre Väter gelebt und waren begraben worden. Die Religion verbot nun, die Erde zu verlassen, wo der Herd ai!fgestellt war und wo die göttlichen Vo1fahren ruhten So mußte de nn eine List ersonnen werden, um keinerlei Frevel z u begehen, und all diese Männer trugen unter dem Symbol einer Schai!fel Erde, d en heiligen Boden mit sich, wo ihre Vor/i:J/1re n begrabe n und an d e n ihre „ Manen" (Seelen der Vo1fahren) gebunden waren Der Mens ch konnte nur seinen Wohnort wechseln, wenn er seinen Boden und seine Vorfahren mit sich .fiihrte; dieser Brau c h mußte ausgeübt werden, damit er, aufden neu adoptiert e n Platz hindeutend, sagen kön n e: Das hier ist no c h die Erde meiner Väter, terra patrum , pa tri a ; hier ist meine H eimat, denn hier sind die Manen meiner Familie" 2

7. Die Schwierigkeiten bei der Bildung des Staates

,,Zwei Dinge begreift man leicht : Erstens, daß diese Religion , die jeder Stadt eigen wm; den B au des Gemeinwesens sehr stark. j a fast unerschütterlich gründen mußte; es ist in der Tat merkwürdig, wie lange diese soz iale Organisa -

1) !dem, S . 144, 145 un d 14 6.

2) ! dem, S. I 53, I 5 5 und 156

tion trotz ihrer Fehler und trotz der Gefahren, die sie barg, gedauert hat.

Zweitens, daß diese Religion durch lange Jahrhunde r te das Aufkommen einer anderen sozialen Form als die der Stadtgemeinde

316

DOKUMENTE V II

verhindern mußte

Jede Stadtgemeinde mußte vollständig unabhängig sein; die Religion selbst erforderte dies. Jede mußte ihr eigenes Gesetzbuch haben, weil jede ihre Religion hatte und weil das Gesetz eben von der Religion herrührte. Jede mußte ihre /eilende Justiz haben und die Justiz der Stadt war von jeder andern unabhängig Jede hatte ihre religiösen Feste und ihren Kalender; in zwei Städten konnten die Monate und das Jahr nicht dieselben sein, weil die Reihenfolge der religiösen Handlungen eine verschiedene war. Jede hatte ihr besonderes Geld, das zu Anfang gewöhnlich mit religiösen Sinnbildern bezeichnet wa,: Jede hatte ihr Maß und ihre Gewichte. Man erlaubte nicht, daß zwisc hen zwei Städten etwas gemeinsam WCll'.

Griechenland war es ni ema ls gelungen, einen einzigen Staat zu bilden; weder die römischen noch die etruskischen Städte, noch die samnitischen Tribus haben jemals eine geschlossene Vereinigung bilden können Man hat das unheilbare Zerte ilungsbedii,jiiis der Griechen der Natur ihres Landes zugeschrieben, und man sagte, daß die Gebirge, die sich dort kreuzten, z wischen den Menschen natürliche Grenzlinien festsetzten. Aber zwischen Theben und Platäa, z wischen Argos und Sparta, zwischen Sybaris und Croton gab es k eine Gebirge. Es gab auch keine zwischen den Städten Latiums noch zwisch en den zwö(f Städten Etruriens. Die physische Natur hat ohne Zweifel irgend einen Einfluß aufdie Geschichte der Völke1; aber die Glaubenslehren des Menschen haben einen weit mächtigeren. Zwi schen zwei nachbarlichen Städten gab es etwas Uniiberschreitbareres als ein Gebirge: Es waren dies die Reih e der he iligen Grenzsteine, die Verschiedenheit der Kulte, die Schranke, die jede Stadt zwischen dem Fremden und ihren Göttern aufstellte

Aus diesem Grunde konnten die Alten eine andere soziale Organisation wie die einer

Stadtgemeinde nicht einfiihren, ja selbst nicht einmal begreifen . Weder die Griechen noch die Italer, noch die Römer selbst konnten es lange Zeit begreifen, daß mehrere Städte sich vereinigen und unter derselben Herrschaft leben konnten. Zwischen zwei Städten konnte es wohl ein Bündnis geben, eine augenblickliche Vereinigung, wenn es galt, einen Gewinn z u ziehen oder eine Gefah r z urückzuweisen, aber niemals entstand eine vollständige Einigung. Denn die Religion machte aus jeder Stadt eine eigene Kö1perschaft, die sich keiner anderen anschließen und anpassen konnte. Die Absonderung galt als Gese tz, das die Stadt aufstellte.

Wie hätten sich auch mehrere Städte mit diesen religiösen Glaub enslehren und Bräu chen , die wir kennen gelernt haben, zu einem Staate vereinigen können? Ein Gesellschaftsgebilde sah man dann erst als ein regelrechtes an , wenn es auf religiöser Grundlage ruhte Das Sinnbild dieser Vereinigung mußte ein gemeinsam abgehaltenes, heiliges Mahl sein. Einige tausend Bürger konnten sich wohl, wie es der Brauch war, um ein und dasselbe Prytaneion versammeln, dasselbe Geb et sagen, die heiligen Speisen untereinander teilen. Aber man versuche es, mit diesen Bräuch en aus ga nz Griechenland einen einzigen Staat zu bilden!

Zwei Städte zu einem einzigen Staate, die besiegte Bevölkerung mit der siegreichen unter derselben Herrschaft vereinigt, das sieht man niemals bei den Allen, mit einer einz igen Ausnahme

Diese unbeschränkte Unabhängigkeit der alten Stadt konnte erst aufhören, als die Glaubenslehren, auf denen sie gegründet wa 1; vollständig versc hwunden waren. Erst nachdem sich die Anschauungen geändert hatten und mehrere Revolutio nen durch diese antiken Gesellschaften gegangen waren, konnte man dazu gelangen , einen von anderen Bräuchen beherrschten größeren Staat zu begreifen und z u bilden Aber dazu mußten die Mensch en andere Grundsätze und ein anderes soziales Band als das der alten Zeiten e1jinden ". 1

3 1 7
!) Idem, S. 242-247.

DOKUMENTE VIII

Der Feudalismus ist das Werk: der mittelalterlichen Familien

Über die Rolle d er Fam i lie beim Aufbau der feudalen G esellsc haftso rdnung schre ibt de r Historiker Franz Funck-Brentano, Mitg lied des Insti tut Fra ni;a is, in seinem berühmten Buc h D as Ancien

Regime: ., Niemand wird bestreiten, daß das Ancien Reg ime seine Wurzeln in der feudalen Gesells chaft hat. Der Feudalismus se lbst en tstand in jener erstaunlichen Epo che, die von der Mitte des 9 Jahrhunderts bis z ur Mitte des 11. Jahrhunderts reicht, aus der fran z ösischen Familienorganisatio n, die ihre privaten Institutionen nach und nach auf das öffentliche Leben ausweitete.

Im Laufe des 9. und 10. Jahrhunderts hatten eine ganze Reihe vo n Überfallen der Barbaren, Normannen, Hunnen und Sara zenen das Land in die Anarchie gestürzt, der alle Institutionen zum Opfer g efallen waren. D er Bauer verließ sein Ackerland, um der Gewalt zu enifliehen; das Volk versteckte s ich in den tiefsten Wäldern und in unzugänglichen Sümpfen oder such te seine Zuflucht im Hochgeb irge. Das Band, das die B ewohn er eines Lan des einte, war zerrissen; die überlieferten Bräuche und Gesetze waren zersch lagen; niemand mehr regierte die Gesellschaft.

Inmitten dieser Anarchie ging von der einzigen noch heilen organisierten Kraft, von der einzigen Zuflucht, die niemand hatte besiegen können, weil ihre Fundamente in da s menschliche Herz hineinreichten, nämlich von der Familie, der Wiederauf bau d er Gesellschaft aus

Mitten im Sturm widersteht die Familie, gewinnt an Kraft un d wä chst zusammen Da s ie ihren Bedürfnissen nachkommen muß, schafft sie s ich die

fiir die landwirtschaftliche und mechanische Arbeit undfiir die bewaffnete Verteidigung notwendigen Organe. Da es den Staat nicht mehr gibt, t r itt an seine Stelle die Familie. Das gesellschaftliche Leben dreht sich um das Heim, das Leben in Geme inschaft beschränkt sich aufden Hau sbereich und die dazugehörigen Güter, beschränkt sich auf d ie Haus wände und was darum herumliegt.

Es handelt s ich um eine nachbarliche Gesellschaftsform, die von den restlichen Gruppen desselben Musters jedoch völlig abgeschnitten ist.

In den Anfangs zeiten unserer Geschichte erinnert der Familienchefan denfi·üheren pate r fa mi lias. Er befehl igt die Gruppen von M enschen, die sich um ihn herum bildet und seinen Namen trägt, er organisiert die gemeinsame Verteidigung und verteilt die Arbeitje nach F ä h igkeiten und Bedürjiüssen eines jeden. Er herrsc ht - so heißt es in den Texten jener Zeit - als absoluter H err. Man nennt ihn ,s ire' Seine Gemahlin, die Familienmutte1; wird , Dame ', , Do mina', genannt.

So wurde die F amiliefiir den Menschen zum Vaterland, und die lateinischen Texte jener Ze it nennen sie sogar so, ,Patri a'. Ihr gehört die zärtliche Zuneigung des einzelnen um so meh,; als sie lebend ig und konkret vor seinen Augen liegt. Ihre Macht, aber auch ihre Milde wird unmittelbar erfahren als fester, geliebter Panzer, als notwendiger S chutz. Ohn e Familie könnte der Mensch nicht bestehen.

Daraus en tsteht das Gefiihl der Solidarität, das die Familienmitglieder miteinander verbindet, und das sich unter dem Wirken einer so uveränen Tradition weiteren twicke lt und na ch und nach genauere Umrisse annimmt" 1

I ) a a o , Americ. - Ed it. , Ri o de Jane i ro , 1936, Bd. I , S. 12-14

DOKUMENTE IX

Der familiäre Charakter der feudalen Regierungsform - der König als Vater seines Volk:es

U m d e n fa mili ä re n C h a rak te r de r fe ud a le n Reg ie run gs form deutlic h darz uste llen, i st es n ütz lich, e ine n Te il d es inha ltsre ic he n Buch es D er Geist der Fa milie im H e im, i n der Stadt un d im Staate v o n Mo n s. He nr i De lassus w ie d e rzu ge b e n , in we lche m

e r di e gesc hi c htl ic he Herkunft d ieser R egie run gsform beschre ib t.

Um a ber die B e deutung de r genann te n M ate ri e en t spreche nd zu wü rdi ge n , e rsc heint e s w ic hti g , v ore rst e inige Lebensdat e n des A uto rs a nzugeben.

1. Kurze Biographie

Mons. Delass us (1 836- 1921) war in Frankrei ch e ine d e r wi ch tigste n Pe rs önlic hk e ite n im K a mpf de r Ki rc h e gege n di e A ng ri ffe d es Lib e ra li smu s un d Mo d e rn is mus a m En de d es 19. un d zu B egin n des 20. Jahrhund ert s

Al s Sch r if t st e lle r ve röffe nt lic ht e e r za hlr e ic h e We rke 1 A ls Jo urnali st arb e ite te e r für di e Woche nze itsc hrift „ S emaine R eligieuse du Diocese de Cambra i ", de re n Be s itze r, Dire ktor und Chefre da k t eu r er 1874 w urde. A u s di esem Blatt ma chte e r „ eine F estung gegen den Li beralismus, den Modernismus und alle Arten d er ant ichristlichen Ver -

sch wörung in der Welt " N ac h der Erri chtu ng d er Diözese vo n Lille e rhi e lt di e Zei t sc h ri ft d e n N ame n „Semaine Religieuse de D iocese de Lille" u n d wurde d as offizi e ll e Organ d es B ischofss itzes in Ja h r 19 19 Mons . Delass u s - d e r in d e r Re g ie rungszei t Pa p st Pius IX. z um Pries te r gewe ih t w orden wa re ntw ickelte se ine Täti gke iten z um g rö ßten Te il unt er den P ä p s te n Leo XIII. un d Pius X u n d starb in d e r Zeit d es P a p stes Be nedik t XV.

2 . Das Vaterland, Herrschaftsgebiet des Vaters

Mons D e lass us z ei g t , nachd e m e r in seinem B uc h Der Ge ist der Familie im Heim, in d er Stadt u nd im Staate an di e These F ust e l de C o ulan ges e r-

in n e rt h at , daß d ie F a mili e di e K e imze lle de r a n tik e n Gese ll sc haft war, daß di ese T hese a uc h a u f di e Herk un f t d e r aktue ll e n Z iv ilisa ti on a nwendbar i st:

1) Histoire de Notre- Dam e de la Treil!e, Patro nne de Lille (189 1), L 'Americanisme et /a Conjuration Antichretienne ( 1899), Le Probl eme de / 'Heure Presente: Antago nisme de Deux Civilisations (2 Bd., 1904), L 'Encyclique " Pascendi D ominici Gregis "et l a D emocr atie (l 908), Verites Sociales et Erreurs D e mo cratiques (1909), La Conj uratio n An tichretienne: Le Temp le Mcu;onniqu e voulant s 'elever sur /es Ruin es de/ 'Eg/ise Catholique ( mit e ine m Vorwort von Kard i nal M e n y de! Va l, 3 Bd., 1910), Condamnation du Modernis me dans /a Censure du Sil/011 ( / 9 10), La Quest ion Juive (A u szu g aus der La Conjuration Antichretienn e. 1911). La Demo cratie Chretienne: Parti et Ecole vus du D i ocese de Cambrai (1911), La Mission Posthume de Jeanne d' Are et /e R egne Socia/ de Jes us - Christ (19 l 3), Les Pourquo i d e /a Gue rre Mondiale: Reponses de la Justi ce Divine, de l 'Histoire, de /a Bonte Divine (3 Bd ., /9 19- 1921).

,,Man kann feststellen, daß die sozialen Schichten aiifdie gleiche Weise sich zu Beginn unserer modernen Zeit herausgebildet haben.

Die Familie bildete - indem sie sich erweiterteunter uns die mesnada (mesnada, magnie: Haus, Familie, wie man noch heute das Haus Frankreich nennt), so wie sie bei den Griechen die Phratrie (Bruderschaft) oder unter den Römern die gens (Sippe) gebildet hat. ,Die Blutsverwandten, um das Oberhaupt versammelt, bildeten' - wie Flach in seinem Werk, 'Die Ursprünge des alten Frankreich' sagt'den Kern eines umfangreichen Verbandes, der mesnada. Die mittelalterlichen Texte, Chroniken und Heldenlieder beschreiben uns die mesnada, erweitert um das Patronat und die Klientel , als e ine Einrichtung, die genau der gens der Römer entspricht'. Im Anschluß an diese Definition zeigt uns Flach, daß die mesnada, ihrerseits sich entwickelnd, zur Großfamilie wird, deren Oberhaupt noch immer der Vater ist. Das ,geht so weit, daß die Menschen, die unter der H errschaft eines Feudalherren stehen, häufig in den Texten des 12. und 13.Jahrhunderts-der Zeit, in welcher sich die Feudalherrschaft voll entwickelt hat- mit dem Wort ,Familie'bezeichnet werden. , Der Baron - sagt Flach - ist vor allem ein Familienvater'. Und der Historiker zitiert Texte in denen der Vater ausdrücklich dem Baron gleichgestellt wird und der Sohn dem Vasallen. , Das Größerwerden (der Fa-

DOKUMENTE IX

milie) läßt den Baron höherer Kla sse entstehen' Aus der kleinen Feudalherrschaft wird die große. Aus der Zusammenfassung der großen Feudalherrschaf ten werden die Königreiche.

So entstand unser Frankreich. Sowohl die Sprache, als auch die Geschichte bestätigen das Die Gesamtheit der unter der Autorität des Familienvaters stehenden Personen nennt man Familie. Zu Beginn des 10. Jahrhunderts wird auch die Gesamtheit der Personen, die unter der Autorität des Herren, des Herren der mesnada stehen, eine Familie genannt. Die Gesamtheit der Menschen, die dem Baron, dem Feudalherren, unterstehe, wurde ebenfalls Familie genannt. Und wir können sehen, daß alle ji-anzösischen Familien zusammen, wie eine Familie regiert wurden. Das Gebiet, auf dem die verschiedenen Obrigkeiten ausgeübt wurden, sei es nun die des Familienvaters, des Herrn der mesnada , des Feudalherren oder Königs , nannte man in den Dokumenten einheitlich Patria, das heißt, die Herrschaft des Vaters. Funck-Brentano sagt, daß 'das Vaterland seinem Ursprung gemäß, das Famili enland, das Land des Vaters war. Dieser Begriff umfaßte die Herrschaft und auch das ganze Königreich, wobei der König der Vater des Volkes war. Die Gesamtheit der Gebiete, über die sich di e Autorität des Königs erstreckte, wurde Patria - das Vaterland - genannt' ".

322
1
1) L 'Esprit Familial dans la Maison, dans la Cite et dans ! 'Etat, Societe Saint-Augustin, Desclee de Brouwer, Lille, 1910, S. 16-17,

DOKUM ENTE X

Der väterliche Charakter der traditionellen Monar chie

1. Der Empfang für Kai ser Franz I. in Wi en nach dem Ab z ug der napoleoni schen Tru ppen

D e r vä te rli c he Chara kte r der mitte lalte rl ic h e n M ona rchie wurd e we itgehe n d von den Herrschern des Hauses H absburg bis zu ih re m Thro nverlust im Jahre 19 18 b e wa hrt.

D e r H e rz li c hk e i t die s e s C h ara k ters verle ih t die Rede d eu tli c h e n Aus dru c k , di e der Bürge rm e i s t er von Wi en ge hal te n h a t , al s e r k ur z n ac h d e r N iederlage b e i Wag r a m ( 18 0 9) Ka i se r Fra n z I. e mpfi ng.

Für e ine n Leser, d e r v ielleich t vo m Ge i ste des K lassenkamp fes durc hdrun g en ist, k önnte d iese Red e eh er eine m M ä rc hen buc h e ntsta mm en, a ls ein e m gesc hi chtliche n Ere ig ni s .

D er Wortl a ut di eser Red e w ird v on e inem u nbestreitb ar korrekte n Berichte rstatter, d em Hi storiker Prof. Dr. Joh ann Bapti st von Weiß ( 1820-1 899) w iede rg ege b en:

„Die Anhänglichkeit [de r Wie ner] zeigte sich am feurigsten beim Empfang des Kaisers Franz I. nach dem verheerenden Krieg beim Abzug der Franzosen aus Wien am 20. November 1809, nach einem drückenden Aufenthalt im L ande von sechs Monaten und sieben Tagen ...

A m 16 November zogen österreichisch e Truppen wieder in Wien ein, am 27 November kam der Kaiser um vie r Uhr nachmittags. Schon am frühen Morgen zogen Tausende und Tau sende hinaus gegen Simmering, den geliebten Kaiser z u empfangen. Ganz Wien war auf d en B einen, Kopf an Kopfharrten sie wie Kinder aufden Anblick des teuren Vat ers Endlich um vier Uhr erschien er ohne j ede Leibwache, in offener Kalesch e in d er Uniform seines Husarenregiment es, den Obersthofin eister Grafen Wrb na an seiner S eite. Der Boden, die Luft schienen z u z ittern vom Jubelruf. 'Willkommen unser Vater!' Das Schwenken d er Tücher wollte kein Ende nehmen.

D er Bürgermeister redete ihn an: , Gelieb ter Fürst ! Wenn ein Volk im Kampf mit dem Ungl ück, leidend in mannig/acher Art, nur der Leiden seines Fürsten gedenkt, dann ruh t die Liebe auf tiefem Grunde des Gefühls, ni e vergänglich un dfest. - Wir sind dieses Volk! Als unsere Söhn e dahinsanken im blut igen Streite, als zerstörende Gewa/1 glühender Kugeln unsere Häuser stürzte, als die Grundfesten Wien s erbebten vom Donner der S chlachten, dachten w ir Dein , Fürst und Vate,; da d achten wir Dein in stiller Li ebe D enn Du hast diesen Krieg ni ch t gewollt. Nur das Verhängnis der Zeiten drang Dir i hn auf Du hast das Beste gewollt Der Urheber unserer Leiden warst Du nicht Wir wissen es , daß Du uns liebst; wir wis se n es, daß unser Glück Dein heil igesJestes Woll e n ist Wir haben ihn oft emp/unden , den Segen Deiner väterlichen Milde. Bezeichnet hast Du Dein e Wiederkehr mit neuer Wohltat. Sei darum, väterl ich er Fürst , in unserer Mitte mit unveränderter Li ebe gegrüßt! Wohl h at der unglü ck liche Erf'olg des Krieges Dir e i nen Tei l der Untertanen g eraubt Doch vergiß den S chme r z Deines Verlustes im engeren Verein Deiner Treuen. Nicht di e Zahl, nur der feste , andauernde Will e, die alles b inde n d e Liebe sind der Throne heilige Stützen. Und von diesem Geiste sind wir alle beseelt. - Wir wollen Di r ersetzen, was Du verloren I Wir wollen bleiben un seres Va t erlandes we rt; denn kein Öste rre i cher verläß t sein e n Fürsten, wenn es gil t - Mög e n die Mauern , die D e ine Burg umgeben, in Trümm e r z erfallen, di e festeste Burg s i n d die He rz e n Deines Volkes'.

Einen wärmeren Empfang hat wohl kein Monarch erhalte n. Franz konnte nur im Schritt fahren.

Das Volk küßte ihm die Hände, die Kleider, d ie Pferde. Bei der Burg angelangt, trug es ihn die

breite Treppe empor. Am Abend waren die Stadt und d ie Vors tädte glänzend beleuchtet. " 1

2 . Der Empfang, den das Volk von Paris dem Grafen von Artois bei seiner Rücldcehr aus dem Exil bereitete

De r bege iste r te Empfa ng d es Grafen vo n Arto is un d zukü n f ti ge n König Kar l X. be i sei ner He imkehr aus dem Ex i l ze ig t auf klare We ise di e Zu n eig un g, d ie das Volk den Rep räsentan ten de r alten legiti men u nd väte rl iche n Dynastien en t gege n brac h te.

So is t d a s Ereig ni s von dem zeitgenössische n Hi stor iker G eo r ges Bordonove b esch ri eben:

„ Monsieur2 zog feierlich am 10 April 1814 durch das Tor Saint-Denis in Paris ein. Der Baron von Frenilly bezeugt : ' Weder Fens ter noch Däche r re ic h ten a us, um die begeisterte Me nge aufzunehmen , d ie s ich he iser sc hri e Alles war m it Fahne n , Vorhängen, Tep p ichen un d B lu m en gesc hm ück t , u nd a ll e Me nsc h en schwenkte n

T üc h e r. Es war ein rüh re ndes Schauspiel. '

Es war ein herrliches Wette,: Die Aprilsonne beschien die Menge von weißen Fahnen, Blumen und fachenden Gesichtern Kinder und junge Leute klammerten sich an die Fenstergitte1; andere, mutige, drängten sich mJjden Dächern, schwenkten ihre Hüte. Trommelwirbel ertönte Pferde tummelten sich aufdem p_flaste1'. Von allen Seiten ertönten d ie Riife: V ive le Roi ! V ive Mo n sieu r ! Beim Näherkommen zum Stadt zent rum von Paris erhöhte s ich die Freude, und die Begeisterung wurde zum Delir ium. Monsieur war wirklich ein schöner Mann! Seine Erscheinung wa,; trotz seiner 57 Jahre, eindrucksvoll! Seine blaue Un/f"orm, ornamentiert und mit silbernen Achselklappen, stand ihm so gut! Er ritt mit solcher Eleganz das wunderschöne, weiße Pferd, das man ihm angeboten hatte! Sein Blick war so stolz und gleichzeitig so voller Güte! Er dankte fiir die Hochrufe au/so liebenswürdige Art! Seit so langer Zeit hatte man ke inen wirklichen Prinzen gesehen, bezaubernd und ein wirklicher Kavalier! So näherte er sich Notre -Dame Mo ns ie u r erlaubte der Menge, sich ihm zu nähern, seine Stiefel zu berühren, die Steigbügel und den Ha ls seines Pferdes Die Kühnheit geJiel. Die

Marschälle des Reiches folgten ihm. Ei nige erschienen vor ihm mit der eire/farbigen Kokarde Andere verbargen ihre Feindseligkeit nicht. Alle waren daral!f" bedacht, ihre Posten zu behalten. Monsie u r begrüßte sie. Nach und nach l ießen auch die Marschälle sich von der allgemeinen Begeisterung mitreißen Die Bewegung, die Rufe der begeisterten Menge verwirrten sie Sie verstanden nicht, warum die Pariser sich derartflir diesen Prinzen begeisterten, ein Unbekannter fiir sie, noch bis zum Vortag. Ein geheimnisvoller Funke hatte ihre Herze n elekt risiert. Mon s ieur hatte ihn entzündet. Er besaß die Fähigkeit, Gefallen zu erregen, nicht nur die Masse, sondern auch die einzelnen Menschen zu erobern; heute würden wir das Charisma nennen Er entsprach vof!ständig der Vorstellung, die man sich von einem Prinzen machte, sein Benehmen war so ein/ach und doch von höchst er Würde, d i e man nicht lernen, nur erben kann

Nur schwer bahnte er sich den Weg zu Notre Dame, wo ein Te Deum geplant wa1'. Di e Ereignisse überstürzten sich derart, daß keine Zeit mehr wa,; die Kathedrale zu schmücken. Man s ah, daß er niede rkniete und inbrünstig betete. Er dankt e der Vorsehung dafiir; daß sie ihm das Glück gewährt hatte, Frankreich wieder zum Lilie nthron zurückzubringen". 3

Mögl ic h ist es, daß d er funke, de r s ich an der Begeisterung de r Parise r über d ie Rückke hr der legitime n Monarch ie en tz ü ndete, dad u rch entsta nd , daß s ie das dama ls a ll geme ine Gefühl te i lte n , we lc hes Ta lleyrand in de n Schl uß wor ten des B ri efes , d e n e r an den k ü nftige n Ka rl X. a u s A nl aß d er erste n Abdankung Napoleons sandte, so me isterh aft de ut lich mac h te:,, Nous avons assez de gloire, Monse igne u r, mais venez, venez nous rendre f 'honneur" [Wir habe n m e h r als gen ug R u hm, aber kommen Sie, Monse igne u r, kommen S ie, u n s d ie Eh re w iede r z ugebe n].

1) Lehrbuch der Weltgeschi chte von P rof. Dr Johann. Baptist. von Weiß Ve rlags- Buchhand lung , Styria ' Graz, 1898, Bd. X, S 94- 95.

2) So wurde der jüngere Bruder des Königs benan nt. Der Gra f von Arto is war Bru der des Königs Ludw ig XV III.

3) Les Rois qui ontfait la France - Charles X. Ed Pygma lio n, Paris, 1990, S. 12 1-1 23

32 4
DOKU MENTE X

DOKUMENTE XI

Was Päpste, Heilige, Kirchenlehrer und Theologen über die Zulässigl<eit des Krieges denl<en

Der mittelalterliche Geist, kampfbereit und kriegerisch, ebenso wie der vergle ichbare Charakter der Kirche, kann möglicheiweise d ie „Fundamentalisten" des zeitgenössischen Pazifismus ve1wundem . Sie sind absolu t nicht bereit, irgend eine A1t von Krieg zu tol eriere n und in ihren Ohren sind Ausd!ücke wie „heiliger

Krieg" und „gerech ter Krieg" vollkommene Widersp1üche

Es ist d ahe r s icher ni cht überflüssig, ve rschiedene päpstliche Texte und Niede rsch ri ften katholischer Denker d arzulegen, nach denen man erkennen kann , d aß dieser Widerspruch nic ht ex istiert.

1. Das legitime Kriegsziel ist der gerechte Frieden

Im Dictionnaire Apologetique de la Foi Catholique kann man unter dem Stichwort „ Paix et Guerre" di e Lehren des he il igen Augustinus zum Thema des Friedens und de s Kri eges finden Sie lasse n s ich in vier Punkten zusamme nfasse n :

,,Erstens gibt es Kriege, die gerechtfertigt sind. Es sind jene, d ie mit der Absicht, eine schuldhafte H andlung des Gegners zurückzuwe isen, gefiihrt werden

Jedenfalls aber muß der Krieg als das allerletzte Mittel angesehen werden, das nur dann angewendet wird, nachdem man erkannt hat, daß es augenscheinlich unmöglich ist, auf andere Weise der gerechten Sache zum Sieg zu verhelfen D enn, auch wenn der Krieg gerechtfertigt ist, verursacht er so viele und große L eiden - mala tarn mag na, tam hor-

renda, tarn saeva [so großes , schreckliches und erns tes Ung l ück], daß man ihn nur unter dem Zwang einer unausweichlichen Ve1pjlichtung beginnen da,f

Das Kriegsziel ist nicht der Sieg und seine Genugtuungen, sondern ein gerechter Frieden, das heißt, die Wiederherst ellung der dauerhaften öf /entliehen Ordnung, in der alle Dinge wieder an den zustehenden Platz zurückgebracht werden Schließ/ich bedeutet das Unglück des Krieges eine Strafe far die Sünden. Selbst dann, wenn eine Niederlage diejenigen demütigt, d ie Recht hatten, muß man diese schmerzliche Priifung als von Gott gewollt ansehen, um das Volk zu streifen und zu reinigen von seinen Fehlern, die es als seine Schuld anerkennen muß". 1

Nach der g

2. Päpste und Konzilien bestätigen die Lehre des heiligen Thomas über den Krieg le ichen Quelle legt der hei lige Thomas von Aquin „ die drei Bedingungen" da r,,, die im Gewissen den Griff zu den Waffen legitimieren". 1. Der Krieg da,f nicht von Privatpersonen oder von irgendeiner Autorität zweiten Ranges begonnen werden sondern er da,f nur von der 1) YVES DE LA BRIERE, .,Pa ix et Guerre" , im Dictionnaire Apologetique de la Fo i Catholique, Gab riel Beauchesne Editeur , Pari s, 1926, Bd. III , eo!. 1260.

höchsten Autorität im Staate erklärt werden.

2. Für den Krieg muß es ein gerechtes Motiv geben, das heißt, man bekämpft den Gegner eines Vergehens wegen, das er tatsächlich begangen hat

3 Der Krieg muß mit ehrlichen Absichten geführt werden, das heißt, man muß sich aiifrichtig bemühen, das Gute zu suchen und das Böse zu vermeiden, soweit das irgendwie möglich ist

Diese lehre des heiligen Thomas ist in indirekter aber offensichtlicher Weise in päpstlichen Bullen und Konzilsdekreten des Mittelalters, die sich aufden Frieden und Wa_ßenstillstand in Gott beziehen, bestätigt. Diese Dokume11te beziehen sich

DOKUMENTE XI

auch aufdie friedliche Regelung (oder unter Hinzuziehung von Schiedsrichtern) von Streitigkeiten zwischen Königreichen Die genannten Dokumente vermitteln auf Grund ihrer Übereinstimmung die authentischen Ansichten der Kirche und die grundlegenden Gedanken ihrer l ehren in bezug auf die moralische Seite des Rechtes aufFrieden und Kriege Das Vorgehen der Päpste und Konzilien in der Praxis bekräfiigt und bestätigt die lehren der Kirchenlehrer [über di eses Thema], deren drei grundlegende Prinzipien der heilige Thomas klar herausgestellt hat" 1

3. Im Namen Christi zu sterben oder zu töten ist nicht verbrecherisch sondern glorreich

Über die Zuläss igke it de s Krieges gegen die Heiden hat der hei lige Bernhard fo lgende leide nschaftlichen Worte gep rä gt:

„ Die Ritter Christi können mit ruhigem Gewissen den Kampffiir den Herren führen, sie müssen keine ~falls, weder die Sünde des Todes des Feindes wegen , noch die Gefahr des eigenen Todes fürchten, denn in diesem Falle ist der erlittene Tod oder verursachte Todschlag um Christi Willen e1folgt. Dieser Tod hat n i chts Verbrecherisches an sich, sondern ist ofi die Ursache des Ruhrnes D enn der Tod des Feindes erwirbt Ruhm für Christus, der eigene Tod führt zu Christus selbst. Christus wird wohl den Tod des Feindes gern e wie dessen Strafe annehmen, lieber noch, wird er sein en Soldaten trösten Der Ritter Christi tötet mit ruhigem Gewissen, und stirbt siche r seiner selbst Wenn er stirbt, arbeitet er für sich, tötete,; so tut er esfiir Christus. Und er trägt sein Schwert nicht umsonst : er ist Diener Gottes zur Bestrafi111g der Bösen und zum Ruhme der Guten. Wenn er einen Missetäter tötet, ist das kein Todschlag, er hat, um es so zu sagen, das Böse getötet und man muß in ihm sowohl den Rächer im Dienste Christi , als auch den

Beschützer des christlichen Volkes sehen. Wenn der Ritter aberfällt, dm/man nicht glauben, daß er gestorben ist - er ist in die himmlische Herrlichke it eingegangen So ist der Tod, den er jemandem zufügt, zum Besten Chr isti geschehen und der, den er selbst erleidet, ist ein Gewinn für ihn selbst . B eim Tod des Heiden rühmt s ich der Christ, weil Christus geriihm t wird, beim Tod des Christen zeigt sich die Freigebigkeit des Königs, indem er den Soldaten rühmt, der gelobt zu werden verdient Über den König freut sich der Gerechte, wenn er sieht, wie der König strafi. Von ihm wird gesagt werden: 'De r Gerechte w ird se ine Be lohn u ng bekommen. E s ist e in Gott da, de r auf E rden se in e Gerichte durc h führt' (Ps 57, 12) Die Heiden sollten Ja gar nicht getötet werden, wenn man auf irgendeine Art ihre übergroßen Verbrechen verhindern und ihnen die Mittel zur Unterdrückung der Gläubigen nehmen könnte. Aber derzeit ist es besser, daß sie ge tötet werden, damit auf diese Weise die Gerechten nicht durch die Bosh eit ihrer Hände gebückt werden Wenn das nicht geschieht wird sicherlich die Geißel der Sünder die Gerechten tre;Uen". 2

4. Die Glaubensverteidigung ist ein Grund für die Zulässigkeit des Krieges

Der heilige B o naventura , ei n Kirch enle hrer, äußetie sich so über d ie Zulässigke it des Krieges:

,, Damit [der Kri eg] zulässig ist.fordert man . .. daß die Person, die den Krieg erklärt, Autorität besitzt, daß de,; der den Krieg.führt, ein Laie sei,

daß der, gegen den der Krieg gejiihrt wird, derart bösartig ist, daß er durch den Krieg unterdrückt werden muß Ausreichender Grund is t der Schutz des Vaterlandes, des Friedens oder des Glaubens". 3

l) !dem , co ls. 1261-1262.

2) De laude novae militiae, Migne P.L. , Bd. 182 , eo!. 924.

3) Opera Omnia, Vives, Pa ri s, 1867, Bd. X, S. 291.

326

5. Die Heilige Schrift lobt die Kriege gegen die Feinde des Glaubens

Francisco Suarez SJ, der Theologe mit a ne rkannter A utori tät auf dem Geb iet traditionellen katholischen Denkens, drückt s ic h in seinem beka nnten Werk De Bello, in dem er di e Doktrin der Kirche über dieses Thema zusa mmen faß t , folgendermaßen au s : „Der Krieg, in sich, ist nicht wesentlich böse und auch n ichtfor Christen verboten. Es ist ein in der Heiligen Schrift enthaltener Glaubenssatz, denn im Alten Testament werden d ie K riege, von heiligen Männern begonnen, gelobt : ,Dem höchsten Gott sei Abraha m gewe iht, dem Go tt, der

Himm e l und Erde geschaffen. Gepriesen se i de r hö chs te Gott, der De ine Feinde in deine Hand gab' (Gen 14, 19 -20). A"hnliches liest man über Moses, Josua , Samson, Gideon, Da vid, die Ma kkabäer und andere, denen Gott oftmals befohlen hat, Krieg gegen die Feinde der Hebräer zu fahren. Der heilige Paulus sagt, daß die Heiligen Königreiche durch den Glauben erobern werden . Das bestätigen auch die Zeugnisse der Heiligen Väter, die Gratian aufzählt, ebenso wie der heilige Ambrosius in verschiedenen Kapiteln seines Buches über die Pfli chten" 1

6. Die Kirche hat das Recht und die Macht, zu einem Kreuzzug aufzurufen und ihn zu führen

Im Jahre 1956 wurde e ine mutige und sehr gu t dokumentierte Studie von dem später zum Ka rdin al e rhob e nen Mons Rosalio Castillo L ara 2 über das Recht de r Kirche, Krie g gegen H e ide n und Ke tzer zu fü hren , veröffentlicht. Da s Buch nennt hochinteressa nte Da t en, die ze igen , w ie die Kirche dieses Recht, das sich aufj uri s ti sc he und doktrin ä re Prinzipien stützt, tat sächlich a u sge üb t hat. Hier einige A bsch nitte a us diesem Werk, w elche das Vorgehen d e r stre itbaren, mitte la lterli chen Päpste gut illu striere n:

„Alle Au toren stimmen darin überein, daß die Kirche ein Recht aufdie vis armat a virtual hat, ohne die j eder materielle Druck unnütz wäre. Dieses Recht besteht darin, daß die Kirche Autorität besitzt, vom Staat den Einsatz seiner Streitkräfte for rein kirchliche Zwecke zu fo rdern/, was man gewöhnlich die Aufforderung zur Hilfe durch den weltlichen Arm nennt" 3

Mit bezug auf di e Kreuzzüge gegen die Ung läubigen und ih re E in berufu ng durch di e Päpst e, kann m a n folge nde s lese n:

„ Die Kreuzzugs- Bullen der Päpste und Kon z ilregeln bezeichnen immer als wichtigstes Ziel die Wiedereroberung des Heiligen L andes, oder, je nach dem Zeitpunkt, die Erhaltung des Christlichen Königreiches von Je r usalem, dem Ergebnis des ersten Kreuzzuges. Dazu gehörte die Befreiung der gefangenen Christen und folglich die Bekämpfung und Verwirrung der Heiden, welche die Ehre und den Namen der Christen schändeten. Nach mittelalterlicher Auffassung waren alle diese

Zielsetzungen durchaus religiöser Natur Zum Beispiel waren die Gründe, um die Gläubigen zur Teilnahme an den Expeditionen zu bewegen, alle von dieser Art und hatten folgendes z um Mitt elpunkt: die durch Geburt, Leben und Tod Unseres Herren Jesus Christus geheiligten Orte könnten nicht länger durch die Anwesenheit der Heiden geschändet werden. Die Christenheit hat ein erworbenes und imm erwährendes Recht auf dieses Land.

Diese religiöse Auffassung durchdringt vollkommen alle Kreuzzüge und überwiegt theoretisch alle anderen politischen oder weltlichen Motive, die sich mit ihr vermischt hatten. [. ..]

Papst Cölestin III. zeigt den Nachfolgern Christi, daß der verbindliche Kampfum das Heilige L and der Dienst Jesu Christi ist: 'Ecce qui nunc cum Christo non fuerit , juxta Evangelicae a uc torit a t is do c tr inam ipse erit a dversus' [wer sich j etzt ni c ht für Chri stus erkl ä rt , ist, w i e da s Evangelium mit Autorität e rklärt, se in Fe ind].

Die Bullen Papst l nnozens' III. über dieses Thema sind zahlreich und ihr Ziel weicht von der traditionellen Linie nicht ab : Zweck des Kreuzzuges ist es, 'ad expugnanda m paganorum barbari am et haereditatem D omini servandam ad vindicandam inj uriam crucifixi, a d defensionem Terrae nativitatis Domini ' [di e heidnische Barbarei zu zerstören, das Erbe des Herrn zu sc hützen und d ie dem Gekreuzigten angetane Schmach zu rächen durch die Verteidigung des Landes, in dem Unser Herr geboren wurde].

1) D e Bel/o, sectio prima, 2, apud LUC IANO PERENA VICENTE, Teoria de /a Guerra en Francisco Sua rez, C.S.I.C , Madr id , I 954, Bd. II , S. 72 und 74.

2) Coacci6n Eclesiastica y Sacro Romano Imperio - Estudio juridico- historico sobre la potestad coactiva material suprema de la lglesia en los docwnelllos co11ciliares y pontificios de/ p eriodo deformaci611 de/ Derecho Ca11011ico c/asico como 1111 presupuesto d e las re/aciones entre Sacerdotium e Imperiu m A ugustae Taur ino rum, 1956, Torino, 303 Seiten.

3) op c it., S 69.

DOKUMENTE XI 327

DOKUMENTE XI

lnnozens III. zieht es jedoch vo,; auf konkreterem Boden zu stehen undformuliert die traditionellen Beweggründe nett, indem er die Verpflichtung der Christen, am Kreuzzug teilzunehmen, beinahe juristisch untermauert: es dreht sich um die Pflicht des Vasallen, der seinem König, Jesu s Christus, vetpflichtet ist.

In einem Brief an den ß"anzösischen König erklärt er: So wie es eine Majestätsbeleidigung wäre, wenn ein Vasall seinem , aus seinem Eigentum vertriebenen, ja vielleicht sogar gefangenen Herrn nicht zu Hilfe eilte, 'similiter J esus Christus Rex regnum et Dom in us dominantium [ ... ] de ingrat itudinis v it io et velut i infidelitat is crimine te da mnaret, s i e i ejecto de terra quam pretio sui sangu ini s comparav it et a Sarracen is in sa luti ferae cruc is li gno qu asi captivo detento neg li geris s ub venire' [so w ie wenn J esus Clu·istus, Kö ni g der König e und Herr a ll er He 1Ten ... dich d er S ün de der Undankbarke it und a l s Schuld iger des Verb rechens der Un t reue verurteilte, da du dich gewe igert hast, Ihm zu Hilfe zu kom me n, da Er aus dem Lande, da s Er um d e n Preis Se in es B lutes erkauft hat vertri eben, a ls Sklave der Sarazenen, am he ilbringende n Holze des Kreuzes f estgehalten wurde ].

Papst Honorius III. hebt die Beleidigung und Entwürdigung hervo,; die Christus und die Christen, als Folge der B ese tzung des Heiligen Landes durch die gottlosen und gotteslästerlichen Sarazenen, treffen Das ist ein ausreichender Grund, zu den Waffen zu greifen

Die Vasallenp.flicht ist derart strikt und die Schändung Christi muß die Christen so stark treffen, daß jene, die ihre Pflicht vernachlässigen sollten, wohl um ihre ewige Errettung.fiirchten müßten

Papst lnnozenz IV. betrachtet die Beji-eiung des Heiligen Landes als eine strikt k irchliche Aufgabe, die in erster Linie die Prälaten verpflichtet, da ihre Erfüllung dem katholischen Glauben großen Zuwachs bringen würde

Papst Gregor X gab bekannt, daß er nichts mehr ersehnt, wie die Be.fi·eiung des H eiligen Landes, da er dies als die wichtigste Aufgabe seines Pontifikates ansieht

Zusammenfassend: Nach der offiz iellen A ujfassung der Kirc he waren die Kreu zzüge ein heiliges Werk, ausschließlich religiösen Charakters Deshalb fielen sie in den Aufgabenbereich der Kirche, die sie fast imme1; dank ihrer Autorität, auslöste,

kontrollierte und leitete". 1

Die Militärorden bildeten den be waffneten Arm de r Kirch e Übe r s ie schreibt der ge le hrte Kard inal in seinem wertvollen Werk:

,,Die Militärorden sind das getreue Bild dessen, was man als die vis armata der Kirche bezeichnen kann. Tatsächlich waren ihre Mitglieder gleichze itig Mönche und Soldaten Als Mönche legten sie die drei Gelübde nach e iner Ordensregel ab, die vom H eiligen Stuhl genehmigt wurde. Als Soldaten bildeten sie ein jederzeit einsatzbereites Hee1; bereit zu kämpfen, wo immer die Feinde die christliche R eligion bedrohten. Der kirchliche Zweck, dem sie ausschließlich verpflichtet waren, und die Abhängigkeit vom H eiligen Stuhl, zu der ihr Gelübde des Gehorsams sie ve1pflichtete, machte sie zu Soldaten der Kirche

Nach ihrer Organisation waren sie weltliche Afönche' [das h eißt, s ie waren ke in e P r iester], die Jiir den Krieg zur Verteidigung des Glaubens geweiht waren. Die Tatsache, daß die Kirche in die Organisation rein kirchlich e r Einrichtungen Soldaten eingereiht hatte, zeigt, daß sie zut ieß,t davon überzeugt ww; eine höchste Gewalt materiellen Zwanges besitzen zu müsse n, dessen Träger eben diese Mönchs - Krieger waren.

Es gibt nur diese Möglichkeit, die Zulassung dieser Orden zu erklären. Die Kirc he machte sie s ich mit ihrer Zulassung ganz z u eigen und heilig te, was diese Rille,; aitf Grund ihres Berufes, als ihren Zweck ansahen: nichts anderes als Krieg zu jiihren".2

Üb e r di e Z ul ässigkeit des Kr ieges fügt der Kard inal no c h hinzu:

„A ls die Päpste zum Kreuzzug aufi-iejen, die Soldaten anspornten und ihre Führung übernahmen, hielten sie sich niemals die Unvereinbarkeit des Krieges mit dem Geist der Kirche vor Augen und .fi"agten auch nicht danach, ob sie das Rec hst hätt en, Heere zu organisieren und gegen die Ungläubigen ins Feld zu schicken. ... Die Päpste haben das folglich nicht nur als zu lässig angesehen, so ndern waren davon überzeugt, in einer ihn en zustehenden Machtvollkommenheit zu handeln: zum Einsatz höchsten materiellen Zwanges; n icht im entferntesten dachten sie daran, damit in weltliche Hoheitsb e.fi1gnisse einzugreifen, die - wie sie wußten - ausschließlich jiir den Staat res erviert waren" . 3

cit. , S 11 5

328
1) op. c it., S. 85- 89. 2) op. cit., S 109-1 10 3) op.

DOKUMENTE XII

Ist es mit der Heiliglceit unvereinbar, adelig zu sein und das Leben eines Adeligen zu führen?

Das heutige Un vers tändni s gegenübe r dem Adel und analogen trad iti onellen Eliten rührt zu m großen Te il vo n de r gesch ickten , w e nn a uch völlig unsachlichen Propaga nda her, welche di e F ranzös ische Revo luti on gegen s ie gefü hrt hat.

Die ernsthafte Gesch ichtsschreibung h at mit wachsendem Erfolg j e ne P ropaga nd a bekämpft, die während de s 19. und 20 Jahrhunderts unaufhörlich vo n ideologisc hen und p ol iti sc he n Na chfolgeströmunge n d e r Französischen Revolution genährt und un terha lten w urde. In gew isse n Bereich en der Meinun gsb ildung j edoc h besteht di ese P ropagan da auch noch we iterhin fort Es ist dah e r n icht g an z unwicht ig, wenn das vo rli ege nd e We rk s ic h dazu äußert.

Nac h Meinun g d er Re v olutionä re von 1789 bestand d e r Ad el hauptsäc hlich a u s Genießern des gute n L ebens, welche eh renvolle und bede utend e w irtsc haftlich e Privilegien innehatten, die es ihnen e rlaubte n , nach Herzenslus t vo n den Verdiensten zu lebe n , di e ihre fernen Vorfa h ren erwo rb e n hatten ; daher konnten sie s ich d e n Luxus le iste n , a usschließlic h di e Freuden des irdischen Leb ens au sz uko st en. Und, was noch schlimmer ist, b eso nd e rs di e F re ud en d er Muße u nd der Wo llust.

Diese Kl asse von Gen ießern sei au ßerde m in ho hem Maß e un e rträg lich für die N a ti o n , z um Nachte il de r annen K lasse n , die nun ih re rseits zwe i felso hn e a rb e itsa m , e hrbar un d dem Gemeinwoh l nütz lich se ie n.

Di es alles führt z u der Vo rs tellung , d as eine m Ade li gen e igentü mliche L ebe n m it all se inem ihm innewo hnende n Glanz und se ine r Versc hwe nd ung

lade von se lb st zu e iner H a ltung von mo ral ischer Lax he it ein, grun dve rsc h ie den von d e r Askese , welche die ch ris tli c hen Pri nz ipi e n erfo rd erten.

Ohne z u bes t rei te n , daß an die ser Version etw as Wahres dran ist, d enn im Adel u nd in d en ent sp rechenden Eliten d es a uslaufenden 18 Jahrhun derts h a tten s ic h schon - a ls Vorläufer - Ze iche n der sc hr ec kli c hen mora l ische n Kri se un serer he uti gen Tage bemerkbar gemacht, muß do ch b eto nt werden, d aß d iese d e m gu ten Ruf d er a del ige n Klasse schädliche Version we it m eh r Falsc hes als Ri c ht iges enthielt.

Dies beweist unter a nderem die Geschich te der Kirche se lbst durc h die große Zah l der A delig en, die z ur Ehre d e r Altäre e rhoben wurden Auf di ese Weise wird di e he ldenhafte Ausübun g der Z e hn Gebote sow ie der evange lisc he n R äte du rch d ie Ade ligen bezeugt.

Von da her ko nnte der he i lige Pe te r Juli en Eymard sagen, daß „ die Annalen der Kirch e zeigen, daß eine große Zahl der Heiligen - und deren die berühmtesten - ein Wappen aufwiesen, vornehmen Namen und Familie besaßen: einige waren sogar königlichen Blu tes" 1

Versc h ieden e d ieser Heili ge n zoge n sich aus der We lt zurück, um a uf s icherem Wege die h e lden hafte Tuge nd z u erlangen Andere jedo c h wie de r HI. König Lud wi g von Frankreich u nd der H I. Köni g Fe rdina nd vo n Ka st ili e n behielten ihre Lage unve rände rt bei un d e rre ic hte n di e Helde ntugend, indem s ie vo llstä ndi g irmerhal b der i hn en eigene n a r istokratisc he n Standesbedin g un ge n lebte n

Zu r Vervollständigung d er Ric hti gs te llun g j e -

I ) Mais d e Saint Joseph, le prem i er et le plus pa,fait des adorateurs - Extrait des ecrits du P. Eymard, Desclee de Brou we r , P ar is, 7 Ausgabe , S 62.

ner Versionen, dere n A bsi cht es ist, de n Adel sowie die von ihm umfaßten Gewohnheiten u nd Lebensformen zu verleumden, wurde gelegentlich untersuc ht, wie hoch die Za hl der Adeligen unt er den von der Kirche ve rehrten Heiligen war.

E s war in dessen unmög lich, eine spezifische Forsc hungs a rbe it di esbezüglic h aufzufinden. Einige Forscher behandelten diese Frage, ohne jedoch darüber eine genaue und ausfü hrliche U nte rsuchu n g angestellt zu haben. Ihre Berechnun ge n b eruhen auf Listen, die sic h a ls unvollständig herau sgestellt haben.

Besondere Beachtung verdie nt e ine Arbeit von Andre Vauchez, Professor der Universität Rouen, u n ter dem Titel La Saintete en Occident aux derniers siecles du Moyen Age, 1 die a u f den Heiligsprechu ngs prozessen und hagiografischen Urkunden des Mittelalters be ruht.

Sie zeigt eine Statistik a ller von Päpsten a ngeordneten Prozesse„ de vita, miraculis etfama" zw ischen 1198 und 143 1. Es hande lt s ich in sgesamt um 7 1 Prozesse, vo n denen 35 z u dem Schluß ge lan gten, daß die von ihnen untersuchten Personen verdienen, auf di e Ehre der A lta re gehoben z u werden.

Vauc hez g ibt folgende Statistik an:

Zwischen 1198 und 1431 angeordnete

Obwohl hochinteressan t , können diese Angaben den Wunsch nach e ine m vo llständigeren Bild nicht e rfüllen, da sie s ich auf ei n e se hr beschränkte P ersonen zahl und auf einen re la tiv ku rze n Zeitraum beziehen.

Damit stellt sich die Notwendigkeit einer Un-

DOKUMENTE XII

tersuch ung, die - ohne allerdings das Thema damit zu erschöpfen -e inen größeren Personenkreis sowie eine we itere Z e itspanne umfassen müßte.

Einer solchen Aufgabe haben sich nun jedo ch einige beträchtliche Schwierigkeiten entgege ngestellt.

Vor allem die Tatsache, daß es eine offizielle Liste der von der Ka th ol isc hen K irc h e vere hrten Heiligen nicht g ibt.

Dies ist eine allerdings se hr ver ständlich e Schwierigkeit, denn das Nichtvorhandensein e iner so lchen Liste s te h t im Zu sammen h ang mit der Kirc h engesc hicht e selbst und mit de r fortschreitenden Vervo ll stä ndi gung ih rer Instituti one n.

Der He iligenk ul t hatte in der Kath ol isch en K irche m it der Vereh run g de r Märtyrer begonnen. Die örtlichen Gemeinden e h rte n einige ih rer Mitglieder, die Opfer von Verfolgungen geworde n waren.

Von den Tau senden j ener, die in de n erste n Jah rhunderten der Kirc he zum Zeugnis des Glaubens ihr Blut vergossen hatte n , s ind uns lediglich e in paar hundert Name n überliefert, sei es aus den Gericht sa kt en - vo n den Heiden verfaßt, welc he die mündlichen Prozesse a ufgeze ichnet haben, sei es a us Augenzeugenberichten der Märtyrer.

Neben der Tatsache, daß Unterlagen dieser Art in bezug auf a lle Märtyrer fe hl e n , w urd en vie le diese r Ger ichtsakte - deren Les un g die Seelen der ersten C hri s ten en tfl ammte und ih nen e in Beispiel zum Ertragen ne uer Drangsalierungen gab - währe nd der ve rsc hi e denen Verfo lgung en, besonders unter Diokletian, zerstör t. 2

Daher ist es sch ließ li c h unmöglich , a ll jene Märtyrer zu kennen, die in den ers te n Jahrhunderten der Kirche Objekt der Verehrung vo n Seiten der G läu b igen gewesen waren

Mit dem End e der Verfo lgu ngen und üb e r ei n en la ngen Ze itrau m h in weg wurden die Heiligen vo n besc hrän kten Gruppen vo n Gläubigen verehrt , ohn e vorherige Untersuc hun g u nd ohne das Urtei l einer kirchli chen A ut oritä t.

Mit erhö hter Beteiligung der Au toritäten bei der Organisierung kat holi scher Geme inden wuchs späte rhin auch die Rolle dieser A utoritäten bei d er Auswahl de r Vere hrungswürd igen. Die B ischöfe gi ngen dazu über, die Err ic ht un g e ines bestimmten Kultes zu gestatte n u nd häufig auf Bitten der G läubigen hi n zu bestätigen, indem s ie die Re liqui en eines tre u e n Heiligen a us hob en un d überführten.

Erst gegen Ende des e rs ten Jahrtausends fing de r P apst an, ge legentl ich in die offizie ll e Heiligsp rechung einzugreifen. In dem Maße, in dem die Macht der römi schen P äpste s ic h fes ti gt e und die Kontakte mit ihne n häufi ger wurden, g in ge n die Bischöfe da zu über, den Papst um Bestätigung des

330
Prozesse
Heiligsprechung (71 Fälle) Adelige Mittelschicht Volk Unbekannte gesellschaftliche Herkunft 62, 0 % 5,5% 8,4% 14,1% Von einem Papst des Mittelalters Heiliggesprochene (35 Fälle) Adelige Mittelschicht Volk Unbekannte gesellschaftliche Herkunft 60,0% 17,1% 8 ,6% 14,3%
zur
1) Ecole ji-am;aise de Rome, Palais Fa rn ese, 1981, 765 Seiten. 2) Vgl. DANIEL RUJZ BUENO, Actas de los Martires BAC, Madrid, 195 1.

DOKUMENTE XII

Kultes z u bitten, was zum ersten Male im Jahre 993 vorkam.

Später, im J ahre 1234, machen die Verordnungen die Ina nsp ru chnahme des Heiligen Stuhls erforderlich und reservieren dem Papst das Recht auf Heiligsprechung.

Zwischen diesen beiden Zeitpunkten jedoch gehen viele Bischöfe bei der Reliquienüberführung und der Bestätigung des Kultes nach den bisherigen Sitten vo r.

Ab 1234 werden die Prozesse zur Bestimmung der Heiligenverehrung Schritt für Schritt vervollkommnet.

Seit dem Ende de s 13. Jahrhunderts gründet sich die päpstliche Entscheidung auf eine Vorentscheidung, die von einem Kollegium durchgeführt wurde , das aus drei für diesen Zweck besonders beauftragten Kardinälen besteht. Und bei dieser Form blieb es bis 1588 , a ls die P rozesse der Kongregation für Riten anvertraut wurden, di e im Jahr vorher von P apst S ixtus V. gegrü nd et worden war.

Im 17. Jahrh undert eJTeichte die se Entwicklung ihren Abschluß.

Im Jahre 1634 legte P apst Urban VIII. mit dem Brevier Co e lestis Jerusalem Cives die Maßstäbe zur Heiligsprechung e iner P erson fest, und diese sind in ihrem Wesensgehalt bis heute g leichgeb lieben.

Im Hinblick auf die Diener Gottes, denen mit Duldung der Kirche nach dem Pontifikat Papst Alexanders Ill. öffentliche Ehrerbietung teilgeworden war, sahe n die Konstitutionen Urbans VIII. di e Bestätigung de s Kultes oder eine g leic hwertige Heiligsprechung vor,,, durch S e ntenz, durch welche der Oberste Hirte anordnet, einen Diener Gottes in der universellen Kirche wie einen H ei ligen zu verehren, genaue,; einen Diener, far den zwar kein regulärer Prozeß eingeleitet worden ist, der aber seit unvordenklichen Zeiten eine öffentliche Verehrung eifehrt". 1 Diese Vorgehens - weise galt a u ch für ähnliche Fälle nach de r Ze it de r Konstitutionen Urban VIII.

So kann man a lso erst seil dem Jahre 993 - dem D atum der ersten p äpst li c hen Heiligsprechungeine Li ste jener Heiligen aufstellen, die vom Heiligen Stuhl ernannt worden si nd Doch i st diese Liste noch nicht vo llständi g. Es fehlen Unterlagen aus ganzen Epoch en. Außerd e m enthäl t diese Liste

nicht alle Hei li gen , dc1111 zw ischen 993 1111d 12.14 machten die B isc hö fe - wie gcsag1 111i1 d e r lks l iitigun g der Kulte weite r. Vo n dah e r wa re n vie le Pc rson e n Gege n s tand öffentlic her Verehrun g o hn e jeglichen Eingriff aus Rom.

Erst ab dem Beginn des 16. Jahrhund erts kann man s icher sein, daß die Liste der Heili ge n und Se ligen (eine von der Gesetzgebung Pa ps1 Urban Vill. anerkannte Untersche idung) lückenl os is t. 2

Außer der Schwieri gkeit, e i ne vo ll stä ndi ge Heiligenliste a u fzustellen, e rg ibt s ich di e Frage , welche der bisher gewonnenen Nam e n dem Adel z uz urechnen s ind.

In der Tat ist es nicht imme r e infac h, di e ade li ge Herkunft einer Pe rson mit Gewißheit auszumachen. Einerseits war n ämlich di e En twicklun g des Ade lsbegriffs fortschreitend und höc hs t orga ni sc h und geprägt von den Eigenschaften verschiedener Völker und Regionen , was ge lege ntlich eine genaue Antwort auf die Frage erschwert, wem d e nn nun die Ehre der Zugehörigkeit zum Adelsstand gebührt; andererseits gibt es erheb li che Schwierigke iten bei der zuverlässigen Bestimmun g der Vorfahren einer Person. Übrigens ist genau das d er Punkt, der viele dazu fü hrte, führt und immer wiede r führen wird, s ich über lange Zeit hinweg der Nachforsc hun g nach der genea logischen Herkunft ve rsc hi edener Personen zu widmen. Es ist also oft schwierig, die gesellschaftliche Herku n ft e ines Heiligen a uszumachen.

I m Hinblick auf all diese Probleme ging es darum, Forschungsquellen auszuwählen, die so volls tändig wie möglich, gleichzeitig aber auch gänzlich glaubwürdig waren, um eine Statistik aufzus tellen , we lche annähernd genau die Anza hl der Ade li gen unter den Heiligen wiedergibt.

Die Wahl fiel daher auf den Index ac Status Causarum, 3 der eine amtliche Veröffentlichung der Kongregation für d ie Angeleg enheiten der Heiligen ist, Nachfolger der vorma li gen Ritenkongregation. Es handelt s ich um „ eine außerordentliche und weitumfassende Ausgabe zur Vierhundertjah,feier der Kongregation, welche alle von der Kongregation zwischen 1588 und 1988 behandelten Prozesse enthält, sowie zusätzlich die älteren, im Geheimarc hiv des Vatikans aufbewahrten Prozesse".

Das Werk enthält zudem mehrere Anhänge, von denen drei besonders interessant sind. Im ersten

1) T. ORTOLAN , Stichwort Canonisation, in Dictionnaire de Theologie Catholique, Letouzey et Ane, Paris, 1923, Bel. II , Zweite r Te il , eo!. 1636.

2) Vgl. ANDRE VAUCHEZ, La Saintete en Oc cident aux derniers siecles du Moyen Age, Eco le fran9aise de Rome , Palais Famese, 1981; JOHN F BRODERICK SJ, A Cens us ofthe Saints (99 3-1955) in The American Ecclesiastical R eview, August 1956; PIERRE DELOOZ, Socio/ogie et Canonisations, Martinus Nijhoff, Den Haag, 1969; DANIEL RUIZ BUENO, Actas de los Martires, BAC, Madrid, 1951; Archives de Sociologie des Religions, veröffent li c ht vo n der Gruppe Religions soziologie, Editions du Ccnt re Nationa l de la Rech erche Scie ntifique, Paris, Januar-Juni 1962.

3) Congregatio pro Causis Sanctorum, Vat ikanstadt, 1988, 556 Seiten.

,\.\ 1

werden, au sgehend vom Index ac Status Causarum, den Pater B eaudoin 197 5 herausgegebe n hat, die Bestät igungen der Ku lte au fgeli stet, wobe i e in ige Namen von Seligen hinzugefügt bzw. gestr ic hen werd e n , die nachträgl ich in den Heiligenkatalog aufgenommen worden wa ren. I m zweiten Anhang g ibt es eine Liste derjenigen, die se it der E inri c htung der Ehrwürdigen Ritenkongregat ion seliggesprochen wurden, deren Kanonis ierung aber noch auss teht. Im dritten Anhang werden sc hli eßlich die Hei li gen aufgezählt, deren Angelegenheit von der Ehrwü rdigen Ritenkongregation behandelt wurden, einschließlich der Fälle der gleichwertigen Kanonisierun gen.

Mit diese r Namensliste wurden d ie im Werk Bibliotheca Sanctorum enthaltenen Biografien verg lichen, um d ie Adelszugehörigkeit herauszufinden. Kardin a l Pietro Palazz ini, ehemaliger Präfekt der Kongregation für die Selig- und He i ligsprechu ng, hat dieses Werk geleitet, und es gilt a ls die vollständigste Aufzäh lung all derer, di e seit den A nfängen der Kirche verehrt worden s ind.

Da es nicht Hauptzweck der Bibliotheca Sanctorum ist, d ie gesellschaftliche Herkunft der erwähnten Perso nen anzugeben, sondern vie lme hr mit der Vere hrun g zusammenhängende Probleme, ist es häufig aus Angabenmange l unmöglich, einen Adeligen von einem N ichtadeli gen zu unte rscheiden Um klare Kriterien aufrech t zuerhalten, wur-

DOKUMENTE XII

den außerdem aus Prinzip nur solche Adelige mitgezäh lt, von denen das Werk bestätigt, daß sie adeli g oder adeliger Herkunft sind. D i ejenigen, von dene n der T ext lediglich a ngibt, s ie gehörten „wichtigen , bekannten, alten, mächtigen usw." Familien an, wurden nicht in die Liste aufgenommen . Man hat also li eber darauf verz ichtet, Personen , deren adelige Herkunft ernsthaft zu vemmten oder auf dem Weg über andere Quellen mit Sicherheit festst e llbar war, aufzunehmen, um Zweifelsfälle auszusc hl ießen.

Außerdem erschien es geboten , um e ine höhere Genauigkeit der Statistik z u erreichen, die nachstehenden Kategorie n nach dem Index ac Status Causarum zu unt e rscheiden:

- die nach einem kanonisc hen Proze ß kanonisierten He iligen;

- die nach e inem kanonisch en Prozeß seliggesproc henen Se li gen;

- diejeni ge n, deren Kult bestätigt wurde;

- die Diener Gottes, deren Se li gsprechungsprozeß noch nic ht abgesch lossen ist.

Es wird n un die prozentue lle Ve rt ei lu ng auf diese Gruppen angegebe n , wobei darauf geachtet wurde, in j ede r Gruppe zu unterscheiden zwischen denen, d ie e iner individuellen Prüfung unt e rzogen wurden und jenen, d ie eine r Gruppe angehö ren, die in ih rer Gesamtheit im Zuge e in es Pro zesses beur-

332
HEILIGE PERSONEN ADELIGE % Individuelle Prozesse 184 40 2 1 ,7 Gruppenprozesse (11) 364 12 3,3 Gesamt. 548 52 9,5 SELIGGESPROCHENE PERSONEN ADEL/GE % Individuell e Prozesse 182 22 12,0 Gruppenprozesse (26) 1074 46 4 ,3 Gesamt 1256 68 5,4 BESTÄTIGUNG
KULTES PERSONEN ADELIGE % Individuelle Prozesse 336 107 31,8 Gruppenprozesse (2 4) 1087 10 0,9 Gesamt 1423 117 8,2 LAUFENDE SEELIGSPRECHUNGSPROZESSE (1993) PERSONEN ADEL/GE % Individ u elle Prozesse 1331 149 11,2 Gruppenprozesse (146) 2671 13 0,5 Gesamt 4002 162 4 ,0
DES

DOKUMENTE XII

te ilt wu rden, wie etwa di e j a panischen, e nglisc hen o d er vietnamesisc h en Märtyrer. 1

Um di e Proze nt a nt e il e in di ese n verschiedenen, s tati s ti sch en Au fs te ll u nge n richt ig beuriei le n zu können, is t es wichtig, den Durchschnittsanteil d er Adeligen a n der Ges am tbevölkerung eines La nd es z u ke nne n. Wi r beschränken u ns au f zwe i Beispiele , d ie sowohl charakteristisch , als a uch sehr versch ieden s ind.

Nach d en Angabe n des angese h e nen österreichischen Geschichtswissenschaftle r s J. B. von Weiß, d er s ich dabei auf Angaben vo n Ta in e s tützt, b e trug der Anteil der Adeligen an de r Gesamtbevö lk erung F ra n kre ic h s vo r d e r Französ ischen R evol ution nicht e inmal 1,5% 2

Seinerseits stellt G. Marinelli in sei n e r geographische n Arbe it La Terra unter Bezug a uf d as Werk Das Russische Reich (Le ipzig, 1880) von Pesc h e l-Krümel , e ine Stati stik d es russischen Adels zusammen, nach der diese Gesellschaftsk lasse

333

n ich t meh r als 1, 15 % d e r Gesamtbevö lkerung ausmach t e, s elbs t wenn man den Erb- und d en pe rsönlichen A del zusammenzäh lt. In d e r g leic hen Arbeit Marine lli s lesen w ir, daß R eclus im Jahre 1879 eine ä hnlich e Statist ik e r s t ell te, die zu ei n em We rt von 1,3 % kommt. Van Löhen ge langt 1881 in g leiche r Weise zu dem R esultat vo n 1,3 % .

Offensi c h tlich ze igen die se P rozen ts ä tze geringfügige Unterschiede, die sich aus ze itli c h en und r äumliche n Versc hi ebungen in der Erhebung e r gebe n , sie si nd j edo c h n icht seh r b ede u tsam.

Die Daten, d ie w ir vorher angeführt haben , zeigen, daß in jede r dieser Katego rie n (Heilige, S e lige, Be stätigung der K ulte und laufenden Prozesse) der Proz entan tei l der A del igen bed eutend höh er is t als ihr An teil an der Gesamtbevölkerung eines Landes. 3 D as straft die Äußerungen der Revolutionäre Lügen , die behaupte n , d aß die Zugehörigkeit zum Ade l und d ie L e bensge wohnh e ite n d ieser K lasse mit e me m tugendha fte n Verhalten unvereinbar seien

1) D er I ndex ac Status Caus arum g ibt die genau e Anzah l d e r Perso ne n nic h t an, d ie in e ini ge n diese r Rubri ken überprüft werd en, so daß es unmög li ch ist, ihre ge naue An za hl anzugeben. D ie so b ezeic hn e ten Zahlen d er Sta t ist ik sind d esh al b geschä tzt

2 ) siehe : His toria Uni versa l, Bd X V, T.I, Tipografi a la Educacion, Barcelona , 1931, S. 212.

3) M an beach te in de n ve r schie de nen sta ti st isc he n Aufs te llunge n , die bemerkenswe11en Diffe renze n des Prozen tante iles der Ade li g en b ei den in d ivi duell e n Seli gsp rec hun gsp roze sse n und d e n G rupp enprozessen. Das ist vo r all em d urch zwe i M otive zu erkl ären: Zum e inen nen nt d ie B ib liotheca Sanctorum in v ie le n d ieser Prozesse nur di e Name n, ohn e biographisc he D a te n anz uge ben, di e es gestatten w ürden fes tzus tellen, ob es s ich u m Ade lige oder Bürge rl iche ha nd e lt. Zum andere n bezie h en s ich d ie me is te n Gru ppenprozesse auf G rupp e n von Märtyre rn. Es war außerdem norm al, daß di e Ve rfo lg un ge n die gesamt ka th olische Bevölkerung betrafen, o hne A n sehen des soziale n S ta ndes , wes halb es n ur n atürli ch ist, daß sic h un ter de n Märtyrern eine eben so gro ße A nza hl Adelige r be fa nd , w ie es ihre m Prozentanteil an de r Gesamtbevö lk e rung e nt sprach .

Die Suche und Auswahl der Dokumente im Anhang I dieses Buches wurde von einem Ausschuß im Auftrag und unter der Aufsicht von Prof. Plinio Correa de Oliveira durchgeführt

Murillo Maranhäo Galliez

Jose Luis Ablas s Simäo Pedro de Aguiä

Künstlerische und graphische Gestaltung

Antonio Azeredo

Felipe Barandiaran

Bildquellen

BARANDIARAN Felipe, Fotoarchiv, S 74 u. 152; CASTELGARAGNONE, Giulio Patr iz i di R ipacandida, He rzog, S. 39 O,U, 46 U; DEBRET J.B., S. 196 O,U; DE UTSCHE BURGENVEREINIGUNG e.Y. Braubach- Rhein, S. 68, 69, 106; DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM, Berlin, S. 127 0; DIPUTATION REGIONAL DE CANTABRIA, S. 241; DOMKAPITEL AACHEN - Foto Münchow, S. 121; DROST E ZU V ISCHERJN G, Grafen S , 65 M,Ul,Ur; EUROPA PRESS, Madrid, S. 247; FELICI, Roma S. 36 O,M,U, 44 O; 46 O,M, 72 Or, Or, U, 95 ; GIORDANT, Vati kanisches Museum Einband Vorderseite, S. 26, 40, 44 U , 57; HALLER Marianne, Perchtold sdorf, Österreich, S. 86 ; HANSMANN, München , S. 128 U; HEERESGESCHlCHT LICHES MUSEUM, Wien, S. 130 O; IL BORGHESE , Rom , S. 31 O ,M, U; INS T ITUT FÜR STADTGESCHICHTE, Frankfurt a m Ma in , S. 11 8, 119; JÜRGENS OST+ EUROPA-PHOTO, Berlin, S. 135; KAISER KARL GEBETSLIGA , Wien, S. 90; KÖNIGLICHES MUSEUM DER SCHÖNEN KÜNSTE, Brüssel , S. 139 U; KUNSTHISTORISCHES MUSEUM , Wien , E inband Rückseit e, S. 127 U, 58; MAR1 Arturo S. 2, 5 U. 6,156,259; MTEL ENHAUSEN Frederico, Sao Paulo, S 15; MUSEUM CARNAVALET, PARIS, S 209, 234 U; MUSEUM DEL PRADO, Madrid, S. 145 O ; MUSEUM D ER SCHÖNEN KÜNSTE, Sevilla, S. 223; MUSEUM PA ULISTA, SAO PAULO, Brasilien, S 165 ,169 0, U, 177 0 , 187 0, U, 192 O; MUS EUM VON VERSA ILLES, S. 234 O; NATIONAL BIBLIOTHEK VON PARIS, S. 54, 130 U; PALACIO NACIONA L DA AJUDA, Lissabon, S . 177 U; PATRJMONIO NACIONAL, Madrid, S. 82; PERATHONER Caius, St. U lrich , Ital ien, S. 50; REISS Dr. Max im il ian, Privatbesitz, Frankfurt a m Main, S. 100; RUGENDAS , S. 192 U; S l EMENS MUSEUM , Mü nc hen, S. 15 1 0, MI , Mr; SIEMENS PRESSEBILD, S. 15 1 U; TIROLER KUNSTVERLAG, Innsbruck, S. 128 0; TROPIA Eduardo, Brasil , S. 199; UL LST EIN , BORGAS STIFTUNG HILFSWE RK , S. 145 U; VATIKANISCHES MUSEUM, S 7, 8, 25,650, 163 , 2 19 (S = Seite, 0 = Oben, M = Mitte, U = Unten, r = rechts, l = links)

Rolle in der Gestaltung der Kultu r, der Institutionen, der Gesetze und der Br äuche zu spielen.

Ohne irgendeine der d rei Regierungsformen zu verneinenMonarchie , A r istokratie und Demokratiekonstatiert der Papst mit Genugtuung, daß „ sich auch in den Demokrati en jüngsten Datums, die noch keine Spur einer feudalen Vergangenheit aufweisen können , kraft der Verhältnisse eine neue Art von Adel oder Aristokratie herausgebildet hat. "

In Europa wurde diese wicht ige Aufgabe im laufe der Jahrhunderte i n ausgezeichneter Weise durch den Adel erfüllt. Ferner betont der Papst mit pastoraler Sorgfalt, daß diese Gesellschaftsklasse sogar inmitten de r zeitgenössischen Geschehnisse einen großen Teil ihrer Missi on weiterhin innehat. Er erklärt mit Scharfsinn und Wohlgefallen, worin diese M i ssion konkret besteht, auch wenn es sich um Familien handelt, d ievon Unglück getroffen - ihren gesellschaftlichen Status von einst ver loren haben.

Aber zugleich g ibt Papst Pius XII. zu verstehen, daß diese leitende Funktion kein ausschließliches Monopol des Adels ist. Gesellschaftl iche Gegebenheiten können neue Klassen hervorbringen , die an der Führung des sozialen Lebens verdienst v oll teilnehmen. Weiters lehrt der Papst mit bewundernswerter Ausgeglichenheit, daß es sich für diese Klassen nicht ziemt, sich von einer krassen und euphorischen Vulgarität der Emporkömmlinge verführen zu lassen , die nur den Genuß eines üppigen Lebens vor Augen haben. Der Papst betont , daß es auch notwendig i st , sich der Pflichten und Aufgaben bewußt zu se in, die jeder gesellschaftliche Aufstieg mit sich bringt.

„ Adel verpflichtet" lautet der bekannte Spruch. ,,Bon sang ne peut mentir" ist das Losungswort von Papst Pacelli an die neuen führenden Klassen Er zeigt ihnen , daß ihnen die Tore zur Welt der Eliten geöffnet sind und daß sie eine unerschöpfliche Quelle in den Beispielen des historischen und ritterlichen Adels finden werden, damit s ie sich entsprechend den gesellschaftlichen Funktionen formen können.

Diese und viele ande re Prinzipien , die Papst Pius XII. in seinen Ansprachen lehrte, werden in d iesem Werk von Prof Plinio Correa de Oliveira anhand einer akribischen doktrinären

Auseinandersetzung und einer Fülle von historischen Beispielen erläutert und entfaltet.

Q

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.